Die Gartenlaube (1871)/Heft 39

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[641]

No. 39.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Charlotte hing sich an den Arm ihres Bruders und sah ihm zärtlich in das heißgeröthete Gesicht. Sie zog ihn über die Schwelle in den Garten, wo auch bereits Fräulein Fliedner und Ilse eingetreten waren und rasch nach dem zertrümmerten Gewächshaus zuschritten. Mich hatte man total vergessen. Ich ging hinter den Geschwistern her, die den Weg nach der Brücke einschlugen.

„Nicht wahr, da stand ich nun wieder einmal da, wie ein gemaßregelter Schulbube?“ stieß Dagobert zwischen den Zähnen hervor – seine Stimme klang halberstickt, als schnürten ihm Groll und Grimm die Kehle zu. – „Mich empört nichts mehr, als diese scheinheilige Ruhe bei Allem! … Er kauft das Thier aus zweierlei Gründen nicht – einmal, weil es ihn durch seine Unart um ein paar Bouquetgroschen und einige Samendüten gebracht hat, und dann will sein Spießbürgerhochmuth mit dem aristokratischen Verkäufer nichts zu thun haben; lieber läßt er sich von dem ersten besten Juden betrügen. … Aber davon verlautet beileibe kein Wort! Er schweigt, thut, als bemerke er den Schaden gar nicht, und rächt sich einfach durch unmotivirtes Zurückweisen. … Und dieses plötzliche Herausbeißen cavalierer Manieren und Kenntnisse! Lächerlich! Er, der nie auf einem anderen Rücken als dem seines einbeinigen Comptoirstuhles gesessen hat, er giebt sich plötzlich das Ansehen eines Sachverständigen, mustert mit Kennermiene ein Pferd –“

„Du, damit sei nicht so vorschnell!“ unterbrach ihn Charlotte. „Ich habe im Gegentheil den Onkel sehr im Verdacht, daß er einst, vorzüglich in Paris, das cavaliere Leben und Treiben mitgemacht hat, nicht aus Passion – Passionen hat er nicht, die eine für die Arbeit ausgenommen – aber vielleicht um der Mode willen, was weiß ich!“ Sie zuckte die Achseln und sah zurück nach dem Rosenspalier, das eben unter Herrn Claudius’ Anleitung wieder aufgerichtet wurde.

„Gegen diesen eisernen Schild der Kälte und Berechnung vermögen wir Beide nichts!“ fuhr sie hinüberdeutend fort. „Da heißt es, die Zähne zusammenbeißen, die Hand auf das heiße, unruhige Herz pressen und abwarten, bis ein erlösender Stern über uns aufgeht.“

Sie hatte mich beim Umdrehen bemerkt und reichte mir unbefangen die Hand hin, um mich zu führen. Dagobert dagegen fuhr vor meiner kleinen Person erschrocken zurück; es war ihm sichtlich fatal, einen Zeugen hinter sich gehabt zu haben. … Hätte er nur gewußt, wie es in diesem Augenblick in mir aussah! Meine Finger umklammerten die Banknoten in der Tasche – ich hätte sie am liebsten dem Manne da drüben an der Rosenhecke hingeworfen, wie in der Haide seine Thaler; diesem Eisblock, der bei äußerer milder Freundlichkeit und scheinbarer Güte die zwei jungen, herrlichen Wesen tyrannisirte und sie seine Macht fühlen ließ. … Hatten sie denn gar Niemand weiter auf der Welt, als diesen alten, hartherzigen Onkel? … Ich war ihre enthusiastische Verbündete, ohne daß sie es ahnten.

Dagobert verabschiedete sich an der Brücke von uns; er ging in die Stadt. Wie gut und edel mußte er sein! Bei allem innern Groll ging er doch erst noch hinüber zu dem Onkel und verabschiedete sich von ihm, als sei nichts vorgefallen.

Charlotte schritt langsam neben mir her und sagte, sie wolle sich ein Buch in der Bibliothek holen.

„Kommen Sie her, Kleine,“ sagte sie ihren Arm um meine Schultern legend; – sie zog mich im Weiterschreiten eng an sich heran, so daß ich die starken, heftig pochenden Schläge ihres Herzens fühlen konnte. „Ich mag Sie gern. Sie haben Charakter und ein muthiges Herz in Ihrem Liliputkörperchen. … Es gehört schon Muth dazu, in Onkel Erich’s Augen zu sehen und etwas von ihm zu verlangen.“

„Haben Sie denn keinen Vater oder wenigstens eine Großmutter?“ fragte ich, mich an sie anschmiegend, und sah schüchtern empor in ihr schönes Gesicht, das noch das Gepräge der Aufregung trug. Mir fiel in diesem Moment ein, daß ich selbst bei meiner geisteskranken Großmutter ein glückliches Kind hatte sein dürfen.

Sie sah lächelnd auf mich nieder. „Nein, Prinzeßchen, auch keine Großmutter, die mir neuntausend Thaler hinterlassen könnte – o Gott, wie wollte ich da den Staub von meinen Füßen schütteln! … Wir sind sehr früh Waisen geworden. Mein Vater ist Anno 44 am Isly in Marocco gefallen – er war französischer Officier. Als er Frankreich verlassen hat, lag ich noch in den Windeln – ich weiß nicht einmal, wie er ausgesehen –“

„Vielleicht wie Herr Claudius – er war doch wohl sein Bruder?“

Sie blieb stehen, zog ihren Arm zurück und schlug auflachend die Hände zusammen.

„O, Kind Gottes, Sie sind doch köstlich naiv! … Ein Claudius in französischen Diensten! … Ein Sohn aus dem [642] urrespectablen, urdeutschen Hause der Samendüten! … Na, das würde seinen ehrwürdigen, steifen Zopf schön geschüttelt haben! … Nein, nein, in uns ist nicht ein Atom dieses biderben deutschen Krämerelements! Dagobert und ich, wir sind Franzosen durch und durch, Franzosen mit Leib und Seele! … Gott sei Dank, wir haben auch nicht einen Tropfen dieses Fischblutes in unseren Adern! … Adoptivkinder sind wir – Onkel Erich hat uns angenommen, Gott mag wissen, weshalb – aus mitleidig gerührtem Herzen ganz gewiß nicht! … Das klingt vielleicht abscheulich gerade aus meinem Munde; aber ich kann es nun einmal nicht glauben!“

Sie umschlang mich wieder und ging langsamen Schrittes weiter.

„Diese Aufnahme in sein Haus wäre an und für sich ja ganz edel und lobenswerth, und ich würde gewiß nicht die Letzte sein, die ihm dafür dankte,“ fuhr sie fort; „wenn sich nur nicht gerade auch hier wieder der crasseste Despotismus so sichtbar zeigte. Er hat uns seinen Namen octroyirt – während wir Méricourt heißen, müssen wir uns Claudius nennen, Claudius schreiben. … Claudius, was für ein schrecklicher, bockbeinig steifer, spießbürgerlicher Name! … Wenn er den das deutsche Ohr bestechenden Namen Méricourt einigermaßen aufwiegen wollte, dann müßte er wenigstens das ‚von‘ vor sich haben. … Wir haben durchaus keine Ursache, für diesen unfreiwilligen Umtausch dankbar zu sein! Er hängt uns die Krämerfirma an die Stirn und ist ganz besonders hinderlich bei Dagobert’s Carrière als Soldat.“

„Er ist ein Soldat?“ rief ich erstaunt. Fräulein Streit hatte oft genug ausführlich beschreibend von dem zweifarbigen Tuch mit den blanken Knöpfen erzählt, das einst auch im Hause meines Vaters Zutritt gehabt hatte.

„Nun, wundert Sie das so sehr? … Ach so. Sie haben ihn ja noch nicht im Lieutenantsrock gesehen! Aber ich sollte meinen, man erkenne auch im Civil sofort den Officier in ihm. Er liegt in Z. in Garnison und ist auf mehrmonatlichen Urlaub hier. … Ich bin stolz auf Dagobert. Wir harmoniren zusammen und ergänzen uns gegenseitig, wie selten ein paar Geschwister. Wir lieben uns vielleicht um deswillen noch mehr, als wir lange, lange getrennt gewesen sind. Ich habe von meinem dritten Lebensjahre an bis vor zwei Jahren im Institut gesteckt und er zuerst in einer Professorenfamilie und dann im Cadettenhause.“

Wir traten heraus auf das Parterre vor der Karolinenlust.

„Komm, Hans, komm!“ rief Charlotte. Der Kranich, der eben wieder am Deiche Posten stand, rannte auf sie zu wie ein feuriger Anbeter; von verschiedenen Seiten stürzten Pfauen und Perlhühner herbei und hier und da blinkte auch ein Fasanengefieder auf, aber es schlüpfte sofort wieder in das Gebüsch zurück – meine Anwesenheit verscheuchte die scheuen Thiere.

„Nun sehen Sie nur diese unverdiente Liebe von allen Seiten!“ lachte Charlotte. „Die ist wirklich mühelos erworben; ich füttere die Thiere nie und schmeichle ihnen nicht, und doch verfolgen sie mich auf Tritt und Schritt, sobald sie meine Stimme hören. Ist das nicht seltsam?“

Ich fand es ganz und gar nicht seltsam. Lief ich doch selber schon wie ein von ihr verwöhntes, aber darum auch enthusiastisch treues Hündchen neben ihr her. Ich war noch viel zu unerfahren und urtheilslos, um die Macht ihrer Persönlichkeit auf einzelne Eigenschaften zurückführen zu können. Jedenfalls war es hauptsächlich die unglaubliche Sicherheit und Kraft in ihrer Gesammterscheinung und in jedem ihrer mit fester, klangvoller Stimme gesprochenen Worte, was mir imponirte und mich so bestrickte, daß ich sie selbst und Alles, was sie sagte, bereits wie ein geoffenbartes Evangelium hinnahm – daß sie auch irren und Unrecht haben könne, wäre mir nicht eingefallen.

„Wo sind denn die Leute hingereist, die da drin wohnen?“ fragte ich und zeigte auf die versiegelten Thüren, als wir in der Karolinenlust die Beletage durchschritten.

Charlotte sah mich groß und zweifelhaft an, als sei es nicht ganz richtig bei mir; dann lachte sie laut auf. „Versiegelt man denn bei Ihnen zu Lande die Thüren, wenn man verreist? Hat etwa auch Frau Ilse den Dierkhof versiegelt? … Ha, ha, ha! Wo die Leute hingereist sind? … In den Himmel, Kleine!“

Ich erschrak heftig. „Sie sind gestorben?“

„Nicht sie, sondern Er. … Ein lediger junger Herr hat die Beletage bewohnt, Lothar, Onkel Erich’s älterer und einziger Bruder – ein prachtvoller Officier. Sie werden sein sehr schön gemaltes Oelbild kennen lernen, es hängt im Vorderhause, im Salon –“

„Und er ist todt?“

„Todt, Kindchen, wirklich, unwiderruflich todt. … Er ist am Schlagfluß gestorben, wie die officielle Todesanzeige besagt – ganz insgeheim aber hat er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Die Welt bringt seinen Tod mit einer Prinzessin des herzoglichen Hauses in Verbindung –“

„Heißt diese Prinzessin Sidonie?“ fuhr es mir heraus.

„Ei, der kleine Wildling aus der Haide hat auch genealogische Kenntnisse? … ‚Hieß,‘ müssen Sie übrigens sagen, denn Prinzessin Sidonie ist auch längst gestorben – einige Tage vor dem Tode des schönen Officiers. … Das ist eine längst verschollene Welt, über die Niemand etwas Bestimmtes weiß, ich aber am allerwenigsten. Ich weiß eben nur, daß die Siegel da kleben und nach der letzten Verfügung des ehemaligen Bewohners dran bleiben sollen, bis – na, bis an das Ende aller Tage – will’s Gott! … Hineingucken möchte ich schon einmal – so ganz verstohlen. Aber da ist ja Alles verrammelt und verbarrikadirt für die Ewigkeit, und Onkel Erich wacht wie ein Argus über den Siegeln.“

Himmel, wenn der unerbittliche Mann mit dem durchdringenden Blick je erfahren sollte, daß die Fremde bereits hinter den Siegeln umhergehuscht war! Ein Zittern durchlief meine Glieder, und ich preßte die Lippen fest auf einander – daß mir um Gotteswillen nur nie das unselige Geheimniß entschlüpfte! … Kaum in die Welt eingetreten, hatte ich schon etwas vor ihr zu verbergen, ich, deren Gedanken und Plaudereien bis dahin so zwanglos, so frank und frei hinausgeflattert waren wie meine wilden Locken im Haidewinde.

Unterdeß war auch Ilse, hinter uns her, die Treppe heraufgekommen und schalt mich, daß ich „ihr durchgebrannt sei, derweil sie sich das Unheil im Gewächshause angesehen“.

„Das ist ja eine schöne Geschichte, die das gräuliche Thier angerichtet hat!“ sagte sie ganz entrüstet. „Zwei von den großen theuren Glasscheiben sind total zerschlagen, und einen großen Baum hat es mit dem einen Tritt auch umgeworfen – die schönen rothen Blumen liegen wie hingeschneit an der Erde herum. … Und da ist der Mann mäuschenstill und sagt kein Wort – das hätte mir passiren sollen!“

„Onkel Erich hat Camelien genug,“ sagte Charlotte leichthin und spöttisch, „die paar abgeknickten Blüthen zählen nicht! … Uebrigens glauben Sie ja nicht, daß auch nur eine einzige unbezahlt bleibt; die werden auf Draht gesteckt und kommen in die Bouquets, die auf heute Abend zu einem Bürgerball massenhaft bestellt sind. Bei uns kommt nichts um – darauf können Sie sich verlassen.“

Sie öffnete die Thür des Bibliothekzimmers; ich aber drängte mich neben ihr hinein und lief nach der Fensterecke, wo mein Vater arbeitete. Nein, sie durfte es nicht sehen, wie er so lächerlich auffuhr von seiner Schreiberei und so hülf- und verständnißlos in die Welt hinein sah! Sie durfte nicht lachen, ich litt es nicht!

„Vater, wir sind wieder da,“ sagte ich und legte meinen Arm um seinen Hals, so konnte er nicht emporfahren, und er that es auch gar nicht, er schlug nur die Augen auf und sah lächelnd in mein vorgeneigtes Gesicht. Ich war überglücklich – er kannte bereits meine Stimme, und ich hatte Macht über ihn.

„So, kleiner Schalk, so überrumpelst Du mich?“ scherzte er und klopfte meine Wange. „Wenn Du aber ganz so werden willst wie Deine liebe Mama, dann darfst Du nur ganz, ganz leise die Hand auf meine Stirn legen oder eine Blume auf mein Manuscript fallen lassen und mußt husch wieder draußen sein, ehe ich mich nur besinnen kann, wer es gewesen.“

Mir gab es jedesmal einen schmerzenden Stich durch’s Herz, wenn er meine Mutter, die er über Alles geliebt haben mußte, in der Weise erwähnte – für ihn hatte sie tausend zartsinnige Aufmerksamkeiten gehabt, aber ihr einsames Kind hatte nicht für sie existirt.

Jetzt sah mein Vater auch Charlotten. Er sprang auf und verbeugte sich.

[643] „Ich habe Ihnen Ihr Töchterchen wiedergebracht,“ sagte sie. „Herr Doctor, Sie müssen schon erlauben, daß auch die ‚Unwissenschaftlichen‘ im Vorderhause ein wenig herummeißeln und bilden dürfen an der kleinen wilden Hummel von der Haide.“

Er dankte ihr herzlich für ihr Anerbieten und gab ihr unumschränkte Vollmacht. Dabei rieb er sich plötzlich besinnend die Stirn. „Da fällt mir eben ein, – ach ja, ich bin manchmal ein wenig vergessen –, ich habe ja gestern auch auf einige Augenblicke die Prinzessin Margarethe gesprochen; ich erwähnte beiläufig Deine Ankunft, mein Kind, und sie sprach lebhaft den Wunsch aus, Dich nächste Woche zu sehen. Sie hat Deine Mama gekannt, als sie noch Hofdame am Hofe zu L. war.“ –

„Sie Glückliche!“ rief Charlotte. „Einen altadeligen Namen, einen hochberühmten Vater und eine Mutter, die Hofdame gewesen ist – wahrhaftig, die Götter haben ihr Füllhorn über Sie ausgeschüttet! Und das erscheint Ihnen wohl gar nicht einmal wünschenswerth?“

„Nein – ich fürchte mich vor der Prinzessin!“ versetzte ich scheu und ängstlich und drückte mich neben Ilse.

„Fürchte Dich nicht, Lorchen; Du wirst sie sofort liebgewinnen,“ tröstete mich mein Vater; Charlotte aber zog die prächtigen, schöngeschwungenen Brauen zusammen.

„Haideblümchen, seien Sie nicht kindisch!“ schalt sie. „Die Prinzessin ist sehr liebenswürdig. Sie ist die Schwester der Prinzessin Sidonie, von der wir eben noch gesprochen haben, und die Tante des jungen Herzogs. Sie macht die Honneurs an seinem Hofe, denn er ist noch nicht verheirathet, und soll ganz besonders lieb und gut gegen die kleinen, schüchternen und – nehmen Sie mir’s nicht übel – ein wenig albernen jungen Mädchen sein, die sich vor der ersten Vorstellung bei Hofe fürchten. … Also beruhigen Sie sich, Kleine!“

Sie drehte mich an den Schultern hin und her.

„Wollen Sie der Prinzessin Ihr Töchterlein so vorstellen?“ fragte sie meinen Vater und zeigte mit einem wahren Koboldlächeln ihre perlmutterweißen Zähne.

Er sah sie unsicher und verständnißlos an.

„Nun, ich meine, in diesem vorsündfluthlichen Costüm?“

„Hören Sie ’mal, Fräulein,“ fiel Ilse scharf ein, „in dem Kleide da hat meine arme Frau um den gnädigen Herrn getrauert. Dazumal war sie auch noch stolz und vornehm, und das Kleid ist ihr gut genug gewesen, und da wird es ja wohl der Frau Prinzessin auch nicht schaden, wenn sie die Kleine drin ansieht.“

Charlotte lachte ihr in’s Gesicht. „Vor wie viel Jahren war das, gute Frau Ilse?“

Jetzt ging auch meinem Vater ein Licht auf. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. „Hm, darum handelt sich’s? … Ja, ja, Sie haben Recht, Fräulein Claudius, so ist Lorchen nicht ganz präsentabel. Ich erinnere mich – meine verstorbene Frau hatte einen exquisiten Geschmack und ist ja auch später noch viel mit mir zu Hofe gegangen. Liebe Ilse, drunten im Erdgeschoß, unter meinen Effecten müssen noch zwei Koffer voll Toilettengegenstände sein – nach dem schmerzlichen Ereigniß hat sie die damalige Wirthschafterin gepackt –“

„Daß Gott erbarm, das sind jetzt über die vierzehn Jahr her!“ rief Ilse die Hände zusammenschlagend. „Und das Alles ist nicht einmal aufgemacht und gelüftet worden?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ach, Sie arme Creatur!“ jubelte Charlotte förmlich auf und schlang den Arm um mich. „Da muß ich retten, sonst hat die Residenz ein Gaudium, wie noch nie! … Ich werde für Alles sorgen, Herr Doctor!“

„So – und wer bezahlt’s denn?“ fragte Ilse trocken.

Mein Vater machte ein sehr verdutztes Gesicht und sah seltsam ängstlich drein – er schlang die Finger ineinander und ließ sie in den Gelenken krachen.

Charlotte bemerkte das sehr wohl. „Ich spreche sofort mit dem Onkel,“ sagte sie.

„Der kann der Kleinen auch kein anderes Geld geben, als ihr selber gehört,“ fiel Ilse beharrlich ein, „und da haben wir ja gleich die Bescheerung; da fliegt das bischen Vermögen für Lappen und Firlefanz in alle vier Winde, ehe wir es uns versehen.“

„Nun meinetwegen, behalten Sie Ihr Geld in der Tasche!“ rief Charlotte ärgerlich. „Ich gebe ihr meine neueste Toilette, die der Schneider erst gestern gebracht hat. … In dem Aufzug lasse ich die Kleine nicht an den Hof – dazu habe ich sie schon viel zu lieb!“

Ich neigte den Kopf seitwärts und küßte verstohlen die volle, weiße Hand, die meine Schulter umschloß. Ilse sah diese Bewegung; sie schüttelte den Kopf, und ein niegesehener, wehmüthig bitterer Zug stahl sich in ihr Gesicht. Ich glaube, sie bereute heute schon zum zweiten Mal tief, mich in das Haus der „vernünftigen Leute“ gebracht zu haben.

Noch hatte sie übrigens keinen Grund zur Besorgniß; noch mischte sich in das Dankgefühl, mit welchem ich Charlottens Hand küßte, nicht eine Spur von befriedigter Eitelkeit. Ich dachte nicht im Entferntesten daran, daß ich ohne die dicke Mullkrause, von der mich Charlotte kühn befreite, schöner aussehen könne – mein braunes Gesicht wurde wohl auch über einem so zarten Spitzenkragen, wie die junge Dame ihn trug, nicht um einen Schein weißer, und die kleinen Ohren, die sich bei dem leisesten inneren Angstgefühl stets so heiß rötheten, fuhren sicher ebenso lächerlich daraus empor wie aus den weißen Mullwogen. Aber auch das erwog ich nicht einmal in diesem Augenblick – ich dankte einzig und allein für die Liebe, die mir entgegengebracht wurde.

Charlotte verabschiedete sich von meinem Vater, ohne das gewünschte Buch mitzunehmen; meine Vorstellung bei Hofe schien hinter der festen weißen Stirn einen wahren Wirbel von Gedanken erregt zu haben. Sie versicherte mir drunten in der Halle nochmals, für Alles Sorge tragen zu wollen, ermahnte mich noch einmal ernstlich, meine „völlig unmotivirte Scheu und Aengstlichkeit“ zu besiegen, und eilte in das Vorderhaus zurück.

„Du ziehst die geborgten Sachen natürlich nicht an,“ sagte Ilse zu mir, während Charlotte jenseits des Teiches im Bosquet verschwand. „Deine selige Großmutter müßte sich ja in der Erde umdrehen. … O Herr Jesus, nun muß ich auch gar noch selbst Herrn Claudius bitten, daß er das Geld für den Firlefanz ’rausgiebt! … Sie werden eine schöne Putzdocke aus Dir machen in dem Hause da vorn!“

Als wir in das Wohnzimmer traten, wo das Stubenmädchen eben den Tisch deckte, kam uns auch der alte, freundliche Gärtner entgegen und sagte mir, daß er im Auftrag des Herrn Claudius in meinem Zimmer einen Blumentisch aufgestellt habe.

Mit Mühe suchte ich ein paar steife Worte des Dankes zusammen – ich wollte ja die Blumen des Herrn Claudius gar nicht haben; mochte er sie doch lieber verkaufen, der engherzige Zahlenonkel! … Ich ging auch durchaus nicht hinein, um sie anzusehen. Aber Nachmittags, in einer der heißesten und drangvollsten Stunden meines ganzen bisherigen Lebens, saß ich doch neben ihnen; denn sie beschatteten halb und halb meinen Schreibtisch. … Meinen Schreibtisch! Welche Ironie lag darin, mir einen Tisch hinzustellen, auf welchem ausschließlich geschrieben werden sollte! … Und nun saß ich doch d’ran und schwitzte vor Seelenangst und Mühe; denn ich sollte und mußte einen Brief schreiben – den ersten in meinem Leben. Ilse war unerbittlich gewesen. „Siehe Du nun auch, wie Du mit der eingerührten Geschichte fertig wirst; nicht einen Finger rühre ich darum!“ hatte sie mitleidslos und entschieden erklärt und mich mit meiner Riesenaufgabe allein gelassen.

