Die Gartenlaube (1872)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 31.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


1.


„Ich will Sie nicht weiter bemühen, ich finde schon, was ich suche.“

Die Küsterfrau blickte den Herrn ein wenig verwundert an und dann auf das Bund großer Schlüssel, welches in der Thür hing, die sie soeben für den Fremden aufgeschlossen.

„Ja so,“ sagte der Fremde; „nun, das braucht Sie nicht zu beunruhigen; ich werde nicht lange bleiben, und hier ist etwas für Ihre Mühe.“

Er drückte der Frau ein Geldstück in die Hand und wandte sich nach der Thür.

„Der Herr Pastor hat streng verboten,“ sagte die Frau.

„Er wird nichts einzuwenden haben,“ erwiderte der Fremde. „Ich werde ihm ein paar Worte zurücklassen.“

Er nahm sein Portefeuille und schrieb einige Zeilen. Als er das Blatt loslöste, gewahrte er, daß auf der andern Seite eine kleine Skizze stand, die er heute Nachmittag, während sein Fuhrwerk vor einer Dorfschenke hielt, mit ein paar Strichen hingeworfen.

Ein flüchtiges Lächeln zog über sein ernstes Gesicht.

„Das geht doch nicht,“ murmelte er, „und statt eines Pferdefußes sogar acht. Und hier wieder – Alles vollgekritzelt. Nun, es thut nichts,“ sagte er laut, indem er das Portefeuille wieder in die Tasche steckte, „ich schreibe dann von P. aus. Bitte, sagen Sie ihm das; adieu, liebe Frau.“

Die Küsterfrau wagte nichts zu erwidern und wandte sich zu gehen. Der Fremde schaute ihr ein paar Augenblicke nach. „Sonderbar,“ murmelte er, „als ob ich ein Sacrileg beginge, wenn ich an diesem Ort meinen Namen laut nennte! War es mir doch schon eine Erleichterung, daß diese Frau mich nicht kannte. Wie wir doch Alle in dem Bann dunkler Gefühle sind, die wir vor Anderen einzugestehen uns schämen würden! Freilich, es ist kein Wunder, wenn diese Empfindungen mich hier schier allmächtig überkommen; hier, wo meine Heimath sein sollte; hier, wo meine Wiege stand, und wohin ich doch nicht wiederkehren durfte, als bis sich das Grab geschlossen über dem, der mir zum Leben verhalf.“

Er hatte ein paar leise Schritte in die Kirche hineingethan und schaute sich jetzt, stehen bleibend, in dem kleinen Raume um. Durch die runden, bleigefaßten Scheiben der hohen, schmalen Fenster sandte die bereits tiefstehende Sonne ein seltsames Licht herein, das bald stärker, bald schwächer wurde, je nachdem der laue Wind die Zweige der uralten Linde draußen an der Kirchenmauer hob oder senkte. Und so, bald heller, bald dunkler, aber immer trübe, zogen die Erinnerungen seiner Jugendjahre durch die Seele des Fremden, während er regungslos dastand und sein Auge über die dicken weißgetünchten Mauern und die paar braunen Bilder schweifte, die in allzugroßer Höhe hier und da herumhingen, und über die kleine Empore aus Eichenholz, das die Zeit schwarz gemacht hatte, und den Altar mit den beiden großen messingenen Armleuchtern, und die Kanzel, deren Pult mit einer zerrissenen Decke behängt war. – Es war Alles so wie damals; selbst der Löcher in der Decke erinnerte er sich noch, nur Alles so viel kleiner, dürftiger, geschmackloser, als es in der Erinnerung gestanden. Und doch war es jetzt noch die günstigste Beleuchtung – was war es im hellen Tageslicht! Und seine dürftige, traurige Kindheit, was war sie, wenn er das Zauberlicht der Erinnerung auslöschte, wenn er sie sah, wie sie wirklich war, wie sie ihm, dem so früh der Mutterliebe Beraubten, ein kalter, fanatischer Vater gemacht hatte!

Der Wanderer fuhr aus seinen Träumen empor, als jetzt ein scharfer Ton durch den satten Raum hallte, wie wenn etwas entzweibräche. Es war das Werk, das zum Schlagen aushob. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, zählte mechanisch die Schläge und horchte noch auf den dröhnenden Nachklang, bis das leiseste Summen verklungen war. – „Sieben Uhr,“ sagte er; „es ist Zeit, daß ich wieder aufbreche.“

Er schritt hinter den Bänken herum, nach einer Beiseite, rechts neben der Kanzel, bis er an die große eiserne Thür der Krypta gelangte. Die Thür war jetzt verschlossen. Aber rechts und links neben derselben waren an der Wand die Grabsteine der Prediger von Rammin, die dort oben auf der Kanzel das Evangelium verkündet hatten über den Särgen ihrer Vorgänger, zu denen auch sie eines Tages sich gesellen sollten. Er trat an den letzten Stein und las die Aufschrift, daß hier in Gott ruhe der Dr. theol. Gotthold Ephraim Weber, seit 1805 Prediger an der St. Marienkirche zu Rammin, geboren am 3. August 1780, gestorben am 15. Juni 1833.

„Gotthold Ephraim Weber,“ murmelte der Wanderer, „so heiße auch ich, und bin ja auch Doctor der Theologie. Und daß ich nicht bleiben wollte, wozu mich der Vater bestimmt, daß ich sein und werden wollte, wozu mich nach meinem besten Wissen und Gewissen die Mutter geboren, das hat ihn, der dort unten ruht, und mich auseinandergebracht. Nein, nein, nicht das, oder [496] wenigstens nicht der Moment; ich habe nie in Deinem Sinne verstanden, was hier geschrieben ist: ‚Selig sind, die in dem Herrn sterben.‘ Wir waren nie Eines, waren längst geschieden, bevor wir uns trennten. Nun denn, Vater, laß uns nun wenigstens Frieden haben. Ich gönnte Dir ja von ganzem Herzen die Seligkeit, an die Du geglaubt; und sage ich: ‚selig sind die – Todten‘, so hast Du ganz gewiß die Seligkeit, an die ich glaube.“

Gotthold machte eine Bewegung, wie Jemand, der einem Andern die Hand reicht. „Laß uns nun Frieden haben,“ sagte er noch einmal.

Ein Vögelchen, das sich für einen Moment in eines der Luftlöcher oben in dem Fenster gesetzt, zwitscherte so laut, daß der liebliche frische Ton den ganzen stillen Raum erfüllte.

„Ich will es als Antwort nehmen,“ sagte Gotthold.

Er verließ leisen Schritts, wie er eingetreten war, die Kirche und ging den breiteren Pfad des Friedhofes hinab, bis wo sich an dem großen eisernen Kreuz, welches abermals die Inschrift trug: „Selig sind, die in dem Herrn sterben“, ein Pfad abzweigte, der bis an die Mauer führte. Es hatte sich in diesem älteren Theil des Kirchhofs kaum etwas verändert; er kannte noch jeden einzelnen Grabhügel und jedes Kreuz und jeden Stein und jede Inschrift; und da war es ja, welches er suchte – das Grab mit dem niedrigen Holzgitter, der verkrüppelten kleinen Trauerweide, dem schiefstehenden kleinen Kreuz – vernachlässigt wie immer, oder noch ein wenig vernachlässigter – das Grab seiner Mutter.

Er hatte sie so früh verloren, als er vier oder fünf Jahre alt war. Es war ihm kaum der flüchtigste Schatten einer persönlichen Erinnerung an sie geblieben; er hatte nie ein Bild von ihr gesehen; sein Vater hatte nur einmal ihrer erwähnt, als er im Zorn zu ihm sagte: „Du bist wie Deine Mutter.“ Dennoch, und vielleicht gerade deshalb, hatte sich seine Phantasie viel mit der todten Mutter beschäftigt, die so gewesen sein sollte wie er und die ihn gewiß geliebt haben würde, wie er ihren theuren Schatten liebte, bis dieser Schatten beinahe eine Gestalt annahm. Eine liebe, traumhafte Gestalt, die da kam, ungerufen und unrufbar, und schwand, wo er sie so gern länger gehalten hätte.

Er hatte ein paar Blätter von der Weide gepflückt; aber er streute sie alsbald wieder auf das Grab.

„Dessen bedarf es nicht zwischen mir und Dir,“ sagte er; „wir verstehen uns ohne Zeichen, und es soll auch so bleiben, wie es ist, soll verfallen, still, allmählich, wie die Herrscherin Zeit es will. Wem käme auch der prächtigste Marmor, den ich Dir von Thorwalden’s Meisterhand herrichten ließe, zu gute! Nicht Dir – was frägt man in Nirwana nach solchem Erdentand! – nicht mir. Ich werde nie wieder an diesem Platze stehen, und für die Anderen würde der Stein eben nur ein Stein sein. Nein, es ist besser so; das stimmt auch zu dem Orte.“

Er blickte auf, und sein Künstlerauge schweifte von den Grabstätten, über deren langes im lauen Abendwinde nickendes Gras die scheidende Sonne hier und da röthliche Lichter streute, zu dem alten Kirchlein, dessen plumper viereckiger Thurm noch im Purpurlicht glühte, während die Hauptmasse schon in tiefem Schatten lag.

„Zu dem Orte und zu der Stunde,“ sagte Gotthold; „es gäbe ein schönes Bild; aber ich werde mich hüten, es zu malen. Ich malte es dann aus meiner Seele heraus, und da will ich es ja eben festhalten.“

Er schloß für einen Moment die Augen und schaute, als er sie öffnete, nicht wieder empor, während er langsam, die Hände auf dem Rücken, durch die engen Pfade nach dem Ausgange schritt. Plötzlich blieb er stehen; die Hände streckten sich unwillkürlich aus und hinab zu ein paar kleinen Gräbern, die hart am Pfade lagen und deren Inschriften im Vorübergehen sein Blick gestreift hatte: „Cäcilie Brandow“, „Karoline Brandow“. Es standen auch die Tage der Geburt und des Todes der Kinder da – winzig gemessene Fristen beide Male, so winzig wie die Gräberchen.

Es durchschauerte ihn seltsam. Er hatte gedacht, daß dies vorüber sei und ausgelöscht aus seinem Leben und daß er die Reise zu seinem sterbenden Vater, aus welcher jetzt eine Wallfahrt zu den Gräbern seiner Eltern geworden war, machen könne, ohne durch die Nähe der Geliebten seiner Jugend gestört zu werden. Ja, er hatte vorhin, als er aus der Kirchenthür trat, von dem erhöhten Platze aus über die Landschaft weg nach dem Park von Dahlitz geblickt, aus dessen dunklen Baumgruppen ein Stück von dem Giebel des Herrenhauses weiß herüberschimmerte, und die Vergangenheit war stumm geblieben. Jetzt fluthete sie über ihn herein wie ein Strom, dessen Schleußen plötzlich geöffnet sind. Ihre Kinder – und sie selbst war ja damals noch ein halbes Kind! ihre Kinder! und das eine, das älteste, hatte ihren Namen gehabt – den Namen, der ihm von jenen Tagen her für immer einen eigenen, geheimnißvollen heiligen Klang behalten, so daß er ihn niemals ohne einen frommen Schauder hören, ja auch nur lesen konnte: Cäcilie! – Ihre Kinder! seltsam! unbegreiflich seltsam! so unbegreiflich wie der Tod, dem sie so früh verfallen waren! Und sie hatte an diesen Gräbern geweint und gekniet, und neben ihr hatte der Mann gestanden, dessen Name ja auch hier in Goldschrift auf die Tafeln geschrieben und dessen Vorname selbst in dem Namen des jüngern Kindes zu seinem Vaterrecht gekommen war: Karl Brandow! Ob auch er wohl Thränen für seine Kinder gehabt? Es war eine unmögliche Aufgabe, sich Karl Brandow’s scharfes hartes Gesicht in Thränen zu denken.

Und wie jetzt vor Gotthold’s Phantasie das Gesicht seines Feindes – des einzigen, den er je gehabt – in fast greifbarer Deutlichkeit auftauchte, zuckte es heiß hinauf und hinab an der tiefen Narbe, die, noch unter dem Haar beginnend, über die rechte Schläfe am Ohr vorbei über die ganze Wange bis in den dunklen Vollbart schnitt und um deren willen die Küsterfrau, eingedenk des Wortes, daß man sich vor dem Gezeichneten hüten müsse, den stattlichen Fremden so ungern allein in die Kirche gelassen hatte. Wollte die Wunde wieder anfangen zu bluten? die Wunde, die ihm jenes Mannes Hand geschlagen, als sie Beide noch auf der Schulbank saßen? Wäre es ein Wunder gewesen in diesem Augenblicke, wo sein Herz so krampfhaft zuckte, als wollte es sagen: die Wunde, die man mir geschlagen, ist ein paar Jahre jünger und sehr viel frischer und tiefer, und Du siehst jetzt, daß sie nicht geheilt ist, wie Du geglaubt hast, und daß sie nimmer heilen wird.

„Nimmer!“ sagte Gotthold, „nimmer! nun dann! so will ich wenigstens nicht daran rühren. Und – die holden Kinder, sie wenigstens tragen keine Schuld, wenn überall hier von Schuld die Rede sein kann. Ich wollte, ich könnte sie Dir wieder zum Leben erwecken, arme Cäcilie! und möge Dir der Himmel die behüten, die er Dir hoffentlich nach diesen geschenkt hat!“

Eine schwarzgekleidete Gestalt mit niedrigem breitkrempigen Hute und weißem Halstuche näherte sich von der Seite des Pfarrhauses dem Friedhofe. Ohne Zweifel war es seines Vaters Nachfolger, der neue Pastor, der früher, als die Küsterfrau angegeben, von seiner Schulinspection zurückgekehrt war und den Fremden, welcher nach ihm gefragt und sich dann die Kirche hatte aufschließen lassen, zu suchen kam. Gotthold wäre jetzt in seiner tief erregten Stimmung gern dieser Begegnung ausgewichen; aber der geistliche Herr schien ihn bereits gesehen zu haben, denn er beschleunigte seine Schritte und streckte, als nun auch Gotthold ihm entgegenging, noch in größerer Entfernung beide Hände aus, rufend: „Müssen wir uns unter so traurigen Verhältnissen wiedersehen?“

Gotthold blickte dem Manne, der jetzt vor ihm stand, und ihm die Hände drückte und preßte, verwundert in das bartlose, aufgedunsene, weiße Gesicht und in die wasserblauen Augen, die – Gotthold wußte nicht, ob vor Rührung oder weil die Abendsonne gerade hinein schien – krampfhaft zwinkerten.

„Aber kennst Du mich denn nicht mehr, lieber Bruder?“ fragte der geistliche Herr, „hat man Dir denn meinen Namen nicht genannt? August Semmel –“

„Genannt Kloß,“ sagte Gotthold, unwillkürlich lächelnd. „Ich bitte um Verzeihung; ich hatte wirklich vorhin auf den Namen nicht gehört, und dann, ich habe Dich zuletzt nie anders als in Koller und Kanonen, die Cereviskappe schief auf dem Kopf und das Gesicht bis an die Augen in struppigem Bart gesehen; das ist eine gar vortreffliche Maske.“

Pastor Semmel ließ Gotthold’s Hand fahren und machte eine schnelle Wendung, die ihm den Vortheil des Schattens gewährte.

„Eine Maske,“ sagte er mit frommem Augenaufschlag; „ja wohl! und wie ich jetzt darüber denke, eine recht eitle, um nicht [497] zu sagen sündhafte. Ich schalt Dich damals oft, daß Du nicht in unser Corps treten wolltest, wenn Du auch je zuweilen mit uns zu kneip– Dich mit uns zu erlustigen nicht verschmähtest; jetzt beneide ich Dich, daß Du so früh die Kraft der Entsagung gehabt hast, an der es mir gebrach.“

„Dafür ist denn nun aus dem Saulus ein Paulus geworden,“ erwiderte Gotthold lächelnd, „während mein Tag von Damaskus noch immer auf sich warten läßt.“

„Ja, ja,“ sagte der Pastor. „Wer hätte das denken können! Der Fleißigste von uns Allen schon auf der Schule, der Fleißigste auf der Universität; von den Lehrern, von den Professoren stets als Muster aufgestellt; bereits im vierten Semester uns alte Häupter zum Examen einpauk– zum Examen vorbereitend; selbst seine Examina mit Glanz absolvirend, und Alles das –“

„Um Hekuba! Nein, lieber Semmel, meine Kunst sollst Du mir nicht schelten, wenn ich selbst auch, was ich gern zugebe, bis heute nur ein schlechter Künstler bin. Aber ich kann Dich versichern: ein theologisches Examen ist leichter zu machen, als ein gutes Bild – ich spreche aus eigner Erfahrung; und dann, wäre ich Theolog geblieben, wer weiß, ob nicht, anstatt Deiner, der Sohn in seines Vaters Stelle gekommen wäre. Das ist doch auch zu bedenken.“

„Es würde eine furchtbare Concurrenz gewesen sein,“ sagte Herr Semmel, „trotzdem allerdings auf der andern Seite der Prophet in seinem Vaterlande weniger gilt, und ich, offen gestanden, als ich hier candidirte – ich war, nachdem ich Halle verlassen, erst vier Jahre in Hinterpommern beim Grafen Zerneckow Hauslehrer gewesen, und hernach hier in Neuenkirchen Substitut meines Alten, der sehr klapperig geworden war, so daß ich ganz bestimmt glaubte – aber er hat sich wieder ganz herausgerappelt, und da kam es mir denn ganz gelegen – was wollte ich doch sagen? ja – als ich mich vor vier Wochen um die Stelle bewarb, und es gut zu machen glaubte, wenn ich mich als einen intimen Schul- und Universitäts-Freund des Sohnes meines Vorgängers präsentirte, habe ich nicht überall mit dieser Empfehlung reussirt. So beim Herrn Otto von Plüppen auf Plüppenhof –“

Gotthold mußte lächeln. „Das glaube ich,“ sagte er, „ich habe ihm, als wir auf dem Pädagogium in P. waren, oft genug seinen dummen Kopf gewaschen.“

„Du weißt, ich war bereits in Prima, als Ihr noch in Secunda wart,“ fuhr der Pastor im Tone der Entschuldigung fort, „und hatte ganz vergessen, daß Ihr Euch gekannt haben mußtet; aber auch bei einigen Andern, als ich, jetzt natürlich durch meine Plüppen’sche Erfahrung gewitzigt, Deiner vorsichtiger Erwähnung that, stieß ich auf eine gewisse, wie soll ich sagen? Feindseligkeit wäre unchristlich, aber –

„Lassen wir das Thema fallen,“ sagte Gotthold mit einiger Ungeduld.

„Gewiß, gewiß,“ erwiderte der Pastor, „obgleich es Dich freuen wird, zu hören, daß ich gerade diese Gelegenheiten benutzen konnte, um Deiner großmüthigen Schenkung an die Armen unsers Kirchspiels mit derjenigen Dankbarkeit zu erwähnen, welche –“

„Aber wozu das, nachdem ich ausdrücklich gebeten, daß mein Name nicht genannt werden sollte?“

„Weil geschrieben steht: Du sollst das Licht nicht unter den Scheffel stellen; und weil ich nur so im Stande war, den bösen Leumund zum Schweigen zu bringen, der sich an Deine Person geheftet hatte.“

„Bösen Leumund? fragte Gotthold.

„Nun ja, weil man wußte, daß Du bereits vor sieben Jahren durch den Tod Deines Onkels in den Besitz eines großen Vermögens gekommen und trotzdem Dein Vater –“

„Großer Gott, was kann denn ich dafür,“ rief Gotthold, „wenn mein Vater hartnäckig jedes Anerbieten meinerseits – ich bin wirklich nicht im Stande, über diese Angelegenheiten mich weiter auszulassen. Ueberdies, es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche, wenn ich noch bei guter Zeit in P. sein will. Herr Wollnow hat doch Alles, was die Hinterlassenschaft meines Vaters betraf nach Wunsch geregelt? Ich konnte das leider selbst nicht thun, da ich, wie Du von ihm erfahren haben wirst, auf der übereilten Reise erkrankt war, und ein paar Wochen in Mailand liegen bleiben mußte. Aber ich schrieb ihm von dort aus, daß er den Wünschen von meines Vaters Nachfolger in jeder Weise nachkommen möge.“

„Ohne noch zu wissen, wer dieser Nachfolger war!“ rief Herr Semmel, „ja, so seid Ihr Künstler! nun, ich bin nicht unbescheiden gewesen. In der Bibliothek Deines Vaters war in der That manches werthvolle Theologische, das ich gern gehabt hätte, und da Du dem Käufer erlaubt hattest, seinen eigenen Preis zu machen –“

„So sind wir ja im Reinen, lieber Semmel, und nun keinen Schritt weiter.“

„Nur bis zu Deinem Wagen, den ich vorhin an der Schenke angespannt halten sah.“

„Keinen Schritt, wenn ich bitten darf.“

Sie standen an der Kirchhofsthür, die nach der Dorfstraße führte; der Pastor schien Gotthold’s Hand nicht loslassen zu können.

