Die Gartenlaube (1873)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Das Bild ohne Gnade.

Erzählung von A. Godin.


1. In Zoppot.

Mein Arzt hatte gesprochen: „Müßiggang und ein mildes Ostseebad!“ Der Rath klang nicht unwillkommen, denn er kam, abgesehen vom Revolutionszustand der Nerven, um jene Zeit der Sommerhöhe, wo ungestillte Reiselust in allen Adern prickelt, und Staub und Schornsteinrauch der Städte den Drang, frischeren Athem zu schöpfen, bis zur fixen Idee steigern. Mancher durch früheren Besuch liebvertraute Badeort der pommerschen Küste winkte und grüßte, aber der Tropfen Zigeunerblut, der unserer ganzen Sippe eigen, forderte Neues. In meinem Gedächtniß stieg ein Name auf, den mir ein Freund genannt: Zoppot! und ich schlug in meinem Bädeker nach. Der treue Reisemarschall, welcher auf jede Frage eine Antwort hat, gab ein verführerisches Programm: Curhaus dicht am Meeresstrande, Aussichtspunkte in der Nähe, die sich ähnlich weder an Nord- noch Ostsee wiederfinden, schließlich das interessante Danzig vor der Thür. Dies gab den Ausschlag; ich hatte nicht allein längst gewünscht, die malerische alte Hansestadt kennen zu lernen, mir lebten dort auch Freunde, deren Nähe dem zweifelhaften Badeleben Reiz zu geben versprach. So wurden denn die Koffer gepackt, Wohnung im Curhause bestellt und die Fahrt nach der Ostsee frischen Muthes unternommen.

Ein heißer Augusttag führte mich dem letzten Ziele entgegen. Schon seit einer Woche herrschte versengende Hitze und hatte sich in den Waggons gleichsam zu einer compacten Masse zusammengeballt. Hügelige Getreidefluren, einförmige Waldstrecken, welche der Zug durchschnitt, boten wenig landschaftlichen Reiz. Ich gab darum leisem Kopfschmerz nach, hielt die Augen geschlossen und warf nur zuweilen aus meiner Ecke einen flüchtigen Blick auf mein Gegenüber, dem, nach häufigem Personenwechsel, zuletzt übrig gebliebenen Reisegefährten. Ein interessanter Kopf. Feine, durchgeistigte Züge, von blauen Augen befeuchtet, deren Blick selbst in der gleichgültigen Ruhe, womit sie über die Landschaft schweiften, tiefgründig blieb. So oft diese Augen mich streiften, sah ich unwillkürlich auf, doch verharrten wir Beide in Schweigen.

Als der Zug in Neustadt anhielt, eilte ein stattlicher Mann, die Reisetasche in der Hand, auf den Perron, blickte nach einem Platze suchend in die meist stark gefüllten Waggons, und stieg, nachdem schon zum dritten Male geläutet worden, eiligst in den unsrigen, wo er sich kaum zurecht gesetzt, als er mein Gegenüber mit lebhafter Ueberraschung begrüßte. „Tausend noch einmal, Wernick! Brav, daß Sie sich wieder einmal im Lande blicken lassen! Wohl nach Danzig unterwegs, wie?“

Der Angeredete nickte, indem er die dargereichte Hand schüttelte. „Nach langen Jahren!“ sagte er heiter. „Moritz Berg hat mich beredet, die Ferien mit ihm am Ostseestrande zu verleben. Wir treffen uns in Zoppot, und wollen es einmal mit dem dolce far niente versuchen. Wie wär’s, wenn Sie sich entschlössen, im Bunde der Dritte zu sein?“

„Schweigen Sie, Versucher! Ja, athmete ich, wie ihr glücklichen Beiden, Jahr aus, Jahr ein die belebende Luft der alma mater und dürfte mich dann monatelang in goldener Freiheit sonnen! Aber einem Kreisrichter im Kassubenlande wird es nicht so gut, um so weniger, wenn er zugleich ehrbarer Familienvater ist. Meine Ferien sind bereits eingeheimst; Frau und Kind sitzen noch beim Onkel in Langsuhr, wo ich jetzt einsprechen will, um mit nächstem Morgengrauen nach Elbing weiter zu fahren, wohin Frau Justitia mich ruft.“

So wenig das meist Persönliches berührende Gespräch der Freunde mich an sich berühren konnte, folgte ich demselben doch mit stillem Antheil, während ich discret die Augen geschlossen hielt. Es machte mir Freude zu erfahren, daß die Erscheinung, welche mich vom ersten Moment an sympathisch berührt, mir öfter begegnen sollte. Kaum jemals hatte mich ein Unbekannter so sehr angezogen. Sein angenehmes Organ, die freie Haltung, eine Beherrschung der Ausdrucksweise, die selbst unbedeutenden Aeußerungen Reiz verlieh, vereinten sich dem harmonischen Eindruck, welchen Gestalt und Züge hervorgerufen.

„Thalatta – – das wogende Meer!“

Das Wort ließ mich plötzlich die Augen öffnen. Zur Linken schimmerte die Ostsee; ihr Blau ging in das des verdämmernden Himmels über. Mein Herz begann rascher zu schlagen. Erinnerungen stiegen auf.

Der Zug hielt an, und der Conducteur rief in die Waggons:

„Zoppot!“

„Auf Wiedersehen also! ich rechne auf Ihre Zusage für den Rückweg,“ sagte der Kreisrichter, indem er Wernick die Hand bot. Dieser schüttelte lächelnd den Kopf: „Wir bleiben noch beisammen. Ich fahre vorerst nach Danzig, meinen Bruder zu besuchen und Holm zu sehen.“

„Welchen Holm?“

„Und das fragen Sie? Wer von uns könnte der Berliner Zeiten denken und unseres Künstlers vergessen!“

„Oho! Richard Holm! natürlich. – Der also lebt jetzt in Danzig? Von ihm gehört habe ich öfters, wer kann aber wissen, wo solcher Zugvogel nistet! Seine Bilder sind mir begegnet, er selbst nicht mehr.“

[740] „Wir trafen uns wiederholt. Am Rhein, in Paris und Italien. Jetzt hat er seit einem Jahre etwa sein Zelt in Danzig aufgeschlagen, und ich freue mich darauf, ihn und seine liebenswürdige Frau wiederzusehen.“ –

Ich lächelte still vor mich hin. Ja, diese Begegnung war mir vom Geschick ganz entschieden zugedacht. Der Fäden, welche an die bis jetzt noch stumme Bekanntschaft knüpften, wurden immer mehr. Nun liefen sie schon am gleichen Ziele zusammen und verhießen, bald einen leichten Knoten zu schürzen. Um Holms zu sehen, war auch ich an Zoppot vorübergefahren; diese liebenswürdigen Menschen lockten mich vornehmlich nach Ostpreußen. Wir hatten uns ein paar Jahre vorher am Bodensee kennen gelernt, wochenlang die gleiche Pension bewohnt und seitdem eine rege Correspondenz unterhalten. Jene stille Heiterkeit ergriff mich, welche ein freundlicher Zufall immer, besonders aber auf der Reise, weckt, wo der Sinn für jede Gabe erschlossen ist. Als der Kreisrichter ausstieg, nickte ich ihm schon im Geiste zu, als gehörte er zu mir, gab der leisen Versuchung, mit meinem interessanten Studienkopfe ein Gespräch anzuknüpfen, nicht einmal nach, als er selbst dazu Gelegenheit bot, und harrte still vergnügt den kommenden Dingen entgegen.