„Liebe Tante! Ich habe Deinen Brief gelesen. Es thut mir in der Seele weh, daß Du Deine schöne Stimme verloren hast, und da meine liebe Großmutter gestorben ist, so schicke ich Dir das Geld,“ besagten die durcheinanderquirlenden, schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papierblatt, das vor mir lag. Der Anfang war glücklich gefunden, und ich schlug die Augen auf nach weiterer Eingebung von außen.

Ein köstlicher Duft strömte mir zu; ja, da stand der Blumentisch; prachtvolle, blaßgelbe Theerosen hingen schwer herüber, und – o Himmel – um alle diese hochstrebenden blüthenbeschneiten Rosen-, Azaleen- und Camelienbäume legte sich drunten ringsum ein Kranz von blühenden Haidebüschen! Das hatte der alte Gärtner doch zu sinnig ausgedacht! … Ich warf die Feder hin und griff mit beiden Händen in die Blüthenrispen. … Da stieg es auf, das bienenumsummte Dach mit der Haidegarnitur unter jeder Ziegelreihe, und von den Eichenwipfeln schrieen die Elstern in den stillen Baumhof hinab. Die alte Föhre trug die ganze Last der glühenden Nachmittagssonne auf ihren struppigen Zweigen, und in dem roth- und lilafarbenen Haideteppich blinkten die gelben [644] Ginsterblüthen wie eingestickte Goldsternchen. … Blaue Schmetterlinge! Ich lief ihnen nach bis unter die Birke, in das dicke Erlen- und Weidengebüsch hinein, und, husch, fuhren meine nackten, heißen Füße in den köstlich kühlen, dunklen Haidefluß! … Ich schrak empor und zog die Hände zurück und tunkte auf’s Neue tief und zornig die Feder in das tückische Schwarz, das die Menschen zu meiner Qual erfunden.

Aber nun weiter! „Ich wohne mit meinem Vater bei Herrn Claudius in K., wenn Du mir vielleicht schreiben und mir sagen willst, ob Du das Geld richtig durch die Post bekommen hast.“ – Punctum! Das war ganz gut so, aber ob sie es lesen konnte? Ilse sagte immer, man könne keinen Sinn in meiner Schreiberei finden, weil die Buchstaben „gar so falsch nebeneinander stünden“. – Ach, da fing draußen der Kranich an zu tanzen, und eine Schaar Perlhühner flüchtete scheu hinter die steinerne Teicheinfassung – Dagobert trat drüben aus dem Bosquet; er hieb im raschen Weiterschreiten mit seinem schlanken Stöckchen durch die Luft und schritt stracks auf die Karolinenlust zu. … Ich duckte mich ganz erschrocken nieder, denn er sah unverwandt nach dem Fenster, an welchem ich saß. Nein, nein, er kam nicht herein – es wäre doch zu einfältig gewesen, wenn ich meinem ersten, blitzschnellen und angstvollen Gedanken gehorcht und die Thür verriegelt hätte! … er ging hinauf in das Bibliothekzimmer; ich hörte noch seinen verhallenden Tritt droben auf der letzten Stufe der Steintreppe. … Gott, was Alles geschah doch in der Welt und wie viel gab es zu sehen und zu erleben, und doch gab es Menschen, die den ganzen Tag schrieben und sich über das starre, leblose Papier bückten, wie zum Beispiel Herr Claudius über seinen großen Folianten im Vorderhause! …

Nun noch die Unterschrift: „Deine Nichte Leonore von Sassen“, und schließlich die Adresse, die ich mühsam, Buchstaben um Buchstaben, von dem zerknitterten Brieffragment meiner Tante copirte. … Gott sei Dank! Das war der erste, aber auch ganz gewiß der letzte Brief, den ich geschrieben – ich wollte es nie wieder thun! … Da lag die Feder wieder auf dem altfränkischen Tintenfaß, wo ich sie vorgefunden – ich gönnte ihr von Herzen die ewige Ruhe einer Dahingeschiedenen.

Ilse mußte, wohl oder übel, die fünf Siegel auf das Couvert drücken; dann trug sie den Brief zornig, mit spitzen Fingern, als brenne er, aber doch eigenhändig auf die Post – fremden Händen mochte sie um alle Welt das viele Geld nicht anvertrauen.

Dieses mein armseliges Schriftstück und seine Folgen lassen mich stets an einen kleinen unschuldigen Vogel denken, der unbewußt das Samenkorn eines schlimmen, überwuchernden Unkrautes in ein künstlich angelegtes Blumenbeet trägt.




15.

Die Firma Claudius war sehr alt. Sie hatte schon geblüht und einen bedeutenden Ruf gehabt, als der Tulpenschwindel von Holland aus durch die Welt lief, in der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts, wo für drei Zwiebeln des Semper Augustus die unserm Jahrhundert völlig unbegreifliche Summe von dreißigtausend Gulden gezahlt wurde. Aus jener Zeit hauptsächlich stammte das große Vermögen der Claudius. Sie hatten sich dieses Zweiges der Blumenindustrie bemächtigt und die kostbarsten Tulpenexemplare erzielt. Man erzählte sich, viele der berühmtesten Species seien aus den geschickten deutschen Händen der Claudius hervorgegangen, man habe sie in Holland um fabelhafte Preise angekauft, adoptirt und unter holländischem Stempel in den Handel geschickt. … Je mehr aber die Reichthümer des Handlungshauses sich angehäuft, desto ehrbarer, einfacher und zurückhaltender gegen die Welt und ihre Freuden waren die verschiedenen Chefs der Firma geworden. Sie hatten die strengste bürgerliche Einfachheit und Schlichtheit aufrecht erhalten, und durch eine ganze Reihe von Testamenten und letztwilligen Verfügungen lief – für den jedesmaligen Nachfolger – eine ernste Mahnung zur Zucht und Ehrbarkeit und zum Fernhalten von jedwedem Luxus unter Androhung der Enterbung im Fall des Ungehorsams.

So kam es, daß die äußere Physiognomie des dunklen, steinernen Hauses in der abgelegenen Mauerstraße nie eine verschönende Restauration erfahren hatte. … Sie mußten Alle darin wohnen, wie sie nach einander folgten, und das Geschäftslocal, die große steingewölbte Stube mit den braunen Ledertapeten, sah heute noch genau so aus, wie dazumal, wo in ihr jene kostbaren Zwiebeln verpackt wurden, aus denen, vor den entzückten Augen der fieberhaft erregten Tulpen-Fanatiker, die despotisch herrschende Blumenkönigin in neuem Farbenspiel emporsteigen sollte.

Die alten Herren, die mit einer Hand zarte Blumengestalten pflegten und mit der andern eiserne Ketten und Panzer um ihr nachfolgendes Geschlecht zu gürten suchten, hätten doch am besten wissen sollen, daß Abart oder Varietät bei ihrem Durchbruch nicht nach dem Gängelband der Gesetze fragt, und wenn sie weise gewesen wären, hätten sie diese Blumenerfahrung auch zu Gunsten der Menschennatur gelten lassen.

Eberhard Claudius, ein geistig offenbar sehr bedeutender Mensch, hatte unter den beengenden Traditionen des Hauses jedenfalls schwer leiden müssen, aber er hatte sich zu helfen gewußt. Wie man sich erzählte, war seine schöne, vornehme und leidenschaftlich geliebte Frau in den düsteren Räumen des Vorderhauses schwermüthig geworden. … Da waren – ohne daß die Welt es ahnte – eines Tages fremde Arbeiter gekommen, hatten unter Anleitung eines französischen Baumeisters inmitten des umfangreichen Waldreviers, das durch weite Mauern umgrenzt zu dem Grundbesitz der Firma gehörte, eine Anzahl uralter, geschonter Bäume ausgerodet, und allmählich war im beschützenden Walddickicht ein heiteres Schlößchen voll Sonnenlicht und schwellender Seidenpolster, voll flatternder Liebesgötter und deckenhoher Spiegel, welche die Schönheit der angebeteten Frau glanzvoll zurückwarfen, in die Lüfte gestiegen. Und an dem Tage, wo die bleiche Blume zum ersten Mal den märchenschnell hervorgezauberten Teich umschritten, und in der weiten sonnigen Halle dem zärtlich besorgten Mann aufjauchzend um den Hals gefallen war, hatte er das Schlößchen ihr zu Ehren „Karolinenlust“ getauft.

Eberhard Claudius war auch der Begründer des Antikencabinets und der reichhaltigen Bibliothek und Handschriftensammlung gewesen. Er hatte Italien und Frankreich durchreist und mit seltenem Kennerblick Schätze der Kunst und Wissenschaft aufgefunden und eingeheimst, die aber auf deutschem Boden, in den Räumen der Karolinenlust ebenso verborgen hausten, wie die schöne, neu aufblühende Frau.

Nach ihm war Conrad, sein Sohn, Chef des Hauses geworden und in die alten Geleise zurückgekehrt. Er hatte mit puritanischer Strenge die alten Hausregeln auch im Inneren wieder aufgerichtet, hatte die Karolinenlust, als ein gegen den Geist der Vorfahren verstoßendes Werk des raffinirtesten Luxus und Weltsinnes sammt ihren Schätzen unter Schloß und Riegel gelegt, und die Varietät war erst wieder in seinem Enkel, Lothar Claudius, zum Durchbruch gekommen.

Dieser hatte sich entschieden geweigert, Vertreter der Firma zu werden, als er und sein jüngerer Bruder Erich sehr früh beide Eltern verloren. Sein feuriges Temperament entschied sich für die militärische Carrière. Er avancirte schnell, wurde geadelt und Adjutant und bevorzugter Liebling des Landesfürsten. Nun wurde die Karolinenlust wieder aufgeschlossen. Sie eignete sich vortrefflich zum Wohnsitz für den hochaufstrebenden, sich abzweigenden Ast des alten Handelsgeschlechts, und, wie um gegen jegliche fernere Gemeinschaft mit dem Vorderhause zu protestiren, wurde plötzlich sogar am Brückenkopf auf Seite der Karolinenlust eine festverschlossene Thür angebracht.

Da residirte nun, umgeben von einer wahren Waldeinsamkeit, der schöne, junge Officier, während im Vorderhause der Buchhalter Eckhof das Geschäft verwaltete, bis der in einem Knabeninstitut erzogene Erich Claudius von seinen Reisen zurückkehrte und, den alten Traditionen getreu, mit eiserner Ausdauer und Arbeitskraft sein Erbe antrat.

Für das Antikencabinet hatte der verstorbene flotte, gefeierte Officier so wenig Verständniß gehabt, wie seine Vorgänger. Die Kisten und Kasten im Souterrain waren nicht berührt worden seit langen Jahren, bis plötzlich der junge Herzog an das Ruder kam und eine wahre Leidenschaft für Archäologie an den Tag legte. Mein Vater, eine der größten Autoritäten, wurde nach K. berufen, und nun wuchsen die Antiquitäten-Liebhaber wie Pilze aus der Erde – Seine Hoheit hätte Höchstseine Residenz mit ihnen pflastern können. Die Ballgespräche bei Hofe wimmelten von griechischen, römischen und etruskischen Alterthümern, und schwerwiegende Wörter, wie Numismatik, Glyptik und Epigraphik, perlten nur so von den rosigen Lippen der graziösen Tänzerinnen.

[645]

Eine Küchen-Rarität aus dem Herbste 1871.
Originalzeichnung von Guido Hammer.


Die Nachricht von dem neuen Umschwung bei Hofe hatte Dagobert in das stille Geschäftshaus der Mauerstraße gebracht. Fräulein Fliedner, die noch bei Lebzeiten der letztverstorbenen Frau Claudius, Lothar’s und Erich’s Mutter, als Stütze derselben, in das Haus gekommen und seitdem, kraft testamentlicher Verfügung, in ihrer Stellung als Castellanin und Verwalterin verblieben war, wußte manches Halbverschollene aus der Familie zu erzählen, und so erinnerte sie sich auch der eingesargten Antiken. Dagobert hatte meinen Vater davon in Kenntniß zu setzen gewußt. Der Letztere erzählte später wiederholt, daß er einen Augenblick zweifelhaft lächelnd vor dem Haus mit der strengen, ehrbar bürgerlichen Physiognomie gestanden habe; aber er war doch eingetreten, um die Erlaubniß, behufs einer Nachforschung, von dem Besitzer zu erbitten. Herr Claudius hatte sie ertheilt, wenn auch dem Anschein nach nicht besonders gern.

Am frühen Morgen war mein Vater in das Souterrain der Karolinenlust hinabgestiegen und den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein gekommen; er hatte weder gegessen, noch getrunken, er war wie toll vor Aufregung gewesen – eine ungeheure Fundgrube für die Wissenschaft hatte sich vor ihm aufgethan. … Herr Claudius gestattete das Auspacken und Aufstellen der Kunstschätze und räumte meinem Vater die Wohnung im Erdgeschoß und die unumschränkte Benutzung der Bibliothek ein.

Dies Alles erfuhr ich freilich nicht in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in K. Ich war da überhaupt wenig geneigt, mich zu orientiren; denn, nachdem sich die Fluth der ersten Eindrücke einigermaßen gelegt, da kam das Heimweh nach der Haide mit aller Macht über mich. … Ilse war zwar noch da; sie hatte sich einige Tage Urlaub zugegeben, um „einmal gründlich Ordnung in der Junggesellenwirthschaft meines Vaters zu machen“, und wohl auch, damit sie mich erst in dem neuen Boden ein wenig einwurzeln sähe. Allein das beschwichtigte mein unruhiges Herz nicht; ich wußte ja doch, daß sie schließlich gehen und mich zurücklassen würde, und der Gedanke brachte mich stets in eine unbeschreibliche Aufregung.

Im Vorderhause war man unsäglich gut gegen mich; aber ich haßte das dunkle, kalte Haus und betrat es nur gezwungen an Fräulein Fliedner’s oder Charlottens Hand. Zu einem Besuch [646] aus eigenem Antrieb konnte ich mich nie entschließen. Dagegen zog es mich immer mehr in die Nähe meines Vaters. Auf seine zarte Zurechtweisung hin störte ich ihn freilich nicht mehr in der kräftigen Art und Weise, wie neulich, wo ich unversehens meinen Arm um seinen Hals gelegt hatte – ich wagte es nicht einmal, wie meine Mutter, eine Blume auf sein Manuscript zu werfen; aber seit ich Muth gefaßt, stand jeden Morgen eine Vase voll frischer Waldblumen auf seinem Schreibtisch, und im unhörbaren Vorüberhuschen ließ ich meine Hand scheu und leise über sein halbergrautes Haar hingleiten. Ich war gern in der Bibliothek, noch lieber aber in dem Saal „mit dem zerbrochenen Zeug“, wie Ilse beharrlich sagte, Alle diese stummen Gesichter gewannen allmählich Macht über mich und ließen mich manchmal sogar auf Augenblicke vergessen, daß droben im Norden die weite Haide lag, nach der meine ganze Seele fieberte.

Aber ich wurde dort auch sehr oft verscheucht. Dagobert, der eine wahre Leidenschaft für Alterthumskunde an den Tag legte, und sich stolz den Famulus meines Vaters nannte, verweilte halbe Tage lang in Bibliothek und Antikencabinet. Sobald ich ihn in die Bibliothek treten hörte, entfloh ich durch die entgegengesetzte Thür, rannte über Hals und Kopf die Treppe hinab, und dieser kindischen Angst und Scheu genügte oft nicht einmal der weite Raum zwischen Mansarde und Erdgeschoß – ich lief und lief, bis ich mich athemlos im Walde wiederfand.

Dieses Stück Wald war köstlich in seiner scheinbaren Urwüchsigkeit. Die alten Herren Claudius hatten es angekauft und mit Mauern umzogen, nicht zur Nutzbarmachung für das Geschäft, sondern einzig und allein zu dem Zweck, daß sie ihren sonntäglichen Erholungsspaziergang, ungestört und unbehelligt durch fremde Gesichter, auf eigenem Grund und Boden ausführen konnten – der einzige Luxus, den sie sich gestattet. … Die heiße Sehnsucht nach dem schrankenlos weiten Himmel der Haide machte mich anfänglich eiskalt und verständnißlos für die Waldschönheit. Meine Blicke richteten sich nie aufwärts – ein grüner Himmel, wie schrecklich! – Desto zärtlicher aber hingen sie an den hellen Blüthen, die mit scheuen, wilden Aeuglein aus Moos und Blattwerk und schattenfeuchtem Steingeröll hervorguckten, – sie kamen mir so weitverschlagen und furchtsam vor, wie ich selber.

So sorglos ich die Haide stets durchstreift hatte, so wenig Muth fand ich, tiefer in die anscheinende Wildniß einzudringen. Ich beschränkte mich auf die nahe Umgebung des Hauses, und mein liebster Aufenthalt wäre sicher das Ufergebüsch des Flusses geworden, denn da drinnen war es doch genau so wie daheim; allein ich wurde schon am zweiten Tag meines Aufenthaltes in K. daraus vertrieben. Als Ilse den Brief auf die Post trug, begleitete ich sie bis an die Brücke. Unter dem zierlich geschwungenen eisernen Bogen hin floß das farblos klare Wasser so leise und lieblich murmelnd, wie der traute Haidefluß hinter dem Dierkhof. Ich schlüpfte in das Gebüsch – es waren Erlen und Weiden, und von draußen dämmerten weißglänzende Birkenstämme herein. Perlmuscheln lagen nicht auf dem Grund, wohl aber die kleinen glattgewaschenen Kiesel, und das seichte Ufer war mit Laichkräutern und weißblühenden Ranunkeln ausgekleidet. Ein zackiger, leuchtend blauer Fleck zitterte auf den Rieselwellchen – der hereinlauschende Sommerhimmel – Alles, Alles wie in dem kleinen Becken daheim; ich warf die Fußbekleidung ab und bald floß die blaugefärbte Fluth um die Füße, die freilich zu meinem Verdruß in den wenigen Tagen strenger Inhaftirung schon weißer geworden waren. Es fiel mir wie Ketten von Leib und Seele und floß mit den Wellen dahin. Vor Vergnügen und Wonne lachte ich in mich hinein und stampfte wiederholt und übermüthig das Wasser, so daß die blauen Tropfen hochauf spritzten. Da knisterte es im Gebüsch. – Spitz war ja so oft vom Dierkhof gekommen, hatte mich gesucht und war zu mir in’s Wasser gesprungen. Er brach dann gewöhnlich quer durch das Buschwerk, und jetzt fühlte ich mich so ganz in die Umgebung der Heimath versetzt, daß ich bei jenem Knistern den lieben täppischen Gefährten zu hören glaubte. Laut rief ich seinen Namen, ach, ich hatte mich schön blamirt mit meiner Illusion – es kam selbstverständlich kein Spitz; an der Stelle aber, wo ich das Geräusch gehört hatte, bewegten sich die Weidenzweige durcheinander, und ein hellbekleideter Männerarm zog sich hastig zurück.

Mit einem Satz flüchtete ich an das Ufer; ich hätte weinen mögen vor Aerger. Gleich in den ersten Stunden der bildenden zwei Jahre war ich rückfällig geworden. Dagobert hatte die Eidechse bereits wieder barfuß gesehen – nun wurde gespottet und gelacht im Vorderhause. … Aber er war ja dunkel gekleidet gewesen, als ich ihn vor kaum einer Stunde zu meinem Vater hatte gehen sehen, und dann – hatte nicht ein heller Blitz aus dem Gebüsch herübergezuckt? Das Blitzen hatte ich heute schon einmal gesehen, und zwar am Comptoirschreibtisch, es kam von dem Ring an Herrn Claudius’ Hand. … Ich athmete erleichtert auf – ach ja, es war nur Herr Claudius gewesen! Er hatte jedenfalls das unvernünftige Stampfen im Wasser gehört und war besorgt gekommen, um nachzusehen, wer ihm denn einen Weidenzweig von seinem Eigenthum abknicke und die hübschen Kiesel in seinem Fluß aufstöre. Er konnte ruhig sein, der gestrenge Herr – ich that es gewiß nicht wieder.

Nun waren wir fünf Tage in K. und es war Sonntag geworden. Auf dem Dierkhof hatten wir das ferne Thurmglöckchen nur wie ein unterbrochenes Wimmern gehört – wie fuhr ich zusammen, als plötzlich ein tiefes, prachtvolles Glockengeläute durch die Lüfte brauste! …

Ilse machte sich auf den Weg zur Kirche und während sie, begleitet von den Glockentönen, feierlich den Teich umschritt, blieb ich in der Halle stehen und sah ihr nach. … Da kam auch der alte Buchhalter aus seinem Zimmer, er hatte das Gesangbuch unter dem Arm und zog im Weitergehen einen lilafarbenen, neuen, engen Handschuh über die Hand – der alte Herr leuchtete förmlich in Sauberkeit und Eleganz.

Als er in meine Nähe kam, blieb er stehen. Er grüßte nicht; sein spiegelnder hoher Hut saß wie festgenagelt auf dem Kopfe; dafür aber maß er mich mit einem langen Strafblick von Kopf bis zu Füßen. Ich zitterte und fürchtete mich, und in dem Augenblicke, wo er die Lippen öffnete, um mich anzureden, floh ich hinaus in den Wald.

Der Schreckliche – ob er mir wohl nachkam? … Ich blieb athemlos stehen und sah scheu über die Schulter zurück. Der Weg, den ich gekommen, fiel hinter mir förmlich in das Dickicht hinein – ich war, ohne es zu wissen, ziemlich steil bergan gelaufen. Es blieb lautlos still drunten – der fromme Mann hatte jedenfalls seinen Weg in die Kirche fortgesetzt. … Vor mir mündete der enge Pfad auf eine Wiese, an den gefiederten Gräsern hing noch Thau, und rings am Waldsaum lagen die dicken Purpurköpfchen der Erdbeeren wie hingesäet; es kam wohl Niemand hier herauf, sie zu pflücken. Sie würzten die Luft, die golden flimmerte – ich meinte, die Glockentöne noch in ihr nachzittern zu sehen. Langhaarige Fichten standen umher, an ihren rissigen Stämmen nieder flossen goldgelbe Harzthränen, und durch die trauerdunklen Wipfel zog leises Summen.

Hier webte ein in der Welt verschollener, geheimnißvoller Geist – es war so verschwiegen still wie drunten hinter den Siegeln. … Im Walde knisterte es; ein weiß- und rothbraun geflecktes Etwas wandelte drinnen, und dann breitete sich plötzlich ein schaufelförmiges Geweih majestätisch zwischen den Stämmen; das zierliche Wild war zahm und sanft; die Thiere kamen über die Wiese her und sahen mich mit stillen Augen furchtlos an.

