Die Gartenlaube (1873)/Heft 43

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Das Ende vom Liede.

Eine Berliner Geschichte von Albert Moedinger (Max Alt).


1.

In der Therbusch’schen Ressource in der Oranienburgerstraße war eine feine Hochzeit. Die Wagen waren in ununterbrochener Reihe eine Viertelstunde lang vorgefahren, und die Weiber und Mädchen der Gegend, und auch solche, die da nur gerade vorüberkamen und es sehr eilig hatten, versperrten den Bürgersteig in dichten Haufen und trennten sich erst von der Stelle eine gute Zeit, nachdem der letzte Wagen den letzten Gast ausgeladen – obgleich ein dichter grauer Novembernebel sich in einen feinen Sprühregen aufgelöst hatte, der ebenso ergiebig auf die über den Kopf gezogenen Tücher der alten Weiber herabrieselte, als er sich auf den Kranz der Braut ergoß, die an dem Arm des Erwählten schnell in den geschmückten Eingang des Hauses hineinhuschte. Der große Saal, in dem schon so viele glückliche Hochzeiten gefeiert waren, erglänzte in seinem schönsten Lichte, und die Tafeln strotzten von bunten Aufsätzen und Blumen, von Kranzkuchen und Confectetageren, die sich in den Wandspiegeln unzählbar vervielfältigten. Braut und Bräutigam – oder richtiger das junge Ehepaar – sahen schön und glücklich aus, obgleich es schien, daß diese beiden Beiworte bei dem Bräutigam stärker in die Augen sprangen. Sie waren sich nicht ähnlich. Er war groß und schlank, sie klein und von anmutiger Rundung. Er war schwarzhaarig und von jener vielgerühmten interessanten Blässe, während aus ihren Zügen Lilien und Rosen in glücklichem Verein sich paarten und ihr reiches Haar einen bezaubernden aschfarbenen Ton hatte. Sie waren sich auch in vielen anderen Punkten nicht ähnlich von denen später noch die Rede sein wird, nur in einem kamen sie zusammen, der ziemlich äußerlicher Natur war: sie besaßen Beide keinen Vater mehr. Von den beiden Müttern räumte die Gesellschaft der Mutter des Bräutigams ziemlich einstimmig den Vorrang ein, und sie nahm ihn in ihrem Rang als Wittwe eines Kriegsrathes als etwas Selbstverständliches hin, umsomehr als sie an ihrer Seite einen Hofstaatssecretär hatte, der zu ihrer Familie gehörte, während die Gegenpartei es nach unerhörten Anstrengungen nur zu einem unbesoldeten Stadtrath als Gast hatte bringen können. War nun der höhere Rang auf dieser Seite, so befand sich das größere Vermögen anerkanntermaßen auf der anderen, und Niemand wird es der verwittweten Fabrikantin Mannstein zum Vorwurf machen, daß sie versucht hatte, den sich ihr bietenden Vorzug etwas stärker zu betonen, als sie unter anderen Umständen gethan haben würde. Die Kellner trugen weiße Halsbinden und eben solche Glacéhandschuhe; das Couvert kostete drei Thaler und der Sect wurde von vornherein servirt für Jeden, der sich ihm ausschließlich widmen wollte.

Ich war mit dem Bräutigam zusammen auf der Schule gewesen, hatte den Umgang mit ihm aber später nicht fortgesetzt, weil uns verschiedene Berufspflichten auseinander führten. Dagegen war ich mit einem seiner Vettern, Namens Robert, genau bekannt. Er war ein Schöngeist, „ohne es nöthig zu haben“, und wir sahen uns regelmäßig bei Künstlerfesten und anderen derartigen Versammlungen. Er hatte den Polterabend durch lebende Bilder verherrlicht, zu welchen er sehr hübsche poetische Erklärungen vortrug, und mir war nach langen Bitten nichts übrig geblieben, als seinen Wunsch zu erfüllen und ihn in Anordnung dieser Bilder zu unterstützen. Auf diese Art erneuerte ich meine Bekanntschaft mit Eduard Sandow, dem Sohne der Kriegsräthin, und sah zum Theil selbst, zum Theil hörte ich von seinem Vetter das, was den Inhalt dieser kleinen Geschichte bildet.

Unter Denen, welche sich entschlossen hatten, sich bei Tafel von vornherein dem Champagner zu widmen, stand ein Bruder der Braut, ein junger Mann von sechszehn Jahren, obenan. Er war einer der Ersten gewesen, den anfänglich herrschenden Zwang in kindischem Uebermut zu durchbrechen, und während der ganzen Dauer des Mahles schallte sein tobendes Gelächter in jede etwa eintretende Pause der Unterhaltung hinein. Er neckte seine Cousinen und deren Freundinnen, die an jenem Ende der Tafel mit ihm saßen, auf jede nur mögliche Art, brachte sie in diesem Augenblicke fast zum Weinen und erregte im nächsten wieder das fröhlichste Gelächter bei ihnen. Er copirte mehrere der Anwesenden mit großem Geschick, was sehr komisch anzusehen war. Die armen kleinen Damen befanden sich in einer sehr schwierigen Lage und schwebten fortwährend in Gefahr, zu einer ungelegenen Zeit loszuplatzen.

Die Tischgesellschaft hatte sich langsam, aber glücklich durch den größeren Theil des überreichen Menus durchgearbeitet und bedurfte augenscheinlich einer kurzen Bewegung, denn der größere Theil wanderte an der Tafel herum, mit dem Glase in der Hand hier und dort ein paar Worte austauschend. Auch Braut und Bräutigam waren unter diesen und widmeten sich, auf kurze Zeit voneinander getrennt, den beiderseitigen Bekannten. Der Bräutigam war in die Gegend gekommen, wo ich mit seinem Vetter Robert saß, und schenkte auch uns einen Augenblick; wir dachten an diese und jene unserer Jugenderinnerungen, und ich hatte unterdeß Gelegenheit, Eduard etwas genauer anzusehen. Er war ein [692] auffallend schöner Mann geworden, dessen schöne Figur die meisten der anwesenden Herren überragte, sowohl an Größe, wie an Eleganz. Der schon angedeutete blasse Charakter seines Kopfes gewann in der Nähe noch einen größeren Reiz. Haar und Bartwuchs waren von einer mächtigen Fülle und von glänzender Schwärze. Jenes war kurz geschoren und den Bart trug er, wie es damals Sitte war, als schmales Collier. An den Stellen, wo das Messer alles Ueberflüssige täglich fortnahm, leuchtete aus der Haut jener wundersame blaue Schimmer auf, der uns an Köpfen von Tizian und Veronese oft so sehr bezaubert. Seine Unterhaltung war einfach und natürlich. Ich wußte von der Schule her, daß seine geistigen Eigenschaften nicht hervorragend waren. Wenn sich irgend eine passende Gelegenheit bot, so lachte er, und er that recht daran. Einmal deshalb, weil er sehr schöne Zähne hatte, und dann, weil ein Bischen Lachen über Manches glücklich hinweghilft, in der Unterhaltung sowohl, als im Leben.

Wir stießen eben mit den Gläsern an und der glückliche Bräutigam wollte sich von uns trennen, um Anderen dieselbe Artigkeit zu erweisen, als sein jugendlicher Schwager, der vorhin erwähnte übermüthige Junge, plötzlich etwas schwankenden Trittes zu uns trat, um seinerseits seine Ansprüche an den nunmehrigen Mann seiner Schwester geltend zu machen. Er fuhr mit emporgehaltenem Glase auf Eduard Sandow zu und sagte mit etwas schwerer Zunge lachend:

„Nun, alter Junge, wollen wir Beide einmal anstoßen, wie es richtigen Männern geziemt!“

„Das wollen wir, Otto,“ antwortete der Bräutigam ebenfalls lachend, und sie fuhren mit ihren Gläsern aneinander und ließen sie dann artig an den unseren vorübergleiten.

„Und nun, alter Junge,“ lallte der augenscheinlich betrunkene Knabe weiter, „nun will ich Dir auch mein Beileid zu erkennen geben,“ und er fuhr von Neuem mit seinem Glase auf den armen Bräutigam zu, der abermals lachend mit ihm anstieß.

„Du lachst, alter Junge?“ fuhr der Knabe fort und lehnte sich an einen Stuhl; „nun meinetwegen lache! Aber Du wirst ’mal sehen, Du hast sie nun am Halse, und Du wirst Deinen Schaden besehen, und ich bin neugierig, wie lange Du es treiben wirst, und bin neugierig auf das Ende vom Liede.“

Dann sank das saubere Bürschchen auf den Stuhl nieder und lachte aus vollem Halse, ich weiß nicht ob über seinen famosen Scherz oder über die verblüfften Gesichter, die wir als Zuschauer dieser peinlichen Scene wahrscheinlich machten. Der Bräutigam hatte dieser überraschenden Erklärung gegenüber versäumt, sein gewöhnliches Lachen zur rechten Zeit ertönen zu lassen. Er war auffallend bleich geworden und seine großen dunklen Augen hatten sich einen Augenblick in’s Leere gerichtet, als wenn sie ein Gespenst sähen, das nur für sie vorhanden war. Plötzlich zuckte er zusammen, und die Stimme der Braut, welche hinter uns ertönte, machte den peinlichen Eindruck dieses Vorgangs für mich zu einem unvergeßlichen durch die Art und Weise, in welcher sie sagte:

„Siehst Du, Mama, das ist die Folge Deiner unverzeihlichen Schwäche! Otto ist betrunken und macht, wie immer, boshafte Bemerkungen über mich. Nun, zum Glück wird es die letzte sein, welche ich höre, denn in mein Haus soll er den Fuß nicht setzen.“

„Ha! ha! ha!“ lachte der betrunkene Knabe; „wenn er nicht will, … wenn er nicht will, … ha! ha! ha! … sonst, mein Schwesterchen, … weißt Du wohl, … daß er –“

Der Klang der Worte erreichte nicht mehr unser Ohr, denn wir hatten das Hinzutreten der beiden Damen benutzt, um unbemerkt von der Scene abzutreten und uns in die im Hintergrund der Bühne auf- und abwogende Menge zu mischen. –

Das Mahl war lange beendigt; der Tanz währte schon mehrere Stunden, und nichts trübte den Glanz des schönen Festes. Der liebenswürdige Bruder der glücklichen Braut, den ich eine Zeitlang vergebens mit den Blicken gesucht hatte, war wieder erschienen. Es schien, daß man ihn einer Schwarzen-Kaffee-Cur unterzogen hatte; denn obgleich er noch etwas bleich war, schien sein Rausch doch zum großen Theil verflogen. Es war kein Wunder; denn er hatte sich ja von vornherein dem Sect gewidmet.

Ich hatte meiner Pflicht als Gast Genüge gethan, hatte zwei, drei Mal getanzt und lehnte nun an einer der großen Säulen, welche das Orchester trugen, müßig und mit dem Gefühl der beginnenden Langeweile in das bunte Treiben schauend. Man tanzte die damals sehr in Mode stehende Quadrille à la cour, diesen wunderlichen Tanz, mit den zahllosen Verbeugungen, die mir immer einen gewissen unheimlichen Eindruck gemacht hatten, wie ihn übertrieben höfliche Leute wohl hervorzubringen pflegen. Der Wein, den wir getrunken hatten, mußte schwer gewesen sein, denn ich fühlte, daß meine Augenlider müde herabhingen und daß meine Blicke die gesenkten Wimpern wie eine Gardine durchdringen mußten. Es war nicht länger meines Bleibens in dem geräuschvollen und ermüdeten Treiben der Tanzenden. Ich machte mich schleunigst aus dem Staube.

Bald darauf befand ich mich mit meinem Freunde, dem Schöngeist, auf der Straße. Er tanzte gleich mir nicht mehr, und theilte mit mir die innigste Liebe für die treueste Freundin des Junggesellen, die Cigarre.

„Ich denke, wir nehmen noch einen Schlaftrunk, Alt,“ sagte er, nachdem wir ein Weilchen schweigend nebeneinander hergegangen waren, denn er gehörte zu jener Sorte von Männern, die nicht nach Hause gehen können, ohne noch in ein Wirthshaus einzukehren, und wenn das Souper, von dem sie kommen, noch so vortrefflich war und noch so lange dauerte. Und wenn Robert Fürst aus dem Schlosse des Königs gekommen sein würde, es wäre ihm ein und dasselbe gewesen. Er würde das gleiche Verlangen gehabt haben nach seinem Schlaftrunk mit dem qualmigen Duft der Kneipe und dem süßen, den Schlaf so schön vorbereitenden monotonen Getöse, das man nur in einem besuchten Wirthshause hören kann.

Bald hatten wir Alles, was er wünschte, zu unserer Disposition. Wir saßen bei einem Glase Kitzinger, brannten unsre zweite Cigarre an, und ich wollte eben eine Frage an ihn richten, als er mir von selbst entgegenkam, indem er, aus einem tiefen Nachdenken auffahrend, sagte: „Das war eine nette Scene – mit dem Jungen! Nicht?“

Ich gab stillschweigend meine Zustimmung.

„Würde man einem Romanschreiber so etwas glauben?“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

„Vielleicht – vielleicht auch nicht,“ antwortete ich; „es kommt darauf an, wie es gemacht ist.“

„Und wie hübsch ist der ganze Vorgang, wenn man ihn objectiv betrachtet! Mitten in Glück und Freude und Hoffen hinein wirft die schwere Zunge eines betrunkenen Knaben diesen Schatten kommender Ereignisse. Sahen Sie, wie Eduard erbleichte, wie boshaft die Stimme der Braut klang und wie er es fühlte? Wahrhaftig! ich bin neugierig, wie die Geschichte verlaufen wird und was eigentlich dahintersteckt.“

Ich bekannte mich zu derselben Schwäche, und bat ihn, da wir doch auf die kommenden Ereignisse geduldig warten mußten, mir etwas von den vergangenen zu erzählen, das etwa geeignet wäre, in das kleine Drama einzugreifen, dessen Prolog so unerwartet unsere Neugier erregt hatte.

„Von der Familie der Braut weiß ich nur sehr weniges zu erzählen,“ sagte er kurz; „sie ist sehr respectabel. Der Vater hatte eine renommirte Fabrik von Gummiwaaren, und starb vor einem Jahre etwa. Sie sollen reich sein. Die Mutter setzte das Geschäft fort, um es für einen Sohn zu erhalten, der sich zu weiterer kaufmännischer Ausbildung in England befindet. Die Braut singt sehr hübsch und soll auch niedlich zeichnen. Das ist Alles, was ich weiß.“

„Und Eduard Sandow und seine Mutter, die Kriegsräthin –“ sagte ich, „von denen weiß ich eigentlich so gut wie nichts.“

„Da ist eine ziemliche Menge hübscher Details für einen Roman vorhanden, aber wer fragt darnach heute?“ fiel der Schöngeist nachdenkend ein; „Handlung, mit der Holzaxt zugehauene Handlung, das ist der Götze unseres heutigen Lesepublicums.“

„Sie wollen genöthigt sein, wie ein Frauenzimmer, das ist das Ganze,“ sagte ich ärgerlich; „Sie wissen, daß Sie gut erzählen, und daß ich kein Freund roher Effecte bin.“

„Ja, Sie,“ antwortete er, „aber die Anderen!“ dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und begann heftig dampfend:

„Meine Tante ist eine kreuzbrave, prächtige Frau mit einem echt deutschen Gemüth. Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn Sie heut bei ihr zu Tische gewesen wären, ohne morgen [693] einen verdorbenen Magen zu haben. Sie ist voller Witz und Laune, hat eine offene Hand und ein Herz für die Armen, und ich weiß wirklich nicht, wo ich eine schwache Seite bei ihr entdecken soll. Sie müßten denn eine solche darin finden, daß sie auf Rang und Stand hält, daß sie ihren Eduard als einzigen Sohn, wie eine Affenmutter ihr Junges, liebt und daß sie eine Größe ersten Ranges im L’hombre ist. Aber das sind unmöglich schwache Seiten bei einer Kriegsräthin.“

„Sie hat angenehme Manieren,“ warf ich ein, „aber ich kann nicht recht klug daraus werden – ist Ihre Tante aus guter Familie?“

„Ja, sie ist aus sehr guter Familie,“ antwortete der Schöngeist. „Ihr Vater war Botenmeister im Kriegsministerium, und sie lernte den Supernumerarius Sandow zu einer Zeit kennen, wo die Butter und das Brod in dem Tischkasten des armen Jungen regelmäßig härter und älter waren als in der botenmeisterlichen Speisekammer. Sie wissen ja. Der alte Müller, der beim Minister eine sehr gute Nummer hatte – die Minister wechselten damals noch nicht so leicht –, gab dem jungen Manne manch tüchtigen coup d’épaule und brachte ihn bald so weit, daß er einen Hausstand gründen konnte. Aus der Botenmeistertochter war eine Frau Registratorin geworden, aus dieser wurde eine Geheime Registratorin, aus dieser endlich die Kriegsräthin. Man darf nicht zweifeln, daß die ehrgeizige Frau es noch zur Geheimen Kriegsräthin gebracht haben würde, wenn nicht ihr Gatte nach achtzehnjähriger glücklicher Ehe gestorben wäre. Eduard war damals fünfzehn Jahre alt; Sie kannten ihn und wissen deshalb so gut wie ich, daß er schon damals ein hübscher Junge und für sein Alter auffallend groß und ausgebildet war. Ich ärgerte mich in jener Zeit oft; ich war zwei Jahre älter als er, und die Mädchen behandelten mich noch immer wie einen dummen Jungen, während sie schon anfingen, mit ihm zu liebäugeln. Eduard wurde älter, und der schöne Mann blieb der vorherrschende Zug in ihm. Er konnte den Wunsch seiner Mütter, daß er studiren solle, nicht erfüllen, er brachte es nur bis Untersecunda und wurde Kaufmann. Es erhellte von vornherein aus Allem, daß er bestimmt war, Carrière zu machen; es glückte ihm Alles, was er anfing. Natürlich gewann er Aller Herzen, die der Frauen in erster Linie. Ich habe das liebenswürdige Geschlecht, dessen Herz zuweilen in den Augen zu sitzen scheint, so lange und so unausgesetzt in allen Tonarten von ihm schwärmen hören, daß es wirklich manchmal zum Davonlaufen war. ‚O, der schöne Mann!‘ – ‚O, diese elegante Figur!‘ – ‚O, fünf Fuß, acht Zoll!‘ – ‚O, und das schwarze Haar und der Bart!‘ – ‚O, und der entzückende bläuliche Schimmer auf den Wangen, an den Stellen, wo der Bart fortgenommen ist!‘

In diesem bläulichen Schimmer kamen sie unter allen Umständen Alle zusammen. Er übte einen gleichen Zauber auf jede Einzelne aus, und es hat mir oft Kopfschmerzen gemacht, zu ergründen, in welche Beziehung die guten Kinder diesen bläulichen Schimmer möglicher Weise zu dem Märchen vom Blaubart bringen mochten. Eine eigenthümliche Bemerkung machte ich zu jener Zeit schon an meinem schönen Vetter. Sein Benehmen den Frauen gegenüber zeigte klar, daß es kein leichtes Spiel sein würde, sein stolzes Herz aus seinem ruhigen und regelmäßigen Ticktack herauszubringen. Er lächelte, und wenn die jungen Mädchen, denen er sich nahte und auf denen er seine tiefen, schwärmerischen Augen ruhen ließ, heftig errötheten und dadurch andeuteten, daß er sich nur zu bücken brauche, das arme Herz liege ja da zu seinen Füßen, so war die Sache gut, und sein Appetit war so regelmäßig wie der Schlummer ruhig.“

Der Schöngeist machte eine kleine Pause, und ich benutzte sie zu einer Frage.