„Und was ich zu Deiner Beruhigung und zur Ehre unserer alten Schulcameraden dem vorherigen Gespräch hinzufügen zu müssen glaube: es haben keineswegs Alle sich solcher Lieblosigkeit – so darf ich es ja wohl, ohne selbst lieblos zu sein, nennen – schuldig gemacht. Es sind auch etliche unter ihnen, die warm zu Deinem Lobe gesprochen haben; Niemand unter ihnen wärmer, als Karl Brandow.“

„Brandow! Karl Brandow!“ rief Gotthold; „das ist freilich –“

„Gewiß nur seine Schuldigkeit, wenn er wieder gut zu machen sucht, was er in jugendlicher Unbesonnenheit an Dir gefrevelt, indem er nun der Wahrheit die Ehre giebt, und vor Allem bekennt, daß der Teufel der Habgier sicherlich der letzte sei, der Gewalt über Dich gewinnen könnte, und daß, wenn Dein Vater so arm gestorben sei, wie er gelebt habe, es ohne Zweifel –“

„Leb’ wohl!“ sagte Gotthold, dem Pastor über die niedrige Thür die Hand reichend.

„Gott segne und behüte Dich!“ sagte der Pastor, „und solltest Du – während Deines hiesigen Aufenthaltes für einen alten Freund noch eine Stunde erübrigen –“

Gotthold sagte nichts weiter. Er hatte dem Pastor die Hand mit einer schier unhöflichen Hast entzogen und schritt jetzt, den Hut tief in das Gesicht ziehend, schnell die Dorfstraße hinab. Herr Semmel blickte ihm nach, und ein höhnisches Lächeln zog über sein aufgedunsenes Gesicht.

„Der Phantast!“ sagte er; „es scheint, daß ihm das heillose Glück, das er gehabt, vollends den Kopf verdreht hat. Aber schadet nichts. Reiche Leute muß man sich warm halten. Karl Brandow ist ein Schlaukopf. Er wird wohl wissen, weshalb er von dem Augenblicke, als er hörte, daß er zurückkommen würde, ein anderes Register aufgezogen, und ihn nicht genug rühmen und preisen kann, auf den er vorher wie ein Rohrsperling geschimpft hat. Vielleicht will er einen Pump riskiren – nun, nöthig hat er es gewiß; Plüppen sagt ja, er pfeife aus dem letzten Loche. Er ist morgen Mittag auch in Plüppenhof, da kann ich mit meiner Neuigkeit Furore machen.“




2.


Die lange Dorfstraße war leer. Kaum, daß hier und da in der Thür eines der niedrigen, strohgedeckten Häuser sich ein altes Mütterchen zeigte, oder ein paar halbnackte Kinder hinter den verwilderten Dornhecken in den schlechtgehaltenen Gärtchen ihr Wesen trieben; sonst war alle Welt draußen auf dem Felde, wo heute die Roggenernte begonnen hatte.

Die Dorfstraße war leer, und die Schwalben hatten freie Bahn. Hinauf, hinab, zogen sie pfeilschnellen Fluges, jetzt am Boden hin, jetzt sich hebend in anmuthigen Bogen, geradeaus, im Zickzack, zirpend, zwitschernd, unermüdlich die langen Schwingen regend.

Gotthold blieb stehen, rückte den Hut, den er vorhin tief hinabgezogen, aus der Stirn und schaute, in Gedanken versunken, den zierlichen Vögeln zu, die er von Kindheit auf immer so geliebt hatte. Und wie er so stand und schaute, wich der zornige Unmuth, welchen das Gespräch mit dem Pastor in seiner Seele wachgerufen, allmählich einer seltsamen Wehmuth.

„Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,“ murmelte er. „Ja, ja, noch klingt es im Dorf wie einst:

[498]

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer –

Ich glaubte es zu verstehen, – ich hatte es doch nur mit den Augen gelesen, nicht mit dem Herzen, mit dem Herzen des einsamen Mannes, der nach zehn Jahren zurückkehrt zu dem heiligen Raum seiner Jugendzeit, um zu finden, was ich hier gefunden: die schmerzlichste Erinnerung an das, ‚was mein einst war.‘“

Hinauf und hinab zogen die Schwalben dicht an der Erde hier, in hohen Bogen dort über einen beladenen Erntewagen, der aus einem Nebengäßchen auf die Hauptgasse lenkte, und in der Thür einer Scheune verschwand.

„Wie heißt es doch,“ sagte Gotthold:

„Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird’s nie mehr voll.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, die Thränen abzutrocknen, die ihm unaufhaltsam aus den Wimpern drangen, während ein wehmüthiges Lächeln um seine Lippen zuckte.

„Das wäre ein Schauspiel für meine römischen Freunde, mich hier stehen und weinen zu sehen wie einen Schulknaben; und was würdest Du sagen, Julia? Dasselbe, was Du sagtest, als ich Dir das Lied übersetzte: ‚das ist ja Unsinn, lieber Freund! Wie kann ein Herz leer sein? mein Herz ist niemals leer gewesen, seitdem ich weiß, daß ich eines habe; und jetzt ist es voll von Liebe zu Dir, wie Deines von Liebe zu mir, Du deutscher Träumer!‘ – Und Du strichest mir das Haar aus der Stirn und küßtest mich, wie nur Du küssen kannst. Und doch, und doch! Wenn ich Dich liebte, Julia, so war es nur ein schwacher Abglanz der Liebe, die ich einst gefühlt, wie vorhin der bleiche Ost noch einmal in rosigen Lichtern aufflackerte von dem Wiederschein des Abendroths, das im Westen verglühte. Ich habe mich von Dir trennen können, und mein Herz hat nicht gezuckt, wie vorhin, als ich auf dem Grabsteine des Kindes ihren Namen las, die selbst für mich todt ist.“

Er streckte segnend die Hand aus.

„So singt denn weiter, holde Schwalben, den süßen traurigen Gesang! Und ziehet fort und kehret wieder, und bringt den Frühling in die leeren Felder und die vollen Menschenherzen! Und schütze euch der Himmel, traute Heimathflur und liebes Heimathdorf! Ihr sollt mir heilig sein, wie die Erinnerungen meiner Jugendzeit trotzalledem!“

An der Dorfschenke hielt der Wagen angespannt. Der Kutscher hatte den Pferden nur die Zäume über die Köpfe gestreift, damit sie bequemer das in Würfel geschnittene Brod fressen konnten. Jetzt rückte er die fliegende Krippe weg, ließ sie noch schnell einen Zug aus dem halbgeleerten Eimer thun, und stand, als Gotthold herankam, bereits die Zügel in der Hand, am Schlage, den er mit einem freundlichen Grinsen öffnete.

Es war das erste Mal, daß er seinem Fahrgast eine solche Aufmerksamkeit erwiesen. Sie hatten den langen Weg quer über die Insel weg zurückgelegt – Gotthold, in trübe Gedanken versunken, gegen seine Gewohnheit schweigsam und keineswegs unzufrieden mit der Schweigsamkeit des Mannes, der stunden- und stundenlang regungslos da vor ihm saß, die breiten, in einen blau linnenen, an den Nähten weißen Rock gehüllten Schultern lässig vornübergebeugt und aus seiner kurzen Pfeife dampfend, die Gotthold ihm nicht verwehren mochte, so unbequem ihm auch manchmal der süßliche Duft des heimischen Krautes war.

Er durfte deshalb einigermaßen verwundert sein, als der Breitschultrige, nachdem sie eben aus dem Dorfe waren und langsam zwischen den Kornfeldern auf dem schmaleren Vicinalweg nach der Landstraße fuhren, sich plötzlich umwandte und, abermals seine großen weißen Zähne zeigend, in seinem breiten Platt sagte:

„Kennen Sie mich wirklich nicht mehr, Herr Gotthold?“

„Nein,“ sagte Gotthold, lächelnd in das lächelnde Gesicht des Kutschers schauend, „aber Sie scheinen mich desto besser zu kennen.“

„Ich habe mich schon den ganzen Weg darauf besonnen, ob Sie es wären oder nicht,“ sagte der Mann, „manchmal glaubte ich’s, und manchmal wieder nicht.“

„Da konnten Sie doch fragen.“

„Ja, das sagen Sie wohl, da bin ich gar nicht darauf verfallen; das wäre freilich das Einfachste gewesen. Na, nun ist es ja nicht mehr nöthig; nun kenn’ ich Sie ja – daran!“ sagte der Mann, indem er mit dem Peitschenstiel auf seinem Gesicht die Linie von Gotthold’s Narbe zog. „Und hätte Sie wohl schon heute Morgen daran kennen müssen, denn so was sieht man nicht alle Tage; aber es ist doch schon ein bischen lange her, und im Krieg kommt ja so was wohl oft vor, und Sie sehen mit Ihrem langen Bart und dem braunen Gesicht g’rad’ aus, als ob Sie aus Spanien kämen, wo es ja wohl wieder Krieg geben soll, aber als Sie vorhin in Rammin halten ließen, und auf das Pastorhaus zugingen, ohne mal zu fragen, da sagte ich gleich: ‚sieh, er ist es doch.‘“

„Und Sie sind – Du bist Jochen – Jochen Prebrow!“ rief Gotthold, mit Herzlichkeit seine Hand ausstreckend, in die Jochen, der sich halb auf seinem Sitze umgewandt hatte, mit seiner breiten Hand nicht minder herzlich einschlug.

„Na, freilich!“ sagte Jochen, „und Sie haben mich wirklich nicht gekannt?“

„Wie kannst Du das nur glauben?“ sagte Gotthold, „Du bist so groß und stark geworden, trotzdem Du allerdings in dieser Beziehung nur gehalten hast, was Du als Knabe versprachst.“

„Ja, das liegt so im Menschen,“ erwiderte Jochen, „aber mein Feldwebel in Berlin sagte immer, das wäre kein Naturfehler.“

Jochen Prebrow wandte sich wieder zu den Pferden. Er hatte die Identität seines stattlichen Passagiers mit dem schlanken Gespielen seiner Jugendjahre, über die er den ganzen Weg gegrübelt, festgestellt, und war mit dem gewonnenen Resultat vorläufig vollkommen zufrieden. Auch Gotthold schwieg; es hatte ihn eigen berührt, daß er mit dem guten Jochen beinahe einen Tag lang hatte reisen können, wie mit einem fremden Menschen.

Jochen Prebrow, der Schmiedsjunge von Dollan! Da waren sie wieder, die schönen Tage, wenn er von P. aus mit Curt Wenhof in die Ferien ging, die selbstverständlich in Dollan verlebt werden mußten, und oben auf der Haide, wo der Weg nach Dollan sich von der Landstraße abzweigte, Jochen Prebrow, ihrer harrend, stand und die Mütze schwenkte; Jochen, der wohl wußte, daß mit den Beiden auch seine gute Zeit kam, die Zeit des Fischefangens und Vogelstellens, unter Aufsicht des alten Vetter Boslaf, und tausend toller unbeaufsichtigter Streiche zu Wasser und zu Lande, für die Curt dem gutmüthigen Vater gegenüber allezeit die nicht schwere Verantwortung übernahm.

„Und der junge Herr ist nun auch todt,“ sagte Jochen Prebrow, sich auf seinem Sitz wieder halb umwendend, zum Zeichen, daß er seinerseits mit der Hauptsache fertig und bereit sei, nun zu den Einzelheiten überzugehen.

Gotthold nickte.

„Umgesegelt auf der Spree!“ fuhr Jochen fort, „und ertrunken, und konnte segeln wie ein Vollmatrose, und schwimmen wie ein Hecht, das ist zu curios; aber er hat mir’s wohl gesagt, daß es mit ihm mal so ein Ende nehmen würde.“ Und Jochen stopfte sich eine frische Pfeife.

„Wann hat er Dir das gesagt?“

„Er war ja zu seiner Schwester ihrer Hochzeit hier von Gr., und hernach sollte er ja wohl nach Berlin und sich ausweisen, ob er seinen Lex gelernt hätte, und das wird ja denn wohl man schwach damit bestellt gewesen sein, denn für das Lernen ist unser Herr sein Tage nicht gewesen. Und so sagte er auch zu mir, als wir von P., wo die Trauung gewesen war, zurückkamen, und ich hatte die Hochzeitskutsche gefahren, denn ich mußte fahren, weil der alte Christian krank war; und dann ging’s wieder pleine-chasse nach Dollan, und es war ein großes Frühstück, und unser junger Herr hatte wohl ein bischen reichlich getrunken, als er zu mir in den Stall kam und sich auf das Stroh warf und anfing zu weinen, daß es ein Jammer und Elend war.

‚Was haben Sie denn, jung’ Herr?‘ sagte ich.

‚Ach, Jochen,‘ sagte er, ‚mit mir ist es aus, rein aus. Ich hab’ Vatern gebeten, er soll mich Landmann werden lassen, denn es würde doch seine Tage kein Rechtsverdreher aus mir; aber er sagt ja: ‚wir haben gar nichts, rein gar nichts‘; und die Aussteuer von meiner Schwester kann er nicht einmal bezahlen.‘“


(Fortsetzung folgt.)




[499]

Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 7. Husaren des 11. Corps im Doppelregen bei Sedan.
Von Chr. Sell.

[500]
Meine Kindheit.


Von Gottfried Kinkel.


(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)


III.


Mein Vater galt als ehemaliger Regens zweier höheren Schulen für ein Licht von Gelehrsamkeit, und zum Gelehrten dachte er auch mich zu bilden. Natürlich schwebte mir als Knabe ein beständiger Heiligenschein um sein Haupt, und erst viel später habe ich eingesehen, wie unzureichend seine classische Bildung gewesen ist. Gleich so vielen Philologen sah er die alten Sprachen nicht als ein Mittel, sondern als Selbstzweck an. Nicht um an ihrer Hand in die frühlingstrunkene Welt Ioniens und Athens oder in den Braus römischen Thatensturms einzutreten, nicht um in ihnen den Schlüssel zur Erkenntniß eines durch Freiheit und Bildung erhabenen Menschengeschlechts zu gewinnen, hatte er die Sprachen der hohen Vorwelt erlernt: sondern das Lateinische diente ihm, weil es eine Grammatik hatte und viele theologische Bücher darin geschrieben waren; das Griechische aber hielt er, außer der rein sprachlichen Bedeutung, nur zum Verständniß des neuen Testamentes für wichtig. Auch hat er diese letztgenannte Sprache selbst nie wahrhaft gründlich betrieben, sie überhaupt in ihrer formenschönen Jugend gar nicht kennen gelernt, wie sie aus Platon’s goldenem Munde tönt: er verstand sie blos in ihrer letzten, durch Juden und andere Morgenländer schon entstellten Form, welche sie in den alttestamentlichen Apokryphen und in den Apostelschriften angenommen hat. Einen Blick in hellenisches Leben hat er nie gethan, die großen Ionier und Athenienser gar nicht gekannt; ja so unklar lag ihm der Entwicklungsgang jener erhabenen Literatur da, daß er den Homer für viel jünger als den Apostel Paulus hielt. Dagegen war er wieder im Hebräischen recht fest, und sein altes Testament, das ich noch besitze, trägt Spuren, daß er es von einem Ende bis zum andern in der Ursprache durchstudirt hat, was gar manchem Professor der Exegese gleichfalls zu wünschen wäre. Seine Unterrichtsmethode war trocken und pedantisch, aber die lange Schulübung hatte ihn tactfest gemacht.

Mit sehr sicherem Schritte führte er mich von Stufe zu Stufe hinauf, und in drei Jahren war ich mit einer täglichen Unterrichtsstunde im Lateinischen so weit, daß ich mit ihm über alles Vorkommende ganz fertig in dieser Sprache conversirte, was besonders bei Spaziergängen im Munde eines neunjährigen Kindes die Bauern höchlich wunderte. Uebrigens habe ich seitdem auf dem Gymnasium bis zur Prima nicht mehr nöthig gehabt, mich auf meine lateinischen Stunden vorzubereiten, und so oft ich später auch zu den schwierigeren Schriftstellern Roms zurückkehrte, haben sie sofort vertraulich wie alte Bekannte zu mir geredet. Das Griechische begann ich mit acht Jahren, und im Hebräischen habe ich gleichfalls den Grund noch beim Vater gelegt, welcher dazu die Herbstferien vor meinem Aufsteigen in Secunda benutzte.

Das war aber auch der beste Unterricht, den ich erhielt, denn in allem Uebrigen, soviel auch davon betrieben wurde, fehlte die rechte Methode und die Gründlichkeit. Wie leicht ist es, zumal auf dem Lande, die lebensvolle Anschauung der Naturgesetze einem aufgeweckten Kinde beizubringen! Allein davon erfuhren wir ganz und gar nichts, denn alle Naturkunde meiner Eltern lag im Sechstagewerk der mosaischen Schöpfungssage beschlossen. Man braucht einen Knaben nur auf einen Berg mitzunehmen, um ihm alle Grundbegriffe der Erdbeschreibung einzupflanzen, indem man ihm an sinnlichen Beispielen zeigt, was ein Thal, ein Stromgebiet, eine Wasserscheide und eine Bergkette ist. Daran schließt sich alsdann in der Einbildung des Kindes ganz leicht die Vorstellung von Meer, Vorgebirge, Hafen, Insel und Landenge an. Geht man nun dazu fort, ihm die Erzeugnisse der eigenen Heimath zu zeigen und die Producte fremder Länder damit zu vergleichen, welche der Handel massenweis bei uns einführt, so entsteht ganz von selbst im Denkvermögen des Kindes die Vorstellung vom Unterschied der Himmelsstriche, welche sofort die Belehrung über die Gestalt der Erde, ihren Umlauf und ihr Verhältniß zur Sonne nach sich zieht. So gilt es nun zuerst, dem Kinde die blos natürliche Geographie, die Gestalt und Beschaffenheit der einzelnen Welttheile vor dem Auftreten des Menschengeschlechtes zu schildern und so vor seinem Verstand das Theater aufzubauen, auf dem nun die Geschichte ihr noch unvollendetes Schauspiel anhebt. Freilich gehört dazu ein kenntnißreicher und mit Anschaulichkeit des Vortrags begabter Lehrer. Statt dessen führte uns der Vater sofort vor den uns unverständlichen Atlas, trug uns aus einem Buche die Grenzen, Flüsse und Städte der einzelnen Königreiche vor, deren Entstehung wir doch noch gar nicht begriffen hatten, und ließ uns dann alle im Unterricht vorkommenden Namen auf der Karte aufsuchen und unterstreichen. Die Geographie blieb mir also ein bloßes Gedächtnißwerk und weckte in meiner Seele nicht die allermindeste Anschauung auf.

Noch schlimmer stand es mit dem Geschichtsunterricht. Da in diesem Fache Niemand im Hause Etwas verstand, so mußte das Buch aushelfen. Wie glücklich hätte mich damals ein Werk wie Becker’s Weltgeschichte gemacht! Allein die Wahl der Mutter, welche diesen Gegenstand übernahm, fiel auf das allerunglücklichste Buch, nämlich auf Kohlrausch’s Tabellen. In diesen ist der geschichtliche Stoff wie gerippartig zusammengestellt, so daß davon keine Seele das Mindeste verstehen kann, die nicht schon Geschichtskenntnisse mitbringt. Während also beim Kinde die Geschichte gerade in rechter Fülle und Breite als Lebenserzählung großer Männer beginnen soll, fing man sie mit mir am Schlußende an, nämlich da, wo es gilt, die Gleichzeitigkeit oder Reihenfolge der Begebenheiten kennen zu lernen. Denn dies zu begreifen, wie in der Weltentfaltung Alles streng aneinander hängt und mit Nothwendigkeit Eins aus dem Andern hervorgeht, das ist des reifen Mannes, aber nicht eines armen Kindes Sache. Da saß ich nun mit Thränen bitterer Verzweiflung vor dem unseligen Buche der Qual, dessen für mich so vollkommen seelenlose Namen und Jahreszahlen ich seitenweis auswendig lernen, ja zuletzt gar abschreiben mußte, und das begeisterndste aller Lernfächer, dem ich später die Forschung meines ganzen Lebens zugewendet habe, wurde mir durch diese schreckliche Methode vor allen übrigen zum Gräuel.

Auch in der Mathematik wurde der Grund bei mir schlecht gelegt. Da hierin Keiner im Hause sich zum Unterricht fähig fühlte, ging meine Mutter wöchentlich mit mir nach Bonn und ließ mir dort von einem Studenten Unterricht ertheilen. Dieser verstand zwar selbst das Fach gehörig, aber ich war sein erster Schüler, und die werden stets das Opfer für die Bildung der Lehrer. Ohne die ersten Elemente, worauf bei der Mathematik Alles und Alles ankommt, mir recht klar zu machen, schritt er rasch zu schweren Aufgaben fort, die ich nun nicht mehr lösen konnte. Zahlen vermag ich ohnehin nicht zu behalten, und von allem Erlernbaren hat einzig das Einmaleins nie in meinen Kopf gewollt. So habe ich denn dieses Fach immer nur stümperhaft durch die Gymnasialclassen mit fortgeschleppt, bis ich es nach dem Abgangsexamen kurzweg über Bord werfen durfte.