Ich schritt weiter. … Wie lange meine Entdeckungsreise auf diesem neuen Terrain angedauert, wußte ich nicht. Es waren wohl Stunden vergangen, seit ich bergauf und bergnieder trollte. Ich war völlig im Unklaren, wo ich mich befand; allein ich fühlte keine Furcht, die reine, keusche Waldluft hatte sie mitgenommen. … Den Berg hatte ich hinter mir, ich war wieder in der tiefe, aber wo? … Die Wege liefen kreuz und quer, und ich wußte nicht, welchen ich betreten sollte – da hörte ich plötzlich durch das Dickicht zu meiner Linken eine Menschenstimme. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme des freundlichen alten Gärtners, der mit den sanftesten Schmeicheltönen ein unablässig schreiendes Kind zu beschwichtigen suchte. Ich ging dem Schalle nach und stand auf einmal vor einer Mauer; hinter ihr war es hell – sie schloß den Wald ab. Um Alles gern mochte ich den kleinen Schreihals sehen, aber an der Mauer empor konnte ich nicht; sie war hoch und spiegelglatt. Dagegen verstand ich mich ja auf das Baumklettern wie eine Eichkatze, war es doch eine meiner liebsten Gewohnheiten wie das Fußbad im klaren Wasserspiegel, und nach wenigen Augenblicken saß ich hoch droben im Wipfel einer Ulme.

Ich sah hinaus in die Weite, sah ein großes Stück Himmel. Zu meiner Rechten breitete sich die bethürmte Stadt hin, flankirt von [647] prächtigen Promenaden, dann kam der Fluß, derselbe, der auch die Claudius’sche Besitzung durchschnitt. … Ich war ganz nahe bei der Karolinenlust gewesen, ohne es zu wissen, denn das Wasser lief keine zweihundert Schritte entfernt vorüber, eine breite steinerne Brücke wölbte sich darüber hin. Diesseits des Flusses, weithin, bis hinauf an den Saum des Waldes verstreut, lagen elegante Landhäuser inmitten reizender Gartenanlagen. Zu meiner Linken, so nahe, daß ich jeden Gegenstand im oberen Stockwerk bequem übersehen konnte, stand ein hübsches kleines Schweizerhaus. Das Fleckchen Grund und Boden, auf welchem es lag, war engbegrenzt. Vor der Hauptfaçade breitete sich ein schmaler Blumengarten hin, und rückwärts über einem engen Rasengrund wölbte eine prachtvolle Roßkastanie ihre undurchdringlich befiederten Aeste – sie war der einzige Baum der ganzen kleinen Besitzung, die nur eine breite Fahrstraße von der Claudius’schen Waldmauer trennte.

Der alte Gärtner Schäfer ging unter dem schattenwerfenden Balcon des Hauses auf und ab. Er hatte einen rosenfarbenen Kattunmantel um die Schultern geschlagen, trug den kleinen schreienden Bösewicht so kunstgerecht wie nur die gewiegteste Kindermuhme und sang ihm in sichtlicher Todesangst alle bekannten Kinderlieder vor. Auf dem Rasenfleck hinter dem Hause spielte ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren. Es hatte ein weißes Kleidchen an, und lange, flachsgelbe Locken fielen über den Rücken bis fast auf den Gürtel hinab. Die Kleine hatte sich glückselig, mit ganzer Seele in ihr Spiel vertieft. Sie raufte mit beiden Händchen Grashalme aus und lud sie auf ein Korbwägelchen. Eine Zeitlang ließ sie sich in ihrem Eifer durch das Kindergeschrei nicht stören, aber endlich ging sie in den Vordergarten, pflückte eine halbverwelkte Levkoye ab und reichte sie dem ungezogenen Brüderchen hinauf.

„Du sollst ja keine Blumen abreißen, Gretchen – Papa hat’s verboten!“ rief eine Männerstimme vom Balcon hinab.

Die südliche Ecke des Balcons war so üppig von wildem Wein umsponnen, daß nicht ein Sonnenstrahl in die Laube und auf den gedeckten Eßtisch inmitten derselben fallen konnte. Der junge Helldorf, der im Comptoir des Herrn Claudius arbeitete, bog sich unter dem Weinlaub hervor; ich hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. Er hielt ein Buch in der Hand, und wenn er auch die Mahnung im strafenden Tone hinabrief, so flog doch beim Anblick des auf den Zehen stehenden reizenden Geschöpfchens ein zärtliches Lächeln um seinen Mund.

Da kam über die Brücke her ein Herr, der eine Dame am Arme führte. Sie blieben einen Augenblick aufhorchend stehen, dann entschlüpfte die Dame ihrem Begleiter und lief voraus, auf das ungeduldige Kind zu. Sie war jedenfalls in der Kirche gewesen, denn sie legte eilig ein Gesangbuch auf den nächsten Gartentisch und reichte nach dem Knaben, der bei dem Klang ihrer Stimme sofort verstummt war und nun lallend mit Händen und Füßen ihr entgegenstrampelte – in überströmender Mutterzärtlichkeit bedeckte sie das kleine, dicke Kerlchen mit Küssen. Dann schlang sie den linken Arm um das Töchterchen und zog es an sich. Sie war sehr zart, die kleine Frau, man hätte meinen können, der feine Arm zerbräche unter dem dicken Jungen. Sie nahm den Strohhut ab, an dessen blauen Bändern das Kind mit täppischen Händchen zerrte, und ich sah ein wunderfeines, lilienweißes Gesichtchen unter einer Fülle so hellblonder Haare, wie sie über Gretchens Rücken hinabhingen.

Mittlerweile war auch der im Stich gelassene Herr Gemahl nachgekommen und in den Garten eingetreten. Er sah dem jungen Helldorf sehr ähnlich, die schönen Männer waren offenbar Brüder. Mit beiden Armen nahm er sein Töchterchen und warf es in die Luft; das weiße Kleid blähte sich wie ein Sommerwölkchen; die goldenen Locken wogten und flatterten im Luftzug, und das Kind jauchzte zum Balcon hinauf. „Onkel Max, siehst Du mich?“

Ich war wie berauscht; ich hatte zum ersten Mal das reinste Familienglück vor Augen. Herzinniges Behagen an dem schönen Bild und eine tiefe Sehnsucht, für die ich keinen Namen wußte, mischten sich mit Wehmuth in meiner Seele. Mich hatte nie eine Mutter leidenschaftlich an ihr Herz gedrückt, ich hatte nie erfahren, wie das glückliche Bübchen dort, daß ein einziger Laut von zärtlichen Mutterlippen alles vermeintliche Leid sofort zu stillen vermag. Aber ich hatte auch mit heimlicher Lust gesehen, wie die junge Frau ihre Kinder herzte – die Beneidenswerte! Wie süß mußte es sein, wenn solch ein Kinderärmchen sich verlangend ausstreckte und alles Heil, alle Beruhigung ausschließlich von der Mutter erwartete!

Gretchen ging wieder zu ihrem Heuwagen und setzte plaudernd ihr Spiel fort, während die Anderen in das Haus traten. Leise glitt ich von der Ulme herab und schritt suchend die Mauer entlang, und da stand ich richtig vor einer Thür, die in’s Freie führte. Es steckte sogar ein Schlüssel im Schloß, er war freilich mit einer dicken Rostschicht überzogen und wurde augenscheinlich nie berührt. Aber mein Verlangen, das kleine Mädchen zu sprechen, machte mich kräftig und gewandt, nach langer Anstrengung wankte der Schlüssel unter meinen Händen, er fuhr herum, und die Thür that sich kreischend auf.

(Fortsetzung folgt.)




Briefe eines Wissenden.[1]
Erster Brief. Manteuffel und Falckenstein.

Geehrter Herr! Unserer Verabredung, Ihnen einige Licht- und Schattenbilder aus der politischen Welt und aus dem Leben und Weben der höheren Kreise unserer neuen Reichshauptstadt zu übersenden, soweit dergleichen Abrisse für die „Gartenlaube“ geeignet sein möchten, komme ich mit Vergnügen nach, obwohl mir gleich bei der Auswahl der Skizzen für diesen ersten Brief schon recht ernste Bedenken entgegengetreten sind.

Sie wissen, daß mich das Schicksal mit einigen der Männer, die heute in dem preußischen Staate eine Rolle spielen, ja zum Theil berufen sind, mächtig in die weltbewegenden Ereignisse der Gegenwart einzugreifen, schon vor Zeiten zusammengeführt hat, und daß ich andauernd Gelegenheit habe, mit den alten Bekannten zusammenzutreffen und mancherlei zu erfahren, was trotz seines allgemeineren Interesses nicht in die Oeffentlichkeit dringt. Mittheilungen solchen Inhalts für Ihr vielgelesenes Blatt, bedürfen aber einer doppelt sorgfältigen Sichtung. Zunächst schließt sich selbstverständlich alles aus, dessen Veröffentlichung eine Verletzung des Amtsgeheimnisses oder ein Mißbrauch persönlichen Vertrauens sein würde, zum Anderen werden die Gefühle der Pietät – die eigenen sowohl wie die der Leser – für die trefflichen Männer, denen das Vaterland seine Wiedergeburt verdankt, Beschränkungen auflegen sowohl in Bezug auf die Darstellung von Thatsachen als auf die Schärfe des Urtheils. Sie haben selbst, Herr Redacteur, diesen letzten Punkt besonders betont, und ich werde den Gedanken durchaus als einen leitenden betrachten, erlaube mir aber eine kurze Erwägung voranzuschicken.

Personen in hervorragender Stellung genießen die Gunst eines glücklichen Vorurtheils; sie werden von allen, die ihnen zum ersten Male nahe treten, mit der Erwartung betrachtet, als müsse ihnen jedenfalls etwas Ungewöhnliches beiwohnen; geht ihnen gar ein verdienter oder unverdienter Ruf voraus, so wächst die Spannung verhältnißmäßig und verwandelt sich in erstaunlich leichter und schneller Weise in Bewunderung, Ehrfurcht und Staunen. Für Menschen, die ein gütiges (bekanntlich nicht immer gerechtes) Schicksal auf eine gewisse Höhe des Lebens gehoben hat, bedarf es weiter keiner Anstrengung, um auf die Masse der gewöhnlichen Sterblichen den Eindruck des Bedeutenden, wohl gar Erhabenen zu machen. Der Mensch ist ein bewunderungssüchtiges Geschöpf; er verlangt durchaus nach einem Gegenstande, den er anstaunen, verehren, betoasten und vor dem er sich beugen und verbeugen [648] kann, und es ist dieses Bedürfniß keineswegs immer eine Aeußerung niedriger Gesinnung, Kriecherei oder Unselbstständigkeit, sondern ebenso oft der Ausdruck eines sittlichen Gefühls, der warmen Anerkennung des Tüchtigeren, Stärkeren in dem Genossen eines gleichen Strebens. Jedenfalls aber dürfen dergleichen Anregungen uns nicht soweit beeinflussen, daß, wenn wir mit der Schilderung von Personen, welche durch amtliche Stellung oder Thaten der Geschichte oder wenigstens der Oeffentlichkeit angehören, vor das Publicum treten, wir, einer Vorliebe oder Theilnahme nachgebend, die thatsächlich vorhandenen Schatten übergehen oder verwischen. Ein solches Verfahren würde sich mit der Aufrichtigkeit der Ueberzeugung nicht vertragen und auch unserm gemeinsamen Zwecke, Ihrem Leserkreise wahrheitsgetreue Bilder vorzuführen, widersprechen.

Bei allem Rücksichtnehmen daher auf hohe gesellschaftliche Stellung, Amt, Würde und Wirksamkeit der Personen, die hier der Besprechung unterzogen werden sollen, wird es doch nicht ausbleiben können, daß mancher Schmuck für unecht, manches eingerostete Urtheil für falsch erklärt wird. Es sind nicht Alle, welche die Wogen des Lebens emporgehoben, rarae aves; viele unter ihnen erscheinen dem schärferen Blicke als sehr gewöhnliches Geflügel; mögen sie denn als solches weiter flattern und auf eine bewundernde Betrachtung verzichten! – Aber wenn diese Darstellungen manche Voreingenommenheit enttäuschen, manchen falschen Schimmer trüben werden, so werden sie doch auch Streiflichter werfen, die in erfreulicher Weise bisher dunkle Partien erleuchten und zur Verbreitung gerechterer Urtheile dienen mögen.

Aber, mein verehrter Herr Redacteur, von vornherein mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich von der behaglichen Freiheit, welche die Briefform gewährt, den ausgiebigsten Gebrauch zu machen gedenke. Schon Memoirenschreiber, zu denen ich mich allenfalls zählen möchte, besitzen das herkömmliche Recht, von der Geschichte zur Anekdote, von einer Begebenheit zur anderen, vom Ernste zum Scherze springen, von einer Persönlichkeit zur anderen übergehen zu dürfen; um so viel mehr mag eine solche Berechtigung der viel loseren Form des Briefes gewährt werden. Nur ein Versprechen habe ich gegeben und werde ich gewissenhaft halten, nämlich nichts als die Wahrheit zu erzählen, soweit ich Thatsächliches berichte. Mein Urtheil mag oftmals irrig sein oder scheinen, wie ich mich gern bescheide; doch ist es ein auf Beobachtung und Erfahrung gegründetes und mag daher wohl, gerade wo es von der landläufigen Meinung abweicht, auch seinerseits auf Beachtung Anspruch erheben.

Zur Sache. – Ich war anfangs geneigt, gleich mit der Schilderung derjenigen Persönlichkeit und ihrer Umgebungen zu beginnen, welche gegenwärtig die Aufmerksamkeit der Welt mehr als jede andre auf sich zieht und gewiß im vollsten Maße verdient, mit der Zeichnung also des Fürsten-Reichskanzlers und seiner Gehülfen, – ein Thema, das trotz des unleidlichen haut-goût, den das Hesekiel’sche Buch verbreitet hat, jeder Darstellung in unseren Tagen Reiz geben muß und daher zur Eröffnung dieses Bildercyklus ganz passend erscheint. Ich habe aber einen besonderen, vielleicht etwas egoistischen Grund, ein andres Bildchen in den Vordergrund zu schieben, nämlich den, aus meiner Mappe Einiges hervorzuholen, was in diesem Augenblick noch Anziehendes genug enthält, in kurzer Frist aber an Interesse wesentlich verlieren kann. Es betrifft dies den Hader zwischen Manteuffel und Vogel von Falckenstein.

Der General von Manteuffel steht bereits zum dritten Mal unter dem wenig beneidenswerthen Geschick, Gegenstand der heftigsten, ja feindseligsten Angriffe in den öffentlichen Blättern zu sein. Das erste Mal gab die bekannte Twesten’sche Brochüre und das darauf folgende Duell Veranlassung, den General auf eine Weise in die Oeffentlichkeit zu führen, welche für den größten Theil des Publicums eine unliebsame war. Zum zweiten Mal knüpften sich im Jahr 1866 für ihn höchst kränkende Insinuationen an die Abberufung des Generals von Falckenstein von dem Commando der Mainarmee und seine Nachfolge in dieser Stellung. Und endlich sind in diesen Tagen in einer Frankfurter Zeitung die gravirendsten Beschuldigungen gegen ihn erhoben und von allen Blättern wiedergegeben worden. Es ist dies eine sehr auffallende Erscheinung. Herr von Manteuffel ist in den beiden großen Kriegen ein glücklicher General gewesen, und nach den competentesten Urtheilen hochgestellter Officiere, die in beiden Feldzügen unter ihm gedient haben, hat er den klaren Blick, die Entschlossenheit und die Thatkraft, welche den Feldherrn machen, hinlänglich gezeigt. Nach denselben Zeugnissen ist er ein freundlicher Vorgesetzter und um das Wohlbefinden des Soldaten sorgsam bemüht.[2] Nur eine absichtliche Parteilichkeit kann diese Thatsachen in Abrede stellen, selbst wenn den Darstellungen in dem Generalstabswerke über den Krieg von 1866 und in den officiellen Entgegnungen auf den Artikel der Frankfurter Zeitung kein allein entscheidendes Gewicht beigelegt werden sollte. Und doch sind diese sämmtlich von dem Obersten von Verdy verfaßt, von einem Mann also, in dessen unbedingte Glaubwürdigkeit in der ganzen Armee nicht der entfernteste Zweifel gesetzt wird, und dessen Urtheil um so eher maßgebend sein kann, als er in dem Kriege von 1866 in dem Generalstabe Manteuffel’s sich befand. Wenn man auf der andern Seite in Betracht zieht, daß in der Presse wie auf der Tribüne minder glückliche Führer selbst nach Tagen wie der von Trautenau mit der äußersten Schonung behandelt sind, so ist die Frage wohl berechtigt, woher die Abgeneigtheit gegen den einen General stammt, wie sie sich nicht nur in den offenen Angriffen, sondern auch in den fast widerwilligen Zugeständnissen ihrer Unbilligkeit ausspricht. Die Hinweisung auf die frühere amtliche Thätigkeit des Herrn von Manteuffel an der Spitze des Militärcabinets kann wohl manche Abneigung erklären, wird aber schwerlich Jemandem ein erschöpfender Grund einer so weit verbreiteten Stimmung scheinen. Warum stößt sein Nachfolger in dem allerdings höchst delicaten Amt, General von Treskow, nicht auf dieselbe Gegnerschaft, obwohl er nach denselben Principien verfährt? – Auch die streng orthodoxe kirchliche Richtung, welche von dem General allerdings stets lebhaft betont worden ist, kann bei den Gegnern derselben nicht das abfällige Urtheil über seine militärischen Leistungen hervorgerufen haben, wie einige seiner Vertheidiger meinen.

Gönnt man doch anderen Männern in gleicher Stellung den Frieden ihrer religiösen Anschauungen, wie zum Beispiel dem Feldmarschall Grafen Moltke, der den Aufruf zu dem evangelischen Kirchentage im nächsten Monat unterzeichnet, deshalb aber noch keine Angriffe von Seiten Andersdenkender zu erdulden gehabt hat. Es mögen diese Dinge mitgewirkt haben; sie sind aber nicht die alleinigen Ursachen der nicht abzuleugnenden Mißstimmung. Ich glaube diese letztere auf zwei Momente zurückführen zu müssen, die ich mich nicht zu besprechen scheue, weil Herr von Manteuffel der Geschichte angehört und eine Charakteristik, selbst wenn sie Schwächen berührt, dem verdienten Mann keinen Abbruch thun kann.

Herr v. Manteuffel leidet selbst bei seinen Freunden unter dem Vorwurfe der übertriebenen Empfindlichkeit, den er bei ernster Selbstprüfung kaum wird zurückweisen können und der ihm an vielen Stellen die Theilnahme entfremdet hat, auf welche er sonst die gerechtesten Ansprüche erheben kann. Näherstehende hatten diese Schwäche schon früher wahrgenommen; sie mußte aber allgemein erkennbar werden bei Gelegenheit des Duells mit dem Stadtgerichtsrath Twesten, dessen Veranlassung eine so unzureichende war, daß sie nur in der verletzten Eitelkeit des vermeintlich Beleidigten ihre Erklärung findet. Wenn sich Jemand in einer so hervorragenden politischen Stellung befindet, wie es bei Manteuffel als Chef des Militärcabinets der Fall war, so muß er auch darauf gefaßt sein, daß seine amtliche Wirksamkeit einer öffentlichen Kritik anheimfällt, und einen rein sachlichen Tadel hat er zu achten, aber nicht als persönliche Beleidigung anzusehen. Wenn Twesten’s Beurtheilung der amtlichen Thätigkeit Manteuffel’s nicht beifällig ausfiel, so verdiente sie eine Widerlegung, enthielt aber so wenig eine Ehrenkränkung wie die Worte, in denen sie gipfelte: „dieser unheilvolle Mann“.

Nicht angenehm berührten sodann die zahllosen Reden, die Herr v. Manteuffel als Generalgouverneur in den Elbherzogthümern bei jeder denkbaren passenden und unpassenden Gelegenheit hielt. Es ist das natürliche Schicksal solcher Improvisationen, daß sie nicht immer den Nagel auf den Kopf treffen und ihre Verheißungen meist nicht in Erfüllung gehen, ein Schicksal, das den Redenden selbst nicht in ein günstiges Licht zu stellen geeignet [649] ist. So sind denn auch die bekannten „sieben Fuß Erde“ eine leere Redensart geblieben, deren Erinnerung einen fast komischen Eindruck macht. – Ebenso verhielt es sich mit den vielen Proclamationen, Tagesbefehlen, Begünstigungen etc., die Manteuffel in die Oeffentlichkeit schickte. Sie stachen seltsam ab gegen die soldatische Einfachheit und stolze Knappheit in den Publicationen der übrigen Generale, besonders des Kronprinzen und des Prinzen Friedrich Karl, die doch wahrlich nicht weniger zu publiciren hatten als der Führer der Nordarmee. Auch die edle Bescheidenheit Werder’s hob sich in einem solchen Gegensatz vortrefflich ab und rechtfertigte die vielfach laut sich äußernde Freude, daß es dem Helden von Belfort vergönnt war, die entscheidenden Schläge gegen Bourbaki vor Manteuffel’s Ankunft zu führen.

Den unbestreitbarsten Beweis der Neigung zu Ueberhebung und scharfer Empfindlichkeit auf Seiten des Letzteren hat jüngst die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ in ihrem vielbesprochenen Artikel über Herrn von Manteuffel geliefert, dessen Inhalt aller erfolgten Angriffe ungeachtet durchweg wahrheitsgetreu ist. Wie dort ganz richtig angegeben worden, richtete Manteuffel nach dem Friedensschlusse von 1866 an den König ein Schreiben, in welchem sich seine verletzte Eitelkeit auf eclatante Weise documentirte. Daß er nicht den Schwarzen Adlerorden erhalten und bei den Dotationen übergangen worden, machte er zum Inhalte so maßloser Beschwerden, daß die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand als die einzig mögliche Antwort befunden wurde. Wenn Herr von Manteuffel gegen diese Aufstellung die Behauptung durch die Zeitungen bei den Gebeinen seines Vaters erhärtet hat, daß er niemals einen unehrerbietigen Brief an Seine Majestät geschrieben, so ist das wohl etwas sophistisch, denn den bezeichneten Brief geschrieben zu haben, kann er nicht leugnen, und über die Schicklichkeit der Form ist von der höchsten Stelle ein Urtheil gefällt worden, dessen Gerechtigkeit das Publicum den Remonstrationen des Betheiligten zum Trotze zu bezweifeln keinen Grund hat.

Daß eine Empfindlichkeit, die selbst vor einer von dem General nach der eigenen Versicherung auf das Höchste verehrten Autorität nicht zurückweicht, überall, wo ein persönliches Zusammenwirken stattfindet, peinlich berühren muß und es nicht zu derjenigen Anerkennung des Verdienstes kommen läßt, zu welcher die militärische Leistungen berechtigen, liegt auf der Hand, und ich glaube deshalb nicht zu irren, wenn ich dieser Schwäche eines unserer ausgezeichnetsten Feldherrn seine geringe Beliebtheit zum größten Theile zuschreibe.

Wenn noch ein anderer und gewichtigerer Vorwurf gegen Herrn von Manteuffel erhoben wird, so befinde ich mich in der angenehmen Lage, demselben auf das Entschiedenste entgegentreten zu können. Es ist nämlich hin und wieder ein Zweifel an der Aufrichtigkeit seines religiösen Bekenntnisses geäußert worden; ich habe mich aber vergeblich bemüht, irgend etwas zu finden, was eine so schwere Verdächtigung begründen könnte, und theile deshalb vollständig die Ueberzeugung seiner langjährigen Bekannten von der Offenheit seines Charakters und seinem Geradsinn. Wenn Eitelkeit und Empfindlichkeit ihn zu einem Abweichen von den Grundsätzen, die er für recht erkannt und erklärt hat, verlocken, so mag man diese Schwächen tadeln; den Charakter anzugreifen, ist man deshalb noch nicht berechtigt. – Ich will hier einen Vorfall mittheilen, der seiner Zeit zu sehr harten Urtheilen Veranlassung gab, der aber doch meines Erachtens auf eine mildere Auffassung Anspruch hat.