„Irre ich mich,“ sagte ich, „oder habe ich Sandow eine Zeitlang häufig in Theatern und Concerten gesehen mit einem jungen Mädchen, das neben ihm auffallend klein und zierlich erschien?“

Der Schöngeist nickte mir lächelnd zu und antwortete dann: „Das war die Erste, die das ruhige Ticktack etwas zu beschleunigen gewußt hatte, freilich ohne es zu wollen. Das arme Kind! Sie hieß Emma, war die Tochter eines Mauerpoliers und nähte außer dem Hause für geringen Lohn. Sie war keineswegs hübsch, aber ihre kleine zierliche Figur hatte so etwas Kindliches. Dazu besaß sie sehr schöne blaue Augen mit wunderbaren Wimpern und eine Stimme, so melodisch, wie man sie selten hört. Wenn sie lachte, und auch sie that es gern, so klang es fast, als wenn ein kleiner Vogel über eine Glasharmonica huschte und von den geheimnißvollen Tönen erschreckt davonflatterte. Sie hatte das Glück gehabt, durch Empfehlung in das Haus meiner Tante zu kommen, und es mögen die Tage, die sie dort zubrachte, wohl zu den froheren in ihrem armen Dasein gezählt haben. Die Kriegsräthin hatte eine augenscheinliche Zuneigung für die kleine Näherin gefaßt. Es machte sie jung, ihr frohes Lachen zu hören; sie fiel vergnügt in die zweite Stimme ein, und so kam es, daß sie immer etwas Besonderes kochte, wenn sie ‚die Näherin hatte‘, und aus eigenem Antriebe dem jungen Mädchen zwei Gutegroschen für den Tag zulegte. Eines Tages wollte es mit dem lustigen Lachen nichts Rechtes werden; die Kriegsräthin entdeckte sogar ein paar dicke, dicke Thränen, die an den langen Wimpern einen Augenblick hingen, um dann schwer und schnell über die Wangen herabzurollen. Das arme junge Ding war am gestrigen Abende beim Nachhausewege von einem Betrunkenen auf gräuliche Art insultirt worden. Das liebe unschuldige Mädchen! Das ging nicht; daran hatte die Kriegsräthin gar nicht gedacht; sie war verantwortlich dafür – das mußte verhindert werden. Das Mädchen war nicht zu entbehren; denn die Frau Kriegsräthin war bei der Wäsche. So wurde Eduard beordert, die kleine Näherin nach Hause zu bringen. Er war zwanzig Jahre alt, aber seine Mutter hatte das vollste Vertrauen zu ihm. Sie hatte oft genug gesehen, wie kalt er war. Wie konnte es ihr auch in den Sinn kommen, daß der Sohn einer Kriegsräthin für die Tochter eines Mauerpoliers – ich bitte Sie! das lag doch wirklich außer aller menschlichen Berechnung.

Die kleine Näherin plauderte unbefangen mit ihrem Begleiter und dachte nicht daran, zu erröthen, und kümmerte sich keinen Deut um den bezaubernden bläulichen Schimmer. Das brachte augenblicklich die natürliche Wirkung hervor. Man versagte dem schönen Manne, was er als einen ihm gebührenden Tribut zu betrachten gewöhnt war; er fühlte den Boden unter seinen Füßen weichen, und das nahm ihm seinen Halt. Die Verlegenheit, die nicht wußte, wo sie hinsollte, kam auf ihn zurück, und er fing an, Unsinn zu schwatzen. Das junge Mädchen hörte den Unsinn an und lachte Den, der ihn sprach, aus.

Damit war die Sache gethan, der Appetit war gering und der Schlaf unruhig. Der tiefbeleidigte Mann träumte von einer vornehmen Dame, welche einen Eclat dadurch herbeiführte, daß sie sich öffentlich auf einem Balle weigerte, mit ihm zu tanzen … weil er … nicht rasirt sei.“

Der Schöngeist machte eine Pause, um sich einen neuen Schlaftrunk zu bestellen. Als der Kellner ihn gebracht und er sich daran gestärkt hatte, fuhr er fort:

„Als mein schöner Vetter am andern Morgen erwachte, war er verliebt, und es kehrte mit diesem himmlischen Gefühle eine Eigenschaft zu ihm zurück, die er verloren hatte, ohne es zu wissen, und welche ich für die hübscheste halte, die der Mensch besitzt – die Natürlichkeit. Als er sich dann einfach, wie er war, gegen das junge Mädchen benahm, fand sie ihn plötzlich sehr nett, und es dauerte nicht lange, so wußte die Verlegenheit nicht aus und ein vor embarras de richesse. Sie flog bald zu ihm, bald zu ihr, und war beständig unterwegs, und das Erröthen, dieser treue Begleiter der Verlegenheit, folgte derselben dicht auf der Ferse und befand sich in derselben Lage.

Als das Unglück da war – nicht so, wie Sie in diesem Augenblicke vielleicht meinen –, als meine Tante merkte, wie die Sachen standen, gab es natürlich eine furchtbare Scene. Die Frau, ihrem natürlichen Charakter nach, würde vielleicht ein gewisses Mitgefühl mit dem armen Mädchen gehabt haben, wenn die Kriegsräthin nicht in ihr die Oberhand gewonnen hätte. Die kleine Schlange hatte sich eingedrängt in ihr Haus und hatte zuerst sie selbst mit ihren Blicken bezaubert, bis sie ganz dumm geworden war, und dann hatte sie sich auf ihre Krone, auf ihr Juwel, auf ihren kalten, unschuldigen Eduard gestürzt und hatte mit ihm dasselbe Spiel getrieben, bis sie bei ihm dasselbe Ziel erreicht hatte. Sie mußte Knall und Fall zum Hause hinaus, und alle befreundeten Familien, in denen Söhne [694] waren, gaben ihr denselben Abschied, aus Furcht, daß sie auch diese mit ihren Blicken bezaubern könne, bis sie – ganz dumm wären.

Es ereignete sich dabei eine hübsche Scene, der ich wohl beigewohnt haben möchte. Der alte Mauerpolier, der auf irgend eine Art hinter die Geschichte gekommen sein mußte, zog seinen Sonntagsrock an und machte sich auf den Weg, um der Frau Kriegsräthin seine Meinung zu sagen, wie er sich ausdrückte. Er hatte seine Rede sehr gut memorirt und sie wohl zwanzig Mal wiederholt, ehe er von der Gartenstraße bis an die Jerusalemerkirche gekommen war. Als ihn aber das Mädchen, nachdem er seinen Namen genannt, in das ‚gute‘ Zimmer geführt hatte, da kam er mit seiner einundzwanzigsten Wiederholung gleich beim ersten Satze in’s Stocken. Denn da hing an der Wand der Kriegsrath in Oel und Goldrahmen, lebensgroß, und hatte seine Orden auf der Brust und ein großes offenes Schreiben mit großem königlichen Siegel in der Hand. Der Maler des Bildes hatte den Moment erfaßt, wo der Verstorbene seine Bestallung zum königlichen Rathe empfangen, und es war nicht zu verwundern, daß das Bild mit sehr stolzer Miene auf den Mauerpolier herabsah. Aber das war noch nichts; denn da war noch das Bild einer schwarzen Dame in schwarzseidenem Kleide und dicken schwarzen Locken; sie war mit einem Male zweimal da – einmal neben dem Kriegsrathe, auch in Oel und Goldrahmen, und dann noch einmal in der offenen Thür in Lebensgröße, nur etwas älter und nicht ganz so sprechend. Da war die Rede des alten Mannes plötzlich ganz zum Teufel und er machte nur ein paar verlegene Bücklinge, die nicht sehr herausfordernd aussahen und meine Tante augenblicklich beruhigten. Sie mußte wohl etwas von Taktik wissen, denn sie benutzte die augenscheinliche Schwäche ihre Gegners, drehte den Spieß schnell um und ging von der Annahme aus, daß er gekommen sei, um zu entschuldigen, daß seine Tochter das in sie gesetzte Vertrauen nicht besser gerechtfertigt habe. Dabei war sie aber sehr gütig und sagte, wie leid es ihr thue, daß das kleine Mädchen sich etwas in den Kopf gesetzt habe, was doch einmal nicht zu erfüllen sei. Sie werde es mit der Zeit schon wieder daraus loswerden, sie wolle ihr somit weiter nicht böse sein, ihr nichts nachtragen und ihr für die Zukunft alles Gute wünschen. … Und damit hatte sie den alten Mann sehr höflich zum Zimmer hinauscomplimentirt, und dieser hatte erst nach Stunden den Anfang seiner Rede wiedergefunden, als er bei der zweiten Weißen und beim dritten Kümmel war.“

Ich hatte unwillkürlich über dieses kleine Genrebild gelacht das er durch eine drollige Darstellung des alten Poliers noch illustrirte, und er fuhr, dadurch aufgemuntert, nach kurzer Pause in seiner Erzählung fort:

„Die Kriegsräthin glaubte die fatale Angelegenheit damit aus der Welt geschafft zu haben, während Eduard in der Sache anders dachte; seine Mutter spielte alle Abende L’Hombre, und so hatte mein schöner Vetter nichts zu fürchten und holte alle Abende heimlich seine kleine Näherin ab. Vielleicht trifft das arme Mädchen hier ein Vorwurf, aber was wollte sie schließlich gegen den zauberhaften bläulichen Schimmer machen, nachdem ihr das Verständniß dafür aufgegangen war? Sie liebte Eduard, und Gott weiß, was er ihr Alles versprochen haben mag! Ich habe es nie herausbringen können; sie sprach nie davon, obgleich ich der Vertraute war. Ob meine Tante Kenntniß von dem Verhältnisse hatte, kann ich ebenfalls nicht entscheiden; aber ich glaube es. Eduard zeigte sich oft genug mit ihr, daß sie es wohl durch irgend eine gute Freundin erfahren haben konnte. Sie war aber eine Frau von Welt; ihr Sohn war jung und schön – warum sollte er nicht eine kleine Liaison haben? Ihretwegen! Nur keine Dummheiten … nur nichts Ernstliches!“

„Und das Verhältniß blieb immer ein oberflächliches?“ fragte ich; „es kam nie auf einen Punkt, wo es ernst werden konnte?“

„Es war ein paar Male daran, verteufelt ernst zu werden,“ antwortete mein Freund, „und ich will nur das eine Mal erwähnen. Das junge Mädchen besaß ein tiefes Gemüth, und von dem Augenblicke, wo sie ihm ihr Herz geschenkt hatte, hing sie an Eduard mit ganzer Seele und konnte nicht begreifen, daß er alle Augenblicke Zweifel hatte, Zweifel, wie sie nur die Eifersucht zu haben vermag. Sie wissen, was die Eifersucht bei den Männern ist, – Eitelkeit! Bei meinem Vetter war sie unter allen Umständen nichts Anderes als das. Er glaubte genug gethan, sich genug bloßgestellt zu haben, um dafür das Recht zu besitzen, die Kleine zu tyrannisiren. Sie sollte Niemanden mit einem Blicke ansehen, Niemanden; sie sollte keinen Unsinn reden; sie sollte nicht fortwährend aufspringen, sondern still sitzen; sie sollte nicht solche dummen Fragen machen; sie sollte nicht ausgeschnittene Kleider tragen; sie sollte nicht lachen, nicht so viel lachen. Du lieber Gott! wenn Sie mit angesehen hätten, was das arme kleine Ding Alles nicht sollte! Es war vollständig in Frage gestellt, ob sie noch leben konnte, wenn sie das Alles unterlassen hätte, was ihr hoher Herr ihr verbot.

Eines Tages gab Eduard ein kleines Souper in seiner eigenen Wohnung. Er war jetzt selbstständig und hatte sich sehr hübsch eingerichtet. Es waren nur Freunde und Freundinnen[1] geladen, darunter ein anderer Vetter von außerhalb, ein närrischer kleiner Kauz, der so drolligen Unsinn sprach und so ernst dabei aussah, und eine wahre Force hatte, alle Leute zum Lachen zu bringen. Die arme Emma! Wie sie gekämpft haben mag; wie ihr die Lippen weh gethan haben mögen, auf die sie so fest mit ihren weißen Zähnen gebissen hatte, bis es nicht mehr ging, bis sie losplatzte und dann allerdings in ein unbändiges Gelächter ausbrach. Der hohe Herr richtete seine großen, etwas hervorstehenden Augen zürnend auf sie in der Meinung, sie damit zu Boden drücken und zur Ruhe bringen zu müssen. Wenn er gewußt hätte, wie komisch er dabei aussah, würde er es nicht für ein solches Verbrechen gehalten haben, daß sie ihm hell auf in’s Gesicht lachte. Es entwickelte sich eine Scene, welche beinahe so lieblich war, wie die heute mit angehörte. Der schöne Mann wurde grob gegen das arme Mädchen, fast roh. Sie erhob sich, in der entschiedenen Absicht zu gehen; er machte keine Miene, sie zu halten. Der Vetter von außerhalb, welcher der eigentliche Schuldige war, half durch einen glücklichen Scherz über die Situation hinweg. Emma blieb, und der hohe Herr, der wohl sein Unrecht etwas einsehen mochte, versuchte es wieder gut zu machen. Er wurde liebenswürdig gegen die Kleine; sie blieb artig, aber kalt. Sie interessirte mich an diesem Abend doppelt; ich beobachtete sie genau, und ich weiß nicht, was den Glauben in mir hervorrief, daß sie irgend etwas unternehmen würde. Ich machte meinen schönen Vetter darauf aufmerksam; er zuckte mit den Achseln.

Ob an jenem Abende noch etwas Anderes geschehen war, was ich nicht Gelegenheit hatte zu beobachten, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich mich nicht getäuscht hatte, daß das junge Mädchen in der darauf folgenden Nacht wirklich etwas unternahm. Sie führte die kleine Scene mit dem Kohlentopfe aus, die damals in allen französischen Romanen spielte. Nur hatte die Uebersetzung in’s Deutsche den Kohlentopf in einen kleinen eisernen Ofen verwandelt. Emma’s Wirthin (der alte Polier war vor einem Jahre gestorben, und das arme Kind lebte nun unter fremden Leuten) holte den schönen Mann vor Tagesanbruch aus dem Bette, und er soll sehr erschreckt und bleich ausgesehen haben, als er eine halbe Stunde später an das kleine Lager trat, auf welchem sein Opfer noch immer leblos lag. Die Wirthin erzählte mir zwei Tage darauf, als ich die Kranke besuchte und sie so blaß aussah und so wehmüthig lächelte, einen kleinen Vorgang, der auch wohl der Erwähnung werth ist.

Der alte Doctor, welcher sechs Stunden gearbeitet hatte, ehe es ihm gelang, das junge Leben zurückzurufen, mochte wohl durch die Anwesenheit des schönen Mannes und seinen aufrichtigen Schmerz einen richtigen Einblick in die Sache bekommen haben. Er wandte sich vor dem Gehen zu Eduard und ergriff dessen Hand mit den Worten: ‚Ich bin ein alter Mann und habe als Arzt zuweilen das Recht, in Privatverhältnisse hineinzureden, die nicht vor mir verborgen bleiben konnten. In diesem Falle wird das Recht zu einer Pflicht, die ich hiermit erfülle. Wenn man die Liebe eines braven Mädchens in diesem Maße besitzt, junger Mann, so hüte man sich, etwas zu thun, was einen so traurigen Entschluß hervorbringen kann. Wenn man es aber gethan hat, vielleicht weil man in dem Maße nicht an diese Liebe glaubte, so erkennt man seinen Fehler, wenn man ein Mann von Ehre ist!‘“

[695]

Ueberall Löcher im Kirchengut – da thut’s halt kein Flicken mehr!
Originalzeichnung von Ed. Grützner.