Holms warteten am Bahnhofe und nahmen mich in Empfang, als käme ihnen das große Loos in’s Haus. Das liebe Gesicht der jungen Frau leuchtete von Innigkeit; des Freundes warmer Händedruck sprach Willkommen. Willkommen sein: welche Erquickung gießt das aus, wenn es wie ein Strom aus lieben Augen bricht! Ich vergaß in diesem Momente ganz und gar, daß außer meinen Freunden noch Andere auf der Welt waren, und erst ein überraschter Ausruf Holm’s erinnerte mich wieder an meinen Reisegefährten, der ein paar Schritte zurückstand, uns beobachtete und, nun er seinen Namen rufen hörte, näher trat, um seinerseits freudigste Begrüßung in Empfang zu nehmen. Rasche Worte wurden getauscht, Abrede auf den nächsten Abend getroffen; dann galt es, für das Gepäck zu sorgen. Nach wenigen Minuten fand ich mich in eine Droschke gepackt und fuhr mit Holms ihrem gastlichen Hause entgegen.

Es lebte sich gut im Künstlerdaheim. Wie der Flaum auf einer Frucht lag ein leiser Hauch von Schönheit über Allem, was uns umgab. War es nun eigener Kunstsinn, oder hatte Liebe sie belehrt – Frida Holm verstand sich darauf, dem feinen Auge ihres Gatten nur Anmuthiges zu bieten, wohin er es auch in seiner Häuslichkeit richten mochte. Sie selbst eine jener Erscheinungen, die durch siegende Anmuth jede Stelle, die sie einnehmen, gleichsam erhellen, und durch den heimlichen Cultus, welchen sie unablässig dem Manne ihrer Liebe widmete, über allem Irdischen schwebend, während doch die leichte Hand recht wohl verstand, ihren weiblich schaffenden Aufgaben gerecht zu werden. Freilich konnte es nicht schwer fallen, diesen Mann als Idol zu hegen. Hier war nichts von jenen Grillen und Launen, die so oft die Kehrseite bedeutender Gaben bilden; eine reiche, schöpferische Heiterkeit belebte den Künstler wie den Menschen, und derselbe Sonnenstrahl, der jedes seiner Werke zu einer Wonne für das Auge machte, verklärte auch das Zusammenleben mit ihm selbst.

Schon begannen die Abende sich zu kürzen. Auf die heiße Sonnengluth, die mich hierher geleitet, folgte eine Gewitternacht und ein rauher, stürmischer Tag. Der Regen schlug gegen die Scheiben. Die Lampe war früh entzündet worden, und wir Viere saßen in lebhaftem Gespräch um den kleinen runden Tisch, der zwischen einem epheubezogenen Fenster und der tiefen Zimmerecke den behaglichsten Platz füllte. Professor Wernick hatte sich zeitig eingefunden, und die Stunden flogen im Austausch vielfältiger Erlebnisse dahin. Es war schon spät, als ein Rückblick auf gemeinschaftliche Reisezeit Holm veranlaßte, ein paar Skizzenbücher herbeizuholen und zwischen den Blättern eines hervorzusuchen, worüber er eben mit dem Professor gesprochen. Ich durchblätterte inzwischen die Hefte, als ein flüchtig skizzirter Kopf mich plötzlich durch seine frappante Aehnlichkeit zu dem Ausrufe hinriß: „Das Bild ohne Gnaden!“

Beide Männer blickten mir gleichzeitig über die Schultern. Holm legte seine Hand auf das Blatt und sagte lebhaft: „Sie kennen das Original?“

„Ja. Das heißt, eigentlich nur durch Ruf und von Ansehen,“ erwiderte ich, etwas erstaunt über den dringenden Ton der Frage.

„Sie haben es eben seltsam bezeichnet,“ fuhr Holm mit demselben gespannten Blick fort, „ein Bild ohne Gnade? Was heißt das? Warum nennen Sie das schöne Mädchen so?“

„Nicht meine Erfindung! Es war der Name, der Fräulein Rostau von der jungen Herrenwelt in Wien gegeben wurde, wo ich sie im vorigen Winter öfters in Gesellschaft traf, und welcher, der Originalität wegen, zum geflügelten Worte ward, das schließlich Jeder adoptirte. Sie kennen wohl kaum den Ursprung dieser in Süddeutschland landläufigen Bezeichnung? Er führt auf die Marienbilder zurück, die an Wallfahrtsorten dem Betenden zulächeln, wenn ihnen Erhörung beschieden ist, im entgegengesetzten Falle aber ein stummes ‚Bild ohne Gnade‘ bleiben.“

„Und das war hier charakteristisch?“

„Fräulein Rostau galt als unnahbar. Zum Ersatz erzählte man sich von ihr allerlei Romantisches.“

„Nun?“

„Was ich berichten kann, ist nur wenig, und für dieses Wenige übernehme ich keine Verantwortung. Das junge Mädchen nahm eine eigenthümliche Stellung ein; dies ruft stets vage Gerüchte in’s Leben. Sie trat in Wien als vollberechtigtes Mitglied der Familie des Grafen Mattern auf, während man erfuhr, daß sie derselben keineswegs verwandt sei. Es hieß, sie sei ein Findelkind. Genaueres wußte Niemand. Vor einigen Jahren soll sie mit einem Verwandten des Hauses verlobt gewesen, das Bündnis aber durch den Tod des Bräutigams gelöst worden sein. Einzelne, die ihr früher begegnet, datiren die starre Kälte, welche sie zeigt, und die an einem so jungen, schönen Geschöpf geradezu unnatürlich erscheint, von diesem Verluste her.“

„Dies interessirt mich sehr,“ sagte Holm lebhaft. „Seit langer Zeit hat mir Nichts so viel zu schaffen gemacht, wie dieses Mädchen. Graf Mattern ist seit ein paar Monaten mit seiner Familie in Zoppot. Wir treffen uns öfters; er besucht mich zuweilen und wünschte seine Kinder und Thea Rostau von mir gemalt. Die beiden Kleinen gaben ein hübsches Bild; dem Mädchen aber gehe ich nun schon wochenlang nach, kann nicht anfangen sie zu malen, und kann auch nichts Anderes thun – so sehr verfolgt mich das Gesicht.“