Nicht lange vor seinem Duelle mit Twesten hatte Herr von Manteuffel eine an ihn ergangene Forderung abgelehnt. Die Sache verhielt sich folgendermaßen. Der alte Generaladjutant und General der Cavallerie Graf von der Gröben, ein bekannter Freund des hochseligen Königs, war von seinem Gute Neudörfchen nach Berlin gekommen, um als Mitglied des Herrenhauses der Abstimmung desselben über die Aufhebung der Grundsteuereinheiten beizuwohnen, und meldete sich am Tage vor dieser Abstimmung im Laufe des Vormittags bei dem Könige. Dieser, dem die Durchführung des Gesetzentwurfes sehr am Herzen lag, nahm die Gelegenheit wahr, mit dem Grafen Gröben darüber zu sprechen, und gab ihm die Erwartung zu erkennen, daß er, Gröben, der Vorlage zustimmen werde. Dieser aber erklärte offen, daß seine Ueberzeugung von der Unzweckmäßigkeit oder Unbilligkeit des Gesetzes ihn nöthigen werde, gegen dasselbe zu votiren; es erfolgte hierauf eine einigermaßen erregte Rede und Widerrede, und der Schluß der Audienz war, daß Gröben nicht mit denjenigen Zeichen der Gnade, an die er sonst von Seiten seines königlichen Herrn gewöhnt war, entlassen ward. Einige Stunden später versammelte sich in dem königlichen Palais die zu dem Diner befohlene Gesellschaft; darunter General von Manteuffel und der älteste Sohn des Grafen von der Gröben, der Oberst und Flügeladjutant Graf Georg von der Gröben (jetzt Generallieutenant und in dem letzten Feldzuge als Commandeur einer Cavalleriedivision öfters genannt). Dieser war einer der ersten unter den Gästen, die in dem Empfangszimmer auf den Eintritt des Königs harrten; Herr von Manteuffel erschien etwas später und trat, als er den Grafen Gröben erblickte, mit der Frage an ihn heran:

„Sie hier? Wissen Sie nicht, was Ihrem Vater heute passirt ist?“

„Ich bin hierher befohlen worden,“ erwiderte Gröben.

„Es ist unpassend für den Sohn hier zu erscheinen nach dem, was heute dem Vater widerfahren ist,“ entgegnete Manteuffel. Diese Aeußerung kann ich nicht wörtlich wiedergeben, stehe aber für den Sinn.

Der Oberst Graf Gröben fand in diesem mit der militärischen Disciplin in keinem Zusammenhange stehenden Verweise eine Beleidigung und forderte den General von Manteuffel; dieser aber wies die Forderung mit den Worten zurück:

Ich bin ein Christ.“

Alle Achtung vor dem Manne, der den Muth hat, seiner christlichen Ueberzeugung gemäß ein Duell von der Hand zu weisen, insbesondere wenn er als Officier durch diese Handlungsweise mit den Ansichten seiner Standesgenossen in Conflict tritt, obwohl man in dem vorliegenden Falle zu der Bemerkung geneigt sein möchte, daß der Christ vor Allem jede Kränkung des Ehrgefühls eines Anderen zu vermeiden habe. Aber wie verhält sich das Benehmen des Generals von Manteuffel bei dieser Gelegenheit zu seinem Auftreten Twesten gegenüber? Darf der Christ die unter Officieren gebräuchliche Genugthuung dem von ihm Beleidigten versagen, oder solche fordern, wenn er sich selbst beleidigt glaubt? – Das waren Fragen, die auch Manteuffel’s Freunde einander vorlegten und sie bei der Nachricht von dem Twesten’schen Duelle in hohem Grade stutzen machten. Daß ein solches Abweichen von einem bei ernster Gelegenheit erklärten Grundsatze leicht zu einem nachtheiligen Urtheile über die Charakterfestigkeit und die Aufrichtigkeit des Grundsatzes führen mußte, ja daß das ganze Christenthum des Generals angezweifelt wurde, ist sehr natürlich; und doch wird die Annahme richtig sein, daß in dem Twesten’schen Falle nur der Stachel der gekränkten Eitelkeit Herrn von Manteuffel getrieben hat, von dem als recht erkannten Wege abzuweichen.

Ich will doch gleich noch bemerken, daß der Streit zwischen Manteuffel und Oberst Gröben friedlich beigelegt wurde. Auf die ablehnende Antwort des Ersteren trug der Letztere die Sache dem Könige vor und dieser, der in seiner großen Herzensgüte gewiß längst bedauerte, einem alten treuen Diener nicht seine volle Gnade gezeigt zu haben, befahl, den Zwiespalt ruhen zu lassen.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß eine andere Duellgeschichte von europäischem Rufe, welche wie die Twesten-Manteuffel’sche auf politischem Terrain spielte – das BismarckVirchow’sche Drama, gleichfalls schon ein Vorspiel gehabt hatte, welches meines Wissens nur mit sehr bescheidenen Schritten die Bühne der Oeffentlichkeit betreten hat, ein allgemeines Interesse aber keineswegs entbehrt. Es mag daher auch einen bescheidenen Raum in diesen bunten Blättern einnehmen.

In dem Abgeordnetenhause hatte Virchow in einer Rede über den damals vielbestrittenen Militäretat sich gegen den Kriegsminister Herrn von Roon, der so eben die Regierungsvorlage vertheidigt hatte und sich noch am Ministertische befand, direct gewandt und energisch gegen ihn und die ganze Armeereorganisation argumentirt. Die von dem Redner gebrauchten Worte sind mir nicht mehr erinnerlich, können aber die Schranken der Redefreiheit und die Rücksichten, die dem Eifer der Improvisation gezollt werden müssen, nicht überschritten haben, da der zunächst Betheiligte, der Herr Kriegsminister selbst, zu einer Rüge oder anderen Schritten gegen Virchow keine Veranlagung nahm. Sehr unerwarteter Weise fand aber eine Intervention in [650] diesem jedenfalls eminent persönlichen Procedere der beiden Herren von einer dritten Seite statt. Zwei Tage nach dem beregten Vorfalle, als die Hitze der Debatte längst verflogen war und Virchow’s, des Vielbeschäftigten, Gedanken sich bereits in ganz anderen Gegenständen bewegten, erhielt er ein Schreiben von dem ältesten Sohne des Kriegsministers, einem Jünglinge von 23 Jahren, der damals als Lieutenant bei dem ersten Garde-Regiment zu Fuß stand, worin dieser erklärte, daß er die von Virchow gehaltene Rede in den Zeitungen gelesen, durch die von dem Redner beliebten Ausdrücke die Ehre seines Vaters für verletzt erachte und sich daher genöthigt sehe, Genugthuung mit den Waffen in der Hand zu verlangen, falls sich der Beleidiger nicht zu einer befriedigenden Ehrenerklärung und einem Widerrufe der beleidigenden Redewendungen herbeilassen wolle. Offenbar hätte von Seiten Virchow’s die correcte Antwort in einer Zurückweisung des unbetheiligten, also auch unberechtigten Dritten bestanden, vielleicht unter Beifügung einer kurzen Belehrung über die bei Ehrenmännern übliche Sitte, Ehrensachen unter einander ohne Einmischung Dritter zu schlichten. Man sollte auch glauben, daß die Persönlichkeit des Kriegsministers Herrn Virchow um so mehr zu dieser allein richtigen Erwiderung hätte veranlassen müssen, als doch wohl er so gut wie alle Welt angenommen haben wird, daß der Minister von Roon einerseits ein competenter Richter über seine eigene Ehre ist und andererseits keines Beistandes bedarf, um sie zu hüten. – Wie dem aber sein mag, der ruhige, medicinisch nüchterne Virchow schlug einen anderen Weg ein; er antwortete dem jungen Manne, daß er bei seiner Rede im Abgeordnetenhause lediglich die Sache, nicht eine Person im Auge gehabt habe, daher auch keine Beleidigung des Kriegsministers von ihm beabsichtigt und er bereit sei, dies bei einer passenden Gelegenheit in einer der nächsten Sitzungen der Kammer zu erklären. Es wurde sodann im Verlauf dieser Verhandlungen ein Tag festgesetzt, an welchem Virchow sich in der von ihm bezeichneten Weise zu äußern versprach, und er kam der übernommenen Verpflichtung auch in der Art nach, daß er gleich nach Eröffnung der Sitzung das Wort zu einer persönlichen Bemerkung ergriff, sein Bedauern darüber aussprach, daß in seiner neulichen Rede eine Kränkung der Ehre des Kriegsministers gefunden sei, und daraus Veranlassung zu der Versicherung entnahm, es habe ihm eine Beleidigung seines parlamentarischen Gegners durchaus fern gelegen.

Da ich vorher von Herrn von Manteuffel gesprochen, so ist der Uebergang zu General Vogel von Falckenstein nicht blos natürlich, sondern durch eine merkwürdige Reihe von Verkettungen fast geboten. – Die kriegerischen Thaten des berühmten Heerführers sind bekannt und finden in militärischen Relationen ihre Würdigung. Hier möchte es nur am Orte sein, über zwei auffällige Thatsachen sich auszusprechen, nämlich die Abberufung Falckenstein’s von der Mainarmee im Jahre 1866 und seine Verschiebung noch nicht zwei Jahre nachher.

Die Gründe, welche seine Abberufung von dem Commando der so glänzend bis nach Frankfurt geführten Armee veranlaßten, sind in aller Kürze in dem oben erwähnten Artikel der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ angedeutet worden. Zur Ergänzung des dort Gesagten mag das Folgende dienen.

Am Tage vor der Schlacht bei Langensalza hatte Falckenstein dem General Flies, der mit seinem kleinen Corps dem überlegenen Feinde gegenüberstand, den Befehl ertheilt, „dem Feinde immer an der Klinge zu bleiben“, und war dann, obwohl die unmittelbare Nähe des Feindes eine bekannte Sache war, mit der Eisenbahn nach Kassel gefahren, wo er sich zur Ruhe begab. Er verließ auch an dem folgenden Tage sein Nachtquartier so spät, daß er auf dem Schlachtfelde erst nach Entscheidung des Treffens anlangte. Sowohl der unklare Befehl, „dem Feinde immer an der Klinge zu bleiben“, welcher es den General Flies als seine Aufgabe erkennen ließ, den Feind sofort und ohne Rücksicht auf die Ueberzahl anzugreifen, als auch die Entfernung von dem Punkte der Entscheidung und die Nachtruhe in Kassel wurden in dem großen Hauptquartier als die Veranlassungen zu dem Unglück der preußischen Waffen an jenem Tage betrachtet, und es scheint schon von diesem Zeitpunkte ab ein Mißtrauen gegen Falckenstein Platz gegriffen zu haben. Eine Aeußerung desslben war sogleich in der allerdings auffälligen Thatsache zu finden, daß die dem Tage von Langensalza folgenden Verhandlungen mit dem König Georg über die Capitulation des hannöverschen Heeres nicht dem Höchstcommandirenden, Falckenstein, sondern dem unter ihm befehligenden General Manteuffel telegraphisch übertragen wurden. Der Erstere hatte es als selbstverständlich angesehen, daß nur er zum Abschluß dieser Capitulation ermächtigt sei, und die bezüglichen Festsetzungen mit dem gegnerischen Heerführer in der That bereits vereinbart, als sein Untergebener Manteuffel mit der Vollmacht aus Berlin erschien und kraft derselben das getroffene Abkommen in mehreren wesentlichen Punkten modificirte. Hierdurch wurde ein Mißverhältniß zwischen den beiden Generalen hervorgerufen, welches sich während des ganzen Feldzugs vielfach ausprägte, Manteuffel zu der wiederholten Beschwerde, von dem Engagement mit dem Feinde absichtlich fern gehalten zu werden, Anlaß gab, und unzweifelhaft bis heute nachwirkt.

Ein zweiter gegen den General Falckenstein erhobener Vorwurf lautete dahin, daß er Befehle, die ihm aus dem Hauptquartier zugekommen, nicht oder nicht pünktlich befolgt habe. Ob alle Details, die in dieser Beziehung geflüstert wurden, sich der Wahrheit gemäß verhielten, zum Beispiel, daß Falckenstein seine Abberufungsordre einige Zeit unbeachtet in der Tasche behalten, lasse ich dahingestellt sein; so viel aber ist gewiß, daß die Unzufriedenheit mit ihm eine solche Höhe erreicht hatte, daß ein Kriegsgericht über ihn aburtheilen sollte. Mit diesem Vornehmen fiel in sehr unbequemer Weise zusammen, daß das falsch unterrichtete Publicum Falckenstein als einen von einer Hofpartei mißhandelten Mann ansah und sich sehr entschieden auf seine Seite stellte, während zugleich in dem Abgeordnetenhaus für ihn Antheil an der Dotationssumme gefordert wurde.[3] Es drohten solchergestalt höchst unerquickliche Erörterungen, die dem glänzenden Kriege einen gewiß allerseits unerwünschten Abschluß gebracht hätten. Dieser peinlichen Lage machte Graf Eulenburg ein glückliches Ende, indem auf sein Zureden Falckenstein zu dem König ging und um eine Vergebung bat, die ihm leicht und gern gewährt wurde. Er erhielt die Dotation und das Commando des ersten Armeecorps in Königsberg.

Seinen Abschied von dieser Stelle, der bei der geistigen und körperlichen Frische des Generals Aufsehen erregen mußte, erhielt derselbe auf seinen Antrag; die Motive zu letzterem aber glaubt man in Folgendem zu finden. Falckenstein soll in den oft wiederholten Fehler gefallen sein, in dem persönlichen Verkehr und mündlich zu loben, später aber schriftlich das vorher Gelobte zu tadeln, ein Verfahren, welches in allen Stellungen bei den Untergebenen böses Blut macht und das in dem militärischen Verhältnisse nothwendige Vertrauen des Untergebenen in den Vorgesetzten erschüttern muß. So hatte Falckenstein bei seiner ersten (und einzigen) Inspicirung der zweiten Division in Danzig um Kreise der Generale und Stabsofficiere seine volle Anerkennung der vorgeführten Leistungen ausgesprochen; sehr bald aber wurde ruchbar, daß er in seinem Berichte an den König die Division scharf getadelt hatte, und in Folge dessen griff eine solche Mißstimmung gegen ihn Platz, daß er zum zweiten Mal gar nicht mehr nach Danzig gekommen ist. In dieser Art war seine Stellung in Königsberg unhaltbar geworden und er trat freiwillig von derselben zurück.

Daß in beiden Fällen gerade General von Manteuffel, den er als einen Widersacher zu betrachten berechtigt zu sein glaubte, sein Nachfolger wurde, scheint die Verbitterung gegen diesen genährt zu haben, wie aus seinen jüngsten Expectorationen hervorgeht. Bei beiden Gegnern aber, wenn sie solche sein wollen, können wir mit Liebe und Dankbarkeit ihrer tapferen Thaten zu des Vaterlandes Wohl und Ehre gedenken, ihre Schwächen aber gern vergessen. Es würden diese auch hier keine Erwähnung gefunden haben, wenn die Herren sie nicht selbst öffentlich in die Erörterungen gezogen hätten. [651]

Von der Roseninsel eines Königs.


Selten war die Zeit der Rosen so früh schon eingezogen bei uns, selten eine so schöne gewesen, wie im Frühsommer eines der letzten Jahre. Der Strauch der Heckenrose am Zaune des Feldes war nicht minder reich mit Knospen und Blumen überdeckt, als das Remontantenbäumchen in den sorglich umhegten Gärten der Stadt und als der schlichtgrüne Busch der wundervollen, durch nichts an Duft, Farben und Form erreichten hundertblättrigen Rose, die freilich vor dem mannigfaltigen Reiz der eingewanderten Schönen sich auf’s Land geflüchtet hat und eine Bäuerin geworden ist. Es liegt etwas Zauberhaftes in dem Dufte dieser Blume, zumal wenn er von einer größeren Anpflanzung verstärkt und verdichtet einherweht; wenn er in den Harzgeruch der Tannenwälder sich mischt, deren kräftiges, männliches Grün sich zu Duft vergeistigt hat, ist es, als ob hier das zarteste jungfräuliche Roth in Aetherform uns begrüße. Dabei steigt vor dem Erzähler die Erinnerung an ein Fleckchen Erde empor, auf welchem eine der schönsten Sammlungen von Allem, was Rose heißt, vereinigt ist – wenn irgendwo auf Erden das Märchen von der Liebe der Nachtigall zur Rose wirklich gespielt, so muß hier dessen Schauplatz gewesen sein.

Dies Fleckchen Erde ist die Roseninsel im Würmsee in den oberbairischen Bergen.

Bekanntlich wird der Würmsee im Volksmunde nach dem an seinem nördlichen Ufer gelegenen Markte Starnberg benannt, der, noch zu Anfang des Jahrhunderts nur von irgend einem einsam wandernden Naturfreunde, wie Lorenz Westenrieder, besucht und beschrieben, seit seiner Entdeckung und zumal seit Herstellung der Eisenbahn eine Art Vorstadt von München geworden ist; eine beträchtliche Anzahl reicher Leute hat sich schöne Landhäuser gebaut, und es ist wohl zu glauben, daß in weiteren dreißig Jahren der ganze See von einem Kranze reizender Villen und Ansiedlungen eingerahmt sein wird. Andere und zwar sehr Viele beziehen wenigstens auf ein paar Monate oder Wochen eine Miethwohnung in einem der Uferdörfer und begnügen sich mitunter mit der ärmlichsten Bauernstube, nur um ihre „Sommerfrische“ zu haben – ein völlig einheimisch gewordener Begriff, wenn auch die Benennung zunächst von den benachbarten Tirolern eingewandert ist, welche in den südlichen Gegenden regelmäßig aus den heißen Thälern in die frischen Berge flüchten. Alle aber machen wohl mindestens eine Fahrt an den Starnberger See. Da hallt es dann in den Wäldern von den Chören der Liedertafler oder Turner, von den Gesängen der Studenten oder Maler, die unser vortreffliches Bild eben bei munterer Landung zeigt, der irgendwo eine romantische Lagerung folgen wird; in den Dörfern am See wimmelt es von Gästen, welche Keller und Hühnerstall entvölkern und erst spät Abends sich verlaufen, um Reich und Herrschaft den ständig eingemietheten Sommerfrischlern endlich zu überlassen. Am ganzen See ist kaum ein Haus, sicher kein Ort, der nicht städtische Sommergäste aus aller Herren Landen beherbergte – hier mehr, dort weniger, je nach der Mode, und je nachdem von dem einen oder anderen Orte besonderes Rühmen gemacht wird. Es giebt daher der Klagen viele, welche, wenn sie so glücklich sind, eine noch unentweihte Scholle zu entdecken, diese Wissenschaft wie ein kostbares Geheimniß für sich und ihren nächsten Kreis bewachen und dem Ort, wenn ja die Rede darauf kommt, lieber verleumden und schlecht machen, um nur vielen Besuch und den Alltagsstrom abzuhalten. –

Es war ein herrlicher Morgen in der ersten Rosenzeit, als das Dampfschiff dem Gestade, auf welchem Starnberg in Abstufungen hinansteigt, den Rücken wendete und wieder zum ersten Mal den Bergen entgegenrauschte, die sich in lockender Ferne emporhoben; ein duftiger Flor hing darüber, wie ein Schleier, welcher ein schönes Antlitz noch verschönt, indem er es zu verhüllen scheint. Es war frisch und kühl auf dem Deck, die sommerliche Völkerwanderung begann erst in einzelnen Vorläufern; man hatte volle Freiheit, dem Zuge der Berglinien zu folgen, von der breiten Benedictenwand an zum schroffgezackten Karwendel, über Heimgarten und Herzogstand hinweg bis zu der das felsige Wettersteingebirge abschließenden Zugspitze – ein einsamer riesiger Thron, welcher des ihn bewältigenden Fürsten zu harren scheint. Die Gesellschaft war noch klein; sie bestand außer einigen Landleuten aus einem Häuflein Studenten, welche zum ersten Mal einen Ausflug in’s Hochland zu machen vorhatten und in einer Art feierlicher Scheu die fernen Säulen des Tempels betrachteten, dessen Geheimnisse sich ihnen nun so bald erschließen sollten.

Bald war die Haltestelle zu Possenhofen erreicht, von welcher der Pfad den See entlang durch Wiesen und unter prachtvollen Gruppen alter Buchen sich dahinschlänget und in eine nicht minder schöne Parkanlage führt, in die auf Geheiß des verstorbenen Königs Maximilian von Baiern das ganze Gestade umgeschaffen wurde. Die schönen Ufer mit ihren malerischen Hängen, Matten, Wäldern und seltenen alten Bäumen sind dadurch für alle Zeit der zerstörenden Gier der Habsucht, wie dem sich abschließenden Dünkel der Eigensucht entzogen: sie sind ein Gemeingut geworden „für alle Wanderer, die des Weges fahren“ und dankbar des Königs gedenken, der ein Freund der Menschheit im schönsten Sinne des Wortes war und mit ihr Frieden haben wollte wie mit seinem eigenen Volke. Deshalb war er auch ein Freund der Natur und flüchtete zu ihr in die Einsamkeit, wo und wie er es nur konnte, und wenn es durchaus unmöglich war, da gebrauchte er seine königliche Macht und ließ sie zu sich kommen, und so entstanden die Anlagen mit Alleen, Gebüsch- und Blumengruppen in den Straßen und zwischen den Steinmassen der Paläste, so verwandelte er die unwegsamen, häßlichen und sogar gefährlichen Isaranhöhen des Gasteigs in einen fortlaufenden Garten und baute sich einen anmuthvollen Wintergarten neben seiner Königsburg.

In den erwähnten Parkanlagen sollte ein großes Schloß gebaut werden und Alles in sich vereinigen, was Wissenschaft, Kunst und Dichtung des Schönen und Edlen zu bieten vermögen; der kaum begonnene Bau gerieth mit dem Tode des Königs in’s Stocken, der Park aber ist geblieben und ebenso das schräg gegenüberliegende Eiland, das, von Gebüsch und hohen Bäumen eingerahmt, jeden Einblick in sein Inneres abwehrt.

Das eben ist die Roseninsel, auch eine der Schöpfungen König Maximilian’s, und zwar eine seiner liebsten, eine der wenigen, an deren Vollendung sich zu erfreuen ihm selbst noch vergönnt war. Mit der Erlaubnißkarte des Hofmarschallamts in der Tasche kann man ihr getrost nahen; ohne diese versagt der Fischer die Ueberfahrt in das kleine Paradies unerbittlich; denn der Verlust des Dienstes hängt über ihm, wie das feurige Schwert der Paradieswächter.