„Und was antwortete Eduard Sandow?“ fragte ich den Erzähler, der, den Kopf langsam wiegend, nachdenkend vor sich hinschaute.

„Nichts, wie mir die Wirthin sagte. Er ließ seine rechte Hand ruhig in der des Doctors, sah starr auf den kleinen eisernen Ofen, strich sich mit der linken seinen glänzend schwarzen Backenbart und antwortete nichts. Der alte Doctor trat noch einmal an das Bett der Kranken, sah, daß sie ruhig schlief, und verließ mit einem leichten Achselzucken das Zimmer.“

(Fortsetzung folgt.)
[696]
Heinrich der Vogelsteller.
Harzer Herbstskizze.
(Schluß.)


„Aber ich will auch Häher und Spechte haben,“ sagte der Alte, und alsbald mischten sich in die Monotonie des Eulenrufes andere Vogelstimmen, die der Alte täuschend nachzuahmen wußte und die abermals manch Vöglein auf den Leim führten; nur die Spechte hielten sich fern, und doch hatte sich unser Führer darauf gesteift, uns gerade durch das prachtvolle Gefieder der Bunt- und Grünspechte zu ergötzen. Aber diese schienen nicht Lust zu haben, dem Locke zu folgen. Waren sie früher schon einmal in Gefahr gerathen oder war der Lock doch nicht verführerisch genug, es strichen vier bis fünf Spechte mehrmals über den Baum hinweg, ohne sich zu setzen. Der Alte wurde eifrig; er begann eine neue Verführungsmethode; er gab ein Duett zum Besten, den Zank einer Eule mit einem Specht darstellend. Erst Eulenruf, dann einfaches Spechtgeschrei mit kleinen Pausen, dann auf einmal ein mehr gellender Eulenschrei, aber gleichzeitig auch ein wilderer, rascherer Aufschrei des Spechtes, als hätte Eins dem Andern ein Leid gethan; nun unablässig der Schrei des Spechtes und der Eule durcheinander, bald lauter, triumphirender von der einen und matter, klagender von der andern Seite, bald umgekehrt, als hätte der Kampf eine andere Wendung genommen. Es war eine wirklich kunstvoll durchgeführte Darstellung eines mit wechselndem Glück geführten Kampfes. Ueberraschend war auch die Wirkung nach außen; die fünf Spechte hemmten den Flug; sie ließen sich auf den benachbarten Bäumen nieder, augenscheinlich den Stimmen mit großer Spannung lauschend. Jetzt auf einmal schien die Eule im Vortheil zu sein. Ihr Pfeifen klang siegreich; die Stimme des Spechtes wurde ein klägliches, langgezogenes Gekrächz wie ein verzweifelter Hülferuf. Mit einem Male erhoben sich auch die Spechte und flatterten einige Zweige näher zur Bucht; aber ebenso rasch, fast ängstlich, flatterten sie auch wieder zurück, als hätten sie die Lust, nicht aber den Muth, dem bedrängten Gefährten zu helfen.

Die List des alten Vogelstellers war vergebens gewesen. Er änderte nun seine Methode. Das Kriegsglück schien sich in der Bucht zu wenden, der Specht allmählich die Ueberhand zu gewinnen und seinen spitzen Schnabel in den Körper des Gegners zu bohren, denn auf einmal war das Pfeifen der Eule ein so schmerzliches, das Geschrei des Spechtes aber ein so lautes, keckes, hochmüthiges, daß man deutlich hier den Sieg, dort die Niederlage daraus erkannte; und die letztere ward immer vollständiger, denn das Pfeifen wurde schmerzlicher, schwächer, hinsterbend und das Triumphgeschrei des Spechtes immer heller, sicherer. Was der Hülferuf vorher nicht bewirkt hatte, das geschah jetzt. Am Kampfe theilzunehmen war weniger verlockend als theilzunehmen am Siege. Rasch und entschlossen senkte sich ein prächtiger Buntspecht auf die Bucht nieder, auf eine der Leimruten nahe über der Eulenbucht. Er war gefangen, und das wäre auch wohl schon jetzt das Schicksal der übrigen gewesen; aber es tönten auf einmal Schritte und Stimmen durch den Wald. Drei Wanderer kamen gegangen, den Weg nach dem Hexentanzplatze zu erfragen, und der Fang war für einen Augenblick unterbrochen.

Dennoch war auch diese Unterbrechung nicht uninteressant, denn sie gab dem Onkel Heinrich Gelegenheit, den drei Wanderern einen Einblick in seine Kunst zu geben. Das gereichte ihm immer zur Befriedigung, hier aber um so mehr, als er später erfuhr, daß es zwei junge deutsche Fürstensöhne mit ihrem Gouverneur gewesen seien, die hier an seiner Eulenbucht gestanden und ihre Hüte mit seinen Goldhähnchen geschmückt hatten.

Nachdem sie ihren Weg fortgesetzt hatten, drang der unersättliche Vogelfänger entschieden auf Wiederbeginn des Fanges. Der lange Widerstand der Spechte hatte ihn gereizt; er wollte seinen Willen, er wollte mehr Spechte haben. Wir mußten uns fügen. Es war übrigens ein trefflicher Helfershelfer für ihn gewonnen: das war der gefangene Specht; der ward nun mit in die Bucht genommen und durch leichte Schläge an den Schnabel gereizt, seine Gefährten aus dem Walde herbeizurufen, wie der Alte es vorher selbst gethan hatte. Der Erfolg war ein erwünschter; innerhalb weniger Minuten saßen einige Spechte nebst mehreren Hähern auf dem Leime, und der Neuntödter war befriedigt; wir waren’s nicht minder, denn wie interessant und spannend auch einige Momente des Fanges sind, auf die Dauer mischt sich doch etwas Ermüdendes hinein, und es gehört die Passion des echten Vogelstellers dazu, tagelang dabei auszuharren.

Die Ausbeute, welche der Fang auf dem Busche und auf der Eulenbucht gegeben hatte, belief sich auf etwa hundert Vögel. Der Alte suchte einige der besten Singvögel heraus, die übrigen wurden für die Küche bestimmt. Von besonderm Werthe waren für ihn von dem ganzen Fange nur einige Finken und Dompfaffen; die Finken sind überhaupt die Lieblinge der Harzer Vogelsteller; sie finden jede Eigenthümlichkeit im Gesange, jede besondere Modulation heraus und haben dafür besondere Benennungen. Der Weida und der Vaxirr sind die am meisten geschätzten; sie haben diese Namen von den eigenthümlichen Gesangswendungen erhalten, mit denen sie ihre Läufe schließen und die sie auch in der Mitte des Gesanges häufig anbringen und wiederholen; beide haben eine Menge Unterabtheilungen, der Feinweida, der Reitervaxirr, der Spatzirr etc. Der Harzer Vogelsteller kennt in seiner Nachbarschaft die Stimmen der einzelnen Finken genau, und wenn er einen recht guten Weida oder Reitervaxirr ausgekundschaftet hat, so gelten alle seine Bemühungen und Fangvorrichtungen oft nur diesem; er ruht nicht, bis er ihn aus der Luft hernieder auf seinen Leim gelockt hat. Gute Finken werden auch theuer bezahlt, noch theurer die Dompfaffen, eine Finkenart, welche im Freien nicht zu singen pflegt, in der Gefangenschaft aber durch ausdauernde Bemühungen dahin gebracht wird, Melodien beliebter Lieder zu pfeifen. Ein solcher Dompfaff wird oft mit Louisd’ors bezahlt, während Singvögel wie Zeisige, Stieglitze und Finken geringeren Schlages für wenige Groschen, ja für einige Pfennige zu haben sind. Diejenigen Schläger freilich, die sich zu Lockvögeln eignen, giebt der Vogelsteller nur ungern weg.

Außer den beschriebenen Arten des Vogelfanges ist noch die auf dem Vogelherde zu erwähnen, die lohnendste und früher deshalb die gebräuchlichste. Jetzt wird sie nur ausnahmsweise gestattet und ist im Harze sehr selten geworden. Nur im Oberharze existiren noch einige Vogelherde.

Der Vogelherd ist ein dauernd zum Vogelfang bestimmter Platz im Walde oder doch am Waldrande, in einer Größe von zwanzig bis dreißig Fuß sorgfältig geebnet und von Strauchwerk und Büschen gereinigt. Seitwärts dieses Platzes werden unter dort angebrachten dichten Zweigen Vogelbauer mit Lockvögeln angebracht, der Platz selbst aber wird mit Sämereien aller Art, die den Vögeln als Leckerbissen gelten, mit Hanfsamen, Leinsamen, Rübsaat und dergleichen, reich bestreut und ebenso reich mit verführerischen schwarzen und rothen Beeren ausgestattet.

Auf beiden Seiten des Herdes ist ein die ganze Länge einfassendes Netz aufgerichtet, welches durch einen Zug mit einer Schnur gleichzeitig so zum Zuklappen gebracht wird, daß es den ganzen Herd bedeckt. Nahe dem Herde, durch Wald verdeckt, steht eine aus Zweigen oder Borke aufgeführte unscheinbare Hütte mit einer Oeffnung zum Ausschauen nach dem Herde und einer zweiten, durch welche die Schnur von den Netzen aus so gezogen ist, daß der Vogelsteller sie bequem zur Hand hat und sie in jedem Augenblicke, der ihm passend erscheint, anziehen und dadurch das Netz zum Zuschlagen bringen kann. Hier steht er nun regungslos und harrt des günstigen Augenblickes.

Die Lockvögel sind in Thätigkeit; die im Walde zerstreuten Vögel ziehen heran und füllen bereits die nahen Bäume, die zum Theil der Zweige beraubt sind, damit diese nicht den Vögeln hinderlich sind, nach dem unten für sie hergerichteten Speisesaale zu schauen. Um sie aber sicherer zu machen und damit der Platz nicht verdächtig erscheine, sind auf ihm noch einige Verführer, Läufer genannt, placirt, das sind Vögel, die, durch einen dünnen langen Faden festgehalten, allerdings nicht davonfliegen, aber doch sich hinreichend auf dem freien Platze bewegen können; sie spazieren scheinbar in voller Freiheit umher und lassen die reichlich verstreuten Körner sich vortrefflich schmecken.

[697] Dies reizt die von den Bäumen aus zuschauenden. Sie flattern herbei, an dem Mahle Theil zu nehmen; immer mehr sammeln sich, und der Vogelsteller hat nur zu prüfen, ob den Verhältnissen nach ein noch größerer Zuzug zu erwarten sei. Glaubt er das nicht, so zieht er seine Schnur; die Netze klappen zu, und bisweilen zappeln über hundert Gefangene unter den Maschen.

Meistentheils ist indeß die Zahl eine geringere, einige Dutzend oder bisweilen auch nur einige Stück; die Neigung der Vögel, auf den Herd zu gehen, ist nicht immer gleich; sie hängt von vielen Umständen ab, von der Witterung, von der Nähe anderer Herde, von der Stille im Walde, von ihrem eigenen geringeren oder größeren Hunger. Es kommt auch nicht selten vor, daß der Anflug ein recht guter und der Fang dennoch ein geringer ist, so namentlich, wenn der Vogelsteller außer der Zahl von Vögeln, die sich bereits auf dem Herde niedergelassen haben, auf den Bäumen ringsum noch andere bemerkt, die gleichfalls Neigung zeigen, sich jenen beizugesellen; da zögert er wohl, ehe er an der Leine ruckt, die das Netz zum Zuschlagen bringt; er zögert, denn er sieht durch sein Guckloch sehr wohl, daß die neuen Gäste schon von dem Gelüste beseelt sind, sich an den leckeren Beeren zu letzen; sie schauen mit den Aeuglein begierig darauf hinab; sie lüften die Flügelchen und flattern einige Fuß näher auf einen anderen Zweig; er sieht, in wenigen Augenblicken werden sie drunten bei den übrigen sitzen und schmausen; dann ist der Fang um so größer – da auf einmal scheint eine Panik unter die Schmausenden zu fahren. Ein wildes, blitzschnelles Auffahren vom Herde, nach allen Seiten hin, ein Flattern und Schweben – und die Menge, die noch eben den Herd bedeckte und durch ein rechtzeitiges Zuziehen der Schnur unrettbar der Gefangenschaft verfallen wäre, sie ist zerstoben, in alle Winde zerstreut; vielleicht der Schritt eines Wanderers, vielleicht das Brechen eines Astes im Walde, vielleicht hoch in der Luft, dem Menschenauge kaum erkennbar, ein Falk oder ein Geier hat sie aufgescheucht von dem verrätherischen Mahle, und der Vogelsteller schaut verblüfft hinterdrein und schilt mit sich selbst ob seiner thörichten Ungenügsamkeit, denn für den Tag ist der Fang, der so reichlich zu werden versprach, verdorben.

Die beste Zeit im Jahre für den Vogelfang ist der Herbst, wenn die wegziehenden Vögel, wie wir es schon bei dem Fange der Krammetsvögel erwähnten, sich in dichten Schaaren sammeln und auf ihrem Zuge in das Gebirge einfallen; demnächst der Frühling, wenn sie zurückkehren. In Schaaren von Hunderten und Tausenden ziehen die Finken, namentlich die Buchfinken, über das Gebirge in einträchtiger, friedlicher Genossenschaft, während sie sonst den gemeinsamen Verkehr mit ihres Gleichen nicht lieben; es wählt sich vielmehr im Frühjahr jeder Fink für sich und seine Gattin ein eigen Revier, in welchem er ein zweites Paar nicht duldet. Haben zwei Finken zufällig ein gleiches Revier für sich ausersehen oder kommt ein Fink in das Revier eines anderen, so pflegt ein erbitterter Kampf zu entstehen, der meist damit endet, daß beide sich in einander verbeißen und so mit den Zehen verstricken, daß sie nicht wieder auseinander können und zur Erde fallen, wo sie ein Raub der Füchse, Marder und Falken oder auch der Menschen werden. Auch noch eine andere Art des Streites ist ihnen eigen, ein Wettstreit im Gesange; man sagt, daß zwei Finken, deren Käfige neben einander hängen, so lange im Schlage mit einander wetteifern, bis der eine, die Ueberlegenheit des Nachbarn im Gesange anerkennend, verstummt und seine Stimme nicht wieder zum Gesange erhebt; nur ein zaghaftes kleinlautes Zwitschern wagt er fortan, zu einem frischen freudigen Schlage ermannt sich der einmal Besiegte nicht wieder.

Nächst den Finken bilden die zahlreichsten Triften der Zugvögel die Tannenmeisen, Schwanzmeisen, Blaumeisen und die übrigen Meisenarten, in manchen Jahren auch die schön rothgefleckten Seidenschwänze und wieder in anderen Jahren die Kreuzschnäbel, obwohl beide oft mehrere Jahre lang nur einzeln oder auch gar nicht vorkommen. Beim Kreuzschnabel scheint seine Anwesenheit davon abzuhängen, ob die Fichten reichlichen Samen tragen oder nicht.

„Es ist eigen mit ihnen,“ erzählte Onkel Heinrich, „ich habe oft Jahre hindurch nicht einen einzigen gefangen, ja, kaum gesehen. Einzelne kamen allerdings bisweilen im Sommer angeflogen, aber nur als Kundschafter für die übrigen, um auszuschauen, wie es mit dem Fichtensamen hier steht. War der nicht gerathen, so flogen sie alsbald wieder von dannen, und kein Kreuzschnabel ließ sich weiter blicken; war aber eine gute Fichtensamenernte in Aussicht, dann blieben die meisten hier, und nur einzelne flogen wieder als Boten hinweg, worauf denn dichte, zahllose Haufen herankamen, so dicht, daß sie wie schwarze Wolken über den Wald hinschwebten; dann ließen sie sich auch hier nieder und nisteten und brüteten mehrmals im Jahre und zwar schon im Januar in der strengsten Winterkälte. Sie gehören zu meinen Lieblingen, denn Farbe und Gesang sind vortrefflich; aber meine hölzernen Käfige genügen nicht für sie – die zerbeißen sie mit den kreuzweis übereinanderliegenden Schnabelspitzen; darum halte ich sie in Drahtbauern.“

Er war in der That mit einigen Drahtkäfigen, daneben aber mit einer Unzahl kleiner Holzkäfige versehen, die im Harze in Massen angefertigt und zu einem beispiellos billigen Preise verkauft werden. Je vierzehn Stück solcher Käfige werden zu einem Satz zusammengeschnürt. Jeder Käfig ist mit einem Gefäß zum Trinken und einem Kripplein für das Futter versehen, und solch ein Satz von vierzehn Stück kostet ungefähr einen Gulden. In diesen Käfigen werden nun die besseren Singvögel, welche in die Hand des Vogelstellers gerathen sind, in das Land hinausgeschickt; eine einzige Frau oder ein einziger Bursche transportirt mehrere Hundert solcher Käfige mit Vögeln auf seinem Rücken. Aber nicht blos über das deutsche Land erstreckt sich der Harzer Vogelhandel, sondern weit über die Grenzen hinaus und über das Meer hinweg. Rüstige, unternehmende Vogelsteller haben sich Absatz in Rußland und in Amerika gesucht und sind aus Vogelstellern Vogelhändler und steinreiche Leute geworden. Sie kaufen die gefiederten Sänger zu vielen Tausenden hier um ein Billiges, während in den Ländern, die sich nicht einer mit der schönen Kunst des Gesanges begabten Vogelwelt erfreuen, große Summen dafür gezahlt werden. Der bedeutendere Theil dieses Geschäfts erstreckt sich allerdings nicht über die auf Leimruthe oder Herd gefangenen, überhaupt nicht auf die in unseren Wäldern heimischen Vögel; mehr als diese sind es die hier nicht heimischen, aber mit Vorliebe und Sorgfalt gezüchteten Canarienvögel, die der Vogelhändler in jene gesangarmen Länder führt.