„Und weshalb beginnen Sie nicht?“

„Weil ich sie erst gesehen haben muß. Weil mich erst einmal aus diesen Augen der Blitz anleuchten muß, der darin jetzt wie festgefroren ist. Diese Statue mag ich nicht malen, und beseelt sie sich nicht vor mir, sei es auch nur für einen Moment, dann rühre ich nicht daran. Eine Medusa geben, wo ich gewiß weiß, ein in aller Schönheit des Weibes glühendes Wesen vor mir zu haben – nein! Ich schleiche ihr nach, als hätte ich mein Herz an sie verloren, und warte. Was Sie mir eben erzählt, ist Etwas – solche Vergangenheit! Ein Findling aber ist sie nicht, sondern ein Danziger Kind aus gutem Hause, so viel ich gehört. Das müßten Sie ja wissen, Wernick. Sie sind ja auch hier daheim!“

Ich wandte den Kopf und sah mit Holm zugleich fragend nach dem Professor hin. Er schwieg einen Moment. Die tiefe Blässe, welche sein Gesicht bedeckte, fiel mir auf. Doch hob er sogleich das Auge von dem Bilde empor, auf dem es geruht, und sagte, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, im gelassensten Ton:

„Allerdings kann ich Ihnen über Fräulein Rostan’s Familie Auskunft geben. Ihr Vater war Regierungsrath in Danzig, lebt aber nicht mehr. Eine kinderreiche Familie. Dora, für die Sie sich interessiren, das älteste Kind –“

„Das trifft nicht zu,“ warf Holm ein. Mein Original heißt Thea, und ich hatte von vornherein meine Freude an dem Namen, denn einer Theerose gleicht dieses Gesicht mit der durchsichtig klaren, kaum angehauchten Färbung, rein und kühl, vornehm vor Allem und von so leisem Duft, daß man jedenfalls sehr nahe stehen muß, um ihn zu gewinnen.“

„Ihr Name ist Theodora,“ sagte Wernick ruhig; „daraus ist wohl jetzt Thea geworden; als Kind wurde sie Dora gerufen. Eine Jugendfreundin ihrer Mutter faßte bei Anlaß ihrer Durchreise den Gedanken, das kleine Mädchen zu adoptiren, und die Eltern willigten ein. So kam sie in das gräfliche Haus, dem sie noch angehört.“

[741] Und wissen Sie Näheres über jene Verlobungsgeschichte?“

„Nein,“ sagte der Professor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf und sich erhob. Während er sich von unserer Wirthin verabschiedete, prüfte ich verstohlen sein Gesicht. Es war nicht mehr so tief blaß, wie vor einem Augenblick, und das dunkelblaue Auge blickte mit der klaren Ruhe, die dem ganzen Antlitz solch edlen Ausdruck gab; die Lippen aber preßten sich leise zusammen, sobald sie schwiegen.

Und ich las von diesem stummen Munde die stumme Geschichte einer nicht überwundenen Vergangenheit. Doch hatte offenbar nur ich allein diesen Eindruck empfangen, denn als Wernick gegangen war, fuhr Holm fort, mich nach Allem auszufragen, was ich von Fräulein Rostau gesehen oder gehört, ohne nur mit dem leisesten Ton den Zusammenhang mit seinem Freunde zu berühren.



Acht Tage meines Badelebens waren bereits in heiterster Weise verstrichen. Sogar das winzige Stübchen, in welchem ich Abends mein Haupt zur Ruhe niederlegte, war mir lieb geworden, denn es mündete auf einen großen Balcon, von dem aus das Meer zu schauen war. Wie herzerfrischend war es, alltäglich durch den Sonnenstrahl geweckt zu werden, der sich zwischen den dunklen Gardinen hin auf das Kissen stahl, noch halb im Traum das leise Rauschen der See zu hören, und dann Herz und Auge in der glorreichen Schönheit des Morgens zu baden! Der tiefen Stille erster Frühe folgte bald reges Leben. Zuerst die noch halb verschlafenen Kellner, um diese Zeit weniger erhaben blickend als gewöhnlich, während sie Ordnung auf Tischen, Bänken und Wegen schafften. Dann tauchten zwischen den Bäumen einzelne Gäste des Curhauses aus, ihr Badebündel unter dem Arme der See zuwandernd oder sehnsuchtsvoll nach Kaffee rufend. Die Tische der Veranda füllten sich nach und nach. Oben auf luftigem Balcon tranken einsame Damen vor der Glasthür ihrer Kabine den von der flinken Bertha credenzten Mocca und stellten stillschweigende Beobachtungen an, die später gelegentlich laut wurden. Gegen neun Uhr erschienen die Externen. Vermummte Gestalten wanderten dem Hause für warme Bäder zu. Besuche aus der Nord-, Süd- und Seestraße fanden sich ein, um zu plaudern, den Musiksaal für ein paar Stunden zu benutzen oder gemeinsam eine Lectüre zu naschen. Wer klug war, wählte hierzu die frühen Stunden; sonst gesellte sich den Klängen Beethoven’scher Sonaten oder den idealen Gestalten des modernen Dichters eine allzu lebhafte Begleitung. Punkt elf Uhr fand sich unter den Fenstern des Musikzimmers ein Plauder-Collegium zusammen, unter dessen kräftigen Organen und homerischem Gelächter jeder fremde Ton begraben wurde, wie ein Veilchen, über das ein Katarakt stürzt.

Es fehlte nicht an belebenden Elementen aller Art; Städter und Gutsbesitzer, Officiere, Gelehrte und Rentner hatten sich in bunter Anzahl eingefunden. An jungen Mädchen war kein Mangel; einzelne schöne Frauen entzückten das Auge. Nur die jüngere Herrenwelt war spärlich vertreten, wenn nicht zuweilen Concert oder Ball die jeunesse dorée Danzigs hinüberlockte. Die Bewohner des Curhauses fanden sich an der Tafel zusammen; die der Privathäuser und Villas wählten gern den Curgarten zum Rendezvous. Dort wurde ich während der ersten Tage meiner Anwesenheit durch Holm, der wöchentlich ein paar Mal nach Zoppot kam, mit der Mattern’schen Familie bekannt gemacht. Obgleich der Graf ein interessanter Mann und seine weit jüngere Frau eine hübsche Erscheinung war, richtete sich, so oft wir zusammen waren, meine Aufmerksamkeit im Stillen einzig auf die Pflegetochter des Hauses. Thea’s Schönheit hatte, seit ich ihr zuerst begegnet, noch gewonnen. Nie wieder traf ich bei dunkelm Haar solche durchsichtige Frische und Zartheit des Teints.