Wenige Ruderschläge genügen, den schmalen Wasserstreifen zurückzulegen, welcher das Inselchen vom Lande trennt, mit dem es früher zweifellos zusammenhing. Bis ganz zuletzt stand hier das Wohnhaus einer Fischerfamilie, die es aber, nachdem es niedergebrannt war, nicht wieder aufbaute, sondern auf das Festland übersiedelte. Die Insel ging dann käuflich an König Maximilian über, der sich in ihr eine Zuflucht für jene philosophische Ruhe und Beschaulichkeit erschuf, welche er so sehr liebte. Ein einfaches Gebäude halb im englischen Cottage-, halb im italienischen Stil mit einem Thurm, der eine herrliche Rundschau gewährt, entstand an der Stelle des Fischerhauses, von dem jetzt in Wien lebenden Architekten Kreuter analog der früher gleichfalls von ihm erbauten, jüngst in der „Gartenlaube“ erwähnten Elsholtz’schen Villa hergestellt.

Die Gemächer des Hauses fallen dem Besucher sofort durch die Einfachheit ihrer Haltung und Einrichtung auf, aber gerade dieses fügt sich so recht in die stille Harmonie des Ganzen. Nord- und Westseite sind fast ganz vom dunkelgrünen üppig wuchernden Epheulaube bedeckt, während an der Veranda der Ostseite wilde Weinreben, Geisblatt und dergleichen sich emporranken und in vielfachen Verschlingungen sich so fest umarmen, als wollten sie für alle Ewigkeit nicht von einander lassen – ein Bild deutscher Treue und Beständigkeit.

Vor dem Hause steht eine Säule mit einer hübschen weiblichen Statuette, einer Jägerin, welche den Falken von der Faust steigen läßt. Der Schaft der Säule ist der Länge nach blau und weiß gestreift, während Sockel, Capitäl und Statuette vergoldet sind und im Strahle der Sonne hell glänzen. Das Ganze ist ein Geschenk des verstorbenen Königs Friedrich Wilhelm des Vierten von Preußen, welcher einstmals mit König Max auf der Roseninsel dinirte und zum dauernden Andenken hieran die Säule für seinen Gastfreund gießen ließ. Zwei ähnliche Säulen kamen dann auch

[652]

Die Roseninsel im Starnbergersee.
Nach der Natur aufgenommen von E. Mayer.

[653]

Am Ufer des Starnbergersees.
Nach der Natur aufgenommen von A. Specht.

[654] nach Sanssouci und Petersburg. Vor diesem Erinnerungszeichen und darum her breitet sich das Hauptrosenbeet, das der Insel den Namen gegeben hat, und mit Recht; denn das Bereich der Rosenkunde hat kaum irgend etwas aufzuweisen, was hier nicht in einem der schönsten Exemplare vertreten wäre. Ueberallhin sind größere und kleinere Gruppen zerstreut, und ein schön gewundener Pfad umkreist hinter dem Alles einschließenden Laubgürtel der Büsche und Bäume die etwa eine Viertelstunde im Umfang haltende Insel.

Am östlichen Ufer der Insel erhebt sich eine einfache Rotunde, deren Schindeldach auf einem Doppelkreise unbehauener Stämme ruht, im Innern mit vier Ruhebänken versehen, von welchen aus über das dem Gestade entlang wachsende dichte Schilf hinweg ein weiter Ausblick auf die blaue Fläche des Sees, die jenseitigen Uferhöhen mit ihren Dächern und Landhäusern und auf die im Süden sich aufthürmenden Berge sich bietet. Der einzige Schmuck dieses idyllischen Tempels beschaulicher Ruhe sind der Epheu und die wilde Rebe, die auch hier die rauhe Rinde seiner Natursäulen umschlingen.

Den Plan zu den Anlagen der Roseninsel hat der als erste Gartenkünstler in Europa geltende Ober-Gartendirector in Potsdam, Lenné, geliefert, der beim Anblick der Insel in ihrer ursprünglichen Gestalt mit den ihr schon von der Natur selbst gegebenen malerischen Baumgruppen den bezeichnenden Ausruf gethan haben soll: „Wenn mein königlicher Herr das in Potsdam hätte, was Baierns Herrscher hier hat, dann brauchte er mich nicht.“

Wenn König Ludwig der Zweite, der mit dem wittelsbachischen Throne auch dieses anmuthige Eiland mit all’ dem Schönen, was es in seinem verborgenen Schooße birgt, von seinem Vater ererbt hat, von Schloß Berg aus die Insel mittels des niedlichen Dampfers, den er sich für seine Fahrten hier bauen ließ, zuweilen besucht, so geschieht dies meist in der späteren Nachmittagszeit; er erscheint dann nur in Begleitung eines Adjutanten und hält sich in der Regel zwei bis drei Stunden auf. Mahlzeiten werden daselbst nur veranstaltet, wenn der König, was selten der Fall, hohe Gäste mitbringt.

Die Lebensweise des Königs bei seinen kurzen Besuchen auf der Roseninsel ist vielmehr auch hier dieselbe wie drüben in Berg und überall; sie läßt sich in die vier Worte zusammenfassen: Thätigkeit in der Einsamkeit. So mag es denn den Leser der Gartenlaube wohl interessiren, bei dieser Gelegenheit auch Etwas aus dem „verzauberten Schlosse“ zu hören, wie Jemand das Schloß Berg genannt hat, das vom andern Ufer des Sees dort zu uns herüberleuchtet, mit hellen Mauern und auf seinem Giebel die flatternde Fahne des bairischen Königshauses.

Der zum Schlosse Berg gehörige Park, der sich fast bis Leoni hinaufzieht, bleibt, wie ein Anschlagzettel besagt, während der Anwesenheit des königlichen Hofes für Jedermann verschlossen, das heißt, wie mir dieser Ukas seiner Zeit von dem in der Nähe der Einfahrt der Burg langweilig herumlungernden Gensd’armen verdeutscht wurde, so lange die königliche Hofhaltung sich daselbst befindet, also auch wenn der König zeitweilig in Person nicht anwesend ist. Aber einen Blick in den Schloßhof dürfen wir doch werfen. Wie ist da Alles so still mitten am Tage! Nur selten huscht ein dienstbarer Geist leisen Schrittes vorüber, und kein Geräusch tönt in unser Ohr, als das eintönige Plätschern der Fontaine, die in Mitte des Schloßhofes ihre im Strahle der Mittagssonne glitzernde Wassersäule hoch emporsendet, und dann und wann aus den Küchenräumen das Klappern von Kochgeschirren. Die Hoftafel in Berg wird übrigens nur für zwei Personen servirt, für den König und seinen Adjutanten; die übrigen Bewohner des Schlosses gehören zum niederen Dienstpersonal. Eine Erweiterung der königlichen Tafel giebt es nur dann, wenn der König, was selten der Fall, fürstliche Gäste hat, oder Minister aus der Stadt heraus zur Audienz kommen, die dann in der Regel zur Tafel gezogen werden. Die Küche ist sehr einfach; auch ißt der König unregelmäßig und nicht viel, wie er überhaupt in Bezug auf materielle Bedürfnisse sehr anspruchslos ist. Wenn er zum Beispiel das Seeufer entlang reitet – und er pflegt seine Touren zu Pferde in keiner andern Begleitung, als in der eines Reitknechts zu machen – so trinkt er in der Regel bei einem armen Schuhmacher in der Nähe von Amerland ein Glas Wasser, wofür dieser jedesmal ein Geschenk von einem Gulden erhält. Hier im Walde werden auch gewöhnlich die Pferde gewechselt, indem ein zweiter Reitknecht daselbst solche bereit hält.

Einmal ritt der König auf den Herzogstand – ein sechstausend Fuß hoher Berg zwischen dem Kochel- und Walchensee – nach dem Hause, welches sein Vater auf demselben hatte bauen lassen, und wollte von da auch noch zu dem auf dem Gipfel des Berges stehenden Pavillon zu Roß hinaufkommen; nachdem ihm jedoch von solchen Ritte abgerathen worden war, begab er sich zu Fuße hinauf. Auf dem Herzogstand hielt er sich damals drei Tage lang auf, blieb jedoch beim schönsten Wetter im Zimmer sitzen und beschäftigte sich mit Lesen. Nur einmal ließ er sich sein Mahl auf das Plateau des Hauses bringen und betrachtete, während er es verzehrte, die Gebirgswelt, die sich vor seinen Augen ausbreitete. Das dortige Jagdpersonal hatte geglaubt, und der üblichen Trinkgelder wegen gehofft, der König werde bei dieser Gelegenheit ein wenig den Philosophen mit dem Nimrod vertauschen, wurde aber in dieser Erwartung vollständig getäuscht. Den Rückweg vorn Herzogstand herunter trat er bei Nacht an und ließ sich hierbei nicht vorleuchten, er befahl vielmehr dem Jägerburschen, der dies mit einer Fackel thun wollte, ihm zu folgen, da er den Weg recht wohl kenne, und sauste in seiner ungeschwächten Jugendkraft den Berg hinab, daß er einmal fast unter die Latschen, zwischen denen der Weg sich hinwindet, hineingefallen wäre.

Eine Untugend hat König Ludwig der Zweite fast mit allen Männern gemein: auch er nimmt an der Consumtion des „stinkgiftigen Schmauchkrauts“ Theil, indem er theils Cigarren, theils aus Wasserpfeifen (Nargileh) türkischen Tabak raucht.

Als Freund körperlicher Bewegung ist er auch Schwimmer, und aus einem ganz einfachen Badehäuschen im See, welches seinen Zugang vom Schloßpark her hat, und worin er zu verschiedenen Tageszeiten, meist aber Abends badet, schwimmt er oft, in mondhellen Nächten noch um neun und zehn Uhr, hinaus in die weite, anlockende Wasserfläche des Sees.

Luxuriöser als das Badehäuschen soll ein türkischer Kiosk eingerichtet sein, den sich der königliche Einsiedler an einer versteckten Stelle des Parkes bauen ließ, und der, wenn er nächtlicher Weile erleuchtet ist, einen phantastisch schönen Anblick gewähren soll. Wenn der König ausnahmsweise Jemand einlädt, dieses sonst für alle Welt verschlossene und unnahbare Heiligthum, in welchem er sich zuweilen in alleiniger Gesellschaft seiner Bücher und Schriften stundenlang aufhält, mit ihm zu betreten, so gilt das als eine besondere Gunst und Derjenige, so derselben theilhaftig wird, als persona gratissima.

Bei den Anwohnern des Starnbergersees ist der König sehr beliebt; denn so würdevoll und gemessen – ein Herrscher vom Scheitel bis zur Sohle – er da auftritt, wo er öffentlich als Landesfürst erscheint, so leutselig und ungezwungen ist er im persönlichen Einzelverkehr mit Jedermann, wie er denn gern die Fischer bei ihrer Arbeit anspricht und sich auf’s Freundlichste nach ihren Verhältnissen erkundigt. Damit geht aber auch des Königs Neigung, Wohlthaten zu spenden, Hand in Hand, so daß ein paar hundert Gulden, die er oft bei seinen Ausflügen zu diesem Zweck mitnimmt, zuweilen nicht ausreichen.

Seine Umgebung ist dem Könige überaus zugethan, und ihre übereinstimmende Klage ist nur die, daß er nicht darnach strebe, sich populär zu machen und dadurch den Werth seiner vortrefflichen Charaktereigenschaften noch mehr zu erhöhen. Unter diese Eigenschaften gehört des Königs eminenter Selbstbildungstrieb und sein eiserner Fleiß, so daß er, wie er überhaupt nicht leicht vor Mitternacht schlafen geht, nicht selten bis Morgens drei oder vier Uhr liest oder auch schreibt. So besteht denn auch, wenn er einen mehrtägigen Ausflug, zum Beispiel auf den Lindenhof, macht, sein im Uebrigen sehr einfaches Gepäck zumeist aus Büchern, welche bei Ankunft am Bestimmungsorte zuerst ausgepackt werden müssen. Auf diese Weise, und da, wie es an Höfen Sitte ist, Derjenige, welcher sich zu einer Audienz meldet, auch angeben muß, was ihn zu derselben veranlaßt, erklärt es sich, daß der König auf alle Audienzen geschäftlicher Natur wohl vorbereitet ist und in Bezug auf den Gegenstand, um welchen es sich zuweilen handelt, ein Wissen bekundet, über welches Diejenigen, die zum ersten Male von ihm empfangen werden, nicht wenig überrascht sind. Der König spricht bei den Audienzen in der Regel viel und den betreffenden Gegenstand erschöpfend, und mit Wärme rühmen die Betheiligten auch die außerordentliche Liebenswürdigkeit, womit er Jedem entgegenkommt und die ihm alle Herzen gewinnt.

Eine Eigenschaft des Königs, die wir Baiern in der gegenwärtigen [655] Zeit der hierarchischen Anmaßungen und Uebergriffe nicht hoch genug schätzen können, ist sein entschiedener Widerwille gegen jene Art von Pfaffenthum, wie sie sich zur Zeit in ihren fluchwürdigen Bestrebungen, den Strom der Wissenschaft und Geistescultur zurückzudämmen, breit macht. Er soll in dieser Beziehung wiederholt geäußert haben: „Sie treiben, was nicht ihres Amtes ist, und was ihres Amtes wäre, das thun sie nicht.“ Von Personen, welche schon öfter Gelegenheit hatten an der königlichen Tafel theilzunehmen, ist es auch nicht unbemerkt geblieben, daß der Erzbischof von München, so oft er zu derselben beigezogen wird, nie in der unmittelbaren Nähe des Königs placirt ist, daß er aber, hierdurch der Gefahr entrückt, vom König angesprochen zu werden, sich mit um so größerem Behagen und Eifer den Genüssen der Küche hingiebt, die dem hochwürdigsten Oberhirten auch sehr gut anzuschlagen scheinen.

Des Königs Dampfer steht nicht, wie man glauben sollte, in Berg, sondern in einer großen Schiffhütte zu Starnberg, und wenn der König auf ihm fahren will, muß deshalb nach Starnberg telegraphirt werden. Es ist so zu sagen ein Miniaturdampfer, ein zierliches, schlank und leicht gebautes Schiff, nur etwa dreißig bis vierzig Fuß lang, mit schmalem Kiel, die Außenseite in der oberen Hälfte grün, in der unteren weiß. Die Spitze des Schnabels ziert ein vergoldetes bairisches Wappen mit Krone, und der halbrunde Bogen des Radkastens zeigt in einfacher gothischer Schrift den Namen des Schiffes „Tristan“. Ebenso einfach ist dieses selbst eingerichtet. Die sehr kleine Kajüte des Hintertheils, welches kein Deck hat, ist mit ein paar schmalen rothsammtenen Divans, zwei eben solchen Fauteuils und einem des engen Raumes wegen nur einen Fuß breiten, jedoch mit einer gleich breiten Aufschlageplatte versehenen, im Gegensatze zu den dunklen Sitzmöbeln hellpolirten Tischchen eingerichtet, und quer über das Deck des Vordertheils, in der Nähe der Maschine, steht ein Sopha mit grünem Lederüberzug, während zu beiden Seiten dem Deckgeländer entlang sich je eine Rohrgeflechtbank hinzieht. Der Boden des Decks ist parketirt.

Auf diesem Dampfer fährt Ludwig der Zweite herüber bis weit über die Mitte des Sees zu dem anmuthigsten aller Eilande, zu der Roseninsel, vor sich die stolze Reihe der hochragenden, in leichten Duft gehüllten Alpen, über sich den in seiner tiefen Bläue oft an Italien mahnenden wolkenlosen Himmel. Dazu rauschen von den grünen Ufern her die sonnenglitzernden Wellen gegen den Kiel des Schiffs, dessen Name schon an die berühmteste Lieblingsneigung des Königs erinnert, und lassen es in ihrem leichten anmuthigen Spiel kaum ahnen, wie auch sie, zur Zeit des Herbstes von den nachtdunklen Stürmen gejagt, sich bäumen und tosen und, auf ihrem Kamme den weißen Gischt, gegen die ihres Sommerschmuckes beraubten Gestade in wildem Anprall branden können.

Der Abschied von der Insel hält schwer. Es liegt eine so harmonische Ruhe auf dieser weltvergessenen Einsamkeit, daß man sich ungern losreißt aus der herzerweiternden Beschränkung, wieder hinauszutreten in die Welt, welche das Gemüth nur zu häufig zusammenpreßt und -schraubt, so weit und schrankenlos sie auch erscheint …

Es war im nächsten Jahre, als ich auf’s Neue der Lockung unterlag, denselben Weg wieder zu gehen. Als wir an die Roseninsel kamen, gedachte ich meines Besuchs und zugleich eines schönen Paares, das damals seine Verlobung gefeiert und das ich eben auf der Roseninsel in vertrautem Gespräche gesehen hatte. Ich hatte den schönen Anblick noch nicht vergessen, den mir dasselbe bei heimlichem Betrachten geboten. Ich hatte mein Auge damals von dem Paare nicht wenden können; denn ohne Zweifel: zwischen ihnen wuchs eine Blume, wie man es wohl auf altdeutschen Bildern zu sehen pflegt, immer höher empor, – auch eine Rose und wohl die schönste, die duftigste von allen, die in Wahrheit zu pflücken nur wenigen Auserwählten vergönnt ist.

Damals hatte mir der Steuermann des Schiffs, auf dem das Paar mit mir zur Roseninsel gefahren war, Mancherlei über das erstere erzählen können, und nun forschte ich bei ihm begierig über das weitere Geschick der beiden jungen vornehmen Leute nach. „Das ist auch ganz anders gegangen, als man erwartet hatte,“ erwiderte er kopfschüttelnd. „Das schöne Paar ist uneins geworden und wieder auseinander gekommen; es ist einmal nicht anders auf der Welt, nicht aus jeder Knospe wird eine Rose!“

Eben fuhren wir an der Insel vorbei, – tief in Gedanken wiederholte ich die Worte des Steuermannes: „Nicht aus jeder Knospe wird eine Rose – das ist Rosenschicksal!“




Blätter und Blüthen.

Mahnung an eine Königsbraut. Ein Brief der Königin Louise. Die Gartenlaube hat im Jahrgang 1866, Seite 294, in dem Artikel: „Der letzte Ritter des Frankenlandes und seine Tafelrunde“ von einer Schwester der Königin Louise von Preußen, der Herzogin Charlotte von Sachsen-Hildburghausen erzählt, die eine der größten Sängerinnen und zugleich die Mutter einer der schönsten Prinzessinnen ihrer Zeit war. An letztere, ihre Tochter Therese, richtete Königin Louise den nachfolgenden Brief, als ihr die Verlobung derselben mir dem Kronprinzen Ludwig von Baiern, Maximilian’s des Ersten Sohn, angezeigt worden war. Wir machen den Leser auf die Zeit aufmerksam, zu welcher diese Zeilen geschrieben sind: es war die von Preußens tiefstem Fall, und darnach würdige man den Inhalt.

Potsdam, den 11. Mai 1810.

Liebe Therese! Ich gratulire Dir von Herzen zu Deiner bevorstehenden Verbindung, und wünsche aufrichtig, daß sie sich zu Deinem Glück schließen möge. Viel, ja sehr viel wird dabei auf Deine Aufführung ankommen. Liebe und besonders der Rausch der Liebe kann nicht immer dauern; aber Freundschaft und Achtung kannst Du verdienen, wenn Du rein und unbescholten dastehst und wenn Klugheit Deine übrigen Schritte in der Welt leitet. Dazu gebe Dir Gott Kraft und Willen! Er leite Dich auf ebner Bahn und segne Dich und sei Dir nahe mit seinem Geist und seiner Gnade! Amen.

Dieses sind die aufrichtigen Wünsche meines Herzens für Dich, liebe Therese! Ich kann Dir keine großen Beweise meiner Liebe geben, ich schicke Dir hiebei eine Eventaille mit meinem Namen in bunten Steinen. Sie ist ganz einfach, ohne Juwelen, wie die Zeit es mit sich bringt. Kommt sie mal besser, so bekömmst Du noch etwas.

Noch vor einer Sache warne ich Dich. Laß die Eitelkeit, die Klippe der Jugend, nicht überhand nehmen. Bedenke, daß Du in ein gänzlich ruinirtes Land kommst, wo eine allgemeine Drangsal das Volk erdrückt. Bestrebe Dich, Gutes zu thun und Wohlthaten zu streuen, damit die Unglücklichen Deinen Namen segnen und nicht die marchandes de mode Dich loben. Dies kommt Dir jetzt vielleicht lächerlich vor, daß man zwischen den beiden Wegen nur wählen könne. Doch wirst Du recht wählen, dafür bürgt mir Dein Herz und das Beispiel Deiner unvergleichlichen Mutter, aber in Gefahr wirst Du doch manchmal kommen, wo Kopf und Herz nicht einig sein werden. Behalte diesen Brief, und kommen solche Gelegenheiten, so denke Deiner Tante, die durch Unglück und Trübsal der großen Bestimmung entgegenreifte.

Adieu, gute liebe Therese! Der Himmel sei bei Dir, mit Dir, um Dich! Behalte fest Deine Grundsätze und laß Dich nicht wanken in dem, was Du einmal für Recht erkannt hast!

Deine treue Tante und Freundin
Louise.

Nur zehn Wochen später hatte die gefeierte Königin ihre „große Bestimmung“ erreicht, ohne ihre schöne Nichte wieder gesehen zu haben. Die Mahnung der „Tante und Freundin“ blieb dieser aber heilig, sie ist in der That eine Wohlthäterin der Armen geworden und geblieben bis an ihren Tod, am sechsundzwanzigsten October 1854. Den vorstehenden Brief verdanken wir der Güte des Diaconus Dr. Armin Radefeld in Hildburghausen, der ihn, als Copie, von einer Kammerfrau der Königin Therese, Fräulein Stein, erhielt. Das Original ist offenbar in München zu suchen.


Die Holzschuh-Frage, die wir in Berücksichtigung eines wichtigen Elsässer Industriezweiges angeregt haben, ist mit so viel Theilnahme aufgenommen worden, daß sie uns fast über den Kopf wächst und dringend ihre Erledigung verlangt.

Vor Allem gestehen wir, daß es von unserem Correspondenten oder von uns ein Versehen war, als wir Wasselnheim als einen Hauptort der Holzschuhfabrication bezeichneten: hier werden vorzugsweise die zur Benutzung namentlich der feineren Holzschuhe unentbehrlichen Wollsocken, eine Art aus starker Wolle bereitete Schuhe oder Halbstiefel, von den Franzosen „chaussons“ genannt, geliefert. „Beide,“ so schreibt uns Herr J. Grohig in Wasselnheim, „müssen miteinander vereinigt werden, um in und außer dem Hause als eine warme Fußbekleidung zu dienen. Sollte es gelingen, diesen Artikel, welcher einen großen Industriezweig bei uns ausmacht, im alten Vaterlande einzuführen, so würde man dafür im neuen Reichslande und besonders in unserer Gegend zum größten Danke verpflichtet sein. Die Holzschuhe werden meistens in den beiden, ebenfalls am Fuße der Vogesen liegenden gewerbfleißigen Nachbarstädten Molsheim und Mutzig gearbeitet, viele aber auch aus dem Schwarzwald bezogen.“

Bekanntlich werden die Holzschuhe aus Linden- oder aus Kastanien-, Birken- oder Ulmenholz gefertigt. Sie sind entweder ganz aus Holz geschnitzt, oder, und das giebt dann die feineren Sorten, aus Holz und Leder zusammengesetzt. Ein solches Paar kaufte ich mir in Orleans, und es steht eben da vor mir, um für den Leser beschrieben zu werden. Aus Holz besteht die fingerdicke Sohle sammt dem Absatz und dem sogenannten Quartier (Hinterleder), Alles geschickt nach der Form des Fußes geschnitten. Daran ist ein sehr starkes Oberleder befestigt und zwar derart, daß selbst das beißendste Schneewasser keinen Durchgang zu den Socken fressen kann. [656] Letztere habe ich in Orleans von feinem Filz bereitet gefunden. Der Fuß befindet sich in solchen Schuhen außerordentlich wohl, und es wird keinen Unterschied machen, ob man sich dadurch vor den Estrichfußböden der französischen Wohnstuben mit ihren unzulänglichen Heizapparaten, oder vor dem Schnee und Winterschmutz der deutschen Straßen schützt.