Am berühmtesten wegen seiner ausgezeichneten Canarienvogelzucht ist das hochgelegene Andreasberg, eine Bergstadt von etwa fünfhundert Häusern und dreitausendfünfhundert Einwohnern. Aber man darf nicht glauben, daß alle die Andreasberger Canarienvögel, welche im Lande feilgeboten werden, wirklich von diesem Orte stammen; es ist vielmehr fast kein Dorf im Harze, wo sich nicht gleichfalls Canarienhecken befinden, oft von gleicher Ausdehnung wie die in Andreasberg, oft der Zahl nach geringer, nicht aber von geringerer Güte. Die in den übrigen Harzorten gezüchteten Canarienhähne stehen im Gesange und im Wohllaut des Schlages mit denen von Andreasberg auf völlig gleicher Stufe. Sie unterscheiden sich von jenen nur durch einen mäßigeren Preis, denn dort wird das Renommée mitbezahlt.

Begreiflicher Weise war auch Onkel Heinrich ein tüchtiger Züchter dieses beliebten Sängers, aber er betrieb die Zucht nicht mehr; es fehlte ihm dazu Tags über die Zeit, die dieser Beschäftigung regelmäßig gewidmet werden muß. Denn wie einfach die Sache auch scheint, so erfordert sie doch große Aufmerksamkeit und unausgesetzte Sorgfalt und – ist wenig lohnend. Es ist mehr die Liebhaberei, die Lust an dieser Art der Beschäftigung, als die Aussicht auf einen namhaften Gewinn, was zum Züchten der Canarienvögel veranlaßt; die Liebhaberei aber ist im ganzen Harze eine allgemeine. Die meisten Handwerker, welche auf Stubenarbeit angewiesen sind, Schneider, Schuhmacher, Tischler etc. haben in ihren Werkstätten jeden freien Raum an den Wänden mit sehr großen geräumigen Vogelbauern ausgefüllt, in denen Vögel aller Altersstufen herumhüpfen, nisten, brüten, füttern, zwitschern und schlagen; die Sorge für ihre Nahrung, Reinlichkeit, Gesundheit und sonstige Erfordernisse bildet die Erholung des Handwerkers, seine Freude und seine Lust. Die Arbeiter aber, die draußen hantieren müssen, die Wegearbeiter, die Holzfäller, die Köhler, die Fischer etc., sie finden weniger Geschmack am Stubenhocken und der mühsamen Zucht der Vögel; sie sind es hauptsächlich, die da draußen im Walde die Ruthen und Netze stellen und ihre Freude mehr an den wilden Singvöglein [698] haben und die den Schlag eines guten Finken oder den melodischen Ruf der Drossel ungleich höher schätzen als die Tiraden der besten Canarienschläger.

Deshalb hatte Onkel Heinrich auch die Zucht aufgegeben, „aber den Fang laß ich nicht! ohne den könnt’ ich nicht dauern, ohne den hätt’ ich am Leben keine Freud’ mehr. Wenn ich im Herbste nicht mehr hinausziehen sollt’ in den gelben Wald und könnt’ nicht mehr mit meinen Vögeln plaudern und sollte die schönen Finken und Stieglitze und die runden Amseln alle vorüberziehen lassen in die Ferne, wo fremde wilde Völker sie todtschlagen, dann wär’s vorbei mit mir. Dann mögen sie mich nur einscharren drüben am Berghange, wo – Ihr wißt es ja selbst – so Viele schlummern, die uns lieb gewesen; dort mögen sie ein Bäumchen auf meinen Hügel pflanzen; denn das möcht’ ich wohl, daß dort ein Paar Vöglein nisteten und ein Fink sein liebliches ‚Weida‘ über mein Grab erklingen ließe.“
L.     


Von der Abstammungslehre.

1. Naturphilosophische Begründung der Schöpfungsgeschichte.

     „Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie
und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft;
alle wahre Wissenschaft ist Naturphilosophie.“
 (Häckel.)

Jeder nur halbwegs Gebildete weiß oder sollte doch wissen, daß es im Himmel und auf Erden ganz anders zugeht, als unsere Vorfahren glaubten. Dieser Glaube, der nichts als kindlicher Aberglaube war, läßt sich nun bei unseren Vorfahren dadurch entschuldigen, daß diesen die den Naturerscheinungen zu Grunde liegenden Gesetze noch vollständig unbekannt waren. Wenn aber in der Jetztzeit jener Aberglaube, wie dies leider der Fall ist, noch im Volke herrscht, so ist dies eine Schande für die Volksbildung. Leider bildeten früher und bilden auch jetzt noch Unwissenheit und Aberglaube die Grundlage, auf welcher sich die meisten Menschen das Verständniß der Natur aufzubauen suchen, trotzdem daß es Männer der Wissenschaft (echte Naturphilosophen) genug giebt, welche den Aberglauben zu bekämpfen und Aufklärung zu verbreiten bestrebt sind. Wie früher, so sind es auch noch heutzutage herrschsüchtige Kasten, welche den Fortschritt in der Cultur der Menschheit aufzuhalten und jene Aufklärungsmänner in ihrem Wirken zu behindern suchen. Nur schade, daß man gegen letztere heutzutage die beliebten Beweismittel der strafenden Kirche, Tortur und Scheiterhaufen, nicht mehr anwenden kann.

Am hartnäckigsten hingen und hängen zur Zeit auch noch die meisten Menschen an dem Aberglauben fest, welcher sich mit den Schöpfungen auf unserer Erde beschäftigt und welcher von den unnatürlichsten, dem Menschenverstande geradezu Hohn sprechenden Erklärungen ganz natürlicher Vorgänge durchaus nicht ablassen will. So hält es zum Beispiel schwer, die alte mosaische Schöpfungsgeschichte, welche doch nur der Unwissenheit und dem Aberglauben ihre Entstehung verdankt, aus den Köpfen der meisten Menschen zu treiben, obschon die neuere oder natürliche Schöpfungsgeschichte, welche sich zur alten wie das Wissen zum Glauben verhält, auf die einfachste und natürlichste Weise die Entstehung aller lebenden und leblosen Dinge auf unserer Erde darlegt. Während sich die natürliche Schöpfungsgeschichte streng an die in der Natur herrschenden, unabänderlichen Gesetze hält, kümmert sich die mosaische sehr wenig um diese Gesetze und überläßt alles Schaffen dem Willen eines eigenmächtig handelnden Schöpfers.

Die mosaische Schöpfungslehre, welche auch als teleologische, vitalistische und dualistische bezeichnet wird, nimmt eine gleichzeitige Entstehung aller lebenden Wesen an und denkt sich diese als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer außerhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft, demnach als das Werk eines Schöpfers, der Alles zweckmäßig geschaffen und eingerichtet hat. Nach dieser Lehre sind alle Organismen (Pflanzen, Thiere und Menschen) selbstständig erschaffen und nicht etwa auf natürlichem Wege, sondern durch den Machtspruch eines Schöpfers.

Da durch die Erdkunde nach und nach an den Tag kam, daß die Bildung unserer Erdrinde verschiedene Perioden durchlaufen haben muß, und daß die Erdoberfläche einst mit lebenden Wesen, verschieden von den jetzigen, bevölkert war, so nahm man, im Einklange mit jenem mosaischen Schöpfungsglauben, an, daß die Erdoberfläche mehrere große und plötzlich auftretende Revolutionen (Sündfluthen) erlitten habe, welche sich über die ganze Erde ausdehnten und durch Naturkräfte bewirkt wurden, wie sie heutzutage nicht mehr vorkommen und von denen wir uns keine Vorstellung machen können. Bei diesen Revolutionen und Katastrophen, die mit plötzlichen Einbrüchen des festen Landes und mit Ueberschwemmungen desselben, sowie mit Erhebungen anderer Erdstriche verknüpft waren, gingen in Folge der allgemeinen Umwälzungen alle die gerade lebenden Wesen zu Grunde und ganz neue Thier- und Pflanzenarten wurden vom Schöpfer geschaffen, welche nun unverändert bis zu einer nachfolgenden Katastrophe existirten. Sonach mußte nach Beendigung jeder Katastrophe eine vollständig neue Schöpfung stattfinden, und jede Periode wurde mit einer durchaus neu geschaffenen Welt von lebenden Wesen bevölkert. Alle während dieses Zeitraums existirenden Pflanzen- und Thierarten blieben unveränderlich und stets so, wie sie einmal aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen waren.

Diese Schöpfungsgeschichte, welche nichts als eine aus Unkenntniß der Natur hervorgegangene willkürliche Dichtung ist, wurde schon durch Copernicus als der crasseste, unwissenschaftlichste Irrthum nachgewiesen; trotzdem hat sie sich aber doch bis zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als die allein herrschende und sogar bis auf den heutigen Tag in solchem Ansehen erhalten, daß sie sogar von sonst gebildeten und gelehrten Personen als eine durchaus göttliche Offenbarung und für unumstößlich anerkannt wird. Leider wird auch noch jetzt von den Meisten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthsel betrachtet und die Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten für ein Wunder gehalten. Uebrigens ist es nicht zu verwundern, daß die mosaische Schöpfungsgeschichte der natürlichen Schöpfungsgeschichte noch nicht den gehörigen Eingang in’s Volk gestattet hat, da sogar verdienstvolle Naturforscher noch in unserem Jahrhundert versucht haben, diese kindische Erzählung mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Selbst Linné (1707 n. Chr.), dieser große schwedische Naturforscher, der zuerst ein vollendetes System der Thier- und Pflanzenarten und ihrer Namen aufstellte, schloß sich der Schöpfungsgeschichte des Moses (welcher ungefähr um das Jahr 1480 v. Chr. lebte) noch an. Und selbst der berühmte Cuvier, welcher sich um die Versteinerungskunde die größten Verdienste erworben hat, war der eifrigste Vertheidiger der Erdrevolutionen und der damit zusammenhängenden Schöpfungstheorie.

Wie ganz anders verhält es sich dagegen bei der neueren sogenannten mechanischen, einheitlichen, causalen oder monistischen Schöpfungsansicht! Diese betrachtet nicht blos die Erde, sondern die ganze Welt als das Werk eines von Ewigkeit her und in Ewigkeit hin sich stets neuschaffenden Werdens und nicht als das Gebilde einer auf einmal fertig gemachten Schöpfung. Nach ihr sind alle organischen Wesen auf unserer Erde veränderliche Erzeugnisse der Natur, welche diese nach und nach in langen Zeitfolgen hervorgebracht hat. Diese mechanische Schöpfungsansicht leugnet das Eingreifen einer übernatürlichen, außerhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft und sieht Alles, die organischen (Organismen: Pflanzen, Thiere und Menschen) wie unorganischen Naturkörper (Wasser, Luft, Gestein, Erdboden), als die nothwendigen Producte natürlicher Kräfte, als die nothwendigen Wirkungen ewiger und unabänderlicher Naturgesetze an. Von plötzlichen, gleichzeitigen und allgemeinen Umwälzungen der Erdoberfläche kann, wie Lyell deutlich bewiesen hat, keine Rede sein. Nur ganz langsam und allmählich und nur über ein Stück der Erdoberfläche ausgedehnt, verliefen die Veränderungen derselben, so daß die Entwickelungsperioden ganz unmerklich ineinander übergingen. Ebenso fand eine gleichzeitige [699] Erneuerung der auf der Erde lebenden Organismen nicht statt, Pflanzen und Thiere änderten sich nur ganz allmählich; die verschiedenen Arten derselben existirten verschieden lange, verschwanden nach und nach und finden sich deshalb in mehreren Entwickelungsperioden. Nur ganz allmählich gehen die unorganischen und organischen Bestandtheile einer Erdrindenschicht in die andere über. Jedoch zeichnet sich eine jede Schicht vor der anderen in Etwas durch ihren unorganischen und organischen Gehalt aus, so daß man allerdings eine bestimmte Reihe aufeinander folgender Schichten (Perioden) unterscheiden kann. Niemals finden sich aber in einer dieser Schichten so ganz neue organische und unorganische Körper, daß diese von denen der vorhergehenden und nachfolgenden Periode vollständig verschieden wären.

Wie nun die verschiedenen Erdperioden in ihrem unorganischen Baue einen einzigen langsamen und ununterbrochenen Entwickelungsproceß darstellen, so ist dies auch mit den Organismen, welche auf der Oberfläche der verschiedenen Erdschichten lebten, der Fall, denn zwischen den früheren und späteren, den niederen und höheren Organismen bestehen die innigsten Beziehungen. So gleichen zum Beispiel Thiere einer Periode dem Jugendzustande derjenigen in der folgenden Periode, so daß letztere als die weitere Ausbildung der ersteren betrachtet werden können und daß man von dem Jugendzustande zur Zeit sich entwickelnder Thiere auf die Beschaffenheit von früher existirenden und ausgestorbenen Thieren schließen kann (nach dem sogen. Häckel’schen Biogenetischen Grundgesetze). Im Allgemeinen besteht zwischen niederen und höheren Organismen der gleichen Reihe das merkwürdige Verhalten, daß der höhere Organismus in seiner Entwickelungsgeschichte gewissermaßen die des niederen wiederholt, sich schließlich aber noch um einen Schritt weiter entwickelt.

Die Versteinerungslehre (Vorwesenkunde, Paläontologie), welche uns die im versteinerten Zustande erhaltenen Reste und Abdrücke von ausgestorbenen Thieren und Pflanzen in den verschiedenen Erdrindenschichten kennen lehrt, bestätigt die angegebene Weise der organischen Entwickelung. Denn die aufgefundenen Versteinerungen gehören ihrer Gestalt und ihrem Baue nach solchen Thieren und Pflanzen an, welche entweder die Urahnen und die Voreltern der jetzt lebenden Organismen sind, oder aber ausgestorbenen Seitenlinien, die sich von einem gemeinsamen Stamme mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt haben. Diese Lehre bestätigt ferner, daß zu allen Zeiten des organischen Lebens auf der Erde eine beständige Zunahme in der Vollkommenheit der organischen Bildung stattgefunden hat; seit Beginn des Lebens auf der Erdoberfläche haben sich alle Organismen im Ganzen wie im Einzelnen vervollkommnet und höher ausgebildet. Je tiefer man in die Schichten der Erde hinabsteigt, in welcher die Reste der ausgestorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter diese also sind, desto einförmiger, einfacher und unvollkommener sind ihre Gestalten. Und ebenso wie mit den Pflanzen und Thieren verhält es sich auch mit dem Menschen, der mit der Tiefe der Erdrinde fort und fort an Thier- (Affen-) ähnlichkeit zunimmt. Die Natur hat also offenbar in ihrem Gange stets mit der Bildung der einfachsten Organismen begonnen und diese allmählich vervollkommnet.

Uebrigens zeigt auch noch die Untersuchung der Erdschichten, daß zu keiner Zeit andere Kräfte auf die Umbildung der Erdrinde eingewirkt haben, als die jetzt noch thätigen. Es bedarf räthselhafter Revolutionen und Schöpfungsnachschübe zur Erklärung der Veränderungen, welche bis jetzt auf der Erdoberfläche mit dem Erdboden, den Pflanzen, Thieren und Menschen vor sich gegangen sind, gar nicht, da ganz ähnliche Vorgänge noch jetzt unter unseren Augen vor sich gehen. Hebungen und Senkungen des Erdbodens finden fortwährend jetzt noch statt, die Vertheilung von Wasser und Land an der Erdoberfläche befindet sich auch jetzt noch in ununterbrochenem Wechsel, Land und Meer streiten sich beständig um die Herrschaft.

In Anbetracht der von der Wissenschaft in der Erdrinde gemachten Funde, welche als handgreifliche Thatsachen das Licht der Wahrheit über die Vorgänge in der Natur verbreiten, sowie nach den an untergegangenen und noch existirenden Organismen gemachten Beobachtungen und nach der täglich wachsenden Menge von Thatsachen und Beweisen stellt sich nun als unumstößliche Ansicht über die Entstehung der Erdrindenschichten und der auf diesen einst und noch jetzt vorhandenen Organismen folgende Schöpfungstheorie heraus:

Alle Organismen, welche jemals auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, stammen von einer einzigen oder von wenigen höchst einfachen Urformen (Moneren, Plastiden, Zellen) ab, welche durch Selbstzeugung aus unorganischen Stoffen und elternlose oder Urzeugung entstanden sind, und haben sich aus diesen auf dem natürlichen Wege allmählicher Umbildung innerhalb ungeheuerer geologischer Zeiträume entwickelt. Als die mechanischen Ursachen der fortwährenden Formveränderungen der Organismen sind, natürlich stets unter Mithülfe des wichtigen Momentes, nämlich der Vererbung, anzusehen: die beständige Veränderung der Außenwelt in ihren unorganischen und organischen Verhältnissen (besonders auch die wechselnden Zustände der Atmosphäre in Bezug auf Wärme, Wasser, Kohlensäure etc.), die Anpassung durch Lebensweise, Bedürfnisse, Gewohnheit, Uebung, Gebrauch und Nichtgebrauch, vor Allem aber (nach Darwin) die natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein und die Ehe. (Ausführliches siehe in späteren Aufsätzen über Darwinismus und Gartenlaube Jahrgang 1872, S. 42 und 58.)