So sehr mich das reizende Mädchen anzog, so wenig gelang es mir, ihr auch nur das leiseste Zeichen von persönlichem Antheil abzugewinnen, obgleich wir manche Stunde im anregendsten Gespräch zubrachten und ich Alles einsetzte, was mir je ein Menschenherz gewonnen. Thea war nicht lebhaft, aber sie konnte es werden, in hohem Grade sogar, sobald irgend ein geistiges oder künstlerisches Gebiet durchschweift wurde. Bei jedem Hinlenken auf Persönliches, bei jeder noch so leisen Berührung der Regionen, die unseren innersten Menschen ausmachen, fiel es über sie hin, wie ein kalter Schleier. Sie war dann ganz und gar das Bild ohne Gnade.

Ein großes Zauberfest sollte im Curhause stattfinden, Doppelconcert, bengalische Beleuchtung und Tanz im großen Saale. Ich hatte beschlossen, mir all die Herrlichkeit aus der Vogelperspective meines Balcons anzuschauen; das unverhoffte Eintreffen des Holm’schen Ehepaares lockte mich aber doch in den fahnengeschmückten Garten hinunter. Ich lebte das ganze Programm mit durch. Ich frug nach Wernick, der mir in Zoppot noch nicht zu Gesicht gekommen war, und erfuhr, daß er des verzögerten Eintreffens seines Kollegen halber noch in Danzig verweilte. Er war im Holm’schen Hause ein täglicher und gern gesehener Gast; der Künstler rühmte mit Enthusiasmus sein harmonisches Wesen, die bedeutende geistige Reife, welche er erreicht, und weckte in mir den Wunsch von Neuem, diesen hochstehenden Charakter selbst näher prüfen zu dürfen.

Concert und Raketen hatten sich ausgetönt; schon klangen aus dem Tanzsaale die Weisen moderner Walzer herüber. Die Nacht war köstlich warm, und ich hatte wenig Lust, Holm in den Saal zu folgen, wozu er seine Frau und mich lebhaft beredete. Daß ihn selbst nichts dahin zog als das Verlangen, Thea zu beobachten, die er den ganzen Nachmittag nicht aus den Augen gelassen, räumte er gern ein. Trotz seiner Offenheit schien es mir fast, als unterläge seine Frau einem momentanen Gefühle leiser Eifersucht, denn ich sah über das liebe Gesicht etwas wie einen Schatten gehen, als ich den Freund drängte, doch nur seinem Modelle zu folgen und uns die weiche Sommernacht zu gönnen. Dies bestimmte mich zur Aenderung der eben geäußerten Ansicht; ich erklärte mich scherzend bereit, mit unserm Künstler nach einem Gnadenschimmer zu spähen, und so schoben wir uns denn alle Drei in den menschengefüllten, trotz der geöffneten Fenster dumpfen Saal. Von einem Sitzplätzchen keine Rede; wir drückten uns in einen Winkel, dem Eingange gegenüber, und schauten dem Wirbel zu.

Thea war wunderschön; sie trug Weiß wie gewöhnlich, nichts im Haare, nur eine dunkelrothe Rose mit einigen Knospen an der Brust. Dieser eine feurig glühende Punkt an der ganzen wie in eine Duftwolle gehüllten schneeweißen, schneekühlen Gestalt erschien mir, während sie so dahintanzte, wie jener magische Karfunkel, von dem ein altes Märchen erzählt, daß er dem Besitzer Macht über alle Geister verleiht.

Eben war eine Pause. Ich blickte gleichgültig in das Gewühl, als ich zu meiner Ueberraschung Wernick eintreten und neben der Thür stehen bleiben sah. In demselben Moment preßte sich Holm’s Hand auf meinen Arm; mit leisem Tone rief er frohlockend: „Gefunden!“

Ich folgte der Richtung seines Blicks, der fest auf Thea geheftet war. Sie stand etwas isolirt; ihre herrliche Gestalt war von unserm Standpunkte aus voll zu überschauen. Etwas vorwärts geneigt, in der Haltung einer schreitenden Statue, war sie auch statuengleich unbeweglich. Zu ihrem der Thür zugewendeten Auge leuchtete eine Flamme, die unwiderstehlich siegend hervorbrach; über dem ganzen Antlitze lag Rosenschimmer, der es verklärte, wie der Abendschein den Schneegipfel der Alpen verklärt. Aber auch wie der rosige Hauch von der Alpe plötzlich entweicht, so wich in Thea’s Gesicht im nächsten Moment die verklärende Gluth tiefster Blässe.

Unwillkürlich flog mein Auge auf Wernick zurück. Er stand noch an der vorigen Stelle, den Blick fest auf das schöne Gesicht gerichtet, das sich unter diesem Blicke wie in Stein verwandelte. Holm’s Wort fiel mir auf's Herz: „Ich will keine Medusa malen –“, doch blieb mir keine Zeit, Betrachtungen nachzuhängen. Wernick wandte sich in der nächsten Secunde ab, ließ sein Auge durch den Saal schweifen und war bald an unserer Seite, um sich mir als Haus- und Tischgenosse für die nächsten Wochen vorzustellen. Er erwartete seinen Kollegen am folgenden Tage, war seines Quartieres wegen vorausgegangen und gab sich während der nächsten Stunden so unbefangen, daß ich beinahe irre an meinen Voraussetzungen geworden wäre. Denn selbst die Probe einer Begegnung der beiden Menschen, die mich mit einem fast leidenschaftlichen Interesse erfüllten, trat noch heute als Zeuge gegen die ergriffene Auffassung heran. Graf Mattern begrüßte uns, Thea am Arme, als Holms eben im Begriffe waren, sich für den letzten Zug nach dem Bahnhofe zu begeben. [742] Holm stellte Wernick vor, der, nachdem der Graf einige Worte mit ihm gewechselt, Thea als Landsmännin ansprach und sich im unbefangensten Tone nach dem Ergehen ihrer Familie erkundigte.

Wochen vergingen, ohne der Vision, an welcher ich trotzdem ebenso stillschweigend als hartnäckig festhielt, irgend eine Bestätigung zu bringen. Das gesellige Leben der Kreise, die sich zusammengefunden, ging seinen Gang. Matterns, mit denen ich viel verkehrte, unternahmen häufig Ausflüge, wozu der Graf sowohl Wernick, als dessen bald nach ihm eingetroffenen Gefährten, den Professor Berg, aufzufordern pflegte. Wenn auch nicht immer, wurde solche Aufforderung doch meist angenommen. Um so mehr fiel es mir auf, daß sich nicht allein Wernick die beiden Male, wo wir die lohnendste aller von Zoppot aus erreichbaren Partien nach dem Vorgebirge Adlershorst unternahmen, hiervon losmachte sondern auch Thea im letzten Moment jedesmal Vorwände fand, zurückzubleiben.