Uebrigens werden wir auch hier an die Wahrheit des Dichterwortes gemahnt:

„Warum in die Weite schweifen, sieh’, das Schöne liegt so nah!“ Denn in der Holzschuhfabrikation stellt auch unser Erzgebirge seinen Mann, und namentlich in eleganten Holzschuhen zeigte die Chemnitzer Gewerbeausstellung von 1867 einen im damaligen Bericht der Gartenlaube besonders hervorgehobenen Reichthum.

So können denn Alt- und Neu-Deutschland in diesem Industriezweig sich die Hände reichen, und je Besseres Beide, dort in der Woll- und hier in der Holzschuhfabrikation leisten, desto kräftiger werden sie, durch die immer weitere Ausbreitung der gesunden Fußtracht, sich gegenseitig unterstützen und heben.

Als Fabrikant der Wollsocken für die Holzschuhe ist uns Herr Jakob Amos in Wasselnheim genannt. Die Ausführung selbst nur der vorzüglichsten Holzschuhfabrikanten dies- und jenseits des deutschen Rheins möchte sich doch wohl besser für eine Industriezeitung, als für die Gartenlaube eignen.


Kleiner Briefkasten.

R. G–bold in München. Was Sie wünschen und suchen, finden Sie wohl am besten und gediegensten in der hier erscheinenden Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“. Denn wenn wir auch Ihre Klagen über die Parteilichkeit und Unzuverlässigkeit der meisten jener Journale, welche sich ausschließlich mit Musik oder Theater beschäftigen, leider begründet finden müssen, so sind doch gerade die „Signale“ in der gesammten musikalischen Welt dafür bekannt, daß sie in ihrem Urtheil mitunter scharf und einschneidend, aber immer unbestechlich, unparteiisch und ehrlich sind. Dafür spricht gewiß auch der Umstand, daß das genannte Journal schon demnächst in der glücklichen Lage ist, seinen dreißigsten Jahrgang beginnen zu können, noch immer unter der bewährten Leitung des Herrn Bartholf Senff, der es vor eben jenem Zeitraum gegründet hat. Die bei einem Preise von zwei Thalern jährlich mindestens in zweiundfünfzig Nummern erscheinenden „Signale“ bringen wohl am raschesten und reichhaltigsten unter allen Wochenschriften dieser Art Berichte über Concert und Oper aus allen namhaften Städten, Personalnachrichten aus der gesammten musikalisch-theatralischen Welt, Opernrepertoires aller Theater von Bedeutung, Biographien und Charakteristiken aller namhaften Tonkünstler der Gegenwart, Engagementsanerbietungen, Kritiken der hervorragenderen musikalischen Erscheinungen etc. Für die Tüchtigkeit des Inhalts dürften Ihnen am ersten und sichersten die Namen der Mitarbeiter bürgen, die den „Signalen“ seit nun dreißig Jahren ihre Beiträge zugewendet haben und unter denen Sie Männer finden wie: Fr. Szarvady, Louis Köhler, Theodor Hagen, E. Bernsdorf, C. Lobe, Carl Banck, Joachim Raff, Aug. Reißmann, M. Hauptmann, J. von Wasielewski, W. v. Lenz, H. v. Bülow etc.


Vermißte Soldaten unseres Krieges.
(Fortsetzung von Nr. 31.)
I. Auskunft

Nur über einen einzigen der in der vorigen (2.) Liste aufgeführten Vermißten ist eine Mittheilung eingetroffen. Herr Karl Fiedler, ehemals Füsilier der 10. Comp. des 94. Reg. Großherzog v. Sachsen, jetzt Wirker in Apolda, schreibt uns, daß er am Abend der Schlacht bei Wörth in das Dorf Dürrenbach bei Hagenau als Lazarethgehülfe commandirt worden sei und dort sei unter den Verwundeten ihm ein blasser junger Mann aufgefallen, welchem eine Kugel den rechten Oberschenkel zerschmettert hatte. „Keine Klage kam über seine Lippen, gefaßt ertrug er sein Schicksal. Gebettet war er in dem kleinen Saale der Mädchenschule zwischen zwei Franzosen. Er sagte mir, er sei ein Meininger, bei Hildburghausen zu Hause und gehöre zur 8. Comp. des 95. Reg. Er war ungefähr in meiner Größe (5’ 4“ 3’’’), hatte blonde Haare und ein blasses längliches Gesicht, ohne Bart, sonst war er sehr stark gebaut. Am Morgen des 7. Aug., wo ich ihn wieder aufsuchte, befand er sich ganz wohl, hatte etwas Essen zu sich genommen und wollte an die Seinigen schreiben. Aus Mattigkeit verschob er dies jedoch auf den folgenden Tag. Mein Anerbieten, seine Angehörigen von seiner Verwundung zu benachrichten, wies er dankend zurück, weil er befürchte, daß man sich zu Hause mehr Sorgen um ihn mache, wenn ein Anderer als er den Brief geschrieben habe. Nach Erneuerung seines Verbandes ging ich meinen übrigen Pflichten nach. Am 8. früh eilte ich wieder in das Schulhaus und zu seinem Bette – es war leer! Still war in der Nacht der Todesengel an ihn herangetreten, ein Braver war weniger. Eine Lehrschwester aus Dürrenbach hatte ihm die Augen zugedrückt. Ich war schmerzlich berührt, ich hatte den jungen Mann liebgewonnen. – Die Todtengräber hatten ihn auf dem Kirchhof, der Schule gegenüber, beerdigt. Vergeblich fragte ich jedoch nach seiner Hinterlassenschaft, um sie an das Etappencommando abzuliefern. Nichts war vorhanden, die blutigen Kleider lagen bei anderen auf einem Haufen im Schulhofe, und auch die Blechmarke hatten sie dem Todten nicht abgenommen. Es ist daher nur eine Vermuthung, wenn ich in dem hier Bestatteten den Hans Hoffmann aus Heldburg bei Hildburghausen glaube erkannt zu haben, den die Gartenlaube als Vermißten aufführt. Vielleicht finden die Angehörigen eine Bestätigung dieser Annahme in meiner Schilderung, und dann möge sie ihnen zum lindernden Trost gereichen.“

Diese Bestätigung ist bereits erfolgt. Der Vater des Vermißten, dem wir den Brief des Herrn Fiedler übersandten, theilte diesem seines Sohnes Photographie mit, in welcher derselbe den in Dürrenbach Begrabenen wiedererkannte.

Für die Angehörigen der Vermißten des 95. Regiments ist eine Notiz der Hildburghäuser „Dorfzeitung“ beachtenswerth, nach welcher am 8. August 1870 noch fünf Soldaten desselben als Leichen in der Gunstädter Flur aufgefunden und beerdigt worden sind und zwar: von der 2. Comp. Nr. 112, von der 3. Comp. Nr. 42, von der 5. Comp. Nr. 81 und von der 6. Comp. Nr. 131 und 198. Nähere Auskunft ertheilt der Maire von Gunstädt.

II. Fortsetzung und Schluß der Liste.

18) Gustav Emil am Ende, Sachse, aus Radeburg, beim 5. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 104, 11. Comp.; am 30. Novbr. vor Paris schwer verwundet, anfangs todt gesagt, nach späteren Nachrichten von Cameraden im Pontonschuppenlazareth zu Sainte Marie bei Metz, aber nach der Räumung dieses Lazareths verschollen. Seine den Siebzigen nahen Eltern bitten um ein Lebens- oder Todeszeichen.

19) Gustav Emil Hille, Sachse, aus Sebnitz bei Pirna, beim 3. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 102, 4. Comp., am 1. Sept. 1870 bei Sedan schwer verwundet, eine Zeit lang im Lazareth Donzy, dann nicht mehr zu finden. Er war die einzige Stütze einer armen Weberfamilie. Ist nicht wenigstens ein Todeszeugniß zu beschaffen?

20) Franz Hermann Gerisch, Sachse, aus Auerbach i. B., beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 104, 12. Comp., 1. Reserve-Ersatzbataillon; am 30. Novbr. vor Paris vermißt und seitdem verschollen. Auch ein armer Weberssohn.

21) Fritz Schlützer, Baier, aus Nürnberg, beim 10. k. bair. Inf.-Reg., 2. Comp.; am 3. Decbr. vor Orleans durch eine Granate am Fuß, Schenkel und Rücken verwundet; am 12. Decbr. wurde ihm in einem Lazareth in Orleans der Fuß amputirt, was er selbst seiner Frau und seinen zwei Kindern schrieb. Seitdem, trotz allen Nachforschungen, verschollen.

22) Friedrich Louis Kaden, Sachse, aus Rübenau, bei dem k. sächs. Leibgrenadier-Reg. Nr. 100, 5. Comp.; bei dem Ueberfall in Exrepagny gefangen, soll er nach der Insel Oléron gebracht worden und dort am Typhus erkrankt sein. Bei der Auswechselung der Gefangenen zwar auf dem Weg der Besserung, aber noch nicht transportabel, blieb er zurück und ist seitdem keine Nachricht über ihn zu erlangen gewesen.

23) Leo Droß, Preuße, aus Stargard, bei dem 2. Niederschlesischen Inf.-Reg. Nr. 47, 3. Comp.; seit dem 6. Aug. 1870 bei Fröschweiler (Schlacht bei Wörth) vermißt und völlig verschollen.

24) Hermann Bischof, Sachse, aus Reinsdorf bei Waldau, bei dem sächs. Schützenregiment Nr. 108, 4. Comp.; seit dem 2. Decbr. 1870 vermißt und vergeblich ersehnt von den alten Eltern, der jungen Gattin, den Kindern und seinen Geschwistern.

25) Karl Otto Schirach, Sachse, aus Dresden, beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 108, 4. Comp.; seit demselben Ausfall vor Paris vermißt.

26) Ferdinand Rosenthal, Preuße, aus Gardelegen in der Altmark, Musketier beim 3. brandenburgischen Inf.-Reg. Nr. 20, 5. Comp.; bei Vionville am 16. August 1870 verwundet, lag, nach Anfragen von Cameraden, am 17. noch lebend, aber bereits seiner Baarschaft von fünfzehn Thalern, Uhr, Kette, eines Medaillons und der Erkennungsmarke beraubt, auf dem Schlachtfelde. Verlustliste Nr. 40 führt ihn als „verwundet“ auf. Seitdem weder ein Lebenszeichen noch eine Todeskunde.

27) Schettler, Anhaltiner, aus Diebzig bei Aken a. d. Elbe, Sohn des dortigen herzogl. Revierförsters, Einjährig-Freiwilliger im Füsilierbataillon des anhaltischen Inf.-Reg. Nr. 93; angeblich im Gefecht bei Toul durch den Kopf geschossen. Die amtliche Bestätigung seines Todes war bis jetzt nicht zu erlangen.

28) Theobald Terks, Coburger, aus Rosenau bei Coburg, beim Füsilier-Bataillon des thüring. Inf.-Reg. Nr. 95, 11. Comp.; am 6. Aug. 1870 bei Wörth verwundet, angeblich in das Lazareth Sulz v. d. Wald gebracht, aber trotz angestrengtester Nachforschungen nicht aufzufinden.

29) Amand Rimbach, Weimaraner, Sohn des Bürgermeisters von Geisa, Musketier beim thüring. Inf.-Reg. Nr. 94, 4. Comp.; am 2. Decbr. zu Poupry bei Artenay verwundet, Schuß im Unterleib. Seit diesem Augenblick weder Lazareth- noch andere Nachricht.

30) Johann Adam Hörnte, Badenser, aus Helmstadt, Kreis Mosbach, beim großherzogl. badischen Leib-Reg., 3. Bat., 11. Comp.; verwundet bei Courcelles, von wo er am 1. Decbr. 1870 zum letzten Male schrieb. Bald darauf führte ihn die Verlustliste unter den Vermißten auf.

31) Louis Scheibner, Sachse, aus Oelsnitz bei Lichtenstein, Serg. beim 1. sächs. Jäger-Bataillon, 4. Comp.; verwundet am 1. Septbr. bei Sedan, Kugel in die Brust, aber, nach dem Ausspruch der Aerzte und Cameraden, nicht ohne Hoffnung auf Rettung. Seitdem weder Brief noch Todtenschein.

32) Johannes Teubner, Waldecker, aus Odershausen bei Wildungeu, Pflegesohn des Lehrers Ferd. Engelhard zu Dehringhausen, Arolsen, beim 3. hessischen Inf.-Reg. Nr. 83, 9. Comp.; bei Sedan am 1. Septbr. 1870 verwundet, Schuß in die linke Schulter. Weder vom Bataillons-Commando noch vom „Berliner Central-Nachrichts-Bureau“ Nachricht zu erhalten.

33) Ernst Gustav Döhler, Weimaraner, aus Weida, beim thüring. Inf.-Reg. Nr. 94, 4. Comp.; am 4. Decbr. angeblich bei Artenay durch das Kinn geschossen, wie ein Camerad der Mutter mittheilte, einer armen Waschfrau, die noch einen zehnjährigen schwächlichen Knaben zu ernähren hat und deren Stütze der Vermißte war. Der junge Döhler war noch nicht dienstpflichtig, er stellte sich freiwillig unter die Fahne; auf die Abmahnungen seiner Mutter erwiderte er: „Liebe Mutter, ich habe ja im schlimmsten Fall nichts zu verlieren, als die Armuth und Dich!

34) Hermann Endorff, Preuße, aus Aerzen bei Hameln, Provinz Hannover, Füsilier beim Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment Nr. 2, 11. Comp.; seit dem Gefecht bei St. Privat am 18. August 1870 so gänzlich verschollen, daß sogar eine Stellungsordre von Seiten des Regiments an [657] ihn erging, während die Verlustliste ihn als vermißt aufführt. Um Nachricht bittet seine trostlose Mutter, eine Wittwe.

35) Friedrich Max Aust, Sachse, aus Leipzig, beim k. sächsischen Inf-Reg. Nr. 107, 1. Bat., 5. Comp.; seit dem Ausfallsgefecht von Brie sur Marne am 2. Decbr. verschollen.

36) Ferdinand Krause, Preuße, Stellmachermeister aus Deutsch-Crone in Westpreußen, als Reservist beim pommerschen Linien-Inf.-Reg. Nr. 21, 9. Comp.; machte sämmtliche Gefechte bei Belfort mit und wurde bei Dijon verwundet. Seitdem warten Eltern, Frau und Kindchen vergeblich auf eine Kunde von ihm.

37) H. W. Gerold, Preuße, aus Wernburg, Kr. Ziegenrück, als Maschinenmeister in Iserlohn ansässig, beim westphäl. Inf.-Reg. Nr. 56, 4. Comp.; am 16. Aug. 1870 bei Mars la Tour verwundet und seitdem vermisst.

38) Gustav Bernbach, Badenser, Sohn des Bürgermeisters zu Minseln[WS 1] im Amt Schopfheim, beim 5. badischen Inf.-Reg., 10. Comp.; am 17. Jan. in den Gefechten von Chênebier und Hericourt verwundet und seitdem trotz aller Nachforschungen nicht zu ermitteln gewesen.

39a) Gustav Adolph Meyer, Badenser, aus Freiburg im Breisgau, Camerad des Vorigen, ebenfalls beim 5. bad. Inf.-Reg., 12. Comp.; in denselben Gefechten, bei Chênebier und Hericourt verwundet und seitdem vermisst.

39b) Hermann Pleus, Oldenburger, aus Bergedorf im Amte Delmenhorst, beim oldenburg. Inf.-Reg. Nr. 91, 1. Comp.; er machte alle Märsche seiner Truppe mit, ohne daß etwas Auffälliges an ihm bemerkt worden wäre, aber nach den Gefechten bei Ladon, am 24., und Beaune la Rolande, am 28. Novbr. 1870, stellte es sich heraus, daß er von Irrsinn befallen war. Dennoch musste man ihn bei der Compagnie behalten, da sich nirgends eine Gelegenheit, ihn unterzubringen, zeigte. Am 6. Decbr. endlich wurde er in dem Dorfe Chevilly beim Appell vermisst und das Bataillon marschirte nun ohne ihn nach Orleans weiter. Um so überraschender mußte seinen Eltern ein Brief desselben aus Orleans sein, den Pleus am 18. Decbr. 1870 geschrieben, aber erst am 5. März 1871 zur Post gegeben und in welchem er meldet, daß er munter und gesund sei und ein gutes Quartier in Orleans habe. Das aber war und blieb auch bis jetzt, trotz amtlicher Nachforschungen, das letzte Lebenszeichen, das den Eltern von ihrem unglücklichen Sohne zugekommen ist.

40) Karl Friedrich Eduard Guber, Altenburger, aus Eisenberg, beim thüringer Inf.-Reg. Nr. 96, 7. Comp.; bei Beaumont verwundet und seitdem verschollen.

41) Jens Nikolai Jensen, Schleswig-Holsteiner, aus Timmerick, Kreis Flensburg, bei der 1. Artillerie-Mumtious-Colonne, schlesw.-holstein. Feldartillerie-Reg. Nr. 9, 9. Armeecorps, 18. Division; seit dem 19. Aug. 1870, wo er den Seinen schrieb, daß sein Regiment mit zur Belagerung von Metz beordert sei, ist keine Nachricht von ihm weder an seine alten Eltern noch an seine junge Frau gekommen, die seitdem Mutter geworden ist.

42) Ferdinand Adolf Steiniger, Sachse, aus Klein-Zschocher bei Leipzig, Unterofficier im 7. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 106, 12. Comp.; in Folge des großen Ausfalls aus Paris am 30. Nov. 1870 in der Verlustliste Nr. 3 als „schwer verwundet“ aufgeführt; eine andre Nachricht war über sein Loos nicht zu erlangen.

43) Wilhelm Gutzschebauch, Sachse, aus Pegau, 22 Jahre alt, Soldat des k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 7. Comp.; seit der Schlacht bei Villiers am 2. Dec. 1870 vermisst; der letzte Brief an seine Mutter, eine Wittwe, deren Stütze er als der älteste Sohn gewesen, war von Champs d. 25. Nov. datirt.

44) Louis Schoppe, Braunschweiger, aus Wolfenbüttel, bei dem Braunschweiger Hus.-Reg. Nr. 17; seit dem 16. Aug. 1870, nach dem Kampf bei Tronville, unweit Metz, vermisst und nirgends gesunden.

45) Friedrich Wilhelm Ludwig Limperg, Waldecker, aus Corbach, beim 3. hessischen Inf.-Reg. Nr. 83, 12. Comp.; am 2. Dec. v. J. in der Schlacht bei Orleans schwer verwundet und seitdem verschollen.

46) Ferdinand Hermann Heinrich Friedrich Everling, aus Hamburg, Musketier im 2. Hanseatischen Inf.-Reg. Nr. 76, 7. Comp.; am 11. Dec. v. J. als erster Ersatz von Hamburg freiwillig mit ausmarschirt, musste am 5. Jan. d. J. krank in Chartres zurückbleiben und soll einige Tage später in ein Lazareth aufgenommen worden sein. Seitdem haben die alten Eltern, deren Stütze und Hoffnung dieser Sohn war, nichts mehr über sein Schicksal erfahren.

47) Karl Lange, Sachse, aus Stötteritz bei Leipzig, 26 Jahre alt, beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 106, 12. Comp.; kam im August 1870 krank zurück, kehrte aber schon am 23. Nov. zu seiner Truppe zurück und soll am 30. Nov. bei Villiers vor Paris verwundet worden sein. Alle Nachforschungen vergeblich.

48) Friedrich Franz Lamm, Preuße, aus Priarun bei Dessau, beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 105, 5. Comp.; bei Sedan verwundet und verschollen.

49) Martin Löffert, Hesse, aus Hachborn, Musketier im 3. hessischen Inf.-Reg. Nr. 83, 1. Comp.; seit der Schlacht bei Wörth beweint ihn seine unglückliche Braut.

50) Johann Georg Geiger, Badenser, aus Ridetsweiler bei Meersburg am Bodensee, Soldat beim 1. badischen Gren.-Reg., 2. Comp.; bei Nuits in die Brust verwundet und in ein Lazareth in Dijon gebracht; seit der Räumung von Dijon durch die badischen Truppen jedoch keine Nachricht mehr über ihn.

51) Christoph Mohr, Baier, aus Nürnberg, Vicecorporal im 7. k. bair. Inf.-Reg. Hohnhausen, 3. Bat., 11. Comp.; bei Sedan am 1. Sept. 1870, laut ärztlicher Feldkarte, schwer verwundet und in guter Pflege zu Gravelotte; nach elf Tage späterer Nachricht befand er sich im Schlosse Montvillers bei Sedan, einem Hülfslazareth englischer Aerzte, und zwar mit durchschossener linker Schulter und zerschmettertem rechten Oberarm. Die Briefe des zweiundsiebenzigjährigen Vaters und anderer Verwandten kamen zurück; nach den Aufschriften sollte der Verwundete bald in ein deutsches Lazareth, bald nach Belgien geschafft worden sein, aber sichere Nachricht ist bis heute noch nicht über diesen Vermißten zu erlangen gewesen.

52) W. Knipping, Preuße, aus Breckerseld, Kr. Hagen, ansässig in Lüdenscheid, Kr. Altena, 28 Jahre alt, beim 6. Thür. Inf.-Reg. Nr. 95, 9. Comp.; am 2. Oct. 1870 bei Chartres durch einen Schuß in das Gesäß und einen in die Hand verwundet und in ein Lazareth nach Versailles geschafft. Von da schrieb er zum letzten Mal an die Seinen, deren einziger Ernährer er war. Ist keine tröstliche Kunde für seine armen Lieben über ihn zu erlangen?

53) Gustav Adolf Heeg, Sachse, aus Ehrenfriedersdorf, 21 Jahre alt, Soldat beim k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 1. Comp.; seit der Erstürmung von St. Privat am 18. Aug. 1870 vermißt und nirgends zu finden. Die Hoffnung des alten Vaters klammert sich an die wiederholt aufgetauchten Nachrichten, daß noch jetzt außer anderen deutschen auch sächsische Gefangene in Algier seien, und daß gar wohl auch sein Sohn sich darunter befinden könne. Diese Hinweisung auf Algier kommt übrigens nicht selten vor, und es wäre deshalb gut, wenn obrigkeitlich darüber Aufklärung gegeben würde.

54) Karl Eduard Reinhold Mayser, Preuße, aus Lissa in Posen, einjährig-freiwilliger Reservist bei dem westfälischen Füsilier-Reg. Nr. 37, 8. Comp.; seit der Schlacht bei Wörth vermißt.