Von Künsten war in unserm Hause nur die Musik erlaubt, weil man mit Rücksicht auf meine Schwester annahm, daß jedes Mädchen von Bildung ein paar Clavierstücke müsse abspielen können. Ob musikalische Anlage da sei, danach fragte man damals so wenig wie heutzutage: die Musik war und ist eben die Modekunst. Zu diesem Zwecke war ein geringes Instrument angeschafft und ein Clavierlehrer aus der Stadt angenommen worden. Dieser brachte auch meiner Schwester eine ansehnliche Fingerfertigkeit bei und hat ihr später sogar bis zum Generalbaß hinauf Unterricht ertheilt. Allein sein Beginn in der Musik war stets nur auf die technische Ausübung, niemals auf die Grundbegriffe und obersten Gesetze dieser wunderwürdigen Kunst gerichtet. Von dem, was Musik eigentlich sei, erfuhr man bei ihm Nichts. Meine Natur ist nun die, daß Nichts mich anzieht oder fesselt, dessen Grund ich nicht erkenne, und als ich somit unter demselben Lehrer später auch zum Clavier herangezogen wurde, habe ich neun volle Jahre Spielunterricht gehabt und stets daneben mich geübt, habe es aber in den neun Jahren nicht dazu gebracht, auch nur einen einzigen Walzer richtig und schön zu spielen, bis ich endlich ergrimmt diese ganze Fingerquälerei und Geistabtödtung [501] in eine Ecke warf. In früher Jugend war mir sogar die Musik zuwider, und wenn in unserm Hause gespielt wurde, schlich ich mich in den Garten hinaus, denn mein überreiztes Nervenleben ertrug sie nicht: sie machte mich melancholisch und thränenreich. Eins meiner Kinder, und zwar eins der kräftigeren, hatte in den ersten Jahren dieselbe Eigenheit: es schauderte und jammerte, wenn es rauschende Musik, z. B. Militärmärsche, vernahm; ein ernster Wink für Mütter und Erzieher, bei zarten Kindern im frühen Alter mit Clavierspiel und leidenschaftlichem Gesang vorsichtig zu sein. Uebrigens habe ich niemals musikalisches Gehör besessen und so auch beim Singen die Töne nicht treffen, noch weniger aber Melodien behalten können; mein Verständniß geht mehr auf die feste Form als auf das gefühlsweiche Element des Tones, so sehr auch jetzt Genuß edler und kunstreicher Musik mich erbaut und geistig steigert.

Und so war ich denn nach allen Seiten zum geistigen Darben verurtheilt. Einzig das religiöse Gebiet wurde mir weit aufgethan, und dort hinein nahm sogleich mein Geist einen kräftigen Anlauf.

Alle meine Erziehung ging auf Religion aus, da meine Eltern beide außer ihr keine Geisteserweckung kannten. Wenn mein Vater mit mir den Cornelius Nepos las, so machte er bei den Tugenden des Epaminondas die Bemerkung, daß in dem Charakter dieses Heiden auch wohl ein Christ sich spiegeln könne. Das ganze frische Leben der Natur wurde im Geiste der hebräischen Psalmendichter stets auf den persönlichen Gott zurückgeführt und jede sittliche Vorschrift aus der Bibel begründet. Alle weltliche Lebensfreude wurde mit irgend einer Bibelstelle todtgeschlagen. Lachte ein Kind einmal von ganzem Herzen, so setzte ein Spruch Salomonis sofort einen Dämpfer darauf. Tanzen war überaus sündlich, denn durch Tanzen hatte die Tochter der Herodias das Haupt des Täufers gewonnen.

Das Militärleben ist seiner Natur nach eine frische Weltlichkeit; vor ihm wurde also ein Abscheu in meine Seele gepflanzt, indem man es mir als die schrecklichste Strafe für Jugendfehler hinstellte, daß ich vielleicht Soldat werden müsse. Und das geschah wenige Jahre nach den Freiheitskriegen, in denen die allgemeine Wehrpflicht sich als den edelsten Beruf des Jünglings so glänzend bewiesen hatte! Man preßte durch solche heillose Verkehrtheit so viel Angst in mich hinein, daß ich um der Soldaten willen ungern nach Bonn ging und jeden derselben, der uns begegnete, überaus scheu und höflich begrüßte, damit er mich ja nicht mit in die Caserne schleppen möchte. So gewann denn das Gute wie das Verrückte bei uns eine biblische Grundlage. Die Bibel war uns überhaupt zum Lesen unbeschränkt überlassen: den sittlichsten Roman hielt man für gefährlich, aber das alte Testament schien für Kinder unbedenklich. Da meine Lesewuth also überall eingedämmt war, strömte sie unaufhaltsam auf die Geschichtsbücher der Bibel hin, und ich erwarb mir darin eine Belesenheit und Stellenkenntniß, die mich später in meinen theologischen Studien sehr gefördert hat. Hier half es nichts, daß man den Soldatenstand mir gehässig gemacht hatte, sondern mit wahrer Begeisterung las ich die Kriegsthaten des auserwählten Volkes. Die Gründung der ersten Bundesrepublik unter den Richtern entzückte mich; aber Flammen warf in meine Seele der heldenmüthige, nach schmerzlichen Opfern zuletzt siegreiche Guerillaskrieg der Makkabäerbrüder, um den väterlichen Freistaat aus der vom Auslande her aufgedrungenen Monarchie wieder herzustellen. Aus dem alten Testamente erwachten mir überhaupt die ersten geschichtlichen Begriffe von dem, was ein Volk, ein Staat und eine Staatsveränderung sei, und die großen Umwälzungen der vorderasiatischen Reiche dämmerten mit einiger Klarheit in meiner Seele auf.

So lebte ich mich tüchtig in die geschichtliche Vorbereitung des christlichen Glaubens hinein, aber der Glaube selbst, wie ich ihn aus dem Heidelberger Katechismus und aus meines Vaters Predigten schöpfte, ergriff mich nicht sonderlich. Der Vater hatte stets in solchen Landschaften gelebt, die vom Rationalismus des vorigen Jahrhunderts unberührt geblieben waren. Ueberhaupt hat die calvinische Kirche, der er angehörte, in Holland, dem Wupperthale und der französischen Schweiz die alte Rechtgläubigkeit gegen alle Einwirkungen moderner Philosophie weit eiserner festgehalten, als ihre hierin beweglichere lutherische Schwester; daher denn auch jetzt z. B. im Wupperthale schon für die nächsten Jahre ein um so jäherer Umschwung in den Pantheismus hinein sich leicht voraussagen läßt. Mein Vater namentlich war so vollständig orthodox, als ob Lessing und Semler nie in der Welt gewesen wären, und so behielten auch seine Predigten in der Manier, wie sie geordnet waren und die Bibel erläuterten, einen ganz altväterischen Anstrich. Wozu aber damals bei calvinischen Theologen das angebliche Wort Gottes sich herleihen mußte, mag ein einziges Beispiel aus Starke’s Erklärung des alten Testaments darthun.

Im Buche der Richter kommt irgend eine Stadt des gelobten Landes vor, welche Kiriath-Sefer, das heißt „Stadt des Buches“, heißt. Gott weiß oder weiß auch vielleicht nicht, warum die alten Philister besagtem Orte solch gelehrten Namen beigelegt haben; der fromme Bibelerklärer Starke zieht aber aus diesem Namen die Nutzanwendung, daß gottselige Fürsten darauf halten sollten, daß in ihrem Lande – eine Universität bestehe! Wundere man sich indessen über solchen Aberwitz nicht, denn dies ist doch nur ein vereinzelter Unsinn, und der Unsinn ist noch viel prunkender in Reih’ und Glied dahergezogen.

Der alte Krummacher in Elberfeld, der Oheim des vielbesprochenen gleichnamigen Kanzelredners, hat eine wohl mehr als jahrelange Reihe von Predigten blos über die hebräischen Namen von Lagerstätten gehalten, welche die Israeliten auf ihrem Zuge durch die Wüste besetzt hatten. Diese Predigten sind gedruckt, und ich selbst habe eine davon mit eigenen Ohren gehört. Der hebräische[WS 1] Name wurde hier auf alle mögliche Weise herumgekehrt, alle Bedeutungen, die er allenfalls haben konnte, herausgepreßt, und an jede Bedeutung knüpfte sich sodann ein Theil der Predigt, indem hieraus künstlich eine Belehrung über die innere Führung der Erlösten sich hervorspann. Und war dies nicht folgerichtig? Wenn doch nach der alten echten Eingebungslehre der heilige Geist jeden Buchstaben der Schrift dictirt hatte, warum sollte er nicht auch in den bloßen grammatischen Wortlaut tiefe Geheimnisse hineinlegen können, welche herauszuklauben er dann dem Kanzelwitz calvinischer Pastoren überließ? Sicher empfahl solche Lehre sich den Kanzelregenten um so dringlicher, als sie sowohl der Renommage mit hebräischer Gelehrsamkeit, als der Eitelkeit menschlichen Scharfsinns eine mastige Weide bot. So toll wie Jene hat nun wohl der Vater es niemals getrieben, allein sein Hebräisch wußte er doch auf der Kanzel recht oft des Breitern geltend zu machen, und nie zog er eine Bibelstelle an, ohne zweimal nach Capitel und Vers bekannt zu machen, wo sie stände. Auch wunderliche Nutzanwendungen gab er zuweilen zu vernehmen, wie denn jener vorerwähnte Starke sein geistliches Hauptrüsthaus gewesen ist, aus dem er seine sonntäglichen Schutz- und Trutzwaffen hervorholte. Von wirklicher Beredsamkeit oder auch nur von formloser, aber tiefer Gluth war bei ihm keine Spur; er gab eine ausführliche dogmatische Abhandlung über seinen Text, und mit der fast ohne Ausnahme stehenden Formel: „Was nehmen wir nun aus dieser Betrachtung mit nach Hause?“ ging er sodann auf das Feld der moralischen Nutzanwendungen über, durch welches er seine Zuhörer schleunig in’s Himmelreich zu führen und mit dem Amen den Riegel hinter ihnen zuzumachen pflegte, weshalb wir Kinder bei jener Formel uns immer freuten, denn nun war in höchstens zehn Minuten die Kirche aus, und wir durften wieder in den Blumengarten. Sonntags Nachmittags mußten wir dann den Katechismus aufsagen und erklären, manchmal aber auch die Predigt vom Morgen ihrer Eintheilung und ihrem Inhalte nach wiederholen. Da hier kein Entwickeln der Begriffe aus der Kinderseele heraus stattfand, sondern Alles nur von außen hineingelernt wurde, vermochte auch diese Uebung keine Glaubensflamme in mir zu entzünden, und als ich mehrere Jahre später confirmirt wurde, konnte ich zwar nach Lampe’s „Geheimniß des Gnadenbundes“ das coccejanische System so gut wie der gelehrteste Theolog aufsagen, allein ich habe umsonst versucht, bei dieser Gelegenheit die herkömmliche Gefühlsrührung des Einsegnungstages in mir zu erwecken.

Mit dieser ihrer christlichen Weltanschauung hing nun endlich ein anderer Erziehungsfehler meiner Eltern zusammen. Sie hielten es für ihre Pflicht, uns nicht ohne Schläge heranwachsen zu lassen. Diesen unsittlichen Grundsatz lehrt das alte Testament an mehr als einer Stelle; das Buch Jesus des Siraciden, das neben feiner Weltbeobachtung auch so viel einer edeln Natur Unwürdiges enthält, schreibt geradezu vor, daß man seinem Kinde den Rücken [502] recht bläuen und sich an seine Striemen und Thränen nicht kehren solle; und das neue Testament nimmt, obwohl in weniger empörender Weise, ebenfalls für die Ruthe Partei. Das gebildete Heidenthum hatte den Stock bereits aus der Hand des Erziehers verbannt, als die Apostelschriften ihn wieder einführten. Der erfahrene Jugendlehrer Quintilian, der selbst seine eigenen Knaben musterhaft erzogen und lange Jahren mit anderen Kindern Schule gehalten hat, erklärt sich in seiner Anweisung zur Beredsamkeit grundsätzlich gegen jede körperliche Züchtigung. Allein die Kirche hat in ihre Moral das Gegentheil aufgenommen, und sie hatte dazu einen Grund in einem ihrer falschen Lehrsätze.

In der Seele des Kindes treten eine Menge von Unarten hervor, die zur geistigen Entwicklung gerade so unvermeidlich sind, wie für den Körper die Zahnzufälle, Masern und Rötheln. Solche Unarten sind wie ein Hautschorf, der von selbst abfällt, wenn man ihn nur nicht reizt. Diese Ansicht kann aber der Christ nicht fassen, denn ihm ist jede kindliche Verkehrtheit ein Ausfluß der Erbsünde und folglich der Verdammung und Strafe würdig. Es giebt allerdings auch in den Kindern Eigenschaften, die auf spätere Eigensucht oder Leidenschaftlichkeit hinweisen; diese aber werden durch Schläge befestigt, wenn auch natürlich die Angst das Kind dazu treibt, sich eine Zeit lang zu verstellen. Das einzige niemals unwirksame Mittel, Kinderfehler wegzuerziehen, ist, daß man in der Seele des Kindes eine unwandelbare achtungsvolle Liebe zu der Person des Erziehers erhält, und durch sie jeden Verweis zu einem nachdrücklichen Seelenschmerz für das Kind macht. Diese Liebe aber leidet unbedingt durch’s Prügeln Schaden, und jeder Hieb schwächt somit die sittliche Einwirkung der Eltern ab. Denn schlägt der Vater seinen Knaben mit eigenem, offenbarem Zornmuth, so wird er dem Kinde ein schreckliches und abscheuwürdiges Grauenbild; züchtigt er aber mit Seelenruhe und aus kaltem Pflichtgefühl, so bläst er den Liebesfunken ganz und gar in der Kindesseele aus.

Nun waren allerdings Schläge in unserm Hause nicht häufig, und da wir von fremden Kindern keine groben Unarten lernten, wurde meist nur mit Worten gestraft. Ja, es kamen Fälle vor, wo sogar mit Weisheit die Erziehung auf rein sittliche Beweggründe sich stützte. So war es in unserm Hause eine harte Strafe, wenn ein Kind acht Tage lang den verehrten Mund des Vaters beim Schlafengehen nicht küssen durfte. Auch leuchtet mir noch wie ein helles Licht ein verständiges Wort meines Vaters, das in seiner Einfachheit mehr als aller Religionsunterricht und alle Hiebe auf die Sittlichkeit meines Charakters gewirkt hat. Es war irgend etwas Verkehrtes geschehen; der Vater, der es später entdeckte, kam mit ernster Miene auf mich zu und fragte: „Hast Du Das gethan?“ Zitternd sagte ich: „Nein.“ Da sprach er freundlich: „Ich glaube Dir, denn Du lügst nie.“ Das Wort ging wie eine Läuterungsflamme durch meine Seele; denn ich wußte wohl, daß ich doch früher bisweilen mit Lügen mich herausgewickelt hatte. Eine schon angefaulte Gesinnung würde aus jenem Ausspruch neue Frechheit zur Lüge eingesogen haben; ich in meiner Unschuld schämte mich vor mir selbst, daß der Vater einen besseren Glauben, als ich verdiente, von mir hatte. Aber aus der Scham wuchs nun von diesem Tage an der Stolz herauf, jene gute Meinung verdienen zu wollen; ich hätte es nicht mehr über’s Herz gebracht, eine Verschuldung abzuleugnen, und von da an hat denn mein Charakter nach dieser Seite hin sich rein entwickelt.




Israel auf Markt und Straße.


Mitteldeutsches Culturbild von Fr. Helbig.


„Er warf die Tische der Wechsler und Händler um und trieb sie hinaus aus dem Vorhofe des Tempels.“ Also spricht die Schrift. Der Fluch des Tempels, die Brandmarkung des Christenthums verfolgte die Hinausgestoßenen auch noch weiter von Jahrhundert zu Jahrhundert. Sie verstoben in alle Welt, mischten sich in alle Völker, krochen in alle Winkel der Erde. Die Verfolgung ging ihnen nach, aber sie vermochte sie nicht zu erdrücken, ja nicht einmal den Stempel ihres Ursprungs von ihnen zu wischen.

Es liegt etwas fast grauenhaft Erhabenes in dieser zähen Stetigkeit des auserwählten Volkes Gottes, die es sich zu bewahren vermocht hat innerhalb aller nationalen Ver- und Entwickelungen. Es ist die Geschichte dieses Volkes offenbar eins der interessantesten Probleme der Völkerpsychologie. Sie, die vertriebenen Wechsler und Händler des Tempels, haben der Handelswelt ein Schnippchen geschlagen, denn ohne daß man recht dessen inne ward und wird, haben sie sich die Gewalt und Herrschaft über sie erobert.

Wir denken dabei nicht blos an die großen Nabobs, bei denen „Könige betteln gehen,“ wir meinen ebenso gut die „kleinen Leute“ unter ihnen. Es ist in der That nicht blos das Israel der Paläste, es ist auch das Israel der Landstraße, welches in seinen bestimmten Territorien die Herrschaft über das Capital sich errungen hat. Es giebt namentlich in unserem Deutschland gewisse Landstriche, in welchen jüdische Niederlassungen sich finden, während andere ganz und gar von ihnen frei sind. Jene sind besonders die Gegenden, in welchen Viehzucht den Hauptnahrungszweig bildet. Zu ihnen gehören, wie uns Auerbach’s Dorfgeschichten belehren, der Schwarzwald, ferner – vergleiche Fritz Reuter – Mecklenburg und in Mitteldeutschland namentlich die Gegend vom Eichsfeld bis gen Franken, zwischen Thüringer-Wald und Spessart (Werrathal, Vogelsberge, Rhön).

Aus letzterer Gegend stammen die in dieser Skizze zusammengedrängten Beobachtungen, welche lediglich ein rein objectives culturhistorisches Interesse in Anspruch nehmen wollen.

Die Niederlassung verzweigt sich gewöhnlich nicht über das ganze Land, sondern concentrirt sich in einzelnen Ortschaften. Es sind dies zumeist solche, in welchen zu Zeiten des weiland heiligen römischen Reichs deutscher Nation Reichsritter und Reichsfreiherren als kleine selbstständige Herrscher saßen. Sie machten von dem ihnen vom Kaiser unmittelbar verliehenen Privileg, Juden aufnehmen zu dürfen (receptio Judaeorum), namentlich dann einen entsprechenden Gebrauch, wenn ihre eigene Finanzlage in eine bedenkliche Krisis getreten war. Sie erhoben von den eingezogenen Juden zu Gunsten ihrer Privatschatulle ein Schutzgeld und vertrauten gleichzeitig die Ordnung ihrer derangirten Cassenverhältnisse dem Scharfsinn und den specifisch rechnerischen Talenten eines von ihnen erwählten Hofjuden. Es ist dies der actlich angenommene Name dieser kleinen Finanzminister. Den Profit der Zukunft aus diesem Verhältnisse zog regelmäßig der tyrannisirte – um im Style der alten Zeit zu reden – Kammerknecht, indem er den noblen, aber kostspieligen Passionen seines Herrn neben den bereits gerühmten Talenten die Eigenschaften der Nüchternheit, Sparsamkeit und Genügsamkeit entgegensetzte.

Die Wiege so mancher Vorfahren unserer hohen Financiers stand an jenen Miniaturausgaben deutscher Fürstenhöfe.

Der so eingebürgerte Stamm Juda wußte sehr bald mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen, und die Verhältnisse waren auch seiner Rechnung günstig. Vor Allem traf er in den erwähnten Gegenden auf einen Bauernstand der seinen Wünschen entgegenkam. Geistige Unbeholfenheit und Beschränktheit, genährt und großgezogen durch Aberglauben und allerhand geistliche Einflüsse, auf der einen und eine schwere Belastung des ohnedies kärglichen Zins tragenden Grundbesitzes auf der andern Seite hatten die Hand in Hand gehende materielle und intellectuelle Entwicklung dieses Standes gehemmt. Das war eine Domäne für die geächteten Händler des Tempels. In diese träge Masse gossen sie bald die Quellen des ihnen zu Gebote stehenden Geldcapitals, machten es flüssig und nutzbar, während sich gleichzeitig ihr scharfer speculativer Verstand des vorhandenen geistigen Capitals bemächtigte. Daß er dafür sorgte, dabei nicht den Kürzeren zu ziehen, sondern sich das beste Theil gewann, wer dürfte ihm das verdenken? So geschah’s, daß der Jude der geistige und materielle Herrscher im Lande wurde, in dessen Besitz sich fast das ganze bäuerliche Betriebscapital befindet. Aeußerlich freilich sieht ihm Das Niemand an.

Nein, wahrlich nicht, wie er so dahingeht auf der Landstraße, den Leib halb übergebeugt, die Kniee einwärts gebogen, die starke orientalisch gekrümmte Nase aus einem Wuste langsträhniger oder lockig gerollter, glänzend schwarzer oder feurig rother Haare hervorragend, [503] von unten begrüßt von einem nach ihr emporstrebenden Kinn, – eine lange aufgeschossene, ausgedörrte oder im directen Gegensatze dazu eine kleine fette, rundliche Figur mit einem Rocke, dessen Schnitt und Aussehen sein Ursprungszeugniß auf ein hohes Alter zurückdatiren – in der Hand einen Stecken und quer über den Schultern einen schmutzig weißen Sack – wie er so dahingeht, oder in erhöhter Potenz auf einem von einem mageren Klepper gezogenen Wägelchen fährt, unberührt von den Segnungen von Kamm, Seife und Bürste, aber ausstrahlend des Knoblauchs würzigen Duft: da, nein, wahrlich, da tritt seine Kraft nicht zu Tage, da ist von der Herrschaft nichts zu spüren, da erscheint er immer noch als der alte kaiserliche Kammerknecht seligen Angedenkens.