An einem köstlich frischen, sonnenheiteren Tage fand ein Massenausflug nach Oliva statt, für welchen das Vergnügungscomité ein vollständiges Programm aufgestellt hatte; Alt und Jung nahm Antheil, und so wenig Derartiges nach meinem persönlichen Geschmack, mochte ich mich nicht ausschließen. Der Kaffee war bei Thierfeldt eingenommen, der Karlsberg erstiegen; selbst die weitberühmte Orgel der alten Klosterkirche mußte wißbegierigen Ohren ihren Tribut zahlen, dann ergoß sich der Strom der Gäste gegen Sonnenuntergang über den Park, wo all die bunten Gestalten mit ihrem Geplauder und fröhlichem Lachen mehr zwischen die hohen geschorenen Hecken paßten, die, noch in der Manier Lenôtre’s angelegt und erhalten, aus ihrem Dunkel auf das lichte Meer blicken lassen, als unter die herrlichen, schweigenden Baumgruppen und die geheimnißvoll rauschenden Cascaden.

Der jüngere Theil der Gesellschaft eilte dem Karpfenteiche zu, und bewegte das Glöckchen, um die alten, bemoosten Häupter zu füttern. Während dieser Act vor sich ging, machte einer der Herren den Vorschlag, die ganze Gesellschaft, Herren und Damen, durch Loose in Paare zu theilen, welche der nahen Flüstergrotte anvertrauen sollten, was sie sich etwa zu sagen hätten. Der muthwillige Gedanke ward mit Applaus angenommen und Alt und Jung zusammengeläutet. Aus den Blättern eines Notizbuches wurden rasch numerirte Loose geschaffen und feierlich durcheinandergeschüttelt. Die Damen mußten auf Verlangen des Ordners auf der einen Seite des Weges, die Herren auf der anderen Spalier bilden, bis sich durch Aufruf der übereinstimmenden Nummern die Paare zusammengefunden. Unter all dem Geschwirr, Gelächter und Durcheinander, welches dieser Einfall hervorgerufen, achtete ich, in ein Gespräch mit Berg vertieft, kaum auf das Resultat der Ziehung, wurde aber plötzlich für das Unternehmen interessirt, als ich, während sich die Reihe ordnete, Wernick an Thea’s Seite erblickte.

Die Procession zog der Flüstergrotte zu, einer jener Spielereien der Zopfzeit, worauf damals so hoher Werth gelegt wurde. Zwei rechts und links vom Wege angelegte Grotten haben so eigenthümliche Akustik, daß der Gegenüberstehende das leiseste Wort seines Partners in der zweiten Höhle versteht, während man auf der Mitte des Weges zwischen Beiden nicht einen Hauch vernimmt.

Mit einer Erregung, die ich selbst belächelte, stand ich an einen Baumstamm gelehnt, und sah Paar um Paar lachend aus- und einwandern. Als die Reihe an Thea kam, zögerte sie eine Secunde auf dem Wege, während Wernick, nachdem er mit stummer Verbeugung ihren Arm auf dem seinigen hatte gleiten lassen, bereits in die Höhle zur Linken getreten war. Als Thea sich der Grotte rechts zuwandte, in deren Nähe ich meinen Standpunkt genommen, sah ich im Moment ihres Verschwindens, daß dunkle Gluth ihr Wangen und Nacken übergoß. Ein paar Minuten vergingen. Sie erschienen mir von ungemeiner Dauer auch die eifrig plaudernden Pärchen, welche den Weg füllten, scherzten über das lange Beichtgeheimnis. Als Wernick hervortrat, stand sein Nachfolger schon ungeduldig bereit und warf ihm ein neckendes Wort zu, das in gleichem Tone erwidert wurde Nur einem scharf beobachtenden Auge konnte es deutlich werden daß der Professor stark erregt war; ich kannte dieses Gesicht schon gut genug, um Mund und Auge zu verstehen. Während ich noch zu ihm hinübersah, schritt Thea an mir vorüber – ein Bild ohne Gnade.

Ich würde viel darum gegeben haben, der Flüstergrotte, in welche ich bald nachher selbst eintrat, ihr Geheimniß abfragen zu können. Während das unerschöpfliche Frage- und Antwortspiel noch immer im besten Gange war, suchte ich mir eine einsame Bank; das Geschwirr und Gelächter um mich her begann mich ebenso zu ermüden, wie die lauten Exclamationen einzelner Enthusiasten, die ihrer Bewunderung der schönen Natur in wahrhaft lähmender Weise Luft machten. Schon war die Sonne gesunken, als ich mich auf den Weg machte, die zerstreute Gesellschaft wieder aufzusuchen. Zu meiner höchsten Ueberraschung kam mir in einem der verlassenen Laubgänge Professor Wernick entgegen, der Thea am Arme führte. Sobald wir zusammentrafen, gab er ihren Arm frei, küßte ihre Hand und zog sich mit stummer Verbeugung gegen mich zurück. Auch das schöne Mädchen verharrte, nach einer kurzen, zerstreuten Bemerkung gegen mich in Schweigen, während wir den allgemeinen Sammelplatz aufsuchten.

Wernick kam diesen Abend nicht mehr zum Vorschein.



Der Tag meines Scheidens nahte, und der Gedanke daran fiel mir schwerer, als der Vielgewanderten selbst erklärlich erschien. Stunden und Wochen waren verstrichen, wie auf den glückseligen Inseln, jede Sorge, jede Schwere des Lebens draußen geblieben. Ein traumhaftes Jugendgefühl überkam mich, wie das Echo längst verklungener Zeiten. Alles schien mit rosigem Schimmer überhaucht und verklärt zu sein. Und nun hieß es, den Bündel schnüren und zurück in die Alltagswelt. Viel Freundliches ward der Scheidenden noch dargeboten, als Wegzehrung gleichsam für die Erinnerung; geselliges Zusammensein, Partien aller Art füllten die letzte Woche. An dem Nachmittage, der meiner Abreise voranging, entschlüpfte ich aber jedem Auge, um noch einmal nach dem Parke von Oliva zu pilgern, wo mir die erhoffte Stille auch ward. Eine Festlichkeit auf der Westernplatte zu Neufahrwasser hatte alle Welt dorthin gelockt, und der sonst vielbesuchte Fürstengarten war einsam wie ein Kloster. Mit stillem Genießen durchwanderte ich die sonnendurchleuchteten Gänge und wandte mich endlich, um zu rasten, einem Platze zu, den ich bisher zu meinem Verdruß stets mit Menschen besetzt gefunden, jetzt aber endlich in Einsamkeit zu genießen hoffte.