55) Georg Mathias Hoerauf, Baier, aus Gräfensteinberg, Bezirksamt Gunzenhausen in Mittelfranken, Soldat im k. bair. 13. Inf.-Reg., 12. Comp.; am 2. Dec. 1870 in der Schlacht bei Orleans verwundet – oder gefallen, darüber ist keine Nachricht vorhanden.

56) Robert Böttcher, Sachse, aus Meißen, Soldat im Schützen-Regiment Nr. 108, 8. Comp.; seit der Schlacht bei Brie vermißt.

57) Ferdinand Wieghold, Preuße, aus Wengern bei Witten an der Ruhr, beim 2. Garde-Regiment zu Fuß, 9. Comp.; am 18. Aug. 1870 bei St. Privat durch einen Granatsplitter am Unterleib verwundet, am 19. in einem Lazareth zu St. Marie aux Chênes gesehen, aber seitdem verschollen.

58) Bertram Florentin Polack, Sachse, aus Leipzig, Unterofficier im Schützen-Regiment Nr. 108, 5. Comp.; beim großen Ausfall am 2. Dec. vor Paris angeblich von Cameraden verwundet gesehen, aber seitdem verschwunden. Es ist sehr hart für die arme Mutter, zwischen Hoffnung und Trauer so hinzuleben.

59) Franz Unruh, Preuße, aus Biesenthal im Kreis Ober-Barnim, Gefreiter beim 2. Brandenburgischen Inf.-Reg. Nr. 12, 9. Comp.; soll am 6. Aug. 1870 beim Sturm auf die Spicherer Höhen verwundet worden sein; eine andere Kunde ist den trauernden Eltern nicht zugekommen.

60) Gotthardt Heuser, Hesse, aus Kassel, preuß. Provinz Hessen-Nassau, Einjährig-Freiwilliger beim preuß. Inf.-Reg. Nr. 83, 12. Comp.; am 2. Dec. 1870 bei Artenay, nach einer Nachricht von Seiten der Compagnieführung, leicht verwundet, nach der Verlustliste jedoch als „verwundet unbekannt“ aufgeführt und leider bis heute nach Schicksal oder Ende unbekannt geblieben.

61) Ferdinand Zinkel, Weimaraner, aus Neustadt a. d. Orla, Musketier beim Thür. Inf.-Reg. Nr. 94 Großherzog von Sachsen, 8. Comp.; einer der vielen Vermissten von Wörth!

62) Otto Kuhn, Preuße, aus Berlin, Kammergerichts-Referendar, als Einjährig-Freiwilliger beim Garde-Grenadier-Regimet Nr. 1, Kaiser-Alexander, 12. Comp.; seit dem Sturm auf St. Privat vermißt. Nach Aussage seiner Nebenmänner ist er noch Abends 8½ Uhr, als der Kampf schon beendet war, gesehen worden. Beim Absuchen des Schlachtfeldes, bei welchem seine Freunde besonders nach ihm suchten, sind alle Leute der Compagnie bis auf ihn allein gefunden worden. Es liegt demnach die Vermuthung nahe, daß er in französische Gefangenschaft gerathen sei.

63) August Foerster, Preuße, aus Konradswalde bei Landeck, Grafschaft Glatz, bei dem Königin-Elisabeth-Regiment, 11. Comp.; nach amtlicher Mittheilung am 18. Aug. 1870 leicht verwundet, in ein unbekanntes Lazareth gebracht und seitdem verschollen.

64) Paul Wilhelm Stahl, Sachse, aus Schneeberg, 19 Jahre alt, Einjährig-Freiwilliger beim k. sächs. 5. Inf.-Reg. Nr. 104, 9. Comp.; in der Schlacht von Gravelotte bei St. Marie aux Chênes schwer im Halse verwundet, und nach der protocollarischen Aussage des Feldwebels und eines Unterofficiers von Beiden noch am Abend nach der Schlacht in der einzigen Verbandstation zu St. Marie aux Chênes gesehen und gesprochen und noch kräftig befunden. Am nächsten Morgen wollte der Feldwebel seinen Besuch bei den Verwundeten wiederholen, fand ihn aber nicht mehr, auch nicht bei den Todten, die sämmtlich erst am dritten Tage nach der Schlacht beerdigt worden sind. Noch vom 18. Aug. datirt eine Feldpostkarte Stahl’s an seine Eltern, in welcher er sich bitter darüber beklagt, noch kein einziges Liebeszeichen von ihnen erhalten zu haben; alle Briefe derselben an ihn waren zurückgekommen mit der Bemerkung: „Aufenthalt unbekannt.“

65) Ernst Weinert, Sachse, beim k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 3. Comp.; dringend gesucht von dem eben selbst erst vom Feldzug zurückgekehrten Emil v. Henning.

66) August Andreas Müller, genannt Müller der Zweite, Preuße, aus Bollstedt bei Mühlhausen in Thüringen, bei dem preuß. Inf.-Reg. Nr. 31, 11. Comp.; seit der Schlacht bei Beaumout, 30. Aug., vermißt.

67) Friedrich Wilhelm Rößler, Preuße, beim Magdeburgischen Kürassier-Regiment Nr. 7, 5. Escadron; vermißt seit dem großen Reitergefecht bei Vionville am 16. Aug. 1870.

68) Gottlob Najork, Preuße, aus Bohrau bei Forst, Kreis Soran, Musketier beim 6. Brandenburgischen Inf.-Reg. Nr. 52, 4. Comp.; in der Verlustliste Nr. 20 als bei Vionville am 16. Aug. verwundet und im Lazareth zu Gorze befindlich aufgeführt, aber seitdem für seine junge Frau, seine zwei Kindchen und die alten Eltern spurlos verschwunden.

[658] 69) Philipp Ungeheuer, Nassauer, Bäcker aus Grävenwiesbach im preuß. Reg-Bez. Wiesbaden, bei dem 2. Thüringer Inf.-Reg. Nr. 32, 1. Comp.; seit Wörth vermißt.

70) Martin Friedrich Wilhelm Schulz (der Siebente), Preuße, aus Göritz a. d. Oder, Reservist beim 5. Brandenburgischen Inf-Reg. Nr. 48, 11. Comp.; am 16. Aug. 1870 bei Vionville und Rezonville oder Gorze verwundet und ebenfalls für seine kranke Frau, zwei Kindchen und eine alte Mutter seitdem spurlos verschwunden.

71) Julius Kornagel, Sachse, aus Grasdorf bei Taucha, unweit Leipzig, beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 107, 6. Comp.; aus Moyeuvre, an der Straße von Metz nach Diedenhofen, erhielt die Mutter K.’s einen Brief vom 20. Aug. datirt und von fremder Hand geschrieben, folgenden Inhalts: „Liebe Mutter, ich theile Dir hierdurch mit, daß ich am Leben bin und in einigen Wochen ganz gesund zu sein hoffe. Ich bin am 18. d. M. durch einen Schuß in den rechten Unterschenkel verwundet, die Kugel ist durch das Bein gegangen und hat den Knochen verletzt. Der Arzt sagt, es werde Alles wieder gut werden. Ich bin von Franzosen auf dem Schlachtfeld gefunden und hier in ein französisches Lazareth gebracht worden, wo man mich sehr gut pflegt und behandelt. Heute sind preußische Truppen durchgekommen und hat ein preußischer Officier diese Worte für mich geschrieben. Französische Soldaten sind nicht mehr hier. Es grüßt Dich Dein Sohn etc.“ Wohin ist dieser Verwundete gekommen?

72) Adam Kafitz, Baier, aus Neukirchen im Bezirksamt Kaiserslautern in der Rheinpfalz, beim 2. bair. Armeecorps, 6. Inf.-Reg., 5. Comp.; am 1. Sept. 1870 Nachmittag 4 Uhr im Dorfe Balan bei Bazeilles vermißt und seitdem verschollen.

73) Johann Gottlieb Ernst Lange, Preuße, aus Leschwitz bei Görlitz, beim westfälischen Füsilier-Regiment Nr. 37, 8. Comp.; seit Wörth vermißt.

74) Valentin Schiefer, Baier, aus dem Landgericht Wegscheid in Niederbaiern, beim 2. Inf.-Reg.; am 9. Nov. 1870 bei Orleans verwundet und wahrscheinlich in französische Gefangenschaft gerathen. Seine arme alte Mutter bittet dringend um irgend eine Nachricht über ihren Sohn.

75) Friedrich August Marhold, Sohn des Leinewebers Ferd. Marhold in Insterburg, beim 2. thür. Inf.-Reg. Nr. 32, 12. Comp.; bei Orleans verwundet, kam dort in ein Lazareth und war, als nach dem Rückzuge v. d. Tann’s Orleans nach kurzer französischer Herrschaft wieder in die Hände der Deutschen fiel, spurlos verschwunden. Die Soldaten erzählten: eine Anzahl deutscher Gefangener sei auf eine französische Insel abgeführt worden, einige hätten sich auf ein preußisches Schiff gerettet, der Rest möge sich wohl noch dort befinden. Dieser Glaube, daß noch viele deutsche Gefangene von den Franzosen zurückgehalten würden, erhält sich so fest, daß es wohl der Mühe werth wäre, dort scharfe Nachfrage zu halten.

76) Ferdinand Gustav Heinker, Sachse, aus Geschwitz bei Rötha, Kr. Leipzig, beim 7. Inf.-Reg. Nr. 106, 11. Comp., seit dem Gefecht bei Brie, am 30. Nov. 1870, vermißt.

77) Wilhelm Marder, Preuße, aus Hohenfels im Kreise Friedland, Reservist beim 33. ostpreuß. Inf.-Reg-, 12. Comp.; laut Feldpostbrief vom 23. Dec. 1870 in einem Lazareth zu Amiens. Später sind alle Nachforschungen der Ministerialbehörden und des Regiments ohne Erfolg geblieben.

78) Friedrich Zimmer, Preuße, Schuhmacher aus Königsberg i. Pr., beim 33. ostpreuß. Inf.-Reg., 3. Comp.; seit dem Gefechte bei Pison unweit Amiens, am 3. Jan. d. J., vermißt.

79) Karl Wilhelm Moritz Welte, Preuße, aus Iserlohn, Füsilier beim westphäl. Inf.-Reg. Nr. 16, 12. Comp.; erhielt am 28. Nov. 1870 bei Beaune la Rolande einen Schuß in die Brust und kam in ein dortiges Lazareth. Auch er, wie so viele Hunderte, verschwand aus dem Lazareth, ohne daß irgend Jemand von der betr. Militär- und Medicinalbeamtenschaft etwas davon weiß.

80) Adolf Söllner, Preuße, aus Magdeburg, Wehrmann beim 4. combinirten Landwehr-Regiment Nr. 58, 1. Comp.; seit dem 7. Oct. verschollen.

81) Gustav Robert Elsser, Sachse, aus Lausigk, beim sächs. Inf.-Reg. 106, 7. Comp.; erhielt am 30. Nov. 1870 einen Schuß durch die rechte Hand, war in der Verlustliste richtig genannt und ist dennoch seitdem verschollen.

82) Friedrich Kimmann, Preuße, aus Wunstorf bei Hannover, Füsilier beim Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiment, 10. Comp.; als „vermißt“ aufgeführt nach der Schlacht bei Gravelotte, 18. Aug. 1870.

83) Karl August Weis, Sohn des Metzgers J. Gg. Weis in Ummerstadt im Herzogth. Meiningen, Musketier beim 2. nassauischen Inf.-Reg. Nr. 88, 7. Comp.; seit der Schlacht bei Wörth verschollen.

84) Friedrich Wilhelm Hüttenrauch, Weimaraner, aus Wormstedt bei Dornburg, beim thür. Reg. Nr. 94 Großherz. v. Weimar, 1. Bat. (welche Comp.?); ebenfalls bei Wörth vermißt.

85) Friedrich Reck, Preuße, aus Warzinavalle, Kr. Lötzen, Reservist beim 6. ostpreuß. Inf.-Reg. Nr. 43, 11. Comp.; seit dem 14. Aug. 1870 als „vermißt“ bezeichnet und weiter keine Nachricht über sein Schicksal.

86a) Jacob Schwarz, Preuße, aus Frechenhausen, Kr. Biedenkopf, Prov. Hessen-Nassau, beim Inf.-Reg. Nr. 88, 12. Comp.; bei Wörth leichte Beinwunde, laut Verlustliste, aber dennoch spurlos verschwunden.

86b) Heinrich Scherer, Preuße, aus Achenbach, Kr. Biedenkopf, beim Inf.-Reg. Nr. 83, 4. Comp.; ebenfalls seit Wörth vermißt und nirgends eine Nachricht zu erhalten.

87) Johann Joachim Heinrich Beuge, Preuße, aus Peenemünde bei Cröslin Musketier beim 1. niederschles. Inf.-Reg, Nr. 46, 6, Comp.; – am 1. Sept. 1870 bei Sedan, laut Verlustliste, Schuß durch die linke Hand und in die Brust; zwei Cameraden brachten ihn zum Verbandplatz, von diesem Augenblick an schweigt jede Nachricht über ihn.

88) Oscar Robert Wurzner, Sachse, aus Schmalzgrube bei Jöhstadt im sächs. Erzgebirge, beim k. sächs. Leib-Grenadier-Regiment Nr. 100, 10. Comp.; erhielt am 2. Dec. 1870 im Gefecht bei Billiers einen Schuß in den Unterleib, durch die Krankenträger zum Verbandplatz geschafft, aber in keinem Lazareth zu erfragen gewesen.

89) Wilhelm Schmer, Preuße, aus Straßebersbach, Amt Dillenburg, Provinz Hessen-Nassau, beim 86. Inf.-Reg., 5. Comp.; seit Wörth vermißt und von seiner armen alten Mutter beweint.

90) H. F. Schürmann, Preuße, aus Garenfeld bei Dortmund, beim 3. westphäl. Inf.-Reg. Nr. 16, Unterofficier aus der 1. Comp.; er schrieb zuletzt aus Thioncourt bei Metz am 15. Aug. v. J., ward aber bald darauf in den Verlustlisten als vermißt aufgeführt und ist seitdem verschollen.

91) Ernst Moritz Obendorf, Sachse, aus Linda bei Brand, beim k. sächs. Leib-Grenadier-Reg. Nr. 100, 2. Comp.; wurde, laut Verlustliste, bei Sedan schwer verwundet. Wie so hundertfach ist dies die einzige Nachricht, welche den Lieben in der Heimath zu Theil wurde.

92) Gustav Robert Schulz, Preuße, aus Bunzlau in Schlesien, Reservist und Gefreiter beim 1. westpreuß. Inf.-Reg. Nr. 6, 10. Comp.; seit Wörth keine Spur mehr von ihm zu finden.

93) Louis Julius Theodor Schoppe, Braunschweiger, aus Wolfenbüttel, beim braunschw. Hus.-Reg. Nr. 17, 2. Escadron; in der Schlacht bei Vionville, am 16. Aug. 1870, stürzte er mit dem Pferde, mußte beim Herannahen feindlicher Truppen zurückgelassen werden und ward, als die Unsrigen wieder Herren des Feldes wurden, weder unter Todten noch Verwundeten gefunden. Die Angehörigen müssen an die Gefangenschaft des „Vermißten“ glauben, und das Schicksal der deutschen Gefangenen ist eben noch so äußerst ungewiß.

94) Hermann Schütz, Preuße, aus Suhl, Füsilier bei dem 3. thür. Inf.-Reg. Nr. 71, 12. Comp.; am 19. Sept. 1870 bei dem Ausfallsgefecht von Pierrefitte vor Paris schwärmte er unter dem Schützenzuge mit aus und kam nicht mit zurück. Keine Verlustliste nennt ihn. Diese Ungewißheit des Schicksals ist die schrecklichste Pein so vieler Angehörigen und hier eines greisen Vaters, der im einzigen Sohne seine letzte Stütze verloren hat.

95) Heinrich Heyn, Gothaner, aus Elgersburg in Thüringen, beim 6. thür. Inf.-Reg. Nr. 95; bei Wörth schwer verwundet und verschollen. Aus der Schlacht von Langensalza (1866) war er glücklich heimgekommen. Er war der Stiefsohn des Tischlermeisters Hellmundt in Elgersburg, dessen rechter Sohn in demselben Feldzuge, bei Chartres, aus Unvorsichtigkeit von seinem Nebenmann erschossen wurde.

96) Karl Georg Wagner, Meininger, aus Walldorf, beim 2. thür. Inf.-Reg. Nr. 91, 3. Comp.; bei Wörth verwundet, ward er in der Verlustliste nach Lazareth Morsbrunn verlegt, schrieb aber schon am 11. Aug. aus Lazareth Dürrenbach einen beruhigenden Brief an seine Eltern. Wenige Tage darnach soll das Lazareth Dürrenbach aufgehoben worden sein, – den armen Eltern ward aber kein Wort der Nachricht über das Schicksal ihres Sohnes zu Theil noch bis diese Stunde.

97) Wilhelm Land, Preuße, aus Medzibor in Schlesien, beim 3. niederschles. Inf.-Reg. Nr. 50, 5. Comp.; seit der Schlacht bei Wörth vermißt. Die geringste Kunde über seine letzte Lebensstunde wäre schon ein Trost für die Seinigen.

98) Ernst Julius Albrecht, Sachse, aus Stadt Wehlen, Reservist beim sächs. Schützenregiment Nr. 108, 7. Comp.; letzter Brief vom 27. Nov. 1870; in der Schlacht bei Villiers kämpfte er an der Seite seiner Cameraden, aber Niemand weiß, ob er verwundet oder geblieben ist, und vergeblich sehnen Gattin und Kinder sich nach einer Kunde über ihn.

99) Georg Zinke (oder Linke?), Preuße, aus Duderstadt, Prov. Hannover, beim 2. schles. Grenadierregiment Nr. 11, 9. Comp.; seit dem 16. Aug. nach der Schlacht bei Mars la Tour vermißt und verschollen.

100) Karl Barth, Baier, aus Reschach bei Lindau am Bodensee, Gefreiter im k. bair. 12. Inf.-Reg., 1. Bat.; erkrankte am Typhus am 4. Oct. 1870, lag erst in einem bairischen Lazareth vor Paris und soll später nach Corbeil gebracht worden sein. Aber schon seit dem 6. Oct. hören die Nachrichten über ihn auf.

101) Jacob Bannik, Preuße, aus Rhein in Ostpreußen, beim 2. ostpreuß. Grenadierregiment Nr. 3, 11. Comp.; nach der ersten Schlacht bei Metz, am 14. Aug., in der Verlustliste als „vermißt“ bezeichnet und seitdem verschollen.

102) Ernst Gottlob Günther, Württemberger, aus Nagold im Schwarzwaldkreis, beim 2. Jägerbataillon, 2. Comp.; seit dem 2. Dec. vor Paris vermißt; nach den Aussagen seiner Cameraden soll er in die Marne gestürzt, nach Anderen dort beerdigt worden sein. Lebt kein Camerad, welcher der alten Mutter bestimmte Kunde geben kann?

103) Friedrich Reinecker, Preuße, aus Bitterfeld, Unterofficier im Schützenregiment Nr. 108, 2. Comp.; am 2. Dec. 1870 vor Paris verwundet, laut Verlustliste, aber nirgends aufzufinden gewesen.

104) Karl Golz, Preuße, aus Blankenburg bei Prenzlau in der Uckermark, beim 2. Garde-Dragoner-Regiment, 4. Escadron; seit dem 16. Aug. 1870, nach der Schlacht bei Mars la Tour, wo er verwundet worden sein soll, vermißt.

105) Ferdinand Handschuh, Meininger, aus Bibra, beim thüring. Infanterieregiment Nr. 95, 6. Comp.; er schrieb noch am 6. Sept., also nach der Schlacht von Sedan, an seinen Schwiegervater, den Gärtner der Villa Köppen in Coburg, Nic. Brehm, aber die Antwort desselben kam mit der Bemerkung zurück: „auf dem Marsch erkrankt, Lazareth unbekannt“. Nach einer Ermittelung des Berliner Centralnachweisungsbureau ist H. nach seiner Erkrankung in das Preuß. Lazareth Corbeil gekommen. Was dann aus ihm geworden, haben die Angehörigen nicht erfahren können.

106) Ferdinand Richard Becker, Sachse, aus Leipzig, Gefreiter im Schützenregiment Nr. 108, 1. Comp.; laut Verlustliste am 2. December 1870 bei Brie durch einen Schuß in die Schulter schwer verwundet und dann nirgends wieder zu finden.

107) Franz Schubert, Preuße, aus Reisen in Posen, Brauereigehülfe in Berlin, Reservist beim brandenb. Füsilierregiment Nr. 35, 3. Comp.; seit der Schlacht von Vionville vermißt. Die alten Eltern sind über [659] diese Schicksalsungewißheit um so mehr zu beklagen, als ihr zweiter Sohn im sächs. Schützenregiment Nr. 103 bei Sedan den Heldentod starb. Beide Söhne waren brave Menschen und die einzigen Stützen der Familie.

108) Franz Louis Franke, Sachse, aus Reichenbrand bei Zwickau, Gefreiter im Schützenregiment Nr. 108, 10. Comp.; seit dem Gefecht bei Brie, am 2. December 1870, vermißt.

109) Friedrich August Zimmermann I., Preuße, aus Weißenfels, Buchbindergehülfe, beim 4. thüring. Infanterieregiment Nr. 72, 11. Comp.; in der Schlacht bei Mars la Tour verwundet und seitdem vermißt, denn eine Angabe der Verlustliste Nr. 224, daß derselbe im Lazareth zu Kassel am 15. Sept. v. J. gestorben sei, hat sich nicht bestätigt. Wo nun weiter suchen? –

110) Reinhold Hanke, Preuße, aus Kuschlau bei Breslau, Krankenträger beim Sanitätsdetachement der 12. Division, Armeecorps VI, soll am 6. März d. J. aus dem Lazareth zu Corbeil entlassen worden sein, um mit einem Reconvalescenten-Transport nach Deutschland befördert zu werden; seitdem vollständig verschollen.

111) Kaspar Friedrich Petter, Preuße, aus Fambach im Kr. Schmalkalden, Gefreiter im Infanterieregiment Nr. 83, 4. Comp.; bei Wörth durch einen Schuß in Schulter und Kopf verwundet und seitdem verschollen.

112) Oscar Alb. Julius Schilg, Sachse, aus Leipzig, beim sächs. Infanterieregiment Nr. 106, 12. Comp.; nach dem Ausfall der Franzosen am 30. Nov. v. J. vermißt. Der Vater desselben, Karl Schilg, Packmeister an der Magdeburg-Leipziger Eisenbahn, schreibt: „Am Leibe hatte er unzweifelhaft seine Uhr (silberne Anker, Pariser Fabrik, in ‚treize Rubines‘ laufend) und sein braunes Leder-Geldtäschchen am weißleinenen Bande um den Hals, womit er weder von Freund, noch Feind verscharrt sein dürfte. Für Einsendung dieser mit Nachricht, wie auch für seine Brieftasche, worin unter Anderem auch Adreßkarten waren, zahle ich 50% über Werth, für sein Dienstbuch einen Thaler und Kosten, um Beweis über Verbleib des Sohnes und sichere Nachricht zu erhalten. Strengste Discretion zugesichert.“ Wir theilen dies gern hier mit und wünschen bessern Erfolg, als sich bei der großen Zahl sogenannter „Universalerben“ der Schlachtfelder erhoffen läßt.