Gehen wir mit ihm, um sein Treiben, seine Machtsphäre zu verfolgen. Er tritt in ein Dorf ein; es liegt am Ausgange der Rhön, da, wo dieselbe den Thüringer Bergen die Hand über die trennende Werra zureicht. Von den gesegneten Kornfeldern des Thüringer Flachlandes ist da freilich nichts zu verspüren; nur in nächster Nähe des Dorfes, da, wo das Thal sich etwas weitet, wächst kurzhalmige Körnerfrucht, abwechselnd mit Krautstauden. Aber oberhalb derselben und da, wo das Thal sich wieder verengt, steigen grüne Matten weit hinauf bis an den Buchen- und Eichenwald, der die an die Wolken ragende Höhe krönt. Hinter diesem Walde aber fällt es nicht wieder ab zu Thal, sondern hier breitet sich ein mächtiges Höhenplateau aus, auf welchem weite Weideflächen den Wald wieder verdrängen und auf einzelne Gruppen beschränken. Auf diesen Matten hängen grasende Herden braun- und schwarzhaarigen Rindviehes. Mit innerem Behagen blickt das Auge des wandernden Nachkommen Isaak’s nach dem beweglichen Bilde, nicht etwa aus malerischem Interesse, nein, sein Behagen wird von dem Gedanken erzeugt, daß diese ganze Herde theilweis rechtlich, theilweis factisch sein eigen ist; ein Theil derselben bildet in der That einen Stamm seines Handelscapitals. Er kann das Vieh, mit dem er handelt, nicht ernähren, das Gesetz hat ihm, dem Verfehmten, verboten, Grundbesitz zu erwerben. Was thut’s? Er bedarf dessen nicht, um sein Vieh zu ernähren, und wenn die neuere humane Gesetzgebung es ihm auch erlaubt, Grundbesitzer zu sein, er wird sein Vermögen doch nicht so „unbeweglich“ anlegen. Auch sagt ihm wohl der Viehhandel, nicht aber die Viehwirthschaft zu, und wenn auch Isaak und Jakob sich auf Landwirthschaft und Viehzüchten excellent verstanden – das Recept ist den Nachkommen verloren gegangen. Dagegen haben diese das Problem gelöst, Vieh zu besitzen und zu züchten, ohne Grund und Boden zu haben. Dies geschieht also: In dem Dorfe sitzen so und so viel Bauern, welchen der Jude zum Ankauf von Acker und Vieh, zum Ablösen der Lasten und zu sonstigen Bedürfnissen Geld vorgeschossen hat. Diesen Schuldnern bürdet er die Pflicht auf, sein Vieh bis zum Verhandeln in ihren Ställen unterzubringen, auf ihre Weide gehen zu lassen, kurz, es zu pflegen und zu ernähren. Er weiß, daß sein Vieh da gut aufgehoben ist, denn einmal schützt ihn gegen eine tückische Mißhandlung die Ehrlichkeit der Bauernnatur, andererseits aber die Rücksicht, welche der Schuldner dem Gläubiger gegenüber zu nehmen hat.

Verfolgen wir nun unsern „Jüd“ bis hinein in’s Dorf, so machen wir bald die Erfahrung, daß derselbe dort eine allbekannte Persönlichkeit ist. Auf der Landstraße, welche quer durch den Ort führt, und auf welche die verschiedenen Gehöfte mit ihrer Giebelseite stoßen, rufen ihn die zahlreich sich herumtummelnden Kinder an und die Mägde, welche auf dem Rande des hölzernen Brunnenbottichs sitzen, nicken ihm zu. Bald ist’s im ganzen Dorf bekannt, daß das „Schmulche“ da ist, und das Schmulche ist in der That eine höchst wichtige Persönlichkeit für’s ganze Dorf. Der Einzug, den er da hält an der Spitze seines Gefolges, ist äußerlich zwar das gerade Gegentheil von Glanz, in Wirklichkeit ist es aber doch der Einzug eines kleinen Herrschers, eines Dorftyrannen, denn das Dorf, das er betrat, ist seine Grafschaft, deren unumschränkter Herrscher er ist.

Er hat es nach und nach dahin gebracht, daß alle Schuldverbindlichkeiten der Bauern in ihm als alleinigem Gläubiger sich vereinigt haben. So ist er der allgemeine Dorfgläubiger geworden, und in diesem Verhältnisse ruht seine Macht. Alles Geschäftliche geht durch seine Hand, er besorgt den ganzen Viehhandel nach Ein- und Verkauf, er vertreibt die gewonnenen Producte, er ist der Banquier des Dorfes; er vermittelt geradezu den Verkehr mit der Außenwelt. Wenn es einer der Dorfbauern wagen wollte, mit einem Andern aus der zahlreichen jüdischen Genossenschaft anzubinden, die Vergeltung der Rache würde ihm auf dem Fuße folgen, sie würde bald die Gestalt des gefürchteten Mannes mit dem gelben Schilde und der streifigen Mütze, des gerichtlichen Executors, annehmen. Aber auch die jüdische Sitte respectirt das Verhältniß wenigstens insoweit, als sie einem handelnden Juden verbietet, in ein Haus einzutreten, in dem bereits ein anderer Jude sich des Handelns wegen befindet.

Schmulche, der Fürst des Capitals, lenkt seine Schritte nach dem Dorfwirthshause, dort ist sein Empfangsbureau, dort giebt er Audienz; die Wirthin empfängt den Eintretenden an der Schwelle zur Küche mit einem treuherzigen: „Grüß’ Gott, Schmulche“, und mengt in diesem Augenblicke Christen- und Judengott in Eins. Sie reicht ihm die harte Hand, die sie sich an der weißen Schürze getrocknet, und macht ihm Platz zum Eintritt in die Küche. In der That richten sich dahin die ersten Schritte der Männer von Israel. Die Wirthin nimmt ein Paar separat hängende Töpfe und Schüsseln von der Wand und zeigt sie den Eintretenden. Diese halten sie an’s Licht und machen da die Bemerkung, daß das nach dem letzten Gebrauche inwendig darauf gekreidete Zeichen noch dortsteht. Töpfe und Schüsseln sind sonach inzwischen nicht von einer christlichen Hand oder einem christlichen Mund entweiht worden. Sie sind „koscher“ und die Frau Wirthin kann sich anschicken, den „braunen Mocca“, das jüdische Lieblingsgetränk, zu bereiten. Inzwischen hat Einer vom Gefolge in der danebenliegenden Wirthsstube den Inhalt eines mächtigen Ranzen, den er umhängend trug, entleert. Derselbe besteht namentlich aus gekochten Eiern, Brod, Gänsewurst, Rettig und Zwiebeln. Letztere werden bekanntlich in ziemlichen Massen als Zugemüse oder Compot zu den übrigen Speisen gegessen. Während das Mahl verzehrt wird, haben sich indessen die Dörfler in der Schenkstube zahlreich eingefunden und es beginnt nunmehr die Dorfbörse. Heute steht gerade ein sehr wichtiges Geschäft auf der Tagesordnung. Einer der kleinen Bauerngutsinhaber, dem der Hals immer fester zugeschnürt war und der vergebens nach Luft schnappte, hat beschlossen, nach Amerika auszuwandern. Er hat zu diesem Behufe seinen Grundbesitz in vielen Parcellen auf den Verstrich gebracht. Die zahlreichen Ersteher der einzelnen Stücke sind jedoch nicht im Stande, die Kaufpreise auf einmal zu bezahlen. Der Verkäufer hat ihnen deshalb nachgelassen, dieselben in halbjährlichen Raten auf eine längere Reihe von Jahren hinaus abzutragen, natürlich gegen Verzinsung. Der auswandernde Verkäufer muß aber andererseits sein Geld in den Händen haben, sonst kann er nicht auswandern. Aus diesem Dilemma hilft ihm der Jude; er kauft ihm seine Rechte und die rückständigen Fristengelder um eine natürlich weit geringere Summe, als deren Gesammtwerth ausmacht, ab. Damit ist Beiden geholfen. Der Auswandernde hat sein Geld gleich baar in den Händen und der Jude nicht nur sein Capital zu einem recht leidlichen Zins angelegt, sondern auch die Person des Käufers mit ihrem ganzen Credit sich zu eigen gemacht, da sie mit jedem versäumten Zahlungstermine ihm auf Gnade und Ungnade verfallen ist.

Aber auch noch verschiedene andere Hülfesuchende haben sich auf der Judenbörse eingefunden. Sie sind in Noth gerathen, sie wollen Vieh kaufen, eine Wirthschaft sich einrichten – kurz, sie brauchen Geld. Der christliche Capitalist, die Sparcassen und andere Institute verlangen ausreichende Sicherheit oder haben allerhand andere Bedenken. Der Bauer kann dieselben nicht erfüllen, er geht zum Juden; dieser borgt ihm auf Treu’ und Glauben. Er verlangt keine Sicherheit, aber freilich desto mehr – Zinsen. Das ist vielleicht nicht recht löblich von ihm, aber er hilft doch, wo kein Anderer hilft. Er ist in der That der allgemeine Helfer in der Noth und macht somit aus dieser eine Tugend.

Für den Leichtsinnigen oder Arbeitsscheuen hat das leichte Creditgeben freilich große Gefahr; es bringt ihn immer mehr in Abhängigkeit von seinem Gläubiger. Dann schreit er, der Christ, oft in sehr unchristlicher Weise, über Wucher und Judenbedrückung und verlangt Schutz dagegen. In früheren Zeiten meinte die christliche Regierung auch helfen zu müssen. Sie erließ zum Schutz der christlichen Unterthanen einseitig strenge Gesetze gegen die jüdischen Gläubiger. Sie entzog z. B. den Forderungen der [504] Juden aus Handelsgeschäften mit Christen alle Klagbarkeit, so lange nicht eine förmliche gerichtliche Verlautbarung mit gleichzeitiger Verwarnung des Christen vorhergegangen war. Abgesehen von dem Umstande, daß damit die geistige Unmündigkeit des Christen gegenüber dem Juden geradezu anerkannt war, wirkten diese in der Neuzeit wohl überall aufgehobenen Gesetze nach beiden Seiten hin demoralisirend. Während sie die Juden zwangen, auf Mittel zu sinnen, sich auch ohne Hülfe der Gerichte bezahlt zu machen, stempelten sie auf der andern Seite den Christen zum privilegirten Betrüger. Erhöhte Bildung und ein rationeller Wirthschaftsbetrieb auf Seiten des Bauernstandes in jenen Gegenden werden die Factoren sein, welche dort eine richtige Ausgleichung herbeizuführen im Stande sind.

Kehren wir indeß zu unserer Judencolonie zurück. Sie hat sich nach Abwickelung ihrer Geschäfte in ihre Schlafkammer zurückgezogen. Es ist lichtscheue Dämmerung in dem engen Gemache, an dessen Wänden hin ein Strohlager sich breitet. Die dunklen Gestalten der Männer stehen umher und der am Fenster Stehende hält ein Buch in den Händen, dessen große hebräische Ziffern das hereinfallende Licht noch nothdürftig erhellt. Es ist ein hebräisches Gebet, das er aus dem Buche vorliest. Nach also vollbrachter Andacht nehmen die Juden ohne weitere Umstände auf ihrer primitiven Lagerstätte Platz. Ihr Anzug ist nicht von der Beschaffenheit, daß eine so unmittelbare Bekanntschaft mit Stroh und Diele ihn in seiner Reinheit noch wesentlich beeinträchtigen könnte.

Unter den Begleitern des Schmulche tritt namentlich ein hagerer Gesell hervor, der ein äußerst lebhaftes Mundwerk und eine sehr ausgeprägte Gesticulation hat. Es ist dies ein sogenannter „Schmuser“ (vom hebräischen schmuath, nach jüdischer Aussprache Schmuas, d. h. Geschwätz), eine sehr wichtige Person, ein Zureder, ein Unterhändler bei Handelsgeschäften der Bauern untereinander, eine Art Notar, nur von diesem wesentlich dadurch unterschieden, daß er zu seinem Geschäfte weder Tinte noch Feder braucht. Sein einziges Handwerkszeug ist seine Zunge. Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung war bei ihm weit eher eingeführt als in den Gerichtssälen. Seine Domaine ist der Viehhandel, sein Forum der Hof und freie Markt. Der Umfang und das Gewicht seiner Wirksamkeit datirt aus der feststehenden Thatsache, daß in den geschilderten Landstrichen kein Viehkauf ohne Vermittelung eines oder einiger Schmuser abgeschlossen wird.

Der Bauer versteht sich nicht auf’s Feilschen. Er ist geistig viel zu unbeweglich. Er bringt’s allein absolut nicht fertig. Er holt sich daher den Schmuser, diesen läßt er für sich handeln. Derselbe geht erst wie eine Art Plänkler oder Tirailleur vor. Er begiebt sich zu dem Viehbesitzer, deren er immer verschiedene in Vorrath hat, schaut sich das Rind an und beginnt mit dem Angebot. Dann stattet er dem Kauflustigen Rapport ab, holt dessen Instruction, beginnt von Neuem das Feilschen, rapportirt wieder, bis nach und nach die Parteien sich nähern und der Handel perfect wird. Am unmittelbarsten treten die einzelnen Phasen seiner Thätigkeit hervor auf offenem Markte. Viehmärkte wären ohne die Schmuser gar nicht möglich. Sie würden geradezu ins Stocken gerathen. Durch die Schmuser kommt erst Fluß in die trägen Massen, gewinnen die Märkte ein dramatisch belebtes, in verschiedene Gruppen vertheiltes Bild.

Ein solches Gruppenbild macht sich schon ohne die dazu gehörigen Worte verständlich. Da steht auf der einen Seite der lauernde Verkäufer, eine große breitschulterige Bauernfigur mit blauem Kittel, den breitkrämpigen braunen Filzhut tief über den Kopf hereingezogen. Die linke Hand hat er in den langen graubraunen Hosen von grobem Beidermannsstoffe. Er klimpert offenbar mit dort bereit gehaltenen Geldstücken. Auf der andern Seite steht sein leibhaftig Ebenbild. Man könnte ihn für seinen Bruder halten. Seine Gestalt ist nur etwas gedrungener und die Hosen reichen nur bis an’s Knie, um da von blauen gezwickelten Strümpfen ersetzt zu werden, welche in großen Schnallenschuhen stecken. Um die eine Hand hat er die Leine vom Halse des vor ihm stehenden Ochsen geschlungen, die andere aber hat der Schmuser in Beschlag genommen. Er rückt und zerrt an ihr, offenbar um sie dem Verkäufer näher zu bringen. Das lebhafte Spiel seiner Gesichtsmuskeln, die geschleuderten Blicke der dunkeln Augen begleiten diese Anstrengung. Noch aber ohne Erfolg. Denn der in Angriff Genommene verzerrt keine Miene, bewegt keinen Fuß von der eingenommenen Stelle. Nunmehr läßt der Zwischenhändler ihn los und wendet das langgeschnittene Gesicht dem Andern zu, so rasch, daß die schwarzen glänzenden Haarsträhne wie Schlangen um dasselbe sich schütteln. Er legt den geschmeidigen Leib wie einen Mantel um ihn und zischelt ihm, den Kopf dicht an dessen Gesicht gelegt, lebhaft in’s Ohr. Nach einiger Zeit weiß er ihm ein zustimmendes Nicken abzulocken. Nun wendet sich der Schmuser wieder zu dem Erstern und beginnt ein lebhaftes Fingerspiel unmittelbar vor dessen Gesicht. Ein ablehnender Ausdruck in den noch immer unbeweglichen Zügen[WS 2] verräth ihm, daß das Spiel ein vergebliches ist. Er muß neue Truppen in’s Feld ziehen und seinen Feldzugsplan ändern. Er tritt jetzt an den Ochsen heran, der bisher mit größter Gleichgültigkeit dem um sein theures Ich sich drehenden Streite gefolgt ist, beguckt, betastet, dreht und wendet ihn von und nach allen Seiten.

Ein bedenkliches Schütteln ist das Resultat seiner Besichtigung. Jetzt auf einmal kommt Leben in die steinerne Gestalt des Verkäufers, jetzt, wo es sich um einen Angriff auf die Fehllosigkeit seines Ochsen handelt, wird ihm die Situation doch etwas ängstlich. Unruhig schaut er nach – Hülfe, nach Beistand aus. Er braucht nicht lange darnach zu spähen. Ein zweiter Schmuser stand schon auf der Lauer und hat nur auf den günstigen Moment gewartet, der ihm seine Mitbetheiligung am Handel sichert. Es bedarf kaum noch des leisen Winkes, er kommt schon heran. Nunmehr verlegt sich die ganze Beweglichkeit in die Mitte des Bildes, während die beiden Bauern zu Statisten erstarren, zu leblosen Zuschauern des Geschicks, das ihnen von den beiden Mittelfiguren bereitet wird. Diese peitschen die Luft mit ihren langen Armen, die sie bald hoch emporschleudern, bald wieder rasch niedersenken, bald einander nähern, bald wieder verstecken, dabei aber immer dem gemeinsamen Ziele, der Vereinigung ihrer Hände, nachstrebend, denn der Handschlag schließt den Handel. Dabei entfalten ihre Zungen eine keineswegs geringe Fertigkeit.

Ob es ihnen wirklich Ernst ist bei dem Streite, ob es nicht ein bloßes Scheingefecht ist, das sie fechten? Ja, wer kann es sagen! Endlich klatschen die Hände ineinander. Die Schmuser haben den Handel zu Stande gebracht. Sie holen nun auch die beiden Hauptpersonen heran. Diese folgen ihnen ohne weiteres Widerstreben und lassen geduldig ihre Hände ineinandergleiten. Der Schmuserlohn ist dabei gleich mitbedungen.

Die Schmuser gehören unter die Aermeren in der Judengemeinde, denen kein Capital zum Betriebe eines Handels zu Gebote steht.

Außer mit Viehhandel und Schmuserei treibt ein anderer Theil dieses fahrenden Israel auch Handel mit Fellen, Hausirhandel, Ankauf von Hadern, Thier- und Menschenhaaren. Aber auch diese letzten Handelsromantiker der Landstraße beginnen sich zu lichten, seitdem namentlich die ihnen sonst verschlossenen Thore der Städte sich öffneten. Sie machen sich dort gern seßhaft. Der noble Schnittladen mit den glänzenden Spiegelscheiben in der Hauptstraße der Stadt läßt es dann schwer ahnen, daß die Inhaber einst im Lande umherzogen mit Stecken und Ranzen. Es hat in der That auch viel Ungemach, dieses beutesuchende Umherziehen von Dorf zu Dorf, in Wind und Wetter, voll Arbeit und Entbehrung. Aber die zähe Ahasvernatur hält es aus. Zwei mächtige Gedanken sind es, die sie vorwärts treiben, der Gedanke an Gewinn und der Gedanke an die Heimkehr zu jener Zeit des Zwielichts am Freitag Abend, wo die Schabbeslampe das kleine bescheidene Wohngemach erleuchtet und die geputzte Familie um den einzigen Tisch sich gruppirt, in Andacht harrend des heimkehrenden Herrn. Denn in der Familie herrscht noch das alte strenge Patriarchenthum.

Nun ruht auf einen Tag alles Feilschen, alles Jagen nach Arbeit und Gewinn. Nach dem rauhen Materialismus der Woche gehört ein Tag dem Idealen. Am Sabbath kehren die Engel ein in’s Haus des Juden, sagt die alte Satzung, und an der Satzung hält auch noch treu und fest – das Israel auf Markt und Straße.




[505]
Bei den Tiroler Granatenklaubern.


Hunderte von Naturfreunden wandern jährlich dem deutschen Süden zu, um sich an den Wundern und Reizen der Bergwelt Sinn und Herz zu erfreuen; insbesondere ist es Tirol, das jeden Sommer durch seine landschaftlichen Schönheiten ein erkleckliches Contingent von Touristen an sich lockt, und unter den zahllosen Thälern, die es umschließt, ist gewiß das Zillerthal, die eigentliche Heimath des Tiroler Volksgesangs, eines der besuchtesten. Dennoch kann man mit Gewißheit behaupten, daß von tausend Reisenden, die es besuchen, kaum zehn seinen eigentlichen Charakter, seine wahre Bedeutung kennen lernen: die meisten sind zufrieden, wenn sie bis Zell vordringen, und mögen sich mitunter um so mehr enttäuscht fühlen, als „die Cultur, die alle Welt beleckt“, leider schon sehr begonnen hat, auch die Eigenthümlichkeiten der Zillerthaler zu nivelliren, die sich sonst durch Tracht und Sitte auszeichneten.

Es wird daher Manchen willkommen sein, von den Schönheiten und Geheimnissen jener Bergregionen zu hören, die allerdings nur mit großer Anstrengung zu erreichen sind, dafür aber auch einen Genuß gewähren, der mit nichts zu vergleichen ist.