Zu meiner unerfreulichen Ueberraschung sah ich aber schon von fern, daß die Bank am Teiche auch heute nicht leer war. Eine dicht in einen faltenreichen Shawl gehüllte Gestalt saß dort in so regungsloser Haltung, daß ich auf den Gedanken kam, sie möchte dem träumerischen Wasser gegenüber eingeschlummert sein.

Als ich mich näherte, erkannte ich Thea. Sie regte sich nicht, sondern richtete nur langsam die Augen auf mich und grüßte mit den Wimpern, während ich mich neben sie setzte. Erst jetzt sah ich, daß Thränen, die sie nicht zu fühlen schien, über ihre Wangen rollten. In vorgebeugter Haltung saß sie da, die Lippen leise geöffnet, als spräche sie mit Unsichtbarem. Nach dem ersten Blicke auf sie wandte ich mein Auge von ihr ab. Wir schwiegen Beide, und Schweigen ringsum hielt fast den Herzschlag in Bann. Klar wie ein Kinderauge, in dem Welt und Himmel sich spiegelt, lag vor uns der Teich, von Schilfpflanzen besäumt, die gleichsam seine Grenze gegen die ganze Schöpfung bildeten. Zur Rechten neigte eine uralte Linde ihr breitästiges Gezweige so tief hinab, daß die Blätter mit ihren letzten Spitzen im Wasser verschwanden. Links zitterte die Silberpappel und schimmerte wie Mondlicht beim leisesten Lufthauche. Nichts war zu hören als schwaches, fernes Rauschen der dem Auge verborgenen Wasserfälle, nichts zu schauen als das im Sommerwinde schwankende Laub. Auf der kleinen, links hereinragenden Bucht neigte sich das Schilf; das Wasser schuf sich Kreise, die, eng oder weit, immer gleiche Ringe schlossen; die Sonne legte eine schmale goldene Brücke darüber, und Eintagsfliegen taumelten darüber hin.

Friede ergriff mich. Jede Sehnsucht schien sich mir durch sich selbst zu beantworten. Ich wandte mich Thea zu, diesen Gedanken auf den Lippen. Aber das Wort stockte mir, als ich ihr in’s Gesicht sah. Die schönen, sonst so plastisch ruhigen Züge trugen den Ausdruck unsäglicher Qual. Lebhaft bewegt, schloß ich ihre Hand in die meine; sie war kalt wie Eis. Ein Bangen erfaßte mich, als hätte ich mein eigenes

[743]

Spanische Recruten in San Sebastian, Briefe schreibend. Nach der Natur aufgenommen von Rudolf Sprenger in San Sebastian.

[744] Kind neben mir und sollte es vor meinen Augen sterben sehen. Dem tiefsten Impulse folgend, legte ich meinen Arm um sie und sagte stehend:

„Kann Vertrauen Ihnen helfen, Thea?“

Sie sah mich an. Nie wieder bin ich solchem Blicke begegnet. Mystisch und düster wie der Sonnenstrahl, der durch Gewitterwolken bricht, sprach das Auge noch vor der Lippe sein hoffnungsloses Wort:

„Mir kann nichts – Niemand helfen.“

„Wohl,“ sagte ich, indem ich ihre widerstrebende Hand losließ; „unsere dunkelsten Stunden müssen wir Alle in Einsamkeit bestehen, aber glauben Sie mir, wer selbst durch die Nacht gegangen, weiß auch, welcher Weg wieder zum Lichte führt.“

Sie senkte das Haupt tief hinab.

„Zum Lichte?“ sagte sie. „Ja, Der vielleicht, dem sein Liebstes gestorben. Der gewiß, der mit dem eigenen starken Herzen alle Bitterkeiten gekostet, die Untreue und Wankelmuth ihm gereicht. Zum Lichte gehen sie Alle, Alle, sobald sie ihr Stück Nacht überwältigt. Aber vor Sehnsucht sterben und doch mit den weitgeöffneten Armen nichts weiter umschließen dürfen als sich selbst – in Reue vergehen, und als Buße nichts Anderes opfern können als zugleich mit dem eigenen das fremde, theuerste Glück – das ist ewiges Dunkel.“

„Durch jedes Dunkel giebt es einen Weg,“ erwiderte ich ernst; „wer Muth hat, findet ihn. Reue und Buße! Wo sie vernichten, erkenne ich sie nicht an. Ein einziger Entschluß füllt den tiefsten Riß aus, als wäre er nie gewesen. Das gilt für uns selbst! Gilt es fremden Glück, dann wird solches Anklammern an Vergangenes zur neuen Schuld, zur größeren – denn nur Egoismus hat sie dictirt.“

Thea sah mich starr an. Tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht. Ich brach ab, denn ich empfand, daß es nichts mehr zu sagen gab. Nach einigen Minuten erhob ich mich, um zu gehen. Sie hielt mich nicht zurück und machte weder Miene, ihren Platz zu verlassen, noch schien sie meinen Abschiedsgruß zu beachten. Kaum hatte ich mich aber wenige Schritte entfernt, als ich plötzlich eine heiße Wange dicht an der meinigen fühlte. Thea’s Lippen berührten flüchtig meine Augen; sie zog meine Hände gegen ihre Brust und sagte tiefathmend:

„Dank! – Das war eine Offenbarung! Vielleicht – – vielleicht!“

Ihr Auge leuchtete in so wunderbarem Glanze, daß ihre Schönheit mich in diesem Augenblicke ganz überwältigte. Während ich sie noch sprachlos anblickte, nickte sie mir zu, löste sich mit leiser, unwiderstehlicher Bewegung und verschwand zwischen den Bäumen.

Ich sah sie diesen Abend nicht mehr, auch fehlte sie am nächsten Morgen unter dem Geleite der Freunde, die mich zum Bahnhof brachten. Doch trug ich einen stummen Gruß von ihr mit in die Ferne – eine prachtvolle Theerose, die sie mir in aller Frühe gesandt.



(Fortsetzung folgt.)



Goethe.
Ein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
XIII.