Dieser neueren, natürlichen oder mechanischen Schöpfungslehre, welche den innern, gesetzmäßigen Zusammenhang aller Lebensformen und die allmähliche Auseinanderentwickelung derselben klar darlegt, wurde der Name „Descendenztheorie oder Abstammungslehre, Transmutationstheorie oder Umbildungslehre“ gegeben und die Männer der Wissenschaft, zu denen alle auf der Höhe der Zeit stehenden neueren Naturforscher und echten Naturphilosophen gehören, bezeichnen dieselbe als „die großartigste Eroberung und den höchsten Triumph des menschlichen Geistes, sowie als den glänzendsten Sieg über das blinde Vorurtheil“. Sie kommen in dem Wunsche überein, daß diese wahre Erkenntniß der allgemeinsten Naturgesetze Gemeingut der ganzen Menschheit werde. Und sie wird es sicherlich und zwar in ziemlich kurzer Zeit werden, wenn auch orthodoxe Theologen, naturunkundige Philosophen und sogenannte gebildete Laien mit ihrem lächerlichen sogenannten gesunden Menschenverstande und ihrem Herrn-der-Schöpfungs-Dünkel sich dagegen ereifern. Von wissenschaftlichen Gegnern der Abstammungslehre, welche zur Abgabe eines Urtheils über diese Lehre befähigt wären, kann heutzutage gar keine Rede mehr sein. Allen sogenannten Gegnern derselben, die aber (wie die Phrenologen und Spiritisten) von der Wissenschaft ganz unbeachtet bleiben, geht der erforderliche Grad von echter naturphilosophischer Bildung ab und die Einwürfe der meisten sollten dem Kinderspotte anheimfallen. – Wie sich aber schon in wenigen Jahren die Ansichten über die Entwickelungslehre geändert haben, ersieht man recht deutlich daraus, daß, als Häckel im Jahre 1863 in einer deutschen Naturforscher-Versammlung zu Stettin einen Vortrag über die Entwickelungstheorie hielt, man diese Theorie als „eine unbewiesene Hypothese, einen geistreichen Traum, einen leeren Schwindel und ein bodenloses Phantasiegebäude, welches mit der Tischrückerei und dem Od in ein und dasselbe Gebiet gehöre“, bezeichnete. Man wünschte, daß diese Lehre als unwissenschaftlicher Gegenstand von der ernsten wissenschaftlichen Discussion ausgeschlossen würde.

Und jetzt? Die „unbewiesene Hypothese“ hat sich zu einer unumstößlich begründeten Theorie emporgebildet; der „geistreiche Traum“ hat sich als sonnenklare Wahrheit herausgestellt; der „leere Schwindel“ des „bodenlosen Phantasiegebäudes“ hat zum Verständniß der wichtigsten Erscheinungen im organischen Reiche geführt. Ja, kein einziger Gegner der Entwickelungstheorie ist im Stande gewesen, irgend einen erheblichen Grund gegen diese Theorie vorzubringen, und sehr treffend sagt Huxley, daß die allermeisten gegen Darwin veröffentlichten Schriften das Papier nicht werth sind, auf dem sie geschrieben wurden. Deshalb ist es aber für einen gebildeten Menschen geradezu eine Schande, die Abstammungslehre (auch schlechthin „Darwinismus“ genannt) nicht genau zu kennen oder wohl gar, wie dies so oft vorkommt, ohne genaue Kenntniß derselben sich als Gegner derselben zu erklären.

Bock.
(Schluß folgt.)
[700]
Wie Zwerge Riesenarbeiten verrichten.

Master C. C. Tilghman aus Philadelphia, Oberst oder gar General im großen amerikanischen Bürgerkriege, hatte während desselben Gelegenheit, eine seltsame Entdeckung zu machen. Auf vorgeschobenem Posten – oder war es bei einem Recognoscirungsstreifzuge? – gelangte er an ein einsam stehendes Gehöft, durch dessen Fenster er nicht in das Innere der Gebäude schauen konnte, weil die Scheiben ganz und gar mattgeschliffen waren. Sich auf solche Weise gegen die zudringlichen Blicke der Vorübergehenden zu schützen, ist nun wohl üblich in belebten Straßen der Großstädte, aber hier in der Einsamkeit schien ihm diese Maßnahme sehr überflüssig, mithin sonderbar, ja Verdacht erweckend, und er that wohl nicht mehr als seine Pflicht, indem er über die Beweggründe dieser ängstlichen Verschanzung gegen die Neugier der Vögel und Verirrten – denn sonst kam Niemand hier vorüber – Erkundigungen einzog. Man erwiderte ihm, dieses schnelle Erblinden der Fenster sei leider eine Ortscalamität, jede neueingesetzte Scheibe verliere in kürzester Frist ihre Durchsichtigkeit und Klarheit. Eine Zeitlang in dieser Gegend verweilend, hatte Tilghman Gelegenheit, die Ursache dieser Eigenthümlichkeit zu ergründen und fand sie in einem scharfen Winde, der den feinen Quarzsand eines benachbarten kahlen Hügels immerfort gegen die Scheiben trieb. Ein europäischer Ingenieurofficier hätte sich bei dieser Beobachtung wahrscheinlich gefragt, ob man von dieser Wirkung des aufgewirbelten Sandes im Kriegswesen Nutzen ziehen könne, etwa um die Fenster der Casernen blind zu schießen oder dem Feinde sonst Sand in die Augen zu streuen. Wenn er keine brauchbare Verwendung für das Kriegsfach gefunden, würde er die Beobachtung als Curiosität seinen Cameraden erzählt und in seiner Gedächtnißrumpelkammer begraben haben.

Nicht so unser Amerikaner mit seinem auf das Praktische gerichteten Sinne. General Tilghman war, nachdem er sein Vaterland vertheidigt und der Krieg beendigt war, wie vorher Bürger und sann immerfort darüber nach, ob man von dem Schleifvermögen des durch Luft bewegten Sandes nicht irgend einen Nutzen für die Gewerbe ziehen könne. Indessen gingen doch Jahre darüber hin, ehe er einen praktischen Versuch machte. Endlich stellte er eine einfache Maschine zusammen, in welcher durch ein gewöhnliches Ventilatorrad ein scharfer Luftstrom erzeugt ward, der einen Strahl von hineingeschüttetem feinem Sande in ansehnlicher Geschwindigkeit mit sich fortreißt und durch die Mündung einer engen Röhre hervortreibt. Eine Glasscheibe, die man vor der Oeffnung hin- und herbewegte, war in wenigen Secunden mattgeschliffen, wie die Fenster der einsamen Farm.

So hat man mir die Erfindungsgeschichte des Tilghman’schen Sandgebläses erzählt, welches auf der Wiener Weltausstellung dicht neben dem westlichen Portale der Maschinenhalle in Thätigkeit ist und für die Besucher einen der Hauptmagnete derselben bildet.

Die Abänderungen und Verbesserungen, welche diese Erfindung seit ihrer etwas über dreijährigen Existenz erhalten, sind nicht wesentlich und beschränken sich nur auf eine Vermehrung der Geschwindigkeit des bewegten Sandes und sonstige Verbesserungen der winderzeugenden Maschine, respective auf einen Ersatz der treibenden Luft durch Wasserdampf; außerordentlich groß dagegen und wahrhaft Erstaunen erweckend ist die Vielseitigkeit der Anwendungen, in denen sich die Nutzbarkeit des Sandstromes bereits bewährt hat. Die schnelle Herstellung matt geschliffener Glastafeln jeder Größe erscheint als eine ganz verwerthbare Leistung, besonders wenn man erfährt, daß eine der dort aufgestellten zwei unscheinbaren Maschinen täglich zwanzigtausend Quadratfuß matt geschliffenes Glas liefern könnte, aber die Anwendung desselben ist am Ende zu beschränkt, um dieser Arbeit einen bedeutenden Werth beizumessen. Die Bedeutung der Erfindung stieg indessen sofort erheblich, als Tilghman bemerkte, daß die abreibende Thätigkeit des bewegten Sandes bei allen harten und spröden Stoffen in ihre volle Wirksamkeit tritt, weichere Gegenstände dagegen, die dem Anprall der feinen Sandkörner nachgeben, viel weniger angreift. Es lag also nahe, aus letzteren Stoffen Schablonen zu verfertigen, mit denen man die Oberfläche des zu schleifenden spröden Stoffes bedeckt, um auf diese Weise Zeichnungen und Muster in denselben einzuschleifen. Bedeckt man eine Glastafel, während sie dem Sandgebläse ausgesetzt wird, mit einem Papierblatt, in welches Figuren geschnitten sind, mit einem Stück Tüll oder einem zarten Spitzenmuster, so sind nach wenigen Secunden die betreffenden Figuren, die zierlichsten Arabesken und Zeichnungen in sauberster Ausführung durchsichtig auf mattem Grunde eingeschliffen. Besonders schön erscheint derartige Arbeit auf sogenanntem Ueberfangglase. Eine dünne Schicht farbigen Glases bedeckt bei demselben die farblose oder andersfarbige Unterlage und wird an den nicht von der Schablone bedeckten Stellen durch den Sandstrahl wegradirt, so daß jetzt die Zeichnung farbig auf weißem Grunde erscheint. Bei der Leichtigkeit, mit welcher sich auf diesem Wege die prächtigsten gemusterten Scheiben erzeugen lassen, ist anzunehmen, daß sie für den Fensterschmuck von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden eine vielseitige Anwendung erfahren werden, wobei durch Verbindung verschiedenfarbiger Gläser Decorationsscheiben von brillantester Wirkung erzielt werden können.

Früher mußte man, um solche Zeichnungen zu erzeugen, die Glasplatte mit einem fettigen Aetzgrund bedecken, in denselben das Muster mit dem Griffel einzeichnen und dann mit Flußspathsäure einätzen, oder aber dasselbe aus freier Hand einschleifen, was mindestens die zehnfache Arbeitszeit erforderte. Jetzt kann der Arbeiter seinen ganzen Fleiß auf den Entwurf geschmackvoller Muster und die Herstellung der Schablonen verwenden, von denen jede eine fünf- bis zehnmalige Benutzung gestattet und die man ja dann auf mechanischem Wege vervielfältigen kann. Gleichviel, ob es die Herstellung des complicirtesten oder eines ganz einfachen Musters gilt, ist die kleine Maschine im Stande, fünfzehntausend Quadratfuß gemustertes Glas in einem Tage zu liefern. Es bedarf nur einer kleinen Abänderung an dem Ausflußrohre, um mit demselben Sandgebläse auch krumme Flächen, z. B. die von Lampenglocken, Flaschen und Gläsern mit derartigen Zeichnungen und Mustern zu versehen.

Weitere Versuche haben gezeigt, daß sich mit Hülfe der Photographie Copien von Kupfer- und Stahlstichen, Holzschnitten etc. in das Glas einschleifen lassen, wenn man die Lichtcopie in einer auf der Glasplatte ausgebreiteten dünnen Schicht Chromleim (einer Mischung von Gelatine und chromsaurem Kali) erzeugt und hierauf das Sandgebläse wirken läßt. Verfasser sah auf diesem Wege erzeugte Copien großer Holzschnitte der Doré-Bibel mit allen Feinheiten des Originals in Glastafeln geschliffen, die, auf dunklen Grund gelegt, ganz wie ein wirklicher Holzschnitt erscheinen. Während es sich aber hierbei nur um die Reproduction von Linienzeichnungen handelt, bei denen die Schatten durch Stärke und Dichtigkeit der Linien hervorgebracht werden, konnten auch Photographien nach der Natur, in Chromleim ausgeführt, bei sorgfältiger Regulirung des Sandstromes in Glas eingeschliffen werden, da der Sandstrom durch das an den Licht- und Schattenstellen verschiedene Stärke besitzende Gelatinehäutchen mit ungleicher Kraft hindurchwirkt und die Halbtöne, genau dem photographischen Bilde entsprechend, wiedergiebt. Durch angemessene Fortsetzung dieses Gravirverfahrens und Hinzunahme des galvanoplastischen Copirprocesses ist es auf diesem Wege gelungen, Druckplatten nach Art der gewöhnlichen Kupferdruckplatten aus photographischen Bildern zu erzeugen.

Man darf nicht glauben, daß die Gewalt des Luftstromes eine sehr bedeutende sein müsse, um dem Sande diese Wirksamkeit mitzutheilen. Ein Sandstrom, dessen Kraft einem Wasserdrucke von hundert Millimeter (vier Zoll) Höhe entspricht, genügt, um in zehn Secunden die Mattirung von Glas zu vollbringen. Ebenso leicht und schnell können Silberplatten matt angehaucht und mit den zierlichsten Ornamenten bedeckt werden. Metallgegenstände aller Art können mit seiner Hülfe geätzt, ihre Oberfläche gekörnt oder damascenirt, Uhrgehäuse oder Gefäße mit den zartesten Gravirungen versehen werden. Bei Anwendung stärkern Druckes, den man am leichtesten erzielt, wenn statt des Luftstromes ein Wasserdampfstrahl angewendet wird, sind die Wirkungen natürlich ungleich tiefergehend. Ein Sandgebläse, dessen Kraft immer noch weniger als eine Pferdekraft beträgt, durchbohrt in [701] wenigen Minuten zolldicke Glas- und Steinplatten; es verwandelt dieselben, wenn sie mit einer entsprechenden Schablone bedeckt und vor dem Sandstrahle hin- und herbewegt werden, in zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten in ein aus den zierlichsten Arabesken gebildetes Gitterwerk, wie man es irgend mit der Laubsäge aus dünnem Cigarrenkistenholze schneiden könnte. Und auch hier gilt wiederum, daß die complicirteste Zeichnung in derselben Zeit und mit derselben Arbeitskraft durch die Platte gebrochen wird wie die einfachste. Was nur immer die kunstreiche Hand eines Konewka mit der Scheere aus Papier schneiden konnte, kann hier ohne die geringste Gefahr des Zerbrechens auch aus Glas geschnitten werden. Im Franklin-Institut zu Philadelphia wurde im vergangenen Jahre eine Glastafel vorgelegt, welche dadurch, daß man sie, mit einem feinen Drahtgeflechte bedeckt, dem Sandgebläse ausgesetzt hatte, in ein feines Sieb verwandelt war, dessen linienweite Oeffnungen drei Viertel Linien Abstand besaßen. Ein solches Glassieb zu bohren, würde, wenn die Arbeit überhaupt glückte, wochenlange Bemühung voraussetzen.

Besonders wichtig verspricht die neue Arbeitsmaschine für die Steinmetzkunst zur Erzeugung von Ornamenten, Inschriften etc. zu werden, da sich jede beliebige Härte des Steins durch verstärkte Kraft des Gebläses besiegen läßt. Als Schablonenmaterial haben sich hierbei am besten Guttapercha und Kautschuk bewährt. Eine aus vulcanisirtem Kautschuk gefertigte Schablone von ein Sechszehntel Zoll Dicke erlaubte, einem Dampfsandgebläse von fünfzig Pfund Druck ausgesetzt, fünfzehn Marmorplatten ein Viertel Zoll tief abzuschleifen, ohne selber merklich gelitten zu haben. Von dem Steine war mithin die zweihundertfache Dicke der Kautschukplatte weggeätzt, ohne daß diese unbrauchbar geworden wäre. Sonst kann man sich auch für die rohere Steinarbeit aus Schmiede- oder Gußeisen gefertigter Patronen bedienen, die aber viel schneller abgenutzt werden. Eine ein Fünftel Zoll dicke gußeiserne Schablone diente dabei für hundert ein Fünftel Zoll tiefe Schleifarbeiten in Marmor, worauf sie bis ein Fünfzehntel Zoll Dicke abgenutzt war. Schmiedeeiserne Patronen besitzen, beiläufig erwähnt, eine vier Mal so große Widerstandsfähigkeit. Welche Erleichterungen hiermit für die Steinmetzarbeiten gegeben sind, liegt auf der Hand. Nicht nur daß aus Marmor- oder Alabasterplatten die prächtigsten Ornamente geschnitten oder Inschriften in erhabener und vertiefter Form in kürzester Zeit gearbeitet werden können, auch die gröbere Steinarbeit für Balustraden und alle Arten von steinernen Brücken- und Balcongeländern kann hierdurch geleistet und dabei eine Zierlichkeit der Arabesken erreicht werden, wie wir sie bisher nur an gegossenem oder geschmiedetem Metallgitterwerk zu sehen gewöhnt waren. Wenn es bei dieser Arbeit gilt, größere Massen zu entfernen, so läßt man den Sandstrahl nicht auf die ganze Fläche wirken, sondern umschreibt damit nur den Umriß der zu entfernenden Masse und schlägt, wenn die Umfassungsrinne die erforderliche Tiefe erlangt hat, die mittlere Substanz mit dem Hammer heraus. Um derartige schmale und tiefe Einschnitte hervorzubringen, muß der zu bearbeitende Gegenstand der verschmälerten Ausströmungsöffnung stark genähert werden, während man den Strahl sonst auf zehn bis fünfzehn Zoll Entfernung wirken läßt, wenn es gilt, größere Flächen zu bearbeiten. Bei Anwendung stärkeren Dampfdruckes ist die Ausflußröhre selbst einer sehr schnellen Zerstörung unterworfen; sie dauert, aus geschrecktem Eisen gefertigt, bei einem Dampfdrucke von sechszig bis einhundertzwanzig Pfund, wie man ihn für die letzterwähnten Arbeiten gebraucht, nur zehn Arbeitsstunden und muß dann durch eine neue ersetzt werden. In diese Eisenröhre, der man drei Achtel Zoll Bohrweite giebt, wird der Sand durch eine ein Achtel Zoll weite Centralröhre eingeführt und von hier aus durch die ungestüme Gewalt des rings um deren Mündung strömenden Dampfes mit fortgerissen.