Eine Ahnung des zu Erwartenden erhält man schon, wenn man über Zell hinaus das freundliche Meyerhofen hinter sich hat und den Hochsteg betritt, der, auf zwei mächtigen senkrechten Felswänden ruhend, den tobenden Zemmbach überspannt, und vollends wenn man auf immer wilderem Wege durch das mehr und mehr sich verengende Thal vorwärts dringt und endlich das Thor erreicht, durch das man die Schluchten des Dornaubergs betritt. Welche Wunder landschaftlicher Schönheit haben die launischen Elemente hier zusammengeschleudert! Bald führt ein lieblich schattiger Steig durch Wald mit saftiggrünem Moosboden, bald durch das bunte Farbenspiel der herrlichsten Blumenwelt, die aus dem wilden Gewürfel faulender und zerschmetterter Baumriesen blüht; bald bilden sich mächtige Gruppen von Tannen und Fichten, an deren mächtigstem Stamme frommer Glaube ein kunstloses Herrgottsbild anschlug und darunter ein Betpult mit Bank aufstellte, zum schattigen Ruhepunkt für den Wanderer wie für den Sennen, der seine schweren Lasten auf beschwerlichem Felssteig durch die Schlucht tragen muß – bald klettert man auf eingehauenen Stufen unter gewaltig überhängenden Felsblöcken geradezu himmelan. Fast senkrecht fallen zuletzt die Wände des Tristenspitzes in die furchtbare Tiefe ab, in welche sich die wüthende Zemm in mächtigen Cascaden stürzt, unter deren Donner die Schlucht dröhnt und von denen dichte Säulen Wasserstaubes aufwirbeln, um oben im einfallenden Sonnenstrahl in bunter Pracht der Regenbogenfarben zu glänzen. Fast werden die Sinne von der Mächtigkeit dieser Naturspiele betäubt, und aufathmend, wie nach einer überstandenen Gefahr, erreicht man den Karls-Steg, wo das Thal sich etwas erweitert und unter immer abwechselnden, stets neuen Landschaftsbildern zwischen den Felstrümmern einstiger Lawinen und Bergstürze zu den Häusern von Ginslingen führt. Es ist der letzte bewohnte Punkt des Zemmthales, die letzte Herberge für den Naturfreund, der den Schwarzensteingrund und die Schwarzensteinalpe erreichen will, das eigentliche Schmuckkästchen der Zillerthaler Gebirgswelt.

Wilder und immer wilder liegen von nun an die Felsstücke zerstreut; zwischen ihnen hat der Senne, um sie vor dem Wetter zu schützen, seine „Aste“ eingekeilt, auf ihnen weiden und rasten die Ziegen und sehen verwundert den Fremdling an, der bis zu ihnen herauf gestiegen. Von der Breitlahnen-Alpe ist der Schluß des Thales bald erreicht – ein nacktes schroffes Felsgewände, über welches das Gletscherwasser wie ein Schleier herniederfällt, um dann zwischen den Lawinentrümmern seinen Weg weiter zu suchen, – Wer bis hierher gekommen, mag mit Recht sagen, daß er das Zillerthal gesehen. Von hier ab gilt es freilich jede Bequemlichkeit zurückzulassen; der steil aufwärts führende Pfad heißt nicht umsonst der „Grawandter-Schinder“; man ist in der That rein abgeschunden, bis man in glühender Mittagssonne die Hochebene der Grawandter Alpe gewinnt, dafür wird man aber durch den erreichten Anblick vollauf entschädigt. Obgleich auch hier steil abfallende Wände das ganze Bild einschließen, geben doch die von Steinstürzen verschonten grünen und weichen Matten, durchrieselt von einem silberhellen Bergquell und mit der Sennhütte geschmückt, ein reizendes Bild. Ihre volle Besonderheit erhält diese Alpe durch die majestätischen Zirbelkiefern, die hier in zerstreuten Gruppen umher stehen und sich als Schmuck an den Felswänden hinziehen; der herrliche Baum erregt um so mehr Interesse, als er leider immer seltener im Hochgebirge auftritt. Die Jäger und Sennen behaupten, er sei im Aussterben begriffen, und können sie auch keinen rechten Grund für ihre Behauptung angeben, so spricht doch dafür, daß man in der That unter dem immerhin noch reichen Bestande nicht ein einziges junges Exemplar zu finden vermag; es sind lauter alte Stämme, meist hundertjährige Greise, denen die Elemente stark mitgespielt haben. Die ältesten und stärksten sind meist vom Blitz gestürzt und zerschmettert; der Verwitterung und Fäulniß preisgegeben, liegen die kostbaren Bäume unbeachtet da, bereit, in das Herdfeuer des Senners zu wandern. Auch im südlichen Tirol scheint dem edlen Baume die Vernichtung zu drohen; dort, im Grödnerthale, waren vor Jahrhunderten alle Berge davon bedeckt; die Grödnerschnitzer, denen das weiche Holz besonders entspricht, haben die Wälder bis auf kümmerliche Reste weggeschnitzt.

Während der Schreiber dieses Berichts beschäftigt war, sie wenigstens im Bilde festzuhalten, hatte der Himmel sich verfärbt; Nebel verhüllten die blendenden Ferner und der einbrechende Sturm nöthigte ihn, mit seinen Begleitern eine Zuflucht zu suchen.

Die Grawandt-Alpe war bereits von Menschen und Thieren verlassen; man mußte also, um für die Nacht unterzukommen, wohl oder übel zur Schwarzenstein-Alpe hinansteigen. Erschöpft und bis auf die Haut durchnäßt standen wir endlich vor der Hütte des Schwarzensteins – dem seit Wochen ersehnten Ziele – die Hütte war zwar offen, aber ebenfalls bereits abgetrieben. Es blieb nichts übrig, als sich in das Unvermeidliche zu schicken; rasch wurde daher von dem noch vorhandenen Holzvorrathe Feuer angemacht, und mit dem Rücken gegen die prasselnden Zirbeläste kauerten wir um den Herd, um nothdürftig die Kleider zu trocknen, stumm, verdrossen und gepeinigt von dem uns auferlegten unfreiwilligen Fasten, denn die im Rucksack vorgefundenen Ueberbleibsel von Brod und Käse konnten uns keinen Ersatz bieten für den hier gehofften fetten Kaiserschmarren. Als vollends der Sturm die auf einem Vorsprunge des Rothenkopfes sechstausendfünfhundert Fuß hoch gelegene und freistehende Hütte schüttelte, als ob er sie aus ihren Fugen reißen wollte; als die dürren Schindeln so widerlich klapperten und dichter Rauch die Hütte erfüllte, daß man kein Auge aufthun konnte: da war es uns zu Muthe, als hätte der Herrgott einen seiner Engel, wenn auch in etwas sonderbarer Gestalt, gesandt, als plötzlich die Thür aufgerissen wurde und der Sturm einen kräftigen Tiroler hereintrieb – einen Steinklauber, der vom Rothkopf heruntergestiegen kam und vom Unwetter überrascht hier ebenfalls einen Unterstand suchte. Er hatte zu unserer große Freude Mehl und Schmalz genug in der Hütte versteckt, um für Alle den bereits aufgegebenen Schmarren zu bereiten.

Mochte nun draußen der Sturm heulen, vorläufig war es uns in der rauchigen Hütte ganz behaglich, und lauschend umsaßen wir unseren Erretter, der von seinen abenteuerlichen Streifzügen in diesem Hochgebirge erzählte und seine heute gefundenen Schätze an Steinen und Mineralien auspackte. Dann begruben wir uns in dem vorhandenen Heu und schliefen trotz des immer forttobenden Wetters wie im besten Bette. Ein kalter, feuchter Morgen weckte uns und zeigte jede Aussicht in das Thal wie nach der Höhe in Nebel begraben; wohin wir blickten, sahen wir ödes Felsgeröll, untermischt mit Schnee und Eis, und ziemlich entmuthigt nahmen wir den Vorschlag unseres Wirthes an, der sich anbot, uns nach dem Roßrückengletscher in die noch bewohnte dort liegende Granatenhütte zu führen, in welcher er uns Lebensunterhalt für den Tag verhieß.

So kletterten wir denn, oft auf allen Vieren, über die schlüpfrigen Felsblöcke, über Schnee und Eis, durchwateten das strömende Regenwasser und entdeckten endlich die kleine Ansiedlung der Steinklauber in der Steinwüste. Wir wurden freundlichst aufgenommen und bewirthet, allein die Witterungsnachrichten, die wir von den Wüstenbewohnern erhielten, waren vollständig trostlos.

[506]

Zirbelkiefern-Gruppe auf der Grawandter-Alm.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[507]

Granatenhütte am Roßrücken und Wachseck-Gletscher.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[508] In dem Klopfstübel war nämlich über dem Tische ein rohgeschnitzter Vogel, den sie den „heiligen Geist“ nannten, einer Taube ähnlich, an einer Schnur aufgehangen, der als Barometer diente und durch seine verschiedenen Wendungen das Wetter ankündigte; wenigstens versicherten die Steinklauber hoch und theuer, daß der Vogel sie noch nie betrogen habe. Für diesmal bestand der „heilige Geist“ eigensinnig auf schlechtem Wetter und veranlaßte meine Gefährten, die weitere Wanderung aufzugeben und umzukehren; ich aber entschloß mich zu bleiben, einestheils weil ich wußte, daß auf Regen einmal Sonnenschein folgen müsse, und dann, weil die eigenthümliche, mir unbekannte Industrie des Steinklaubens und Rollens mir anziehend genug erschien, um sie näher zu beobachten.

Am nächsten Morgen dauerte das Unwetter fort, aber die Tiroler hatten dennoch beschlossen, nach den Granatenbrüchen hinaufzusteigen und frisches Material für die nimmermüde Stampfmühle zu holen. Ich begleitete sie durch den schneidend kalten Morgen, Schritt für Schritt meinen Vormännern folgend, die, obwohl mit großen Körben und Seilen und einem grob zugehauenen Stamme beladen, dennoch leicht und sicher durch das Labyrinth von Felsengeröll den Gletschern zuwanderten. Mühsam ging es stundenlang den eisigen Weg bis zu der Stelle hinan, wo aus dem Gletscher die schroffe Wand des „Rohreneckers“ emporsteigt – hier mußte ich wegen des sich immer mehr verdichtenden Nebels zurückbleiben und konnte leider nicht beobachten, wie die kühnen Männer sich an den Seilen emporzogen, um oben an der steilen Wand, welcher schon über hundert Jahre auf diese Weise ihre Schätze entführt werden, ihre Vorkehrungen zum Absprengen des Gesteins zu treffen. Ich hörte nur schwere Hammerschläge; nach langem peinlichem Harren weckte ein donnerähnlicher Schlag ein von Wand zu Wand brausendes Echo und prasselnd stürzten die abgesprengten Stücke auf die Eisfläche hernieder. Bald kamen die Männer mit ihren Körben, in die sie die besten Sprengstücke eingepackt hatten, zurück und schritten nun über die glatten Flächen, an den jähen Spalten entlang mit einer Sicherheit abwärts, die mir Grauen und zugleich Bewunderung einflößte.

Ich athmete auf, als wir unten an der gastlichen Klopfhütte ankamen. Hier wurde der Inhalt der Körbe in dem Klopfstübel aufgeschüttet und es ging lustig daran, die herrlichen zwölfflächigen Krystallkörper aus ihrer schimmernden Umhüllung zu befreien. Es kamen Stücke vor, in denen die Granaten faustdick aufeinander saßen. Bald waren die Mulden mit den gewonnenen Steinen gefüllt und wurden in die Stampfmühle hinuntergetragen, deren innere Construction einer Oelmühle gleicht. Die häufig noch mit Glimmer überzogenen Steine wurden in den am Boden aufgestellten schwergezimmerten Kasten geschüttet, das Rad gestellt und dadurch die Stampfer in Bewegung gesetzt, welche nun wacker auf die Steinchen lospochten, während eine in den Kasten eingeleitete Wasserrinne den Zweck hat, den zu Brei gestampften Glimmer durch siebähnliche eingelegte Blechstücke wegzuspülen. Nach einigen Stunden wird das Wasser abgestellt und die Granaten in ihrer wahren schönen Form, von allem Anhängsel gesäubert, dem Kasten entnommen. Bei diesem Proceß ergiebt sich zugleich, welche Stücke überhaupt werth sind, weiter behandelt zu werden, denn die nicht körperlich kräftigen Steine werden von der Stampfe zerschlagen, andere kennzeichnen sich als unvollendet oder mißgestaltet und nur die ganz tauglichen bleiben zurück. Von diesen werden die harten gehalt- und werthvollen ausgelesen und in die wenige Schritte hinter der Stampfmühle gelegene Rollmühle gebracht, ein industrielles Bauwerk, das den Beschauer durch seine Naturwüchsigkeit fast heiter stimmt.

Von dem Gletscherstrome, der die vordere Mühle treibt, zweigt sich eine Rinnenleitung ab und ergießt sich auf ein rohgezimmertes Schaufelrad, an dessen verlängerter Welle ein mit verschiebbarer eiserner Kette umschlossener Bretterkasten befestigt ist. In diesen werden jetzt die Granaten zum „Abrollen“ geschüttet, die Deckelwand fest zugeschoben und das Wasser zugelassen, das nun Rad und Kasten zugleich dreht, daß man über das Gesause des Wassers hinaus die armen Dinger in gleichmäßigem Tacte von Wand zu Wand an den Kasten anpoltern hört. Auch hier haben die in den Kasten eingesetzten durchlöcherten Blechstücke den Zweck, die Steine fort und fort zu bewässern; durch dieses Verfahren verlieren sie allerdings ihre äußere schöne Form, denn das Rollen nimmt die weichen Theile weg, dafür aber hat sich der Grad ihres Werthes abermals gesteigert, denn nur der ganz steinharte, schleifbare Kern ist geblieben und wird nun, in Körbe gepackt, in’s Thal nach Meyerhofen getragen, wo der Erbauer der Mühlen und Besitzer der Granatengruben haust. Hier werden sie nach ihrer Größe sortirt und in die Schleifereien nach Prag, Turnau, Deutsch-Brod und Baden versandt, aus denen sie, wegen der Farbe und Reinheit ihres Glanzes besonders beliebt, unter dem Namen Tiroler Granaten in den Handel kommen.

Ich hatte sonach alle Ursache, mit der Ausbeute meiner Wanderung zufrieden zu sein, wurde aber für meine Ausdauer auch noch dadurch belohnt, daß, als ich nach einer abermaligen Nacht in der Rauchhütte die Augen öffnete, der klarste wolkenloseste Herbstmorgen mich begrüßte und mir ein ergreifendes, über jede Beschreibung erhabenes Alpenbild enthüllte. Der Regen war zuletzt als dichter Schnee gefallen und bedeckte nun theilweise die saftig grünen Streifen an den herniedersteigenden Wänden und verlor sich erst allmählich in dem öden Trümmergestein. Kein Baum, kein Strauch – nur hie und da schimmerte das Grün einer spärlichen Matte – droben aber, in ewiges Eis und Schnee gehüllt, stiegen die Riesengipfel des großen Messerle, des Turnerkamm’s und Rohreneckerkammes, angestrahlt vom rosigen Morgenlicht der Sonne, in den glanzflammenden, schweigenden Aether empor. Das Rauschen und Stürzen der Gletscherwasser war die einzige Unterbrechung dieser erhabenen Ruhe, und als drinnen in der Hütte die Männer ihren Morgensegen sprachen, ward es so feierlich ringsum, als ob in dem Riesendome, der sich über mir wölbte, der Gottesdienst beginne.

Dann ward es Zeit, zu scheiden; vorher aber wollte ich das Bild der Hütte, die mich so gastlich aufgenommen, sammt ihrer Umgebung besitzen. Rasch entstand es zur vollen Zufriedenheit meiner drei neuen, mich aufmerksam umstehenden Freunde. Dann schüttelte ich ihnen die Hand und wanderte thalab, noch weit begleitet von ihrem Rufen und Nachjauchzen und von der Erinnerung an die Schwarzensteiner Eiswelt und die Hütte der wackern Granaten-Klauber.




Eine Leidenschaft.


Von E. Werber.


(Schluß.)


Eine hinter Remeny sitzende Dame sagte mit häßlicher Stimme zu ihm: „Die Gräfin Br. scheint Migräne zu haben, Herr Remeny!“

Dieser sagte schneidend: „Wenn Sie das glauben, Frau Baronin, so bringen Sie ihr doch etwas Riechsalz; man muß eine Gelegenheit zur Barmherzigkeit nie vorübergehen lassen.“

Die Dame schwieg betroffen.

Es folgten noch drei Nummern. Remeny saß wie auf Kohlen. Vor der letzten Nummer sagte er: „Lassen Sie uns gehen,“ und erhob sich. Er ging stolz wie ein König durch die gaffende Menge. Auf der Treppe athmete er ein paar Mal tief auf.

„Ich kann Sie nicht bitten, mich zu begleiten,“ sagte er zu mir, „ich habe einen Besuch zu machen. Gute Nacht.“

Er ging auf einen Fiaker zu. Ich konnte nicht hören, wohin er dem Kutscher zu fahren befahl. Ich ging in eine naheliegende Restauration und ließ mir Wein geben. Ich war aufgeregt und durstig. Was that Gräfin Br. in Pest? War sie ganz von Polen weggezogen? In welchem Verhältniß stand sie zu Remeny? Ich war auf’s Höchste neugierig und beschloß, morgen meine Nachforschungen auf discrete Art zu beginnen. Als ich in meinen Gasthof zurück kam, fand ich die versprochenen Zimmer in der ersten Etage für mich hergerichtet. Es waren ein Salon und ein Schlafzimmer. Ich öffnete die Thür zu diesem und hörte, [509] als ich eintrat, in dem nebenan liegenden Zimmer heftiges Schluchzen einer Frau. Betroffen stand ich still.

„Franz, Franz, ich bitte Dich auf meinen Knieen,“ flehte jetzt die Stimme, „sei nicht hart gegen mich!“

„Es ist aber, wie ich sage, Du hast Dich wie eine Närrin benommen und mich schmählich mit Dir blamirt,“ entgegnete eine andere Stimme, und diese Stimme kannte ich – sie war Remeny’s.

„Kann ich dafür, daß mein Auge Dich sah? Kann ich dafür, daß Dein Anblick mich verwirrte? Kann ich dafür, daß ich Dich liebe bis zum Wahnsinn?“ sagte die weibliche Stimme jetzt etwas gefaßter, und ich glaubte mich nicht zu täuschen, daß es Gräfin Br. war, welche sprach.

„Bis zum Wahnsinn – ja, Wahnsinn ist Deine Liebe zu mir, dem Greise, der durch Dich zum Gespötte wird nach den Tagen des Ruhmes,“ sagte Remeny.

„Franz,“ sagte die Frau wieder, „Franz, ich bin ja keine Künstlerin, was macht es denn, daß ich stecken blieb? Das Urtheil der Menge ist mir gleichgültig.“

„Aber man weiß recht gut, warum Du stecken bliebst,“ rief Remeny wüthend. „Man lacht über Dich, man lacht über mich. ‚Ach,‘ sagt man, ‚die stolze, philosophische Gräfin verliert die Contenance, wenn sie Remeny sieht, und Remeny geht in’s Concert, um ihre Triumphe mit zu feiern, und erleidet ihre Niederlagen.‘ Bei Gott! ich will nicht, daß Remeny’s Geliebte sich und mich blamire!“ rief er mit erhöhter Stimme und er schien ihr Handgelenk zu fassen, denn ich hörte ein Gewand plötzlich wie niederduckend rauschen und einen schwachen Schrei.

„Weißt Du, wer Remeny ist?“ knirschte er.

„Ja!“ rief sie in Ekstase. „Ja, ich weiß es! Er ist ein Löwe in der Wüste, ein Komet, eine Feuersäule für die, welche ihn hassen, und ein Eisberg für die, welche ihn lieben. Er ist ein Gott ohne Liebe.“

„Weib, mache mich nicht rasend!“ rief Remeny. „Ich habe viele Frauen mein genannt, und so hat keine zu mir zu reden gewagt, wie Du. Wer bist Du denn, Du kleine polnische Gräfin?“

„Ein Weib, dessen Liebe Du nicht verdienst, Remeny,“ sprach sie mit niedergehaltener Stimme.

Es folgte eine Pause; ich wagte nicht zu athmen.

„Franz,“ sagte die Gräfin wieder, „wer wollte, daß ich spiele, Du oder ich? wer wollte glänzen, Du oder ich? – Habe ich Dich nicht gebeten, dies Opfer nicht von mir zu verlangen? Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich die Welt und ihren Beifall verachte, daß ich zu stolz bin, mich preiszugeben? Wer bat mich, wer gebot mir, es zu thun? Der Tyrann Remeny.“

„Olga!“ rief Remeny drohend.

„Der Tyrann Remeny,“ sagte sie fest. „Der Tyrann Remeny, der meine Seele stahl. Der Tyrann Remeny, um den ich Eltern und Kind verließ, dem ich Alles opferte und der seine Hand gegen mich aufhebt, wenn ich vor Liebe zu ihm die Welt und Menschen nicht mehr sehe und vergesse, daß ich in einem Concertsaal bin. Franz, Du bist nicht mehr, wie Du früher warst – bist Du meiner müde, so schick’ mich fort.“

„Du bist so ungleich, Olga,“ sprach Remeny ruhiger als vorhin. „Von der rührendsten Hingebung springst Du auf zum unbändigsten Eigensinn, von der unvergleichlichsten Demuth zum lächerlichsten Hochmuth, von dem kindlichsten Vertrauen zur unwürdigsten Eifersucht.“

„Eifersucht,“ rief sie jetzt, „ja, Eifersucht, denn der große Remeny, der die Schwächen Anderer geißelt, ist auch schwach! Nicht ein einziges Mal hast Du in Gesellschaft mir die Aufmerksamkeit bewiesen, die Du Andern beweisest. Der finstere Remeny, der kaum ein Lächeln für die arme Olga hat, verschwendet es hundertfach an jede Frau, die seiner Eitelkeit schmeichelt. Und ich soll nicht eifersüchtig sein?“

„Nein, denn Du hast kein Recht dazu,“ sagte er.