Für keinen Dichter haben die Frauen soviel gethan wie für Goethe; aber keiner that auch mehr für sie als er. Denn wie oft er als Mann durch Untreue diesem Mädchen oder jener Frau wehgethan haben mag, als Poet hat er die Sünden des Menschen herrlich gesühnt und gutgemacht, indem er im Allerheiligsten der Schönheit jene ewigen Weihgeschenke, jene Frauenbilder aufstellte, wie sie in solcher Lebenswahrheit nur noch ein Dichter, der Vater Julia’s, Desdemona’s und Kordelia’s, zu schaffen vermochte. Selbst die vollendetsten Gestalten des „Ewig-Weiblichen“, welche sonst in alter und neuer Zeit zur dichterischen Erscheinung gekommen sind: – die homerische Nausikaa und die sophokleische Antigone, die beiden Inderinnen Damajanti und Savitri, Firdusi’s Tehmime und Menische, unseres Wolframs Sigune und unseres Gottfrieds Isolde, Dante’s Francesca und Ariosto’s Isabella, Miltons Eva und Moreto’s Donna Diana – keine von allen reicht zu den shakspeare’schen und goethe’schen Frauen hinan, bei weitem nicht; denn in keiner ist so wie bei jenen der Realismus des Daseins von dem Hauche des Ideals durchathmet und umwittert. Zwei modernen Poeten jedoch ist in ihren besten Momenten die Bildung von weiblichen Charakteren gelungen, welche den shakspeare-goethe’schen sehr nahe kommen: ich rede von Lord Byron und Madame Dudevant. Des ersteren Haidee darf neben die Ophelia, seine Myrrha neben die Iphigenie, seine Abeline neben die Philine sich stellen.

Aurore Dudevant hat, namentlich in ihrer ersten Periode, Frauenfiguren geschaffen, in welchen die weibliche Seite der französischen Gesellschaft in einer mit souveräner Künstlerschaft wiedergegebenen Naturtreue sich darstellt, die zugleich Schrecken und Mitleid erregt. Ich meine nicht etwa die gänzlich vergeckten weiblichen Fauste und Manfrede der Dichterin, sondern vielmehr Gestalten wie ihre Valentine, Geneviéve und Indiana. Charakteristisch für die Ohnmacht unserer deutschen Romantiker ist es, daß aus ihrer Schule nicht ein einziges Frauenbild hervorgegangen, welches typischen Werth hätte und für unsterblich gelten konnte. Selbst der Romantiker, welcher von allen am meisten vom echten Himmelsfeuer der Poesie in sich trug, Heinrich von Kleist, hat entweder nur Traumwandlerinnen wie sein Heilbronner Käthchen oder mannweibliche Monstra wie seine Penthesilea und seine Thusnelda zu schaffen verstanden. In diese Kategorie gehört auch die relativ gelungenste Frauenschöpfung Tiecks, die Viktoria Aceorombona, während später Hebbel mittels Aufdonnerung seiner Judith, Mariamne u. s. w. den Kleist zu überkleisten versuchte. Das anmuthigste weibliche Geschöpf, welches die Romantik ersonnen hat, dürfte die Mathilde von Ofterdingen von Novalis sein. Endlich darf sich Grillparzer als Frauenschöpfer zwar nicht mit Goethe und Shakspeare, aber sonst mit jedem heimischen oder fremden Poeten kecklich vergleichen. Seine Medea ist und bleibt ein Prachtexemplar von einer tragischen Heldin, seine Hero darf sich eine Halbschwester von Goethe’s Gretchen und Klärchen nennen und seine Esther kann für eine Base von Goethe’s Eugenie gelten. …

Ja, die Frauen haben viel für unseren Dichter gethan, vielleicht zu viel. Denn mitunter macht sich doch in seinen Werken das „Ewig-Weibliche“ zu sehr bemerkbar und vermißt man dagegen das Ewig-Männliche. Gereicht ja schon im gewöhnlichen Leben einem Manne die Gabe, allen Frauen ein Wohlgefallen zu sein, mehr zum Fluch als zum Segen. Immerhin aber bleibt es fraglich, ob die Frau, welche zweifelsohne von allen den bedeutendsten Einfluß aus Goethe geübt und ihn, so zu sagen, ein Jahrdutzend hindurch souverän beherrscht hat, Lotte von Stein, wirklich ein Segen für ihn gewesen, obzwar sie als ein solcher in seinen Briefen an sie unzählig oft anerkannt und gefeiert wurde. Schade, daß wir nur seine Briefe besitzen! Sie sind köstlich, aber sie reichen zur endgültigen Beurtheilung des Romans der Wirklichkeit, betitelt „Wolfgang Goethe und Lotte von Stein“, nicht aus. Ihre Briefe an ihn hat sie bekanntlich, nachdem der Dichter aus Italien zurückgekommen und die Christiane Vulpius zu seiner Hausgenossin gemacht halte, zurückgefordert und vernichtet, in einem Zornanfall, welcher, alle Phrasen beiseite gethan, mit der allerordinärsten Eifersucht die bedenklichste Aehnlichkeit hatte. Das ganze Verhältniß ist von Anfang an kein gesundes gewesen. Lotte, die Tochter des Hofmarschalls von Schardt und Gattin des Oberstallmeisters von Stein, war 1742 geboren und demnach um sieben Jahre älter als Goethe. Diesen Altersunterschied hat auch der Umstand, daß sie, als der Dichter sie kennen und lieben lernte, Mutter von sieben Kindern war, nichts weniger als ausgeglichen. Eine Schönheit ist sie selbst während ihrer Mädchenschaft [745] nicht gewesen; aber sie besaß, was mehr ist als Schönheit, Anmuth des Körpers und des Geistes, Weite und Klarheit der Anschauung, gediegene Bildung und ein nur selten störbares Gleichgewicht eines maßhaltenden Temperaments. Schiller, welcher bekanntlich während seines ersten Aufenthalts in Weimar die dortige Gesellschaft in seinen vertraulichen Auslassungen einer scharfen Kritik unterzog, schrieb am 12. August von 1787 – also nahezu elf Jahre nach Goethe’s Bekanntschaft mit Lotte Stein – an Körner: „Wie viel flache Creaturen kommen einem hier vor! Die beste unter allen ist Frau von Stein, eine wahrhaftig eigene interessante Person, von der ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachirt hat. Schön kann sie nie gewesen sein, aber ihr Gesicht hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Ein gesunder Verstand, Gefühl und Wahrheit liegen in ihrem Wesen. Man sagt, daß ihr Umgang mit Goethe ganz rein und untadelhaft sein soll.“ Und so war es. Lotte Stein gehörte zu jenen weiblichen Wesen, welche geliebt sein müssen und geliebt sein wollen, aber mit der Seele. Besäßen wir ihre Briefe an Goethe, sie würden, mit den seinigen an sie zusammengethan, einen wundersamen Dialog ausmachen, ein unvergleichliches Zwiegespräch zwischen Leidenschaft und Vernunft. Die Stimmführerin der letzteren war Lotte.