Ungleich dem Guß- und Schmiedeeisen, wird Stahl wegen seiner Sprödigkeit wiederum sehr leicht von dem Sandstrahle angegriffen, und dicke Platten desselben sind in wenigen Minuten durchbohrt. Das Sandgebläse ist daher auch im Stande, bei der so schwierigen Herstellung von Stahlstempeln die gröbere Vorarbeit zu vollbringen, und eben dieselbe kann es bei andern graphischen Künsten, wie zum Beispiel bei der Lithographie und selbst beim Holzschnitt, übernehmen. Platten für Formulare und gröbere Illustrationen können auf Stein im Nu geätzt werden, für feinere Arbeiten muß die Hand dem Schnitte die erforderliche Vollendung geben.

Alle diese bisher beschriebenen Wirkungen des Sandgebläses lassen sich ohne Weiteres verstehen. Die einzelnen, kaum fühlbaren Quarzstückchen des feinen Sandes sind immerhin hart genug, um Marmor, Stahl und Glas zu ritzen, und wenn der Anprall jedes einzelnen Körnchens auch nur eine ganz unmerkliche Spur zurückläßt, so schlagen doch in jeder Secunde Hunderte und Tausende derselben auf den nämlichen Punkt und den „vereinten Kräften“ gelingt das Unglaubliche spielend. Wenn irgendwo, so kann man hier die Macht des Kleinen sehen, wie sie zu mächtigen Wirkungen durch unablässige Wiederholung anschwillt, wie Zwerge Riesenarbeit verrichten können. Die alte Lehre des Ovid, daß der Tropfen den Stein höhlt „non vi, sed saepe cadendo“, nicht durch Gewalt, sondern durch beharrliches Ausschlagen, scheint eigens zur Devise unserer Maschine bestimmt zu sein. Denn auch hier haben wir noch von Anwendungen des Sandgebläses zu reden, bei denen die Quarzkörner Substanzen, die viel härter sind als sie selbst, mit eben der Leichtigkeit wie das Glas und den Granit ätzen und durchbohren. Ein Dampfsandgebläse mit einer Spannung von dreihundert Pfund durchbohrte ein anderthalb Zoll dickes Stück Korund, dessen Härte derjenigen des Diamanten nur sehr wenig nachsteht, in fünfundzwanzig Minuten, ja der „Unbezwingliche“ selber, dem man bisher nur mit seinem eigenen Staube beizukommen wußte, hielt der unwiderstehlichen Gewalt des Sandstrahles nicht Stand und wurde in wenigen Minuten beträchtlich abgeschliffen. Es giebt das ein schönes sinnliches Beispiel von der alten Moral, daß man mit etwas Milde und Nachgiebigkeit oftmals viel weiter kommen kann, als mit der größten Sprödigkeit und Härte; der Sandstrahl, der den Stahl augenblicklich angreift, thut dem Kautschuk kaum merklichen Schaden und kann von der Hand sogar als angenehme Kühlung empfunden werden.

Wenn nun, um auf den Diamanten zurückzukommen, der Anprall des ersten Körnchens auf ihn keine Wirkung übte, so würde begreiflicherweise das hundertste und tausendste den Angriff ebenso wenig fördern können; das Sandkörnchen hat also hier durch die Geschwindigkeit seiner Bewegung eine Macht erhalten, die ihm den Mangel an Härte reichlich ersetzt. Wollte es Jemand versuchen, mit einem Talglichte ein Brett zu durchbohren, so würde ihn Jeder für einen Narren halten; das Unternehmen gelingt aber, wie jedem Physiker bekannt ist, wenn man das Talglicht in ein Gewehr ladet und gegen das Brett schießt. So benutzt man in der Technik kleine, sehr schnell bewegte Stahlrädchen, um Steine, die viel härter sind, als der Stahl, zu schneiden und zu graviren. In der ihnen durch den Dampf oder Luftstrom mitgetheilten „rasenden“ Geschwindigkeit, in dem Elan, wie die Franzosen sagen würden, liegt das Geheimniß der wunderbaren Kräfte des Sandkörnchens.

Im Sandgebläse ist, wie man sieht, eine ganz neue Bearbeitungsmethode gewonnen, die der vielseitigsten Anwendungen fähig ist. Man hat, um noch Einiges anzuführen, den Sandstrahl unter Anderem auch benutzt, um Gebäudefronten schleunigst von altem Schmutze zu reinigen; man kann ihn benutzen, um in Getreidemühlen die zeitraubende Arbeit des Mühlsteinschärfens im Nu zu beenden. In Dampfmahlmühlen, wo die treibende Kraft des Gebläses immer vorhanden ist, dürfte das besonders leicht durchführbar sein. Je nach den zu erzielenden Leistungen, wird man dem Apparate die zweckmäßigste Gestalt geben; die Erzeugung des Gebläses, wie die Zuführung des Sandes ist natürlich der größten Abänderungen und Verbesserungen fähig. In der einen auf der Weltausstellung befindlichen Maschine wirkte ein Dampfstrahl, in der andern ein Luftstrom, welcher von einem in einem Gehäuse eingeschlossenen und durch eine Miniatur-Dampfmaschine in schnelle Bewegung versetzten Ventilator-Schaufelrade erzeugt wurde. Eine der archimedischen Wasserschnecke ähnliche Vorrichtung führt dabei den nach der Wirkung in einen Sammelbehälter fallenden Sand in die Windröhre zurück.

Der Erfinder überläßt die Einrichtung der Gebläsemaschine ganz der Geschicklichkeit und dem Belieben der Mechaniker und hat sich klugerweise nur das Princip, das heißt die Anwendung des durch ein bewegtes Medium fortgerissenen Sandes zu Arbeitsleistungen jeder Art, patentiren lassen. Bisher hatten die [702] Mechaniker der alten Welt wohl größtentheils von der neuen Arbeitsmaschine nur durch Mittheilungen der polytechnischen Journale Kenntniß erhalten, und ein nicht immer ungerechtfertigtes Mißtrauen gegen amerikanische Marktschreiereien könnte sie leicht von eigenen Versuchen abgehalten haben. Jetzt, nachdem viele Tausende die Maschine in Thätigkeit gesehen, oder wenigstens die in vielen Probestücken ausgestellten Leistungen derselben bewundert haben, dürfte der neue Bundesgenosse des Grabstichels und der Feile mit ziemlicher Schnelligkeit in unsere Werkstätten einziehen und bald für jeden Arbeitszweig zu der wünschenswerthen Vollkommenheit gebracht werden. Die Gesammtheit aber wird den Vorteil haben, zahlreiche Arbeiten in Glas, Stein und Metall nicht nur billiger, sondern auch in größerer Vollendung geliefert zu erhalten, als bisher.

Carus Sterne.





Künstler und Fürstenkind.
Von August Lienhardt.
(Schluß.)


Amalie, Vergebung! Du hättest seine leuchtenden Augen sehen sollen, den Schritt, mit dem er auf mich zukam, meine Schulter faßte, und mir fest in’s Auge sah! Er, nicht ich sprach Deinen Namen; dann fiel er auf den Divan zurück, sein Antlitz gegen die Wand kehrend. Ich habe es nicht gewußt, daß er Dich in aller Stille, schon jahrelang anbetet, sonst hätte Nichts mich vom Sprechen abgehalten. Amalie, ich muß doch ein recht gutes Herz haben; denn ich freute mich kindisch über des Bruders, über Dein Glück. Erst nach geraumer Weile kam mir der precäre, verwickelte Zustand meiner eigenen Angelegenheiten wieder in den Sinn. Ernst war weich gestimmt. Ich mußte also das Eisen schmieden, so lange es heiß.

„Gäbe es einen zweiten Ernst, Bruder, ich hätte ihn vielleicht meinem Walter vorgezogen, denn ich will mich gar nicht für lebensmüde oder aller Herrlichkeiten satt ausgeben. Amalie hatte es besser als ich; bei ihr wählte das Herz, und der Verstand wird mit der Herzenswahl sehr zufrieden sein – aber sprich, Ernst, wärest Du damit einverstanden, wenn Amalie, schienst Du ihr in weniger glänzenden Farben, Deiner nicht geachtet hätte? Was bei Amalie eine Tugend, warum soll es bei mir ein Verbrechen sein?“

„Hedwig, Du quälst mich unsäglich! Ich bin ja nur auf Dein Wohl bedacht, und denke in der Sache wenig an unsere Familie, gar nicht an mich. Wäre ich in Amaliens Fall der Glückliche –“ hier hob er das Haupt; Du hättest eine Welt gegeben, ihn so zu sehen – „wäre ich der Glückliche, dem sie trotz Mangel an Stand, Namen und Reichthum ihre Liebe schenkte, ich würde freilich anders sprechen, doch als ihr Bruder könnte ich auch ihr in Ehren nichts Anderes rathen, als was ich Dir jetzt ernstlich wiederhole: Laß ab, laß ab von Deinem wahnsinnigen Begehren!“

Ich fing an, Hoffnung zu schöpfen, wenn auch nur schwache. Ja, wärst Du dagewesen!

„Bruder, sprich nicht so!“ begann ich wieder. „Ich liebe Walter mit so heiligem Ernste, daß mir Deine Stimme unsympathisch erklingen könnte, spräche sie stets nur gegen den Erwählten meines Herzens. Ernst! Beim Namen unserer seligen Mutter, die ich kaum kannte, beschwöre ich Dich, mache die arme Waise glücklich!“

„Mit Unrecht mahnst Du mich an unsere Mutter, Hedwig. Ich sehe sie, wie sie, ihre letzten Kräfte zusammenraffend, Dich in meine Arme legte und sprach: ‚Hüte mein Kindlein vor allen Gefahren der Welt – mache, daß der Leidenschaften rauhe Stürme niemals über dieses blonde Köpfchen hinbrausen – schütze sie lieber vor zu großem Glücke, als daß das Unglück, welches dieses meistens im Gefolge führt, ihr Aug’ mit Thränen netzte!‘ So sprach Deine Mutter, in der Todesstunde, eine Ahnung des heutigen Tages hegend. Du hörst aus ihren Worten, wie sie in diesem Falle entschieden hätte.“

„O nein! wenn sie Walter gekannt – –!“

„Und Hedwig, wenn ich als Vormund der Schwester zu solch’ unerhörtem Bunde die Hand biete, was wird die Welt dazu sagen, sie, die wir einmal zu unserer Sittenrichterin ernannt? Wird sie mich nicht dem untreuen Verwalter im neuen Testament vergleichen?“

„Ernst, wenn ich Unrecht that, Dich an die Mutter zu mahnen, so thatest Du’s noch mehr, mir den Vormund in’s Gedächtniß zurückzurufen. Hast Du vergessen, welches Alter ich erreicht, und daß in sechs Monaten Deine Verantwortlichkeit von dieser Seite aufhört? O Gott! daß ich gezwungen bin, solche Argumente zu gebrauchen! Wenn Walter zu mir spricht: ‚Kein Mensch kann etwas dawider haben, wenn Du des Bruders Haus für das des freierwählten Gatten vertauscht!‘ wie soll ich ihm nicht folgen? Hast Du bedacht, Ernst, daß diese mich ganz beherrschende Liebe mich Pflicht, schwesterliche Gefühle, Alles vergessen heißen kann? Was wäre Amalie nicht im Stande für Dich zu thun! Doch bei Euch Zweien tritt kein Bruder hinzu und heißt Euch scheiden.“

Du siehst, ich wurde bitter, und wenn ich auch meine Worte, nachdem ich sie kaum ausgesprochen, bereute, ich rief sie dennoch nicht zurück, denn ich fühlte, daß meine Sache gerecht, daß schon ihr zu Nutzen Alles gesagt sein mußte.

„Dein Geist hat sich in einem Labyrinthe von Leidenschaften verirrt. Du bist nicht mehr Hedwig, meine ruhige, verständige Hedwig,“ nahm Ernst das Wort.

„Nein, das bin ich nicht mehr. Ist es denn ein so großes Verdienst, wie eine Blume in ihrem Topf, ohne Leidenschaft, Alles gleichgültig betrachtend, dahinzuleben? Ich fühle, daß ich ganz Hedwig bin, nur kommen Gefühle bei mir zur Geltung, die bis hieher schlummerten. Eine neue Phase meines Lebens brach an; ich bin nicht mehr Hedwig von Waldemberg – jede Faser an mir ist Hedwig Impach geworden, deren ich mich nicht zu schämen brauche. Bruder, Du mißbrauchst Deine Gewalt, mich unglücklich zu machen, und ich möchte mich nicht von Dir lossagen, nicht meine Unabhängigkeit um den Preis Deiner Liebe erkaufen.“

Ich mag ein Bild der verzehrendsten Leidenschaft gewesen sein, denn Ernst sah starr auf mich, seiner Trauer, seinem Erstaunen ein wenig Bewunderung beimischend. Wo ich den Muth hernahm, so zu sprechen – ich weiß es nicht. Ernst mag doch geglaubt haben, daß Gefühle, welche solche Worte eingeben, keine flüchtig aufflackernden, schnell erlöschenden sind.

Meine beiden Hände ergreifend, sprach er gepreßt: „Gott weiß, welche Schmerzen Du mir heute verursacht! Warum mußtest Du mich in demselben Augenblicke durch die Mittheilung eines lang verborgenen Geheimnisses zum Glücklichsten aller Sterblichen machen? Schau, Hedwig, ich kann Dich nicht unglücklich sehen, kann Dir aber auch nicht erlauben, Dein jetziges Glück mit der Ruhe Deines ganzen Lebens zu erkaufen. Nur, wenn Deine Gefühle durch die Zeit erprobt, kann von Deinem künftigen Glücke die Rede sein. So warte in Gottes Namen ein Jahr – sprichst Du dann noch wie heute, so soll das Unerhörte geschehen, und Hedwig aus dem Fürstenhaus in’s Künstleratelier schreiten.“

„Ernst, mein Bruder! Vor einem Jahre, glaubst Du, schrecke ich zurück? Du kennst mich nicht, noch meinen Walter. Doch da Du diese Probe forderst, so gehe ich sie mit Freuden ein.“

„Wohlverstanden, Du siehst weder den Künstler, noch darf ein Briefwechsel irgend welcher Art zwischen Euch stattfinden. Er wird verreisen, und Du einstweilen mir helfen, ein Heim für Amalien bereiten.“

Was ich, da ich um mein Glück mit ihm rang, nicht that, ich habe es aus Dank gethan, habe vor Ernst gekniet. Gott sei mir gnädig! Ich fasse mein Glück nicht, und muß mich fragen, ob ich träume oder wache.

Heute Morgen, nachdem er Walter empfangen, reist Ernst mit ihm ab, diesmal er der Brautwerber; er bringt Dir diesen Brief und stellt Dir meinen Walter vor.

Grüß’ ihn noch einmal! Auf seliges Wiedersehen, geliebte, theure Amalie – Schwägerin!
Deine Hedwig.
[703]

Kaiser Wilhelm in seinem Hühnerhofe.
Originalzeichnung von Paul Bürde in Berlin.

[704]

20.

Und setzet Ihr nicht das Leben ein,
Nie wird Euch das Leben gewonnen sein.

In meiner Wonne, Gottfried, muß ich dieser Worte des Dichters gedenken. Aus Seelennoth und Todesqualen geht das wahre Heil hervor. Glaube mir, wenn ich blos das äußere Glück in Anschlag brächte, ich würde es verschmähen um den Preis, die gleiche Prüfung noch einmal bestehen zu müssen; aber zehnmal noch wollte ich sie erdulden, um das Herz zu gewinnen, das nun mein Eigen ist.

Ach, Gottfried, was ist alle Seligkeit der Dichter gegen das Glück, das mir geworden: – noch zwei Tage, und ich stehe mit Hedwig vor dem Altare!

Den Qualen der Ungewißheit, nein der sichern Entsagung, der Verzweiflung, ist das gemüthberauschende, die Phantasie zu den höchsten Gefilden des Ideales emportragende, das ganze Sein durchwogende Wonnegefühl der Sicherheit gefolgt, an der Seite der Heißgeliebten ein ganzes Leben voll inniger Hingebung, voll Genuß alles Schönen auf Erden, voll hohen Geistesstrebens unter den edelsten Menschen verbringen zu dürfen.

Den ersten Rausch des Glückes wollen wir in einem stillen Alpenthale oder an einem jener Seen verträumen, wo meinem Idol zum ersten Male, obwohl noch unbewußt, die Ahnung der Liebe aufgegangen. Dann aber eilen wir nach Italien – zu Dir, mein Freund – und diesmal sollst Du nicht betrogen werden. Denn ich habe große Dinge vor. Wir wollen mehrere Jahre in Hesperien bleiben, und ich will die Gebilde in’s Dasein rufen, welche mich bereits Tag und Nacht verfolgen. Ich will, wenn auch kein Raphael, doch meiner Fornarina würdig zu werden suchen. Hat sie mich ja zweimal schon zu höherem Ruhme getragen.

Doch das Glück ist wortkarg. Auf Wiedersehen, Gottfried, in Rom!

Dein Walter.




21.


     Freund meines Walter!

Noch zeitig genug, ehe er ihn verschloß, habe ich ihm diesen Brief entrungen, den ich nicht lesen sollte und dem ich doch ein paar Worte beifügen will.