„Kein Recht? Wer hat ein Recht dazu, wenn ich keins habe? Ich, die Dich liebt mit allen Fasern ihres Wesens? Ich, die nicht ausgeht, damit Du sie nicht verfehlen sollst; ich, die zu Dir kommt, wenn Du sie rufst; ich, die Deine Freunde liebt und Deine Feinde haßt; ich, die nach Deinem Gebote athmet – Remeny, Du bist undankbar.“ Wieder eine Pause. „Franz,“ bat sie jetzt unter Weinen, „warum diese ewigen Zwiste? warum diese Bitterkeit? O mein Gott, ich liebe Dich, Franz, wie Du mich auch mißhandelst! Dein Genius reißt mich hin, er riß mich zu Dir, er reißt mich in’s Verderben, ich fühle es, denn Du bist wankelmüthig, Du kannst nicht lieben! Dir ist die Frau nichts als eine Rose, deren Duft Dich eine Weile berauscht und die Du mit selbstsüchtigen Händen entblätterst und unbekümmert zur Erde wirfst. Franz, die Frau ist mehr, als nur Das, und ich liebe Dich!“

„Olga“, sagte Remeny mit hartem Tone, „Du wirst morgen Pest auf immer verlassen.“

„Franz, Du kannst mich nicht verstoßen!“ rief sie mit herzbrechendem Schmerz. „Du weißt, daß ich ohne Dich nicht leben kann, nicht athmen. Das Dasein ohne Dich ist ein beständiger Schmerz.“ Ich hörte, daß sie sich ihm zu Füßen warf. Sie wimmerte. „Franz, ich will von nun an immer sanft sein, ich will Alles dulden, nur laß mich Deine Nähe athmen, Deine Züge sehen, Deinen Schatten küssen. Franz, sei barmherzig, ohne Dich muß ich sterben.“

„So stirb!“ sagte Remeny dumpf.

Ich hörte, daß sie sich vom Boden erhob. Mit unbeschreiblichem Tone sagte sie langsam: „Remeny, dies Wort sollst Du mir theuer bezahlen. Geh’!“

Er ging. Ich blieb wie angewurzelt an der Thür stehen. Es blieb lange, lange still im anstoßenden Zimmer. Endlich bewegte sie sich zur Thür und klingelte. Sie befahl dem eintretenden Kellner, Thee zu bringen, und ich benutzte den Augenblick, wo dieser hinausging, mich in den Salon zurückzuschleichen und dann die Thür mit Geräusch zu öffnen, als ob ich eben erst nach Hause käme.

Ich wachte beinahe die ganze Nacht, um sie zu bewachen. Ich hielt sie einer verzweifelten That fähig, und ich verstand zu gut, daß mit Remeny’s Liebe ihr Herz gebrochen sei. Erst als der Tag zu dämmern anfing, schlief ich ein. Am Morgen schickte ich ihr meine Karte und schrieb darauf: „Bittet die gütige Gastgeberin aus den Karpathen, ihn zu empfangen.“ Sie schickte mir ihre Karte, worauf geschrieben stand: „Kommen Sie.“ Ich ging sogleich hinüber. Sie empfing mich mit den Worten: „Sind Sie mein Zimmer-Nachbar?“ Auf mein Bejahen sah sie mir scharf in’s Auge und sagte: „Haben Sie gestern Nacht gehört, was hier gesprochen wurde?“

Ich wurde roth, sie durchschaute mich – ich sagte: „Ja, ich habe es gehört.“

„Setzen Sie sich. Einen Augenblick Geduld,“ bat sie, „ich habe noch einen nothwendigen Brief zu enden.“

Mit ihrer gewohnten Nonchalance setzte sie sich an einen Schreibtisch und schrieb, oftmals die Hand an die Stirn legend. Ich fand sie verändert. Sie war älter geworden, mager, und ein Zug von Uebermüdung lag auf ihrem geistvollen Gesicht. Ihre Augen schienen mir noch größer als vor zwei Jahren. Sie war mir sympathischer als damals, und ich wünschte aufrichtig, etwas für die Wiederherstellung ihres Glückes thun zu können. Sie siegelte jetzt ihren Brief, schrieb die Adresse und setzte sich dann in meine Nähe. Sie hatte ein Morgenkleid von violettem Atlas an. Sie saß so müde, so gebrochen, so elend in dem Fauteuil, daß ich mein Mitleid kaum verbergen konnte.

„Sie haben mir vor zwei Jahren ein Billet von Remeny zurückgelassen. Ich habe Ihre doppelte Absicht recht gut verstanden. Eine große Freude haben Sie mir bereitet, aber meine Begeisterung für Remeny konnten Sie mir nicht nehmen, denn ich finde, daß ein großer Mann auch Magenkrämpfe haben darf. Als Sie mich in den Karpathen fanden, hatte ich Remeny aufgegeben, aber nicht meine Leidenschaft für ihn. Ein Jahr und sechs Monate zuvor war ich bei Verwandten in Pest gewesen und hatte Remeny, dessen Werke ich damals schon auswendig kannte, oft gesehen. Er zeichnete mich aus, er sah, daß ich ihn liebte, und sagte mir, mit Wahrung seiner achtundfünfzigjährigen Würde, daß er für mich eine Begeisterung fühle, wie er sie nie gekannt. Ich sei seine Muse, die für ihn auf die Erde herabgekommen. Wäre Remeny damals frei gewesen, so hätte ich mich damals schon zu seiner Sclavin gemacht. Allein die Fürstin war noch bei ihm, und wenn ich mein Herz und mich selber gab, so wollte ich Remeny auch ganz allein besitzen. Ich fühlte das Feuer seiner Seele die meinige verzehren, und eben dies zog mich an. Aber mein Stolz rettete mich. Ich floh von Pest und hörte nichts [510] mehr von Remeny, bis Sie zu mir kamen. Kurze Zeit darauf söhnte ich mich mit meiner Mutter aus und lebte mehrere Monate bei ihr und meinem Knaben in Lemberg. Eines Processes wegen mußte ich nach Wien reisen. Dort sah mich Remeny, und ich gab alles für ihn auf. Seit achtzehn Monaten bin ich hier; seit wenigen Wochen in diesem Gasthof, weil das Haus, welches ich gemiethet hatte, etwas zu weit von Remeny’s Wohnung lag und ich noch kein günstig gelegenes finden konnte. Die Entfernung wurde unbequem. Remeny schickt oft Abends spät nach mir, damit ich ihm ein Notturno von Chopin vorspiele, oft Morgens um fünf Uhr, wenn er eine plötzliche Inspiration hatte, die aufzuschreiben er Niemandem als mir anvertrauen wollte. Denn er hat die Eigenheit, daß er nichts selbst aufschreibt.“

„Das war ja eine Marter für Sie!“ rief ich.

„Eine himmlische Marter,“ sagte sie. „Was wollen Sie? Remeny ist ein großer Mann, man muß seine Eigenthümlichkeiten ehren. Sie haben

Mühle zum Abrollen der Granaten.
Originalzeichnung von R. Püttner.

gehört,“ fuhr sie fort, „daß Remeny mir befahl, heute Pest zu verlassen!“

„Gräfin,“ sagte ich, „wenn ich wagen dürfte, von der Sache mit Remeny zu sprechen – er ist hochfahrend und sein ganzes Leben lang von den Frauen so verwöhnt worden, daß er Ihre Entschiedenheit nicht erträgt. Dann mag auch der große Unterschied der Jahre in Ihrem Verhältnisse zu ihm manche Unebenheit verschulden. Remeny kann doch nicht mehr so leicht Ihrer leidenschaftlichen Seele nachkommen, andererseits ist Ihre Jugend vielleicht nicht im Stande, seine reiferen, ruhigeren Gefühle und Ansichten zu verstehen. Er findet Sie ungestüm, Sie finden ihn kalt.“

„Ich bin eine viel zu scharfsehende Natur,“ sagte sie, „als daß ich Ihnen in dem, was Sie hier sagen, nicht Recht geben sollte; aber seien Sie versichert, Remeny ist kälter gegen mich, so oft seine Eitelkeit durch mich leidet.“

„Das Verhältniß wird wiederhergestellt werden,“ sagte ich. Beruhigen Sie sich!“

„Das Verhältniß wird nicht wiederhergestellt,“ sagte sie fest. „Ich bin nicht die Frau, die ihr Knie zweimal vor einem Mann beugt, selbst nicht vor einem Remeny. Ich bin entschlossen zu sterben, aber der Mann, der mich wegzuwerfen gewagt hat, wird auch sterben.“

„Gräfin, übereilen Sie nichts, um Gotteswillen!“ rief ich.

Sie wehrte mit der Hand meinen Bitten und gab mir ein dickes versiegeltes Heft. „Sie werden dies nach meinem Tode meiner Mutter schicken. Gehen Sie jetzt!“

„Versprechen Sie mir,“ bat ich, „meine Unterredung mit Remeny abzuwarten, ehe Sie einen verzweifelten Schritt thun.“

„Gut,“ sagte sie. „Gehen Sie heute Nachmittag zu Remeny! Ich werde Sie gegen Abend hier erwarten.“

Ich ging augenblicklich zu Remeny. Er war eben erst aufgestanden.

„Was bringen Sie?“ sagte er. Ich bemerkte, daß ich das Heft, welches mir die Gräfin gegeben hatte, in der Hand trug.

„Alle Umschweife bei Seite,“ sagte ich. „Remeny, ich habe durch Zufall Ihre Unterredung, Ihren Bruch mit der Gräfin Br. angehört. Ich komme eben von ihr. Die Frau ist entschlossen, zu sterben und, wenn ich mich nicht täusche, Sie zu tödten. Sie hat Ihnen Alles geopfert, sie ist eine seltene Frau. Warum geben Sie sie auf?“

Remeny faltete die Stirn und sagte: „Sie bringt mich um alle meine Würde; man lacht und sagt: Remeny ist zweiundsechzig Jahre alt und verliebt. Dies ist Ein Grund.“

„Ein sehr selbstsüchtiger, ein sehr kleiner und eines Mannes Ihrer Art unwürdiger Grund. Ein Genie steht über den Gesetzen der Menge. Wie, Remeny – Sie haben Ihr Leben lang in geistiger Einsamkeit und Verachtung gegen die Welt gesprochen, warum wollen Sie jetzt eine Frau von großem Herzen verstoßen und sich selbst wehe thun, damit die Welt nicht lache? Ist der Wüstenlöwe so zahm geworden?“

Remeny blickte mich finster an, schüttelte sein langes Haar und sprach: „Ich habe noch einen andern Grund: Sie liebt mich zu viel, zu ungestüm, zu ausschließend und verlangt dasselbe von mir. Ich aber habe zu oft geliebt, um noch ein ganzes Herz zu haben; ich habe auch andere Interessen: meine Werke, meine noch zu schreibenden Ideen, der Weltgang – ich kann mich ihr nicht so ausschließlich widmen, wie sie sich mir widmet. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt, ich fast dreiundsechzig. Sie hat vor mir noch keinen Mann geliebt, ich habe unzählige Male geliebt. Dann ist sie launenhaft, eine verzogene große Dame, eigensinnig, auffahrend.“

„Gerade wie Sie selbst,“ entgegnete ich. „Glauben Sie mir, Remeny, man muß Sie immer mit den Fingerspitzen anfassen; es ist nicht leicht, mit Ihnen umzugehen.“

„Ich weiß, ich weiß,“ sagte er aufbrausend; „ich will auch gar nicht für liebenswürdig gelten; ich überlasse dies anderen Leuten, die kein Remeny sind und Zuckerbrod essen.“

„Was denken Sie in der Sache zu thun? Sie müssen ein Unglück verhüten,“ sagte ich.

„Ach, sie wird schon ruhig werden,“ sagte er. „Lassen Sie ihre Nerven nur erst austoben!“

Er hatte kaum ausgeredet, als die Gräfin zur Thür hereintrat. Sie sah ganz verstört aus und blieb stumm an der Thür stehen, die großen Augen mit irrendem Ausdrucke auf Remeny geheftet. Sie war unheimlich anzusehen, und Remeny mochte sich meiner Bemerkung, sie habe die Absicht, sich und ihn zu tödten, erinnern. Er entblößte mit ruhiger Hand seine Brust, und die stolze Gestalt hoch aufgerichtet, sagte er:

„Du bist gekommen, mich zu tödten; ich bin bereit zu sterben; thue, wie Du willst!“

Da schrie sie auf und rief: „Nein, nein, ich bin keine Mörderin! Lebe wohl, aber ich muß sterben,“ und hielt ein Pistol, welches sie in ihrem Muff verborgen hatte, an ihr Ohr. Remeny stürzte auf sie zu und entriß ihr das Pistol, welches sich entlud und einen Spiegel zertrümmerte.

„Olga, Kind, sei ruhig,“ sprach er zu ihr, fest sie an sich drückend. „Ich lasse Dich nicht von mir, ich liebe Dich und will [511] Deine Laune und Dein Ungestüm ertragen, ich will Dich besser behandeln als bisher, armes Wesen!“

Ich sah eine Thräne Remeny’s Wange herabträufeln und schlich mich erschüttert davon.

In den nächsten Tagen sah ich die Gräfin und Remeny nur flüchtig; Beide schienen unbeschreiblich glücklich zu sein.

Den andern Tag reiste ich nach Wien und kam erst nach fünf Monaten wieder nach Pest. Ich hatte in der Zwischenzeit von Freunden aus Pest gehört, daß Remeny jetzt weniger in die Welt gehe, daß er viel schreibe oder vielmehr der Gräfin dictire, welche sich ihm gänzlich widme. Seine Feder sei in den Tagen seiner Jugend nicht feuriger, nicht süßer und nicht beißender gewesen als jetzt; es scheine, daß die Gräfin großen Einfluß auf ihn habe und seinem Genie noch einen Jugendaufschwung gebe. Man habe anfangs über das Verhältniß gelächelt; allein das Lächeln habe aufgehört, man merke, daß ein heiliger Ernst darin sei.

Ich kam Abends in Pest an. Es zog mich so reißend zu Remeny, daß ich gleich hinging. Der Diener, welcher mir die Thür öffnete, sah verstört aus und bedauerte, mich nicht anmelden zu können, Herr Remeny sei schwer krank. Ich erschrak.

„Ist die Gräfin Br. oben?“ frug ich.

Er bejahte. Ich gab ihm meine Karte und hieß ihn, der Gräfin zu sagen, ich bitte sie, mich zu empfangen.

Es wurde mir schwül. War es die heiße Sommerluft? War es meine Bangigkeit? – Der Diener kam zurück und bat mich hinaufzugehen und die Gräfin in Remeny’s Arbeitszimmer zu erwarten. Es brannte eine Lampe darin. Nach einigen Minuten kam die Gräfin. Sie war schreckhaft bleich; sie sah aus wie eine wandelnde Leiche.

„Wie lange ist Remeny krank?“ frug ich.

„Seit acht Tagen,“ antwortete sie.

„Was sagt der Arzt?“ forschte ich bange.

Sie sah mich mit verzehrenden Augen an und sprach: „Er lügt!“

„Wie so?“ meinte ich.

Mit fester Stimme erwiderte sie: „Er sagt, Remeny werde gesund werden, und ich weiß, daß Remeny sterben wird.“

„Gräfin,“ rief ich bestürzt, „verzweifeln Sie nicht!“

„Remeny wird sterben!“ wiederholte sie.

„Was ist’s denn?“ frug ich.

„Was es ist?“ antwortete sie. „Das Ende.“

Ich frug, ob ich ihn sehen könne.

„Nicht jetzt,“ sagte sie; „später. Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind. Sie werden begreifen, daß ich Remeny nicht überlebe“ – ich wagte nicht, ihr zu widersprechen, sie hatte Recht, ich begriff es –; „ich will,“ fuhr sie fort, „Ihnen meine Familienpapiere übergeben, wie schon einmal. Sie werden Remeny zu lieb sich die Mühe nehmen und sie meiner Mutter schicken mit einer schonenden Mittheilung meines Endes.“

„Ich möchte die Nacht hier im Hause bleiben,“ äußerte ich von bangen Vorgefühlen bewegt.

„Bleiben Sie,“ sagte sie. „Machen Sie sich’s bequem; lassen Sie sich ein Bett hier auf dem Sopha machen. Ich hole Sie später.“

Sie ging mit leisen Schritten durch ein Cabinet in Remeny’s Schlafzimmer zurück. Der Diener sagte mir, daß sie seit acht Tagen kaum ein paar Stunden geschlafen habe und zwar nur im Fauteuil an Remeny’s Bett. Ich trat an eines der offenen Fenster. Die Nacht war schwül und dunkel. Eine Silberpappel im Garten reichte zum Fenster herauf und ihre Blätter schimmerten im Lichte der Lampe. Der Himmel war mit Gewitterwolken überzogen, die zuweilen ein schwaches Wetterleuchten zerriß. Ich blickte auf Remeny’s Schreibtisch. Manuscripte und Correcturbogen lagen darauf. Ich nahm ein Blatt in die Hand und las: „Ideen über die Gerechtigkeit“.

Während ich las, trat die Gräfin herein und sagte: „Kommen Sie, er will Sie sehen.“

Ich ging mit ihr; mein Herz klopfte gewaltsam, ich fühlte, daß ich zu einem sterbenden Manne ging.

Es brannte eine Lampe im Schlafzimmer; aber der grüne Vorhang über Remeny’s Bett hüllte sein Gesicht in Dunkel. Ich konnte seine Züge kaum unterscheiden. Die Gräfin führte mich an’s Bett. Remeny sah mich und sagte: „Wollen Sie mich sterben sehen? Ich glaube, Sie kommen gerade zu rechter Zeit.“

Ich nahm die Hand, welche er mir reichte, und sagte: „Es ist Ihnen ja gar nicht Ernst damit, in ein paar Tagen ist Ihnen wieder ganz wohl.“

„Glauben Sie?“ entgegnete er. „Ich fühle so etwas wie einen Wurm an meiner Wurzel nagen, und ich glaube, er wird bald durch sein.“ Nach einer Pause sagte er: „Olga, gieb mir Wein!“

Sie brachte Wein in einem Becher und hielt ihn an seinen Mund. Er trank langsam. Als sie den Becher von seinen Lippen nahm, sagte er: „Olga, ein Kuß!“

Sie gab mir den Becher und beugte sich vorsichtig zu Remeny nieder. Als sie sich erhob, sah ich, daß sie zu sinken drohte, und hielt sie. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust; sie faßte meine Hand und drückte sie krampfhaft, ihr ganzer Körper bebte und rang – sie wollte nicht weinen. Remeny schien ihren Zustand zu bemerken und sagte: „Olga, sei ruhig, ich schieb’ es hinaus, so lange ich kann.“

Sie setzte sich an seinem Bette nieder und nahm eine seiner Hände in die ihren; ihr Gesicht war ganz starr. Meine Augen hatten sich jetzt an das Dunkel gewöhnt, und ich erkannte Remeny’s Züge. Er war sehr verändert, ich sah, daß keine Hoffnung mehr da war. Ich ging in’s Arbeitszimmer zurück und las.

Nach einigen Stunden rief mich die Gräfin leise. „Er wird so unruhig,“ sagte sie.

Er fieberte stark. Der Arzt kam, verordnete Einiges und sagte zu mir, als ich ihn zur Treppe begleitete: „In zwei Stunden wird ein großer Mann sterben. Wachen Sie über die Gräfin!“

Ich rang nach Fassung, ehe ich in’s Schlafzimmer trat. Der Kampf begann bald. Remeny litt furchtbar – der Löwe starb nicht leicht. Die arme Frau hielt sich bewunderungswürdig. Ich sah, daß Remeny’s Leiden ihr durch die Seele schnitten, aber sie sagte kein Wort und that keinen Schrei. Gegen Morgen kam das Ende; er wurde ruhiger; er sprach zur Gräfin, leise und kaum verständlich. Ihre Seele hing an seinen Lippen – er verschied.

Olga sah ihn noch immer an, als er schon nicht mehr athmete. Dann plötzlich gab sie mir einen Schlüssel und sagte: „Seine Papiere.“

Ich nahm den Schlüssel. Sie griff in die Tasche ihres Kleides und zog ein Fläschchen daraus hervor. Ich wollte ihr wehren; sie sah mich mit einem unbeschreiblichen Blicke an und meine Hand sank herab. Ich wandte mich und ließ sie ehrfurchtsvoll in ihren letzten Augenblicken mit dem Todten allein. Ich ging in’s Arbeitszimmer und trat an’s Fenster. Die Sonne ging strahlend auf. Ich verhüllte mein Angesicht und weinte.