113) Emil Otto, Preuße, aus Hamm in Westfalen, Bildhauer in Berlin, Gefreiter beim westfälischen Füsilierregiment Nr. 37, 4. Comp.; focht bei Weißenburg und Wörth mit, wurde beim ersten Vorgehen des Regiments bei Erstürmung der Weinberge verwundet und seitdem nicht mehr gesehen; nach anderen Vermuthungen soll er in der Saner ertrunken sein.

114) Ernst Gustav Peschel, Sachse, aus Neu-Eibau bei Herrnhut, beim k. sächs. Infanterieregiment Nr. 106, 7. Comp.; am 30. Nov. 1870 nach dem Kampf bei Villiers vermißt; er soll, ohne Verwundung, beim Zurückmarsch vom Zug abhanden gekommen sein. Die Wittwe des Mannes bedarf des Todtenscheines, um die volle staatliche Unterstützung zu erhalten.

115) Friedrich Gustav Mähler, Weimaraner, aus Apolda, beim thüring. Infanterieregiment Nr. 94, 3. Comp.; einziger Sohn einer armen Wittwe und seit Wörth spurlos verschwunden.

116) Gottlob Wilhelm Hientsch, Preuße, aus Alt-Scherbitz bei Schkeuditz, beim 4. thüring. Infanterieregiment Nr. 72, 9. Comp.; soll, nach Aussagen seiner Cameraden am 16. August v. J. bei Gorze schwer verwundet worden sein. Eine andere Nachricht ist der alten kränklichen Mutter über ihr einziges Kind nicht zugegangen.

117) Bernhard Fürchtegott Kaiser, Sachse, aus Leisnig, beim sächs. Infanterieregiment Nr. 108, 9. Comp.; nach den Verlustlisten am 30. Nov. oder 2. Dec., wahrscheinlich bei Brie s. M., leicht verwundet. Pakete an ihn kamen anfangs Januar mit der Bemerkung zurück: „Adressat verwundet, Lazareth unbekannt“. Von dem Auskunftsbureau des Internationalen Hülfsvereins für das Königreich Sachsen kam, auf Anfragen, am 7. Febr. d. J. die Nachricht: „am 30. Januar 71 aus dem Lazareth zu Chalons als Reconvalescent nach Deutschland evacuirt“. Mehrere Anfragen an denselben Verein blieben ohne Erfolg und ein Brief des Lazarethdirector Dr. Lagus in Chalous zeigte nur an, „daß in den dort geführten Listen der Vermißte nicht zu finden sei“. Da wandten sich die Angehörigen am 8. Juni d. J. an die Medicinal-Abth. des Kriegs-Ministeriums in Berlin und erhielten am 12. Juli d. J. die Antwort: „daß in den Listen der Barackenlazarethe von Chalons der Name nicht zu finden sei“. – Drängt sich, diesen Fall vor Augen, nicht die Frage auf: „Werden keine Listen über die transportirten Verwundeten geführt und wird es den Angehörigen nicht angezeigt, wenn einer der Ihrigen auf dem Marsch oder Transport zu Grunde geht?“ Der einzige Wunsch der trostlosen Hinterbliebenen ist, zu wissen, was aus ihren Lieben im Feld geworden ist, – es ist so entsetzlich wenig für den ungeheuren Verlust, – und nicht einmal Das wird in so traurig vielen Fällen ihnen gewährt! Woran liegt das? – –

118) Heinrich Kallmeyer, Preuße, aus Lipprechtrode bei Bleicherode im Kr. Nordhausen, Musketier beim thüring. Infanterieregiment Nr. 71, 8. Comp.; am 2. Sept. bei Sedan verwundet, schrieb darnach: „Liebe Eltern! Ganz nahe bei der Festung Sedan an der belgischen Grenze bin ich von einer französischen Kugel in den linken Oberschenkel getroffen worden. Ich liege in einem Nebengebäude des Schlosses von Bazeilles, eine Stunde von Sedan, fühle mich jedoch ziemlich kräftig und glaube, daß ich bald wieder hergestellt werde. Euer Heinrich.“ Später wurde er in die Lazarethe Montvilliers bei Bazeilles und, am 10. Sept., nach Brévilly „evacuirt“ – und ist seitdem für seine Angehörigen spurlos verschwunden. Derselbe Fall, wie oben! Auch dieselbe Frage, – aber wer giebt die Antwort?

119) Paul Hugo Hey, Preuße, aus Berlin, Unterofficier im niederrheinischen Füsilierregiment Nr. 39, 12. Comp.; am 6. August 1870 bei Forbach verwundet und, laut Verlustliste, in das Lazareth zu Saarbrücken geschafft – und verschollen! – Seine Mutter, eine Wittwe, klammert sich an der Hoffnung fest, daß ihr Sohn doch wohl als Gefangener noch irgendwo leben könne.

120) Konrad Frischer, Preuße, aus Mühlheim im Kr. Berncastel, beim 4. Garde-Grenadierregiment Königin Elisabeth, 1. Comp.; bei St. Privat verwundet. Cameraden sahen, wie er aus der Schlacht getragen wurde. Weiteres hat seine junge Frau trotz aller Bemühungen nicht erfahren können.

121) Karl Hermann Zill, Sachse, aus Lichtenstein, zuletzt in Hohenstein wohnhaft, beim 5. k sächs. Infanterieregiment Nr. 105, 4. Comp.; bei St. Privat mit im Gefecht und seitdem von Braut und Eltern als Vermißter beweint.

122) Fritz Oppelt, Baier, aus Windsheim, Studirender der Architektur aus der Akademie in Carlsruhe und Mitglied der Burschenschaft Teutonia das., Einjährig-Freiwilliger beim k. baier. Infanterie-Leibregiment (welche Comp.?); bei Orgères verwundet, angeblich im Feldlazareth Nr. 9 in Baigneaux gestorben. Vergeblich hat eine Schwester desselben Leichnam oder Nachlaß, namentlich das Notizbuch, des einzigen Bruders in Baigneaux, Orgèwes und Orleans gesucht. Die Lazarethe sind abgebrochen, die Todten verscharrt und ihr Eigenthum verschwunden, – und auch dies in so unzählig vielen Fällen! –

123) Julius Schwarz, Preuße, aus Alexen bei Mehlanken, Reg. Bez. Königsberg, beim 7. westfäl. Inf.-Reg. Nr. 56, 3. Comp.; – am 9. Januar 1871 bei der Verfolgung der Franzosen nach der schweizer Grenze unweit dem Dorfe Pierrère von zwei Kugeln getroffen. – „Ich habe ihn aus meiner Armuth während des Feldzugs noch mit Vielem unterstützt, wo er mir reichlich erstatten wollte, aber leider mein Sohn ist hin, und da stehe ich jetzt verlassen und verarmt mit noch vier unerzogenen Kindern“ – so schreibt die Mutter des Vermißten, Rosina Schwarz in Alexen.

124) Karl Domeyer, Baier, aus Kreußen, Soldat im 3. Inf.-Reg., 11. Comp., beim I. baier. Armeecorps; am 11. Oct. v. J. in der Schlacht bei Orleans am rechten Arm verwundet, soll in ein Lazareth in der Nähe der Stadt gebracht worden sein, ist aber verschollen.

125) Friedrich Carl, Baier, aus Weißenstadt, Soldat im 14. baier. Inf.-Reg., 4. Comp.; soll nach der Schlacht von Sedan auf dem Marsch nach Paris nebst noch fünf Cameraden erkrankt und in ein französisches Lazareth, angeblich Rosoy(?), 2 bis 3 Tagereisen von Paris(!), gebracht worden sein. Das ist Alles, was der tiefbetrübte Vater über seinen Sohn erfahren konnte.

126) Ernst Moritz Bielich, Sachse, aus Rammenau bei Bischofswerda, Soldat im Inf.-Reg. Nr. 103, 1. Comp.; bei Sedan am 1. Sept. 1870 am Fuß verwundet, kam, laut Verlustliste, in ein Lazareth in Bazeilles und ist seitdem für seine Mutter und seinen glücklich aus dem Kriege heimgekehrten Bruder verschwunden.

127) Christian Heinrich Hermann Behrens, Braunschweiger, Einjährig-Freiwilliger, Gefreiter beim braunschw. Inf.-Reg. Nr. 92,3 Comp.; am 5. December 1870 bei Neuville am Fuß leicht verwundet und seitdem vermißt.

128) Julius Richard Lange, Sachse, aus Oschatz, Soldat im k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 107, 3. Comp.; er zog mit Todesahnung in den Krieg. Als die Leipziger 107er mobil gemacht wurden, besuchte er noch einmal seine Eltern, ließ Uhr, Ring und sein bestes Portemonnaie zu Hause – und vom Ausmarsch an correspondirte er fast täglich mit den Seinen und zwar auch noch am 18. August kurz vor seinem letzten Kampf bei St. Privat. Diese Correspondenzkarte kam, von anderer Hand mit dem Zusatz „Gefunden“ versehen, an und enthielt die Bemerkung: „Wenn ich fallen sollte, liebe Eltern, so seht, daß Ihr mein Notizbuch erhalten könnt, denn das ist mein Vermächtnis.“ Dieser Wunsch ging bis jetzt nicht in Erfüllung, wie sehr auch die Eltern und Cameraden des Vermißten sich darum bemühten. Besonders ist nun der Finder der letzten Feldpostkarte Lange’s gebeten, den Angehörigen nähere Mittheilungen zu machen.

129) Hermann Pohl, Preuße, aus Pohlsdorf, Kreis Neumarkt in Schlesien, zuletzt als Fabrikschmied in Schweidnitz, nachdem er in den Feldzügen von 1864 und 1866 glücklich mitgekämpft, kam er 1870 als Reservist zum 2. schles. Gren.-Reg. Nr. 11, 12. Comp. Die letzte Nachricht gab er seiner Gattin am 14. August 1870 vor der Schlacht bei Gorze. Hier wurde er verwundet und soll, nach dem Bericht des Central Nachweise Bureaus in Berlin, erst im Lazareth zu Gorze, später in Orleans gelegen haben und dort sogar am 21. Februar 1871 als geheilt entlassen worden sein. Und trotz alledem spurlos verschwunden!

130) Eberhard Ricke, Preuße, aus Hirschberg in Schlesien, Reservist beim 2. niederschles. Inf-Reg. Sir. 47, 9. Comp.; er soll am 19. Sept. 1870 bei Bicêtre durch Schuß in den Oberschenkel schwer verwundet und von bairischen Krankenträgern in ein Gehöft zum Verbandplatz getragen worden sein; die Verlustlisten lassen ihn in Bièvre im Lazareth liegen und als Verwundeten sogar nach Deutschland befördert worden sein – aber verschollen ist er doch!

131) Oskar Rudolf Franz, Sachse, aus Adorf, Soldat beim 5. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 104,. 10. Comp.; ein kurzes, traurig kurzes Soldatenleben: Franz mußte, zweiundzwanzig Jahre alt, am 1. October 1870 in Dresden als Recrut sich stellen, wurde am 22. Nov. mit anderer Ersatzmannschaft nach Frankreich befördert, kam am 27. Nov. gesund in Chelles an, schrieb dort seinen ersten und letzten Feldpostbrief, denn schon am 30. Nov. und 2. Dec. bei den großen Ausfällen aus Paris in’s Feuer geführt, ist er seitdem vermißt und verschollen.

132) Paul Römer, Preuße, aus Hehlrath bei Eschweiler, Reg.-Bez. Aachen, beim 25. preuß. Inf.-Reg., 6. Comp.; am 9. Januar 1871 bei Viller-Sexel schwer verwundet, seitdem vermißt.

133) Karl Richard Claußnitzer, Sachse, aus Ebersbach bei Döbeln, beim 8. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 107, 1. Comp.; am 18. August 1870 bei St. Privat verwundet und verschollen.

134) Moritz Herb, Baier, aus Zell bei Memmingen, Corporal beim 3. Inf.-Reg., 5. Comp.; seit den Gefechten um Orleans am 4. Dec. 1870 vermißt.

[660] —135) Hans Heinrich Oskar Rauch, Sachse, aus Schmölln bei Altenburg, Kaufmann, Unterofficier im k. sachs. Inf-Reg. Nr. 105, 7. Comp.; am 18. August bei St. Marie aus Chênes bei Metz durch Schuß in den Kopf verwundet; ein Unterofficier will ihn im Lazareth von St. Marie noch am 19. lebend gefunden haben. Todtenschein kam nicht.

136) Julius Edwin Müller. Sachse, aus Rittersgrün, Gefreiter beim k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 104, 12. Comp.; seit dem Sturm auf St. Privat vermißt.

137) Christian Schulz, Preuße, aus Kassel, Musketier im 1. Hess. Inf.-Reg. Nr. 81; wurde am 3. Oct. mit 104 Mann Ersatzmannschaft vor Metz transportirt, erhielt dort am 7. einen Schuß in den Unterleib und ist seitdem verschollen.

138) Wilhelm Pohlmann, Preuße, aus Adorf, beim hess. Inf.-Reg. Nr. 83, 9. Comp.; seit Wörth vermißt.

139) Karl Dietsch, Preuße, aus Elbitz im Mannsfelder Seekreis, bei den Gardeschützen; am 18. August bei Metz schwer verwundet und in keiner Verlustliste genannt.

140) Otto Johann Moritz Wulff, Preuße, aus Rothmühl, Kreis Grimmen, Reg.-Bez. Stralsund, Füsilier im Kaiser-Alexander-Garde-Gren.-Reg. Nr. 1, 12. Comp.; am 18. August 1870 vor Metz verwundet. Die Eltern und Geschwister setzen ihre letzte Hoffnung auf die Erlösung der deutschen Gefangenen in Algier(!).

141) Friedrich Wilhelm Huckenbeck, Preuße, aus Radevormwald, Musketier im 57. Reg., 6. Comp.; im Gefecht bei Beanne la Rolande am 28. Nov. 1870 durch Schuß in’s Kreuz verwundet.

142) Richard Schweflinghaus, Preuße, aus Remscheid, Musketier beim 56. Reg., 7. Comp.; seit der Schlacht von Mars la Tour vermißt.

143) August Wilhelm Kötter, Preuße, aus Lüttringhausen, Gefreiter im 39. Reg., 3. Comp.; bei Saarbrücken Schuß in den Oberschenkel. Verschollen.

144) Karl Klein, Preuße, aus Wermelskirchen, Füsilier beim 16. Reg., 12. Comp.; seit Mars la Tour vermißt.

145) Louis Alfred Clauberg, Preuße, aus Malchow in Mecklenburg, Gefreiter im 1. schles. Jägerbataillon Nr. 5, 1. Comp.; bei Wörth, am 6. August 1870, schwer im linken Oberschenkel verwundet, laut Verlustliste, aber seitdem spurlos verschwunden.

146) Friedrich Lorenz, Preuße, aus Wanfried, Füsilier beim 77. Reg., 10. Comp.; letzter Brief aus Messies (?) auf dem Marsch nach Orleans; seitdem verschollen. Im Friedhof zu Weißenburg soll ein Wanfrieder begraben liegen. Wird dort Jemand sich die Mühe nehmen, der armen Wittwe und Mutter in Wanfried den Namen des dort Begrabenen zu schreiben?

147) Wilhelm Freund, Meininger, aus Römhild bei Hildburghausen, Füsilier im 2. thür. Inf.-Reg. Nr. 32, 11. Comp.; am 11. Oct. 1870 bei Orleans durch Schuß in den Hals verwundet, nach Verlustliste Nr. 233, Nachtrag, am 12. Oct. in einem Lazareth daselbst gestorben; Cameraden wollen dagegen den Freund am 12. Oct. in Orleans noch gesprochen haben. Nachforschungen der Verwandten waren erfolglos; auch ist ihnen weder ein Todtenschein noch der Nachlaß des Verstorbenen zugekommen. Sind vielleicht auch da „Universalerben“ thätig gewesen?

148) Erasmus Gemm, Baier, aus Schwabach in Mittelfranken, beim 11. bair. Inf.-Reg., 2. Bat., 8. Comp.; bekam bei Sedan einen Schuß in die linke Schulter und wurde in ein Lazareth gebracht, wie ein ebenfalls verwundeter Freund desselben schrieb, der jedoch seiner Verwundung seitdem erlag. Den Verwandten ist sonst keine Nachricht zugekommen.

149) Ernst Gilbert, der jüngste von drei Brüdern, von denen, der älteste am 7. Oct. vor Metz fiel, der zweite in den Kämpfen um Belfort verwundet wurde und der dritte seit der Schlacht bei Wörth vermißt wird. Letzterer, Preuße, aus Weichnitz bei Quaritz, Reg.-Bez. Liegnitz, Musketier beim 2. niederschles. Inf.-Reg. Nr. 47; einige seiner Cameraden behaupten, er sei verwundet in Gefangenschaft gerathen; das Regiment gab auf Aufrage die Auskunft: „Bei Wörth verwundet, Lazareth unbekannt.“ Wer kann den Schmerz der Eltern, denen dieser Krieg schon einen todten und einen verwundeten Sohn gekostet, über das ungewisse Schicksal ihres jüngsten Kindes ermessen! –

150) Ernst Guder, Preuße, aus Lauterbach bei Bolkenhain in Schlesien, Füsilier beim Kaiser-Alexander-Garde-Gren.-Reg., 11. Comp.; am 18. August bei St. Privat schwer verwundet und verschollen.

151) Karl Wilhelm Richard Salzmann, Weimaraner, aus Isserstedt bei Jena, Musketier im 1. Bat., 3. Comp, des 94. thür. Inf-Reg. „Großherzog von Sachsen“; verwundet am 6. August 1870 in der Schlacht bei Wörth und seitdem vermißt. Er soll gefangen genommen, in eine Festung an der spanischen Grenze und von da nach Algerien geschafft worden sein.

152) Julius Siegert, Preuße, aus Gr.-Mochbern bei Breslau, als Ingenieur an der Oberschlesischen Eisenbahn einberufen, Gefreiter beim 3. niederschles. Inf.-Reg. Nr. 50, 1. Comp.; schrieb zuletzt am 3. August 1870 aus dem Bivouac bei Rohrbach. Aus der Schlacht bei Wörth erzählen Cameraden, daß er glücklich durch die Sauer gekommen und noch Nachmittags vier Uhr unverwundet gewesen sei. Vor Ermattung sank er endlich hin, nachdem man ihm das Lederzeug abgenommen. Von diesem Augenblick an hören alle Nachrichten auf. Die trostlosen Eltern setzen auch ihre letzte Hoffnung auf die endliche Erlösung unserer Gefangenen aus Algier. – –

153) Karl Hoefer, Preuße, aus Kösen, bei dem altmärkischen Ulanenregiment Nr. 16, 4. Escadron; letzte Nachricht vom 5. August, am 16. Morgens haben seine Cameraden ihn zuletzt gesehen, seitdem vermißt.

154) Wilhelm Nitschke (II.), Preuße, aus Prausnitz im Reg.-Bez. Breslau, Sohn eines Ackerbürgers, beim 3. niederschles. Inf.-Reg. Nr. 50, 3. Comp.; in der Schlacht bei Wörth verwundet, lag bis zum 11. August in der Kirche zu Wörth und ist seitdem spurlos verschwunden.

155) Johann Max Hollerith, Baier, aus Großfischlingen in der Rheinpfalz, beim 1. bair. Inf.-Leibreg., 3. Bat., 9. Comp.; lag im Spital in Orleans, als die Franzosen dort wieder einrückten und sämmtliche Kranke als Gefangene wegschleppten. Er kam nach Pan, von wo er mehrere Briefe schrieb. Ein Brief der Seinigen an ihn kam jedoch von dort zurück mit der Bemerkung: „parti pour la – –“, der Ort war nicht zu entziffern. Seitdem ist er völlig verschollen.

156) Peter Petersen, Preuße, aus Lindewitt bei Wallsbüll in Schleswig-Holstein, beim Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiment Nr. 1, 7. Comp.; am 18. Aug. 1870 bei St. Marie verwundet, kam von da in ein Lazareth in der Rheinpfalz, am 11. Nov. nach Speier, am 14. nach Mainz, wo er, wegen Ueberfüllung der Lazarethe, kein Unterkommen gefunden. Von da an ist jede Spur von ihm verloren! – –

157) Friedrich Rebitz, Reuße, aus Titschendorf bei Lobenstein, beim 7. thür. Inf.-Reg. Nr. 96, 6. Comp.; nach den Verlustlisten bei Beaumont leicht verwundet, seitdem verschollen.

158) Eduard Freitag, Weimaraner, aus Quaschwitz bei Oppurg im Neustädter Kreis, im 5. thür. Inf.-Reg. Nr. 94, erst 7. Comp., später 1. Comp., ist seit dem 11. Jan. d. J., an welchem Tage früh er Feldposten gestanden hat, spurlos verschwunden.

159) Melchior Albert Erb, Preuße, aus Fulda, Musketier beim 2. nassauischen Inf.-Reg. Nr. 88, 1. Comp.; seit der Schlacht bei Wörth vermißt.

160) Wilhelm Heinrich Hofmann, Hesse, aus Ulrichstein, beim großh. Hess. 2. Inf.-Reg., 1. Comp.; seit dem Gefecht am 31. Dec. bei Brière verschollen.


Hiermit wollen wir die Liste der vermißten Soldaten, wenigstens vor der Hand, schließen. Wir müssen aus den Erfolgen dieser Veröffentlichung erst ermessen, ob wir mit den fortgesetzten Nachfragen nach den für die Hinterbliebenen beklagenswerthesten Opfern des Kriegs nicht vergeblich nur bittere Gefühle erregen, oder ob wirklich der ihnen gewidmete Raum an den bekümmertsten Herzen sich lohnt.

Es giebt keine traurigere Seite des ganzen Kriegs, als die, die wir mit dieser Liste aufschlagen: die tausendfache Art, wie theuerste Menschenleben zu Nichte werden, bis zu welcher Rücksichtslosigkeit die Noth und noch Schlimmeres oft verleitet, was überhaupt in der Masse der Einzelne werth ist – das sind grauenvolle Bilder des Kriegs, die zu Gedanken führen, die man lieber verschweigt. Es muß noch viel geschehen, um der Scheußlichkeit der Menschenmetzelei diese schlimmste Seite zu nehmen – diese Unzahl von Vermißten, Verschollenen, Verschwundenen, deren von unheimlicher Ungewißheit verhülltes Schicksal die Schmerzenswunden so unheilbar macht.

Wir bitten demnach, die Einsendung von Nachfragen nach Vermißten wenigstens so lange zu unterlassen, bis wir durch günstige Resultate die Ueberzeugung gewonnen haben, daß wirklich damit etwas gethan wird.


  1. Unter diesem Titel und aus der Feder eines in den höheren Kreisen verkehrenden Mannes werden wir eine Reihe Charakteristiken der maßgebenden Persönlichkeiten des deutschen Reiches bringen. Wir glauben, unsere Leser besonders darauf aufmerksam machen zu dürfen.
    D. Red.
  2. Dem wird freilich von anderer Seite geradezu widersprochen. Officiere, welche unter dem General gedient, rütteln mit Entschiedenheit an der versuchten Glorificirung Manteuffel’s – als eines glücklichen Generals und bestreiten ebenso die Beliebtheit desselben bei seinen Officieren und Soldaten.
    D. Red.
  3. Seinem ungerechtfertigten Vorgehen gegen Jacoby hat es der Herr General zu danken, daß diese Popularität rasch geschwunden ist.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mieseln