Er meint das Glück im Monopol zu haben, und ich verschwende all meine Beredsamkeit, um ihm zu beweisen, daß ich ja noch viel glücklicher bin als er.

Was er aus meinem Munde erfuhr, soll Ihnen auch nicht verborgen bleiben: das Glück meines Bruders an der Seite des hohen, bescheidenen Mädchens, das auf ihrem einsamen Schlosse keine andere Freude kannte als den Gedanken an ihn. Einmal fortgegangen, kehrte er nicht wieder, bis sie als Herzogin Amalie an seinem Arme die Schwelle unseres Hauses betrat. Mag ihn nun der Antheil, den ich an der sonnigen Wendung seines Schicksals nahm, gerührt oder das Glück selbst ihn weich gestimmt haben, eines Abends – noch waren nicht acht Monate vorüber, seit Walter fort – eines Abends frug er mich mit schelmischem Lächeln, während sein Arm Amaliens Leib umschlang:

„Wie steht’s, Hedwig?“

Eigenthümlich mag der Blick gewesen sein, mit dem ich aufschaute, denn Ernst, vielleicht auf Amaliens Bitten, schrieb noch denselben Abend an Walter und rief ihn zurück. Wir sollten die letzten Monate unseres Probejahres zusammen ausharren dürfen. Ich wußte genau, wie viele Tage der Brief und dann der Gerufene brauchen würde, und meinte, mein Tod käme früher als die ersehnte Stunde, in der Walter vor meinen Augen stehen würde. Wie geduldig hatte ich geharrt die langen Monate, ohne ein Wort der Sehnsucht, ohne ein Wort der Klage! Jetzt kannte ich mich selbst nicht mehr. Wahrscheinlich erträgt Hedwig Unglück besser als Glück.

Ob ich nicht eines Tages aufgepackt hätte und ihm entgegengeeilt wäre, will ich nicht entscheiden, – da brachte mir Ernst, den meine Unruhe quälte, ein Packet, das wohl dazu angethan war, mich zu beruhigen, wie das Wiegenlied den Säugling: Walter’s Briefe an Gottfried! Ein guter Engel hatte Ihnen eingegeben, sie als Beweis für die Echtheit von Walther’s Liebe an meinen Bruder zu senden. Mein bester, treuester Freund sind Sie durch die beglückenden Blätter geworden. Und doch habe ich Sie einen Augenblick beneidet, daß Sie schon das Tiefinnerste von Walter’s Herzen kannten, das Wunder unserer Begegnung, die Größe seiner Liebe – lange, ehe ich eine Ahnung hatte, wie es um uns aussah. Doch Thränen wuschen bald den Neid hinweg, und ungeduldig sehe ich dem Moment entgegen, wo ich Ihnen dankbar beide Hände reichen kann und die Ihrigen drücken im überströmenden Gefühle der wahrsten Freundschaft.

Wie glücklich wir sind, Sie werden es uns an den Augen ansehen, die bis dahin hoffentlich die üble Gewohnheit verlernten, feucht zu werden, sobald sie des Andern Blick begegnen. Mein Gott, wir haben unser Glück so theuer erkaufen müssen, daß es fast natürlich erscheint, wenn die Thränen, die in dunkler Nacht nicht flossen, jetzt in der hellen Morgensonne ihren ungehemmten Lauf nehmen!

Was haben wir uns Alles zu erzählen! Doch auch schwarze Seiten giebt’s in unserer Geschichte, deren wir nicht gern gedenken werden, wenn heitere Tage im schönen Rom uns zusammenführen. Drum nur Einen Namen: Werdau, und ein Land, das den Unseligen aufnimmt: Rußland. Viel Weiteres weiß ich selbst nicht.

Schon muß ich diesen Brief schließen und werde ein Geständniß ablegen müssen, soll man mir glauben, wie sehr ich es wider Willen thue. Die Dämmerung fängt schon an hereinzubrechen, und diese Zeit ist es, welche Walter für die seligste des ganzen Tages hält, welche er niemals ungenutzt und ungenossen vergehen läßt. Wir sitzen dann zusammen auf dem Divan unter meinem Bilde zwischen Farren und Palmen, Hand in Hand, fest umschlungen, und sprechen von – was weiß ich? – den Tagen, die jetzt über uns hereingebrochen, den ehrgeizigen Plänen meines Künstlers, am liebsten aber von der Vergangenheit, die noch manche Schätze birgt, mit denen wir uns gegenseitig beglücken. Walter hat gedroht, wenn ich nicht sogleich die Feder niederlege, wolle er um Licht schellen, und dann ist’s um unsere Dämmerstunde gethan.

Gottfried! Liebende sind egoistisch – mit einem wehmüthigen Blicke auf diese Zeilen wende ich mich dennoch glückselig Waltern zu, und in wenigen Secunden ist auch der Freund in der heiligen Stadt vergessen. In einem Monate werden wir wohl verständiger sein.
Zum letzten Male
Hedwig von Waldemberg.




Blätter und Blüthen.


Ein Sonntagmorgen in Chislehurst. Die englischen Glocken mit ihrem für jedes Fremden Ohr so eintönigen Dreiklang riefen die frommen „Ladies and Gentlemen“ zur Kirche. England feierte seinen Sonntag. Wenn auch vielleicht nirgends in der Welt, Schottland ausgenommen, die strengste Orthodoxie die Menschen so beherrscht wie hier, ja mitunter diese „Sonntagsfrömmigkeit“ durch eine starke Dosis von Pedanterie den Schein des Lächerlichen annimmt, so bringt sie doch wenigstens etwas Gutes zu Wege: das ist die stille, göttliche Ruhe allüberall, in Feld und Wald, die nimmer gestört wird durch überthätige Arbeit. Wie oft sieht man bei uns in Deutschland, namentlich im Norden, den Handwerker mit Weib und Kind am Sonntagsmorgen hinausziehen auf’s Feld, den einzigen freien Tag seines Arbeiterlebens dazu benutzend, die oft gar schmale Ernte des Stückchens Land im Schweiße seines Angesichtes zu gewinnen. Gar nicht selten wird dann Caro vor den kleinen Handwagen gespannt, und nach Kräften bellend und heulend trabt er nun durch die Straßen. Ein englischer Arbeiter dagegen würde zwar sein Gewissen durchaus nicht zu belasten glauben, wenn er seine stillen Sonntagsbetrachtungen vor dem Schenktisch hielte, es jedoch als eine Todsünde betrachten, an einem Sonntag auch nur den Spaten zu erheben.

Ein klarer Herbsttag lag über Chislehurst und gab der paradiesisch schönen Landschaft noch erhöhte Reize. Man nennt die Grafschaft Kent den Garten Englands. Wenn dies mit Recht geschieht, dann ist Chislehurst das beste Blumenbeet in diesem Garten, ein Meisterwerk, das der Gärtner schuf. Uralte Bäume, Eichen, die sich sehr wohl „deutsche Eichen“ nennen könnten, schlanke Buchen und plaudernde Birken, die den Epheu wie einen geliebten Cameraden über den Stamm hinweg und bis an die Zweige hinein zu sich heran gezogen haben, rahmen die in ihrem frischen Grün schier leuchtenden Wiesen, die sanft ansteigenden Abhänge ein. Wiesenpfade führen durch die Weiden. Sie sind heute belebt von Jung und Alt; Männlein und Weiblein, das Gebetbuch in der Hand, sieht man zur Kirche gehen. Wie kleine weiße und farbige Muscheln leuchten hier und da geschmackvolle Landhäuser, saubere Farmen, auch wohl ein einsames [705] Parkhüterhäuschen, im Rococostil erbaut, aus dem Grün hervor, oder tauchen gleich kleinen heimlichen Nestern im Waldesdunkel auf, Frieden und Ruhe dem Nahenden verheißend.

Oberhalb Chislehurst liegt ein schöner alter Park. Nur durch ein eisernes fein durchbrochenes Thor kann man einen Blick hinein thun, sonst ist Alles dem Auge des Fremden durch eine ringsum laufende hölzerne Mauer verschlossen. Durch die Bäume sieht man den oberen Theil eines englischen Landhauses schimmern, nicht besser oder schlechter, als es eine jede gute englische Familie besitzt. Wahrlich, der einstige Eigenthümer dieses Hauses hat sich’s wohl niemals träumen lassen, daß ein Mann, durch dessen gesprochenes oder ungesprochenes Wort einst Europa sich regieren ließ, hier in Chislehursts Stille nachdenken werde über verlorene Größe, über die Launen des Glücks und über des Schicksals Walten, bis dann die letzte Großmacht ihn zwingen werde, für ewig von der Bühne der Weltereignisse zu verschwinden. Was der kranke Mann in seinen letzten Stunden gefühlt, gedacht, wer kann es sagen? wer in die Tiefen einer Seele blicken, die im Leben sich niemals ganz offenbart hat, im Tode nun für ewig verstummt ist? Von den Todten aber soll man nur Gutes reden – den Schleier der Liebe über Napoleon den Dritten!

Ich fragte den Parkhüter, ob die Kaiserin jetzt in Chislehurst sei. Er bejahte es, und nun wußte ich auch, wo ich sie bestimmt sehen würde, die einst so hochgefeierte Eugenie. Die Glocken der englischen Hochkirche läuteten noch immer und übertönten völlig ein einsames Glöckchen, dessen Klänge ich erst deutlicher vernahm, als ich mich einer kleinen, sehr hübsch gelegenen Capelle näherte, in welcher der katholische Gottesdienst abgehalten wird. Die Nähe der kleinen Gemeinde, verbunden mit der reizenden, gesunden Lage Chislehursts, war wohl einer der Hauptgründe, welche die kaiserliche Familie bewogen, hier ihren Aufenthalt zu wählen, als sie Frankreich verlassen mußte. Die Capelle ist überaus einfach eingerichtet; die Plätze der kaiserlichen Familie sind nur durch etwas bessere Stühle und Kniekissen, die sich allerdings dicht am Altar befinden, ausgezeichnet. Zur Rechten der Capelle befindet sich in einem Nebenraume das Grab des Kaisers. Dort erblickt man durch ein bronzenes, weites Gitter den reich mit Kränzen geschmückten Sarkophag. Eine wunderbar schöne Decoration schmückt die Außenseite dieses Gitters und somit auch die sonst ziemlich schmucklose Capelle. Die seltensten Blumen in Bouquets, Kränzen und Guirlanden liegen vor dem Gitter ausgestreut, dazwischen prächtige Schleifen von Gold, Silber, Atlas, von Künstlerhand mit Blumen und Emblemen reich gestickt. Auf der linken Seite des Gitters steht aufrecht das Wappen Napoleon’s. Ein getriebener Silberrahmen faßt ein vielleicht drei Fuß hohes Spiegelglas ein; auf demselben liegt in goldenen Lettern der Namenszug des Kaisers; darüber befinden sich, gleichsam aus dem Namen aufsteigend, goldene Palmenzweige, die trauernd die Blätter darüber zu neigen scheinen. Veilchen, die Lieblinge des Kaisers, sind in großer Menge vorhanden und ziehen sich in armdicken Guirlanden über und um das Ganze: einen rührenden Eindruck aber macht ein einfach schwarz geflochtenes Körbchen; es bildet gleichsam den Schluß des Ganzen und ist bis über den Rand angefüllt mit zarten Stiefmütterchen, die alle die Köpfchen zum Grabe des Kaisers neigen.

Der Eintritt zur Kirche, selbst zum Gottesdienst, ist nur gegen Bezahlung eines Shillings gestattet. Es geschieht dies natürlich „zum besten der Kirche“, wohl auch um zu vermeiden, daß nicht allzuviele Neugierige den Gottesdienst und die Andacht der Kaiserin stören. Für meinen Shilling gab mir jedoch der Kirchendiener einen sehr guten Platz, dicht an dem Gitter, welches die Gruft abschließt, und von wo ich die Kirche, den Altar und den Platz der Kaiserin gut übersehen konnte. Die kleine Kirche war dicht besetzt von der gläubigen Gemeinde; zur pünktlichen Zeit öffnete der Pförtner beide Kirchenthüren, und Eugenie, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, ging, artig grüßend, durch die von ihren Sitzen sich erhebende Menge zu ihrem Platze. Ihr Gefolge bestand aus zwei Herren und zwei Damen, die hinter der Kaiserin und ihrem Sohne Platz nahmen.

Da ich nicht Katholik bin, hatte ich Muße genug, während der mir fremden Gebräuche des Gottesdienstes die Kaiserin zu beobachten. Ihre Haltung ist edel und graciös. Die tiefe Wittwenhaube beeinträchtigt nicht die eigenthümlich interessante Schönheit ihres Gesichts; wenn auch die Jugend ihre Stirn verlassen, die Augen vielleicht matter unter den hochgeschwungenen Brauen hervorblicken, Niemand kann sagen, Eugeniens Schönheit sei schon unter dem Wittwenschleier verblüht. Sie war während des Gottesdienstes ganz bei der Sache, weniger ihr Sohn, der wohl mitunter mit den Gedanken einen Seitensprung zu machen beliebte und den Kopf öfter nach einem gewissen Punkte wandte, allwo ein rosenfarbenes Hütchen sich auf einem allerliebsten Lockenkopf aufgebaut hatte. Mir wurde übrigens dadurch ganz gute Gelegenheit geboten, des Prinzen Antlitz genauer zu beobachten. Napoleon’s Sohn hat ein hübsches offenes Gesicht; nicht gerade ausgeprägte Intelligenz spricht aus seinen Zügen, jedoch entbehren sie keineswegs einer gewissen Schlauheit. Ein Gesicht, wie es viele giebt, in das aber jedermann gern hineinschaut. Zur Zeit besucht der Prinz die Cadettenschule in Woolwich und ist dort seiner einfachen Liebenswürdigkeit wegen gern gesehen. Uebrigens beginnt der Bart zu keimen bei Dem, der einst Frankreichs Thronerbe werden sollte.

Der Gottesdienst war zu Ende; die Kaiserin erhob sich, mit ihr die ganze Gemeinde. Es sind Engländer, die der gewesenen Kaiserin diese Aufmerksamkeit bezeigen; sie verehren sie als die erste Person in der Kirche und geben ihr die Ehrerbietung, die sie als des Kaisers Gemahlin einst in so reichem Maße genossen. Napoleon ist todt, Frankreichs Thron noch immer unbesetzt. Chambord und Orleans umarmten sich vor einigen Monaten brüderlich in Wien. Doch was sagt die Welt? was lehrt uns Frankreichs Geschichte? Ueber Frankreichs Thron steht wie mit bedeutungsvollen Lettern geschrieben: Wer weiß, wer weiß!

Eugenie und ihr Sohn blieben eine Minute dem Grabe Napoleon’s gegenüber stehen. Beide legten die Hand auf Herz und Mund und winkten dann hinüber zu dem Entschlafenen. Der Kaiserin Gesicht war tiefernst und traurig in diesem Augenblicke. Er, welcher jetzt so ruhig dalag, hatte ihr ja einst Alles gegeben, was nur das stolzeste Herz eines Weibes begehren konnte. Mit dem Fürstenmantel, den er um ihre Schultern legte, machte er sie zur Kaiserin eines Volkes, dessen Abgott sie wurde – freilich wohl nicht auf eine gar so lange Zeit. Die Krone fiel; der Gatte starb – Eugenie weilt im fremden Lande, fast vergessen. Das trauernde schwarzgekleidete Weib, das dort, rechts und links sich neigend, die Kirche verläßt, ist eine Wittwe. Wittwen und Waisen haben ja stets die Sympathien aller Guten, – und wie leicht läßt sich richten über gefallene Größen!

Ich wandte noch einmal meine Schritte nach dem Parke zurück, dem Asyl der verbannten Kaiserfamilie. Ein schmaler Pfad zwischen üppigen Farrenkräutern führte mich gerade dem Hauptportale des Hauses zu, dessen obere Fensterreihe von hier aus nur sichtbar ist. In einem geöffneten Balconfenster lehnte eine Frauengestalt; still und nachdenklich schaute sie hinaus in die friedvolle sonnige Landschaft. Hinter mir vernahm ich Schritte, und ein Priester, derselbe, welcher vorhin die Hochmesse gehalten, schritt an mir vorüber. Ehrerbietig grüßte er, dem Schlosse näher kommend, zum Fenster hinauf, und eine weiße Hand winkte ihm von dort dankend. Die Frauengestalt verschwand am Fenster. Der Priester aber zog einen winzigen Schlüssel aus den Falten seines Talars und öffnete eine kleine kaum sichtbare Pforte, hinter der Eugeniens Beichtvater meinen Blicken entschwand. Ich pflückte mir einige Farren und Gräser, band sie zusammen und nahm sie mit mir, ein Andenken an Chislehurst, allwo ein Kaisertraum zu Ende ging, ein Ereigniß abschloß, das in den Annalen der Weltgeschichte mit rothen Lettern verzeichnet sein wird.
A. D.





Kaiser Wilhelm in seinem Hühnerhof. (Mit Abbildung, S. 703.) Wer zu früher Morgenstunde in die Vorhalle des Schlosses Babelsberg tritt, kann Zeuge einer Scene sein, welche ihm den hohen Schloßherrn, den die Welt als einen der Mächtigen Europas kennt, von der rein menschlichen Seite und als schlichten, einfachen Privatmann zeigt: Kaiser Wilhelm in seinem Hühnerhofe. Wie sollte er, der bekanntlich auch für die kleine Welt ein warmes Herz hat, beim Baue seines Landhauses den Hühnerhof, diesen Repräsentanten deutscher Gemüthlichkeit, vergessen haben! Und der Kaiser ist ein treuer Pfleger, ein freundlicher Ernährer seiner geflügelten Schutzbefohlenen.