Als ich in’s Schlafzimmer zurückkam, lag die Gräfin mit Brust und Gesicht auf Remeny’s Leichnam. Ich hob ihren Kopf sanft in die Höhe – sie war todt. Andachtsvoll legte ich ihr Haupt wieder auf Remeny’s Brust und verließ das Zimmer.

Einige Jahre nach diesem Ereigniß ging ich wieder in die Karpathen und suchte die Lehmhütte auf, wo ich die Gräfin Br. zum ersten Male gesehen hatte. Die Hütte stand noch, fing aber an zu zerbröckeln. Im Innern fand ich auch noch den Tisch und die Stühle wieder. In einer Ecke entdeckte ich einen halb vermoderten kleinen Frauenschuh; ich hob ihn auf und behielt ihn. Ich setzte mich auf einen Stuhl und sah die kleine Gestalt vor mir mit den großen, glühenden Augen und den kleinen weißen Händen. Ich hörte ihr gebieterisches Sprechen, ihr wildes Clavierspiel und ihr leises Kichern. Ich sah sie zu den Sternen aufblicken und Remeny’s gedenken. Wo sind die Beiden nun? Wo ist Remeny? – wo ist Olga Br.?




Vom Ehrenstein des deutschen Reiches.


Fast eines halben Jahrhunderts bedurfte es, um eine Ehrenschuld des deutschen Volkes abzutragen – eine Ehrenschuld, welche Deutschland einem seiner größten Staats- und Volksmänner zu zahlen verpflichtet war.

Im Nachsommer 1857 trat in dem kleinen Städtchen Nassau an der Lahn eine Anzahl Männer zusammen, um die Idee der Errichtung eines Denkmals für den „großen Stein“ zu berathen. Der 25. October 1857, der hundertjährige Geburtstag Stein’s, wurde als besonders geeignet erachtet, das Gedächtniß an die Verdienste des großen Mannes wachzurufen, der mit vollstem Rechte als der bedeutendste Vorkämpfer für die Unabhängigkeit und Einigung Deutschlands gelten kann. Am 26. October 1857 erschien der erste Aufruf zur Errichtung des Ehrensteins für den Ehren-Stein, und heute, am 9. Juli 1872, nach Jahren mancher Mühe [512] und Sorge für die Förderer dieser Idee, konnte erst das vollendete Werk dem deutschen Volke übergeben werden. Die Gartenlaube hat schon verschiedentlich Veranlassung genommen, nicht nur jenes Werkes (Jahrgang 1868, Seite 668), sondern vor Allem des deutschen Mannes selbst zu gedenken, den unsere Nation zu feiern so sehr berechtigt und verpflichtet ist. Wir verweisen auf diese Mittheilungen (Jahrgang 1855, Seite 118, 1859, Seite 584) und geben heute nur eine Schilderung jenes Festes, an welchem theilzunehmen die Vertreter der deutschen Nation für eine Ehrenschuld erkannten.

Das kleine Städtchen Nassau, der Geburtsort Stein’s, ist nicht bedeutend durch Industrie und Handel, nicht hervorragend durch große Gebäude oder regen Verkehr, und doch darf es sich dreist in dem Kranze der deutschen Städte zeigen. Die landschaftliche Schönheit, die wahrhaft idyllische Ruhe und malerische Umgebung des Ortes waren es, welche ihn zum Lieblingsaufenthalt und zur Erholungsstätte seines größten Bürgers, des Reichsfreiherrn von und zum Stein, erhoben. Denn immer wieder kehrte Stein, trotz mancher nicht eben heiterer Erinnerungen die in den inneren Verhältnissen des kleinen Ländchens ihren Grund gehabt haben mögen, in sein Geburtsstädtchen zurück. Schmuck wie ein Geschmeide von Edelsteinen dehnt sich Fluß und Thal im Halbkreis um das Städtchen, rechts und links umgeben und eingerahmt von herrlichen Auen, die Abhänge der Uferberge vom Fuß bis zum Gipfel bepflanzt mit Obstbäumen und Wäldern, deren sonnigeren Lagen auch die Rebgelände nicht fehlen. So fanden auch die Festgenossen aus dem rauheren Norden das idyllische Oertchen am Vortage des Festes glänzend in sonniger Pracht.

Geschäftige Hände rührten sich und schmückten auch da mit frischem Waldesgrün, wo die Natur ihre heiteren Sprößlinge versagt. Rührig sah man die Mitglieder des Vollzugsausschusses und des Centralcomités nach allen Richtungen hin walten. Präsident Simson und v. Bunsen waren schon einige Tage vorher in Nassau eingetroffen. Professor v. Sybel, der Festredner für die nationale Feierlichkeit, traf am Vortage gleichfalls ein. War es die Muße- und Erholungszeit, welche dem Reichstagspräsidenten schon seit einigen Wochen lachte, war es der Zweck des Festes, wir erinnern uns nicht, ihn seit Jahren so wohlaussehend gefunden zu haben. Stein’s ehemaliges Wohnhaus hatte diese Festgäste gastfreundlich aufgenommen. Leider war es dem Festausschuß und dem localen Comité nicht vergönnt, den Anforderungen nach Plätzen auf dem Festplatz sowohl, als zur Festtafel in ausreichenderer Weise zu genügen.

Auf vorspringendem, schmalem Felsgrate, dem augenfälligsten Punkte der Heimathgegend Stein’s, ist das Denkmal errichtet, dicht unter den Ruinen der Stammburg des großen Freiherrn, wie es die Gartenlaube in Wort und Bild bereits früher (Jahrgang 1868, Seite 669) dargestellt hat. In Berücksichtigung des festzugesagten Besuches der kaiserlichen Familie mußten Vorkehrungen getroffen werden, welche – wenn auch unbedeutend – den Festplatz beschränkten. Dadurch ist leider auch die Presse nicht in dem Maße berücksichtigt worden, wie vielleicht wünschenswerth gewesen wäre.

In dichten Strömen ergoß sich der Regen am Frühmorgen des Festtages auf das ganze Lahnthal herab und trübe Gesichter gab’s allerwegen. Sollte nach jahrelangem Ringen der Schlußstein des Ganzen durch elementare Einflüsse getrübt werden? Nur Simson, Bunsen und Sybel schienen dem Geschick und den kommenden Stunden mit einiger Ruhe entgegenzusehen. Bauten sie auf das sprüchwörtliche Wetterglück des deutschen Kaisers? Trotz Sturm und Ungemach füllten sich Häuser und Straßen und die ankommenden Eisenbahnzüge säeten Tausende von Fremden und Gästen nach allen Richtungen aus.

Kurz vor elf Uhr erschien der Kaiser in seinem gewöhnlichen Gefährt, begleitet von den Mitgliedern des Hofstaates, welche in Ems seine Curtage theilen. Später trafen die Kaiserin und der Kronprinz mittelst Extrazuges von Berlin ein. Tausendtönig schallte der Jubel durch das Flußthal dahin, als der Zug mit den hohen Gästen hielt, und kräftig und voll tönten die Jubelrufe wieder, drüben an der Felsenburg zum Stein, drüben an dem Ehrendenkmal des edlen Mannes.

Präsident Simson begrüßte die kaiserliche Familie im Namen des Festcomités durch eine kurze Ansprache. Blumengeschmückte Kinder boten Sträuße und Festgedichte dar.

„Giebt’s auch Ehrenjungfrauen?“ fragte mit gewinnendem Humor eine hohe Persönlichkeit einen der Festordner.

„Wir glaubten – das –“

„Nun, natürlich – aber doch keine Verse und lange Reden von schönem Munde –“

„Nein, nur –“

„Na, schon gut,“ unterbricht der hohe Gast lächelnd, „wir haben Sedan und Paris überstanden, wir werden auch darüber hinauskommen! Meinen Sie nicht?“

Mittlerweile hatten sich die geladenen Gäste in dem ehemals Stein’schen, jetzt Kielmansegge’schen Schlosse zur ersten Begrüßung zusammengefunden. Es war der besondere Wunsch der gegenwärtigen Besitzerin der Herrschaft Nassau, der verwittweten Gräfin Kielmansegge, einer Enkelin Stein’s, daß die Festtheilnehmer sich in jenen Räumen zuerst begrüßen sollten, wo Stein in guten und schlechten Tagen geweilt hatte, und so gab diese Versammlung die Anregung zu gar mancher Erinnerung an den Helden des Tages; trafen sich doch hier, wenn auch in geringer Zahl, einige Freunde und Zeitgenossen Stein’s, welche sich hier vielleicht zum ersten Male von Angesicht zu Angesicht sahen. Ja, hatte doch hier der letzte Arzt Stein’s, der ihn in schwerer Krankheit gepflegt und behandelt, der ihn in Cappenberg nach seinem am 29. Juni 1831 erfolgten Tode zur Beisetzung in der Familiengruft zu Frücht bei Nassau einbalsamirte, zum ersten Male Gelegenheit, die Stätte zu sehen, welche dem Entschlafenen als Tusculum und Heim durch so viele Jahre gedient.

Von allen Seiten erfreute sich der alte würdige Herr – Kreisphysikus Doctor Wiesmann aus Dülmen – der Aufmerksamkeit der Festversammlung, und manche Zähre der Erinnerung und Anhänglichkeit floß dem liebenswürdigen Greise über die Wange, fühlte er doch mehr als jeder Andere, daß die Nation, neu erstarkt, ihrer Edelsten nicht vergißt.

Leise schlichen wir hinaus aus dem Kreise der zahlreichen Geladenen, unter denen Simson mit sicherer Würde und dem liebenswürdigsten Tacte die Pflichten des Festcomités, Graf Arnim-Boitzenburg die Pflichten des Gastgebers für die ihm verwandte Familie Stein’s gegenüber den Gästen erfüllten.

Da treffen wir Johannes Pfuhl, den seiner Zeit preisgekrönten Künstler der Statue, und freuen uns der aufrichtigen, treuherzigen Weise, in der er uns entgegentritt, endlich am Ziele seiner Mühe und seinen Strebens, das Bild eines jungen bescheidenen Künstlers, so fern von aller Anmaßung und so freudig ob des erreichten Zieles. Neben ihm steht Bildhauer Brodeusch, sein eifriger Helfer in den Stunden des Schaffens, und Rector Pfuhl aus Löwenberg in Schlesien, des Künstlers Vaters, den seines Sohnes Ehrentag zugleich ernst und froh stimmte.

Nur einer Andeutung bedarf’s – und gern schließen sich die Genannten einer Wanderung durch die Studirzimmer Stein’s an, in welchen so manche Erinnerung an den großen Todten gemahnt. Pfuhl hat eine Büste Stein’s für diese Räume gearbeitet, welche eine Zierde mehr für dieselben geworden ist.

Stein’s Thurm, den der edele Freiherr selbst in gothischem Stile „zur Erinnerung der Befreiung Deutschlands von der französischen Herrschaft im Jahre 1815“ errichtete, trägt über dem Portale die Inschrift: „Eine feste Burg ist unser Gott,“ und ist mit zwei Standbildern von Imhof in Köln, sowie mit dem Stein’schen Wappen geschmückt. Die Rückseite des Thurmes führt die Inschrift: „Nicht uns, nicht uns, Dir allein, Herr, die Ehre.“ Mit stiller Ehrfurcht schauen wir gerade an diesem Tage auf den Schreibtisch Stein’s, von welchem manches geflügelte Wort seinen Weg in die Welt nahm. Zwei eiserne Schränkchen mit Manuscripten des eisernen Reichsfreiherrn, eine reiche Bibliothek germanischer Geschichts- und Rechtsforschung und die Bilder der Helden der Reformation und der Befreiungskriege schmücken das untere Gemach, während das obere nur Erinnerungen an die Zeit seiner Wirksamkeit zeigt: die Büsten Friedrich Wilhelm des Dritten, Alexander des Ersten und Franz des Zweiten, denen sich in den letzten Tagen jene des Kaisers Wilhelm des Ersten zugesellt hat. Auf drei metallenen Gedenktafeln sind die denkwürdigsten Begebenheiten der Jahre 1812, 1813 und 1814 verewigt, und Bilder an den Wänden erinnern an den Einzug der Preußen in Paris und das Dankfest derselben im Jahre 1814. Ein treffliches Oelgemälde giebt die Züge des allverehrten Staatsmannes wieder, und in wahrhaft gehobener Stimmung treten wir aus jenen Räumen wieder in den Festsaal und unter die Männer, welche heute sich vereinigt haben, den Zoll der Dankbarkeit im Namen einer ganzen Nation darzubringen.

Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder. –

Da tritt Kaiser Wilhelm in die Festversammlung und begrüßt die nicht mehr zahlreichen Familienglieder des Stein’schen Hauses. Es leben aus dem seit manchem Jahrhundert an der Lahn begüterten edlen Geschlechte nur noch Gräfin Louise Kielmansegge und deren jüngere Schwester, Gräfin Mathilde, Beide Enkelinnen Stein’s und Kinder aus der Ehe der jüngeren Tochter Stein’s, Therese, welche sich mit dem Reichsgrafen Ludwig Kielmansegge vermählte. Der Letztgenannte ist Besitzer des Fideicommisses der Familie, der Güter Cappenberg – wo Stein starb – und Scheda in Westphalen. Gräfin Louise lebt im Stammhause zu Nassau, Gräfin Mathilde, Wittwe des Majors v. d. Gröben, zu Berlin; Letztere besitzt eine Tochter und einen Sohn, welche dem Feste gleichfalls beiwohnten.

Der Kaiser tritt zu dem amerikanischen Gesandten Bancroft, der mit seinem interessanten Kopfe, umrahmt von weißem Haupthaar und vollem langem Apostelbarte, bei dem Kaiser als besonders wohl gelitten gilt. Die Frage des Genannten nach des Kaisers Gesundheit und Befinden erwidert dieser mit munterm Lachen und der Zusicherung, daß ihm die Cur in Ems diesmal vortrefflich bekomme.

„Man muß Geduld haben,“ fügt Kaiser Wilhelm lächelnd hinzu, „wir haben ja jetzt Zeit, um uns zu pflegen, und in Ems ist’s in diesem Jahr sehr ruhig! Uebrigens hin ich nicht zum ersten Male hier in diesem Hause,“ fährt der Kaiser fort, und zur Rechten hinüber deutend, sagt er: „Ich wohnte damals dort drüben, es war im Jahre 1816, und ich erinnere mich nicht nur genau der Zimmer, sondern auch der interessanten und anregenden Tage, die ich einst hier verlebte!“

Einer Gruppe höherer Officiere gilt ein freundliches Kopfnicken des Kaisers. Simson, v. Bunsen und v. Sybel verhandeln noch wegen der verschiedenen Obliegenheiten ihres heutigen Ehrenamtes. Der Geschichtsschreiber Stein’s, Geheimerath Professor Dr. Pertz aus Berlin, spricht dem schlichten, freundlichen und allgemein beliebten Baurath Zais, dem Schöpfer des gothischen Schirmdaches, welches die Statue umrahmt, schon jetzt seine Freude über das gelungene Werk aus, doch dieser deutet mit Bescheidenheit und mit collegialer Freundschaft auf den Bildhauer May von Villmar (jetzt in Homburg) und seufzt: Hätten wir nur mehr Mittel gehabt; so mußten wir uns einschränken – so schwer’s uns auch wurde!“

Außer den Genannten war noch eine größere Anzahl von Vertretern sowohl des Adels wie der höheren Beamtenkreise, namentlich des Magistrats von Berlin, zum Feste erschienen. Kurz vor ein Uhr erschallt das Zeichen zum Aufbruch. Der Regen hat nachgelassen, und durch die volksbewegten, mit Ehrenpforten, Flaggen und Sommergrün geschmückten Gassen treten die Festgenossen den gemeinsamen Weg zur Burg Stein und zum Denkmal an.

Die Kettenbrücke, welche die Lahn überspannt, ist mit grünem Reisig geschmückt, sie schwankt unter der Last der dahin wogenden Menschenmassen. Da stehen zwei Bauern, schlichte Kinder der Lahn, aus irgend einem seitab der Straße liegenden Bergdörfchen, welche vielleicht früher einmal bei irgend einer Festlichkeit ihren Landesbischof mit goldener Kette [513] geschmückt sahen. Und als sich die Vertreter der Stadt Berlin den beiden nahen, hebt der eine biedere Bergbewohner erstaunt an: „Guck emal hei (hier)! Wat sein denn die do, mit denne Kette?“ Und belehrend antwortet der andere mit wichtiger Miene: „Dat sein lauter Berliner Paffe (Pfaffen)!“ eine Bemerkung, die große Heiterkeit erregt.

Hoch hinaus ragt der Ehrenstein auf der Stein’schen Burg. Eine steinerne Einfassung gestattet den Blick hinab in’s Thal. Das Musikchor des vierten Garde-Grenadier-Regiments Königin, der Sängerverein von Nassau, die Schulen und Ehrenjungfrauen bilden um das Denkmal und das diesem gegenüber errichtete kaiserliche Zelt, geschmückt mit den Reichsfarben, den Abschluß.

Da ertönt der Marsch aus Händel’s Judas Makkabäus: „Seht, der Sieger naht“ und plötzlich bricht die Sonne so hell und klar hervor, als ob sie theilnehmen wolle in voller Sommerpracht an der Verherrlichung des Mannes, dem heute alle Herzen des deutschen Volkes geweiht sind. Hinweggeweht sind die Wolkenschatten und selbst der Himmel sendet der Feier seinen heitersten Gruß.

Nach einer Ansprache Simson’s fällt die Hülle. Ueberraschend ist der Eindruck der Statue auf alle Anwesenden. So und nicht anders mußte der Mann verewigt werden, der in schweren Zeiten das Steuer des deutschen Staatsschiffes zu lenken vermochte.

Die Gestalt hat eine Höhe von über neun Fuß, sie ist markig und wuchtig und ruht auf dem rechten Beine, während das linke etwas vorgestreckt erscheint und der portraitähnliche Kopf mit den starken Zügen halb zur Höhe gewendet ist. In der rechten Hand hält die Statue ein starkes Heft: Nassau, 11. Junius 1807. Die berühmte Denkschrift über die Grundzüge einer Reorganisation des preußische Staates. Die Kleidung ist die Tracht des ersten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts. Ueber einen zackigen Felsblock ist in reichen Falten ein Mantel geworfen. Das Material zum Unterbau, den Meister May nach Plänen von E. Zais ausführte, ist der schöne, rothe und feste Sandstein aus Bettingen bei Wertheim. Das Denkmal trägt die Inschriften: „Heinrich Fr. Carl, Freiherr vom und zum Stein, geb. 25. October 1757, gest. 29. Juni 1831.“ An beiden Seiten finden sich die Worte: „Des Guten Grundstein, des Bösen Eckstein, der Deutschen Edelstein!“ – „Vollendet im Jahre der Wiedererrichtung des deutschen Reiches 1871!“ Alle Klagen wegen Verzögerung der Vollendung des Denkmals verstummen vor dieser letzten Inschrift. Wahrlich, eine geeignetere Zeit konnte zum Ehrentage Steins nicht hereinbrechen, als unsere Tage, in welchen „der Traum, der seine Seele dereinst geschwellt hat“, eine Wirklichkeit geworden ist.

Möge man es uns erlassen, den Eindruck zu schildern, den die Wirkung der Enthüllung dieses nationalen Monumentes auf jeden Festtheilnehmer üben mußte. Drüben alle die Ritter vom Geiste und Schwerte, welche dem Staatsmanne zu huldigen kamen, der den Grundstein legte zu dem neuen Reiche, das jetzt erblüht und zu dem sie mannhaft den Schlußstein gefügt, hier das fernhinschauende Bild des Mannes, der eine bessere Zeit für seine Nation im Geiste voraussah, und der, ohne Rücksicht auf Menschen und menschliche Würden der Wahrheit und seiner Ueberzeugung und Erkenntniß treu blieb bis zum letzten Athemzuge.

Professor Heinrich von Sybel von Bonn ergriff nach einer von der Schuljugend gesungenen Strophe des Liedes: „Gegrüßt, du Land der Treue“ das Wort, und feierte in einem oratorischen Meisterwerk die Verdienste Stein’s mit beredter Zunge und noch beredterem Herzen. Die Tagespresse hat die kernigen Worte bereits den meisten unserer Leser nahe geführt, und wir geben deshalb, gegenüber der großen Verbreitung, welche die Rede innerhalb des deutschen Vaterlandes gefunden hat, nur einzelne Stellen derselben wieder.

Nach einer historischen Einleitung und Schilderung der Geschichte Stein’s, die in diesem Sinne auch die Geschichte des deutschen Volkes ist, hob der Redner die hohen Charakterzüge Stein’s, seine helle Freundlichkeit und seinen leicht aufflammenden Witz im persönlichen Verkehre, seine unbezwingbare Festigkeit und siegreiche Energie im öffentlichen Handeln hervor; er nannte ihn sehr bezeichnend eine Natur von schwerem und großem Stile, herrisch, schöpferisch, überwältigend, und schloß seine Rede, nachdem er noch die politischen und staatsmännischen Ziele, welche Stein erstrebte, klar hingestellt hatte, mit folgenden Worten:

„Es war ihm vergönnt, die Herstellung der nationalen Unabhängigkeit und den Sturz der napoleonischen Fremdherrschaft zu schauen und die gegen ihn ergangene Acht auf das Haupt des französischen Imperators zermalmend zurückzuschleudern. Was aber sein leibliches Auge nicht erblicken sollte, war die positive Neugestaltung des deutschen Vaterlandes nach seinem Sinne unter Preußens Führung: hier hat er, wie in der innern Verfassungspolitik, den kommenden Zeiten die Wege gewiesen und seinen Namen mit unvertilgbaren Zügen in den Markstein zweier Weltalter eingeschrieben. Und heute, nachdem im einmüthigen Zusammenwirken Deutschlands Herrscher und Deutschlands Volk die damals gestellte Aufgabe herrlich gelöst haben, heute geziemt es der deutschen Nation, Stein’s Denkmal zu enthüllen, in dem reinen Bewußtsein, daß sie der Väter werth geblieben.

So möge denn das Angedenken seines Wirkens bei dem deutschen Volke lebendig sein, als Spiegel der Mannesehre, als Bronn der Vaterlandsliebe, als Sporn zur Arbeit, als Schild gegen Selbstsucht und Sinnengenuß. Unser Reich steht heute, Dank der Leitung unseres Kaisers, Dank der Kraft seiner Berather, Dank der Thaten unseres Heeres, auf der Höhe des Glückes, des Ruhmes, der Macht. Kein größerer Gegensatz scheint denkbar, als der zwischen diesem Glanze und dem fast hoffnungslosen Elende von 1807. Aber gerade weil wir glücklich sind, ergeht an uns die gebieterische Mahnung, in doppeltem Maße den Pflichten zu dienen, deren Erfüllung damals das Land aus unsäglichem Jammer emporgehoben hat. Denn es ist ein altes Wort: ‚Die Vergeltung lauert auf den Glücklichen‘. Uns umgiebt der Neid und Haß der Besiegten. In unserer Mitte rühren sich vaterlandslose, staatsfeindliche, nur zu weit herangewachsene Kräfte. An unser eigenes Innere tritt von hundert Punkten die Versuchung heran, auf Lorbeeren und Milliarden gebettet, endlich einmal das glückliche Dasein schwelgend zu genießen. Steigen ist schwer; sich auf der Höhe behaupten ist schwerer. Mehr als jemals bedürfen wir heute, weil wir glücklich sind, der Thatkraft, der Entsagung und der Arbeitsfreudigkeit dieses Mannes. Halten wir denn fest an dem edeln Zorne, mit dem er Trägheit und Selbstsucht zurückstieß, an dem feurigen Schwunge der Seele, mit dem er sich und seinem Volke die feste Richtung auf die höchsten sittlichen Güter gab!“

Mit donnernden Rufen stimmte die Festversammlung in das Hoch auf den Kaiser ein, mit welchem der Redner seine Ansprache schloß, und tief unten im Thale, wie hoch oben auf den Bergen, fand dasselbe freudigen Wiederhall. Das „Heil dir im Siegerkranz“ ertönte, und gerührt drückten Kaiser und Kaiserin dem Festredner die Hand. Und als solle der Jubel kein Ende nehmen, trat plötzlich unter das Standbild des Urgroßvaters Unico von der Gröben, der einzige männliche Urenkel Stein’s, ein blondlockiger elfjähriger Knabe, und rief in kindlicher Begeisterung dem Kaiser ein nochmaliges Hoch zu, in das wiederholt die Menge unten im Thale und auf den Höhen einstimmte. Der Kaiser ging freundlich auf den Knaben zu, wehrte seinen Handkuß ab und drückte den Hocherfreuten väterlich an sich. Die Mitglieder des Kaiserhauses traten hierauf dem Standbilde näher, sprachen den Künstlern J. Pfuhl, E. Zais und J. May ihre hohe Befriedigung aus und fanden in der Stimmung des Tages Anknüpfungspunkte zur Unterhaltung mit den Festtheilnehmern. Hell und klar lag die Sonne auf dem Standbilde des Vorkämpfers deutscher Einigkeit, als wolle sie den vollen Tag andeuten, der dem deutschen Reiche aufgegangen. Schwer trennten wir uns vom Festplatze, doch das Zeichen zum Aufbruche war gegeben, und drunten harrten Tausende, welche gleichfalls Anspruch auf die Besichtigung des Standbildes hatten.

Auf dem Festplatze unten im Thale, einem der malerischsten Punkte des schönen Lahnthals, entwickelte sich ein belebtes Bild. Die officiellen Festtheilnehmer rüsteten sich zur Festtafel im Curhause, die leider des beschränkten Raumes halber nur für achtzig Personen Platz bot, während sich in der eigentlichen Festhalle ein anregendes, freieres Bild des bewegte Volkslebens entfaltete.

Im Curhause präsidirte Simson und schwang auch hier das unsichtbare Herrscherscepter über Redende und Hörer. Eine Reihe von Trinksprüchen feierte den Kaiser, die Manen Stein’s, das deutsche Vaterland und diejenigen Männer einer vergangenen Zeit, denen es seine gegenwärtige Gestaltung verdankt. Dann folgten Toaste auf die Stein’sche Familie, auf die Förderer und Hersteller des Denkmals, auf den Präsidenten Simson, auf Stein’s Biographen, Geheimrath Pertz, und auf seinen treuen Arzt, Dr. Wiesmann u. A. Manches kräftige deutsche Wort hob die Stimmung der Theilnehmer dieses nationalen Tages. Von Breslau, der zweiten Stadt der Monarchie, schickten Magistrat und Stadtverordnete der Festversammlung telegraphisch die Versicherung der geistigen Theilnahme an diesem Ehrentage „des Urhebers der Städte-Ordnung und des Vorkämpfers für die Unabhängigkeit Deutschlands“. Johann Pfuhl aber ehrte der Kaiser während der Tafel durch die Verleihung des königlichen Kronenordens.

In der Festhalle draußen fand die gehobene Stimmung ihren vollen nachhaltigen Wiederhall. Der dort von Professor Sybel gehaltenen Rede, welche mit einem Hoch auf den Fürsten Bismarck schloß, folgte ein lebhafter Jubel, in welchen sich die Böllerschüsse von den Höhen mischten. Raketen stiegen, in bengalischen Flammen leuchtete weithin das prächtige Denkmal und unten im Thale strahlte plötzlich der Namenszug Stein’s in bunten Lichtern, gekrönt von der majestätisch den ganzen Plan beherrschenden Germania – ein hehres Zeichen, daß die deutsche Nation einen Theil ihrer Ehrenschuld abgetragen, die so lange ihrer Tilgung harren mußte, um glorreich endlich gesühnt zu werden.

Wir dürfen in unserer Schilderung dieses deutschen Festes der Wahrnehmung nicht vergessen, daß Theilnehmer aller Nationen, besonders Engländer, Amerikaner – deren Gesandter die weite Reise nicht scheute – und Schweden, sich in dem kleinen Nassau eingefunden hatten. Sie waren aus den naheliegenden Badeorten, besonders aus Ems, zahlreich herbeigeeilt. Hob doch auch die Times die nationale Bedeutung des Festes in würdiger Weise hervor, indem sie besonders anerkannte: „daß die deutsche Nation in ihren Tagen des Ruhmes und der Hoffnung nicht die düstere Periode vergißt, welche das Land vor zwei Generationen erlebte.“

Dem ersten Festtage folgte am zweiten ein Volksfest, welches die Stadt Nassau ihren Einwohnern und Gästen gab. Im Festzug begaben sich der Stadtrath, die Schuljugend, die Vereine und Corporationen zum gräflichen Hofe, um den Nachkommen Stein’s den Zoll der Dankbarkeit zu spenden. Auch an diesem Tage fehlten Festreden, Jubelfeuer auf den Bergen und Illuminationen nicht. Wir aber zogen es vor, die gemeinsame Gruft der Familie v. Stein aufzusuchen, die sich in der Nähe, dicht bei dem auf waldigem Uferberge der Lahn gelegenen Dorfe Frücht befindet. Ein treffliches Marmorrelief Schwanthaler’s giebt die Züge des Reichsfreiherrn wieder, und mit stiller Ehrfurcht stehen wir nach all dem Jubel der letzten Tage vor den Grabstätten Stein’s, seines Vaters, seiner Mutter und seiner Tochter. Die Grabschrift des Vaters des Ministers lautet: „Sein Nein war Nein gerechtig, sein Ja war Ja vollmächtig, seines Ja war er gedächtig, sein Mund, sein Grund einträchtig, sein Wort, das war sein Siegel!“ Und über Stein’s letzter Ruhestätte finden wir die Worte: „Heinrich Friedrich Karl, Reichsfreiherr von und zum Stein, geb. 26. October 1757, gest. 29. Juni 1831, ruhet hier, der Letzte seines über sieben Jahrhunderte an der Lahn blühenden Rittergeschlechtes, demüthig vor Gott, hochherzig gegen Menschen, der Lüge und des Unrechts Feind, hochbegabt in Pflicht und Treue, unerschütterlich in Acht und Bann, des gebeugten Vaterlandes ungebeugter Sohn, im Kampf und Sieg Deutschlands Mitbefreier.“

Ferdinand Hey’l.




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Blätter und Blüthen.


Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 7. (Mit Illustration, S. 499). Von unserm Feldmaler Chr. Sell erhalten wir über den Gegenstand seines Feldzugerinnerungsbildes folgende Mittheilung:

Am Morgen des ersten September 1870 ertheilte der Kronprinz Fritz dem 11. Armeecorps den Befehl, über Vrigne-aux-Bois auf St. Monges, nördlich von Sedan gelegen, vorzurücken. Das 5. Armeecorps und die 4. Cavalleriedivision folgten dieser Bewegung. Die Vertheidigungslinie der Franzosen war auf der ganzen Ostseite von Sedan, von Bazeilles im Süden bis nach Illy im Norden derselben, wegen steiler Hügel, Wälder und des davor entlangfließenden und unweit Bazeilles in die Maas mündenden Baches eine ganz vortreffliche; im Norden, wo die Dörfer St. Monges und Floing als Stützpunkte dienen mußten, hatte General Douay starke Geschützemplacements anlegen und die Gehölze vor seiner Front vom Geniecorps zur Vertheidigung einrichten lassen.

Das 11. Armeecorps dirigirte gegen halbacht Uhr seine Avantgarde auf St. Monges, erkannte aber, daß es seinen Auftrag nur erfüllen konnte, wenn es sich in Besitz der vorliegenden Höhen setzte; es fuhr sogleich die an der Tête befindlichen zwei Batterien auf, die nun hier die feindliche Artillerie von St. Monges und Floing sich gegenüber hatten. Um elf Uhr standen diese Batterien im heftigsten Geschützfeuer, und hier kam es zu der Kampfscene, welche meine Illustration darstellt.

Während nämlich die Kugeln unserer Batterien in dichte Massen von Franzosen hineinschlugen, traf das auf das Heftigste erwidernde Feuer derselben nicht unsere Artillerie, sondern die Bedeckung derselben, eine Husarenescadron vom 11. Corps. Auf einem vom Regen überschwemmten Acker ohne die geringste Möglichkeit irgendwelchen Schutzes dastehend, mußten die braven Husaren ruhig aushalten, mußten die Cameraden um sich herum stürzen sehen, und sie thaten’s ohne Zucken und Wanken. Mir schilderte kurz nach der Schlacht diese Scene ein Officier, der selbst dabei schwer verwundet wurde und der des Lobes voll war über die Standhaftigkeit und den heiteren Muth, den seine Escadron in diesem Augenblick bewährt habe, wo sie, die nur eine Angriffswaffe ist, ruhig dem fürchterlichen Angriff, gegen den sie keine Abwehr hatte, Trotz bieten mußte. Und weil nun dies einer der Momente ist, in welchem die moralische Kraft und Ueberlegenheit unserer Truppen sich auf’s Glänzendste zeigte, so hielt ich es für Pflicht, ihm in der Gartenlaube ein dauerndes Andenken zu stiften.




„Das abgelegte Clavier.“ Als wir die gewiß kühne, aber so wohlbegründete Bitte jenes Lehrers um ein altes, abgelegtes Instrument zum Druck gaben, überkam uns ein Gefühl, als ob wir dem Wohlwollen unserer Leser doch eine etwas starke Zumuthung gemacht hätten und wir waren auf ein beschämendes Fiasco gefaßt. Es waren aber nur wenige Tage nach der Expedirung der Nr. 22 der Gartenlaube verflossen, so mußten wir mit inniger Freude eingestehen, daß denn doch das gute Herz in Deutschland unverwüstlich ist und daß es in keiner Noth, sie heiße wie sie wolle, ganz vergeblich angesprochen wird. Es wanderte nicht bloß in die Stube des bedürftigen Schullehrers ein stattlicher Flügel, – fast jeder folgende Tag nach diesem ersten Anerbieten brachte ein neues, so daß in diesem Augenblick uns noch über zehn Instrumente die Verfügung freigestellt ist.

Allerdings sind, ohne daß über Erfolg oder Nichterfolg der gewagten Bitte noch ein Wort bekannt war, auch aus den Reihen der Schullehrer Stimmen bei uns eingegangen, welche sich „der Rede ihres Vorgängers“ wortgetreu anschlossen, und darum ersuchen wir die Besitzer der Instrumente, sich darüber zu erklären, ob sie auch für diese „Nachfolger“ ihr Anerbieten gelten lassen wollen. In mehreren dieser Briefe wurden uns Leiden und Entbehrungen von Lehrern und ihren Familien offenbart, welche die des ersten Bittstellers bei weitem übertrafen; für solche Kreuzträger ist es ein Wunder des Himmels, wenn die Musik ihnen noch Trost und Erholung bringen kann, und um so dringender ist unser Wunsch, vor Allen ihnen das Glück, das ihnen unerreichbar erschienen, zu bescheeren.

Die Mehrzahl der menschenfreundlichen Schenkgeber hat zwar die Verschweigung ihrer Namen gewünscht, um aber wenigstens eine Art Quittung und zugleich Hinweisung auf die Standorte der ausgebotenen Instrumente zu geben, lassen wir eine Bezeichnung derselben folgen. Außer dem ersten Instrument, welches von Frankfurt a. M. aus seinen jetzigen Besitzer erfreute, wurden noch zur Verfügung gestellt: in Leipzig ein Fortepiano; in Friedberg in Hessen „ein gebrauchter Wiener Flügel“; in Waldenburg in Schlesien ein sechsthalboctaviger Flügel; in Baiersdorf bei Nürnberg ein Flügel; im Forsthaus bei Limbach in Sachsen ein Flügel; in Schwarzhammer bei Marktleuthen in Baiern ein Flügel; in Zöschlingsweiler bei Lauingen in Baiern ein „abgelegtes Clavier“; in Hamburg ein tafelförmiges Pianoforte von sechs Octaven; in Jakobsau bei Lessen in Westpreußen ein Clavier; in Oster-Terp bei Lügumkloster in Schleswig ein Fortepiano von sechs Octaven.

Auch Baargelder sind für denselben Zweck eingegangen; da aber der ursprüngliche Zweck bereits vollständig erreicht ist, so fragen wir bei den Gebern hiermit an, ob die Verwendung jener Gaben als Unterstützung für die Transportkosten obiger Instrumente ihre Genehmigung hat.




Unbelehrbare Leute! Vor einigen Monaten erschien zu Paris im Verlag von Hachette und Comp. ein Petit dictionnaire géographique administratif, postal, télégraphique, statistique, industriel de la France etc. von Adolph Joanne. Das Erste, was ich bei Empfang desselben that, war, daß ich nachsah, ob sich Straßburg und Metz darin befanden. Ach ja! Sie waren darin verzeichnet als Hauptorte der Departements Bas-Rhin und Moselle, ersteres noch mit der alten Akademie. Von den neuen Zuständen kein Wort! Ich staunte und schlug die Vorrede auf. Da lag die Erklärung des Räthsels. In derselben steht (wörtlich) folgende unschädliche Herzensergießung: „Es wurde in diesem Buche der Verstümmelung nicht Rechnung getragen, welche das französische Gebiet erlitten hat. Zwei Hauptgründe haben uns bestimmt, in unserem Werke Frankreich so zu lassen, wie es vor dem Kriege war. Der erste ist das historische Interesse. Es ist wichtig, der gegenwärtigen und den künftigen Generationen unaufhörlich in’s Gedächtniß zu rufen, was das Vaterland vor dem Vertrag vom 10. Mai 1871 war. Der zweite ist die Hoffnung, daß einen Tag oder den andern Frankreich, wiedergeboren und frei, aber belehrt durch die Erfahrung, seine alten Grenzen, natürliche (!) oder conventionelle (?), wieder nehmen wird (am liebsten wohl jene von 1808!). Provisorisch, damit es die Leser nicht vergessen, sind die Departements (folgt die Angabe der abgetretenen Gebiete). … von den Preußen besetzt, welche sich vergeblich anstrengen werden, daraus deutsche Provinzen zu machen, außer auf dem Papier ihrer Diplomaten und unter den Bajonneten ihrer Soldaten!“ – – Dieser Erguß ist rührend, aber – so lange Frankreich sich die Liebe der Elsässer und Lothringer nur dadurch zu erhalten sucht, daß es sie in Afrika verhungern, verschmachten und fuchteln läßt, – gewiß sehr ungefährlich.




Ueber die neue Wallfahrt unweit Würzburg (Nr. 24, S. 398) ist uns von dem bischöflichen Decanat zu Karlstadt eine Berichtigung zugegangen, für die wir hiermit unsern Dank aussprechen. Danach hat das bischöfliche Ordinariat Würzburg schon im Jahre 1850 die benachbarten Pfarrämter aufgefordert: „die Gläubigen vor den schädlichen Folgen eines irregeleiteten Eifers in dieser Sache eindringlichst zu verwarnen“. Als dies jedoch keine Beachtung fand, befahl ein Ministerialerlaß im November 1865, weil „diese Andachten der Billigung der kirchlichen Oberbehörde sich keineswegs zu erfreuen hätten, vielmehr deren Beseitigung ausdrücklich für nothwendig erachtet würde“, die gänzliche Hinwegräumung der improvisirten Capelle und aller Bilder, und seitdem ist kein Versuch zur Wiederherstellung derselben gemacht worden.




Kleiner Briefkasten.

L. V. in D. Fräulein Klauwell, welche auf dem Musikfest in Cassel durch Vortrag verschiedener Lieder einen so großen Enthusiasmus erregte, ist eine geborene Leipzigerin, die Tochter des als vorzüglicher Elementarlehrer weithin bekannten Schulmanns. Mit Recht rühmt der Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ diese „künstlerisch wie menschlich so köstlich-naive Sängerin, für die man nur mit Heine den Himmel anflehen möchte, daß er sie noch lange hinaus erhalte: so schön und rein und hold.“ – Auf der Bühne wird Fräulein Klauwell niemals erscheinen.

Marie S. in Altona. Auf Ihre liebenswürdige Anfrage bedauern wir ablehnend antworten zu müssen, auch erinnert sich die Redaction dieses Blattes nicht, Ihnen das verlangte Bild versprochen zu haben. Den Dank des Kränzchens „Studien“ haben wir an Werner befördert.

K. in Ldht. Ihre etwas weitläufige und langweiligen Auseinandersetzungen beantworten wir einfach mit den Dichterworten:

Die schöne Form macht kein Gedicht,
Der schöne Gedanke thut’s auch noch nicht.
Es kommt darauf an, daß Leib und Seele
Zur guten Stunde sich vermähle!

Der Verfasser der in Nr. 14 der Gartenlaube abgedruckten Novellette „Die Wahrsagerin“ wird wegen Redactionsangelegenheiten ersucht, seine genaue Adresse anzugeben.

Die Herren Dichter, die wir meinen, ersuchen wir dringend, endlich der Ueberfluthung unserer Redactionspulte durch ungereimte Reimereien mit dem Refrain „Wir ziehen nicht nach Canossa“ Einhalt zu thun. Auch ohne deren Verseleien geht die Reise nicht nach dem italienischen Schlosse!




Zum Nationaldank für Ludwig Feuerbach


gingen noch ein: Schlichtermann in Moskau 50 Thlr.; Kegelgesellschaft durch Jenichen 5 Thlr.; G. S. in Dorpat 10 Thlr.; Pastor Hoeckner in Trebern 1 Thlr.; Gust. Wiese in Richmond 2 Thlr.; Dr. H. Repenbacher in Auerbach (Oberpfalz) 2 Thlr.; Allgemeiner Gewerbeverein in Danzig 16 Thlr. 20 Ngr.; F. W. in Wiesbaden 5 Thlr.; Dr. Maier in Stuttgart 1 Thlr.; August Kleinen in Hamburg 10 Thlr.; Verein „Euba“ 17½ Ngr.; Banquier Rubinstein 5 Thlr.; Cassirer J. Klein 5 Thlr.; Gutsbesitzer Konuwalski 5 Rubel; Agent Rothgeber 2 Rubel (sämmtlich in Charkow in Rußland).




Mit dieser Quittung schließe ich die Sammlung der Gartenlaube für den „Nationaldank für Feuerbach“ und benachrichtige die freundlichen Geber gleichzeitig, daß der Gesammtbetrag von


Zweitausend Neunhundert und zwei Thaler und 27 Sgr.


an die Feuerbach-Stiftung in Nürnberg abgesandt wurde, worüber Quittung in meinen Händen ist.

Ernst Keil.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hebäische
  2. Vorlage: Züge