Jeden Morgen, wenn er seinen Kaffee eingenommen hat, pflegt er von dem Reste des ihm servirten Brodes ein Klüpfel zu nehmen und auf den überwölbten offenen Gang hinauszutreten, der unmittelbar aus seinem Zimmer in den Garten führt. Von hier aus hat er einen herrlichen freien Blick über den Park, die Glienecker Brücke, den ganzen Heiligen See, bis zu den fernen bewaldeten Ufern desselben. Wendet er sich um, so liegt unter ihm der Hühnerhof. Dort herrscht schon eine große Aufregung: die gackelnde Bevölkerung desselben hat ihren Gebieter, ihren Wohlthäter bereits erblickt, und eilig kommt sie aus allen Ecken und Enden des Hofes herbeigelaufen, um aus seiner Hand den begierig erwarteten Morgenimbiß zu empfangen.

Dies ist der Moment, den unser Künstler, Paul Bürde, der oft Gelegenheit hatte, den Kaiser bei der Fütterung seiner befiederten Lieblinge zu belauschen, den Lesern der Gartenlaube treu nach dem Leben dargestellt hat. Wir senden das anspruchslose Blatt in die Welt hinaus, als einen Beweis dafür, daß sich echte Herrscherwürde mit schlichter Bürgerlichkeit auch in der Person eines Kaisers vereinigen kann. Möge das Blatt zugleich überall, wohin es kommt, als das aufgenommen werden, was es wirklich ist, als die bildliche Darstellung einer Scene, welche so recht eine deutsch-gemüthliche genannt werden muß!





Moltke. Von dem greisen Feldmarschall existirt, so viel wir wissen, nur ein Portrait in ganzer Figur, das von Professor Julius Schrader in zwölf Sitzungen nach dem Leben gemalte. Es ist vortrefflich gelungen und neuerdings von dem Leipziger Kupferstecher Alfred Krause zu einem brillanten Stahlstiche vervielfältigt worden. Das Kunstblatt, bei Schuberth und Comp. in Leipzig erschienen, wird bei den Millionen Verehrern des Siegers von 1870 großen Anklang finden, zumal Moltke selbst sich sehr günstig darüber geäußert hat. „Ich sage ihnen,“ schreibt er an Herrn Krause, der die ersten Abdrücke der Platte dem Feldmarschall überschickt hatte, „meinen verbindlichsten Dank für Uebersendung der schönen Abdrücke ihres meisterhaft ausgeführten Stiches. Ich finde die Wiedergabe des Originalgemäldes vollkommen und bewundere die Klarheit, Sauberkeit und Schärfe Ihrer künstlerischen Ausführung.“ – Das schöne große Blatt kostet fünf Thaler.





Der Trompeter von Mars-la-Tour, vom Kronprinzen Friedrich Wilhelm selbst mit dem „Eisernen Kreuze“ geschmückt, von Ferdinand Freiligrath besungen, von allen Zeitungen und Kriegsberichten gefeiert als einer der Helden des kühnen Todesrittes am 16. August, hat, wie seine Trompete damals, doch auch, und zwar für das ganze Leben, „Etwas weggekriegt“. Im November vorigen Jahres wurde er brustkrank und nach dreivierteljähriger ärztlicher Behandlung als Kriegsinvalid entlassen, und zwar mit acht Thalern Pension. Von dem Versuche, sich durch Abschreiben in einem Gerichte Etwas zu verdienen, mußte er schon nach acht Tagen abstehen, weil sein Zustand sich dadurch verschlimmerte. Dadurch ist ihm aber auch die Aussicht auf Versorgung in einem Bureau verschlossen. Verdienen muß er aber Etwas, wenn er bei seiner Pension nicht mit seiner Familie verhungern will, und da er gut schreibt, rechnet und auch zeichnet, so hofft er, durch die Gartenlaube in einem für ihn passenden Dienste gelangen zu können. Vielleicht würde er als Aufseher in einem Geschäft oder einer Anstalt sehr gut zu verwenden sein. Er ist der Mann, der seinem Dienste Ehre bringt, denn nur mit Stolz würde man sagen können: „Auf diesem Posten steht der Trompeter von Mars-la-Tour!



[706] Ein geographisches Hausbuch. Die unserer heutigen Nummer beiliegende Anzeige und die Prüfung der ersten zwanzig Druckbogen dieses „Handbuchs der Erdkunde von A. Hummel“ veranlaßt uns zu einigen Bemerkungen über dasselbe. So reich nämlich auch unsere geographische Literatur an Lehr- und Handbüchern ist, konnte doch bis jetzt die Frage aufgeworfen werden: „Wie kommt es, daß die Geographie nicht auch, wie die Natur- und Geschichtskunde, neben der belletristischen Lectüre, ein Gegenstand der Abendfreuden am Familientisch geworden ist?“ Antwort: Wir besaßen nur entweder entsetzlich trockene, von Zahlen starrende Angst- und Nothbücher für das Gedächtniß der Schuljugend, oder, wenn man Karl Ritter’s Geist zum Führer genommen, für die Cassen des vorzugsweise nach Wissen strebenden Mittelstandes zu dickleibige und kostspielige Werke. Hier war ein leerer Platz auf dem Büchermarkt. Uns fehlte ein Buch, welches der Zahl und der alten Uebersichtlichkeit des Stoffes gerecht wurde, aber zugleich aus den reichen Fundgruben der Natur-, Geschichts- und Culturwissenschaften das Belebende erfrischend zwischen den Zahlen anpflanzte, und endlich auch dem bescheideneren Geldbeutel die Anschaffung durch Heftlieferung erleichterte. Als ein solches Buch haben wir das Hummel’sche erkannt und freuen uns dieses neuen Erwerbs für Schule, Geschäfts- und Familientisch.




Die Roderich Benedix-Dotation.


Wenn es einem großen Theil der deutschen Presse darum zu thun war, durch möglichste Verwechselung der Begriffe „Ehrenlohn“ und „Bettelpfennig“ den Sammlungen für die Benedix-Dotation ein rasches Ende zu bereiten, so ist ihr dies beinahe gelungen. Denn seitdem die offenbare Lüge sich nicht gescheut hat, Nachrichten über des Dichters Haushalt, die an Blödsinn grenzen, in eine Zeitung zu bringen, hat eifrigst eine der anderen dieselben nachgedruckt, und leider haben dann auch im Publicum nur sehr Wenige erst gefragt: „Ist das auch wahr?“, sondern die große Mehrzahl hat es vorgezogen, sich von der Theilnahme an der Sammlung ohne Weiteres zu befreien.

Unter solchen Umständen würden die Unterzeichner des Aufrufs zu einer R. Benedix-Dotation stillschweigend abtreten müssen, wenn sie nicht besser über die berührten Verhältnisse unterrichtet und es der Ehre des todten Dichters und ihrer eigenen Ehre schuldig wären, ihr Unternehmen durch eine klare Darstellung der Sachlage zu rechtfertigen.

Die Verhältnisse, in welchen R. Benedix gelebt hat und von den Seinen geschieden ist, sind nach den zwei einander entgegengesetzten Seiten in’s Maßlose übertrieben worden, und nur diese Uebertreibung trägt die Schuld der geschwundenen Theilnahme in all den Kreisen, die den Dank, den sich der Dichter durch die vielen ihnen bereiteten frohen Stunden bei ihnen redlich verdient hat, auch heute noch nicht ableugnen; und dieser Umstand ist es allein, der uns eine Wiederbelebung derselben hoffen läßt.

Vor Allem ist es eine sehr traurige Erscheinung, daß ein großer Theil des Publicums, sobald er von Zukunftssorgen eines Dichters hört, sich von dem alten, oft geschilderten Bilde eines „armen Poeten“ nicht trennen kann. Ein solcher muß nothwendig in einem Dachstübchen mit defecten Möbeln und zerrissenen Vorhängen wohnen, und Kummer und Elend muß ihm, Jedermann sichtbar, auf dem Antlitz geschrieben stehen. Diese Anschauung liegt den vielen Zeitungsnachrichten zu Grunde, welche, nachdem R. Benedix kaum die Augen geschlossen, ihm ein „Leben voll Kummer und Misère der grausamsten Art“ andichteten, ihn als „rücksichtslos allen Nöthen des Lebens“ bloßgestellt schilderten; mußten wir doch bei einer Theateranzeige „zum Besten etc.“ hinter dem Eintrittspreis die Worte lesen: „ohne der Mildthätigkeit Schranken zu setzen“! – Da hört der „Ehrenlohn“ auf, da gilt es nur noch dem „Bettelpfennig“ – und eines solchen hat, Gott sei Dank, Roderich Benedix nie bedurft.

Wir müssen es dem Dichter im Grabe nachrühmen, daß er stets für seine Familie und deren und seine eigene anständige äußere Stellung redlich gesorgt hat, auch zur Zeit der ungünstigsten Bühnenhonorar-Verhältnisse. Aber wie hat er dafür gearbeitet! Nur sein außerordentlicher Fleiß als Dichter und Schriftsteller hat es ihm ermöglicht, sich eine Häuslichkeit zu erringen, wie er sie eben bedurfte, um geistig so rastlos schaffen zu können. Dabei war er ein gewissenhafter Rechner und hielt strenge Ordnung in Einnahme und Ausgabe, ganz nach dem Muster, das er so gern in seinen Lustspielen verherrlichte: einer braven deutschen Bürgerfamilie.

Aber diese schwer errungene Wohlanständigkeit muß nun herhalten, um als Zeichen von Wohlstand oder gar Reichthum hingestellt zu werden, und zwar in der offenbaren Absicht, die Seinen um den „Ehrenlohn“ zu verkürzen, weil er des „Bettelpfennigs“ nicht bedurft hatte. In dieser Beziehung ist ein Brief aus angeblich dem Hause des Dichters sehr nahe stehenden Kreisen, den die „Neue freie Presse“ abdruckte und den viele Zeitungen sofort nachdruckten, wahrhaft schamlos vorgegangen, wenn wir es nicht lieber lächerlich nennen wollen. Aus diesem Briefe erfahren wir, daß R. Benedix in Leipzig „eine prachtvolle Wohnung besessen“ habe. Erstens hat er diese Wohnung nicht besessen, sondern er hat zur Miethe gewohnt. Zweitens: in welch einer Spelunke muß der Briefschreiber den Dichter gesucht haben, um über seine anständige Wohnung so erstaunt zu sein! Was aber die „Pracht“ betrifft, so wissen wir Leipziger, und in anderen großen Städten wird man es auch wissen, wie viel „Prachtvolles“ uns für etwa dreihundertsechszig Thaler Hausmiethe geboten wird. Es kommt jedoch noch besser. Da heißt es: „Benedix hatte in letzter Zeit sechs weibliche Dienstboten und zwei Aufwärterinnen um sich.“ Wir sehen uns in Leipzig vergeblich nach einem Millionär um, der seinen Haushalt mit acht weiblichen Dienstboten belastete. Dennoch hielten wir es für unsere Pflicht, über diese seltsame Nachricht genaue Erkundigung, an Ort und Stelle, einzuziehen, und da erfuhren wir denn, daß Benedix allerdings sechs Dienstmädchen gehabt hat, aber nicht alle auf einmal, sondern in zehn Jahren und eines nach dem andern; Aufwärterinnen hatte er sogar drei, aber auch nacheinander. Wir übergehen die übrigen Beweise von des Dichters Wohlhabenheit, von seinen „sehr geordneten Verhältnissen“, seinen „wohl situirten Verwandten“ etc. etc.; sie sind nur lächerlich. Zu beklagen ist dagegen, und sehr zu beklagen, daß, solche Dummheiten weiter zu verbreiten, sich so viele deutsche Zeitungen nicht geschämt haben.

Wie unzart und tactlos derlei Veröffentlichungen sind, fühlt man erst, wenn man an deren Berichtigung geht, denn um dies gründlich zu thun, müßte man den Vorhang vor einem Familienhaushalte heben und das Heiligthum desselben ebenso verletzen, wie diese Berichtschreiber es verletzt haben. Dem Dichter und seiner Familie zu Ehren bedarf es gleichwohl einiger Andeutungen. Paul Lindau hat in seiner „Gegenwart“ Benedix mit Scribe auch hinsichtlich ihrer Einnahmen für ihre Werke verglichen. Scribe hat sein Leben in einem wirklich prachtvollen Palaste in Paris und einem wirklich stattlichen Landschlosse zu Séricourt mit fürstlichem Aufwande verbracht und dazu sieben Millionen Franken hinterlassen. Hätte Benedix seine Dichterthätigkeit statt vor vierzig Jahren vor drei Jahren begonnen, so würde von den vielen Hunderttausenden, die mit seinen Lustspielen in Deutschland verdient worden sind, in zwanzig Jahren sicherlich auch sein Hunderttausend auf ihn gekommen sein. So glücklich war er leider nicht. Als er am Ende seiner Laufbahn stand, begann erst die bessere Zeit auch für die deutschen Bühnendichter. Dennoch bedarf seine Familie des „Bettelpfennigs“ nicht. Trägt auch Das, was von den wenigen hinterlassenen Werthpapieren und der Lebensversicherungssumme, in acht Theile getheilt, auf die Gattin und das einzige noch unversorgte und kränkliche Kind des Dichters fällt, kaum hundert Thaler jährlich, so werden doch die Tantièmen, ebenfalls in acht Antheile zerfallend, so viel hinzufügen, daß ihr ein bescheidenes Einkommen gesichert ist. Ja, die edle Gattin hat die beste Sicherung vor „Noth“ in sich selbst; ihre hohe Begabung und Bildung giebt ihr dazu die Mittel an die Hand, so daß auch sie den „deutschen Bettelpfennig“ verschmähen kann. Und in diesem wohlberechtigten Gefühle ist es geschehen, daß dieselbe, als am Tage nach dem Tode ihres Gemahls eine Leipziger Zeitung ihren Nachruf für Benedix mit den ebenfalls an Uebertreibung leidenden Mittheilungen über sein „Leben voll Kummer und Misère der grausamsten Art etc.“ ausstattete, der Redaction jenes Blattes, und dieser allein, eine solche Darstellung als verletzend zurückwies. Man wird der Wittwe, die am Sarge des Dichters solche Verunglimpfung der Vergangenheit desselben lesen mußte, diesen Schritt nicht verargen. Wenn aber ein anderes Blatt in einer Biographie des Dichters die Nachricht verbreitet, die Gattin desselben habe in Briefen an mehrere Redactionen gegen die Darstellung in unserm Aufrufe protestirt, so thut uns das leid, denn es ist, nach der Versicherung der Frau Benedix, durchaus unwahr.

Wir stehen am Ende unserer Erklärung und wiederholen hier: Einen „Bettelpfennig“ bedürfen die Lieben unseres Roderich Benedix nicht! Um einen solchen haben wir auch nicht unseren Aufruf erlassen. Hält es die deutsche Nation mit ihrer Ehre und ihrem Dankgefühl vereinbar, Wittwe und Kind des Dichters den dargestellten Verhältnissen zu überlassen, so müssen wir freilich von unserm Unternehmen auf einen „Ehrenlohn“ für sie abstehen. Wir sind aber vom Gegentheil überzeugt; wir sind davon überzeugt, daß es nur dieser Erklärung bedurfte, um die Einsichtsvollen der Nation zu überzeugen, daß es ihre Pflicht sei, den genannten Hinterbliebenen des Dichters wenigstens einen Theil von dem schweren Vermögensverlust zu ersetzen, den derselbe im Leben nicht durch seine Schuld, sondern durch die Schuld der Zeit und ihrer Verhältnisse hat erleiden müssen.

Und so erklären wir unseren letzten Aufruf zu einem „Ehrenlohn“ in einer „R. Benedix-Dotation“ in allen seinen Theilen noch als in voller Kraft gültig und bitten, die in so beklagenswerther Weise unterbrochenen Sammlungen dafür nun um so eifriger wieder aufzunehmen.

Leipzig, Ende October 1873.
Die Redaction.




An neueren Geldsendungen gingen wieder ein: N. N. in Leipzig 10 Thlr.; die Gesellschaft „Namenlos“ in Lennep 8 Thlr. 10 Ngr.; Mg. 3 Thlr.; M. in Goslar 2 Thlr.; Theaterclub des Turnvereins in Waldenburg (Sachsen), Reinertrag einer Festvorstellung für Benedix 15 Thlr.; M. R. in Leipzig 5 Thlr.; Dr. F. in Dresden 1 Thlr.; E. St. in Magdeburg 2 Thlr.; R. S. in Leipzig 20 Thlr.; E. M. in Berlin 1 Thlr.; Advocat Koch in Buchholz 2 Thlr.; Clara Lang, geb. Koch in Zittau 2 Thlr.; O. S. in Mannheim 3 Thlr.; aus Petersburg 18 Thlr. 3 Ngr. mit den Worten:

Im kalten Rußland schlagen warme Herzen für Deutschlands Dichterruhm zu jeder Zeit;
Die oft gelacht bei seinen heitern Scherzen, sie lindern gerne auch des Dichters Leid.

Eine dankbare Dilettantin.

Großherzoglich badisches Hoftheater-Comitée 175 Fl. rh.; K. Sp. in Königstein im Taunus 100 Thlr. – Als höchst erfreulich begrüßen wir die soeben uns zugehende Nachricht, daß Marie Seebach in einem Briefe, in welchem sie sich eine dankbare Schülerin des Dichters nennt, sich erboten hat, mit Friedrich Haase gemeinschaftlich in einem Benefizspiele für die Benedix-Dotation in Leipzig aufzutreten. Näheres später.

Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorlage: „Freudinnen“