Es muß für sie ein schweres Stück Arbeit gewesen sein, die hoch und heiß lohende Flamme der Dichterliebe zum milde leuchtenden Lichte geschwisterlicher Vertrautheit herabzudämpfen. Aber diese Arbeit wurde gethan, und daß sie gethan werden konnte, dies beweis’t unwidersprechlich, welche außerordentliche Macht die Geliebte über den Liebenden übte. Freilich, Mann und Weib bleiben eben doch immer Mann und Weib. Die Natur läßt sich meistern, tyrannisiren sogar; aber doch immer nur für eine Weile, zumeist nur für eine kurze Weile, und muß es daher für eine Art von Wunder erklärt werden, daß die Weile im vorliegenden Falle ein Dutzend Jahre währte. Dann war kein Halten mehr: die Ungesundheit, die Unnatur, welche vom Anfang in diesem Wolfgang-Lotte-Roman gelegen, rächte sich und die künstlich-gewaltsam in die idealistische Stimmung hinaufgeschraubten Saiten der platonischen Leier sprangen mit einem grell realistischen Mißklang entzwei. Die junge und schöngerundete Thatsache Christiane Vulpius trug es über die angealterte und abgeblaßte Idee Lotte Stein davon. Die Logik des Lebens wollte es so. Auch gegen sie, wie gegen die des Todes, ist kein Kraut gewachsen …

Derweil war unser Dichter aus dem Jagdbruder und Zechgenossen Karl August’s mehr und mehr der führende Freund und vertraute Berather des jungen Fürsten geworden. Als solchem schien es ihm passend, den Herzog einmal für eine Weile von allem Hofquark zu entfernen, und aus diesem Gedanken ging dann jene „Geniereise“ hervor, welche Karl August mit Goethe und dem Kammerherrn Wedel im September von 1779 zu Pferde nach der Schweiz unternahm. Der Ritt führte über Frankfurt, wo unsere Reiter den guten Herrn Johann Kaspar von Altersbeschwerden gebeugt, die Frau Aja dagegen so hellauf wie allzeit fanden. Ueber Speyer ging’s in das Elsaß hinüber, dessen Bewohner sich damals noch in die Seele hinein geschämt hätten, den schnöden und schmachvollen Verrath an ihrer Nation und Nationalität zu begehen, welchen sie fünfzig Jahre später unter Anleitung von Seiten französischer Bonzen begangen und vollendet haben.

Es trieb unsern Dichter auf die Spuren vergangener Tage, es trieb ihn nach Sesenheim, als wollte und müßte er in Augen, deren zärtlicher Blick ihn vordem beseligt hatte, Verzeihung lesen. Und er las sie darin. An einem Septemberabend ritt er von Selz zur Sesenheimer Pfarre hinüber, während seine Reisegefährten geradeaus reis’ten. „Ich wurde“ – berichtet er – „von der Familie Brion freundlich und gut aufgenommen. Die zweite Tochter hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verschwendet habe. Ich mußte sie in einem Augenblicke verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete. Sie ging leise darüber weg, mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich allerliebst, mit so herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblicke an, da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr, daß sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich aber in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Ich blieb die Nacht und schied am andern Morgen, von freundlichen Gesichtern verabschiedet.“ Wie edelsinnig, gut und lieb die arme Friederike auch hier wieder erscheint! Die schlichte Pfarrerstochter von Sesenheim ist doch das Weib gewesen, welches von allen, die Goethe geliebt hat, seiner Liebe am würdigsten war. Man erkennt so recht den Unterschied von des Dichters Friederikeliebe und Lililiebe, so man beachtet, in was für einer ganz anderen Tonart er von seiner ehemaligen frankfurter Verlobten redet, die sich inzwischen, wie wir wissen, nach Straßburg verheirathet hatte. „Ich ging zu Lili und fand den schönen Grasaffen – („Der Grasaff’, ist er weg?“ fragt Mephisto den Faust inbetreff Gretchens) – mit einer Puppe von sieben Wochen spielen. Auch da wurde ich mit Verwunderung und Freude empfangen; fand auch, daß die gute Creatur recht glücklich verheirathet ist. Ihr Mann scheint brav, verständig und beschäftigt zu sein; er ist wohlhabend, hat ein schönes Haus, einen stattlichen bürgerlichen Rang etc., alles, was sie brauchte.“

Ueber Emmendingen, wo Goethe das Grab seiner Schwester besuchte, ging es nach Basel, von dort durch das Münsterthal und den Jura an die Seen der Westschweiz. Von Genf aus nach Chamonnix, von da in’s Wallis, dann über die Furka an den Vierwaldstättersee und nach Zürich, wo Karl August mit Lavater in Verbindung trat, während die Beziehungen des Dichters zu dem Propheten doch schon nicht mehr so ganz den Ton der früheren Ueberschwänglichkeit einhielten und wenige Jahre darauf vollständig erkalteten, weil dem lavater’schen: „Entweder Christ oder Atheist!“ ebenso kategorisch das goethe’sche: „Bin zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein decidirter Nichtchrist!“ sich entgegenstellte. Eine anziehende Schilderung der Alpenreise, deren Kraftgeniemäßigkeit darin bestand, daß sie zur Spätherbst- und Winterszeit unternommen wurde, gab der Dichter in seinen „Briefen aus der Schweiz“ (2. Abtheilung), die ursprünglich an Frau von Stein gerichtet waren. Die Beschreibung der Wanderung von Genf nach dem Gotthard ist vom Papa Wieland mit Recht „ein wahres Poem“ genannt worden. Auf der Rückreise hat Goethe das Singspiel „Jery und Bätely“ entworfen. Ich kann aber nicht finden, daß darin viel von „Gebirgsluft“ wehe, wie er später in seinen Tags- und Jahresheften behauptet hat. In die Rückreise wob sich übrigens eine denkwürdige Episode ein: in Stuttgart nämlich nahmen unsere Reisenden als Gäste des Herzog Karl am 14. December theil an der Stiftungsfeier der Militärakademie (später „Karlsschule“), worin sich damals der zwanzigjährige Schiller als „Eleve“ befand. Bewundernd hingen seine Blicke an dem Dichter des Götz und Werther, der seinerseits keine Ahnung davon hatte, daß in dem Schwarm grotesk uniformirter junger Leute Einer steckte, der von allen seinen Zeitgenossen allein das Zeug besäße, neben ihn sich zu stellen, und der, unzertrennlich ihm verbunden, dioskurisch mit ihm in die Nachwelt hineinschreiten würde.

Die Schweizerreise von 1779 machte für Goethe den Abschluß der Sturm- und Drangzeit und setzte der Kraftgenialität ein Ziel. Er legte die Werthertracht ab und begann im Anzug, Auftreten und Gebahren den Geheimrath herauszukehren; so sehr, daß sein herzoglicher Freund, der all’ sein Lebtag ein starkes Stück von einem Studenten geblieben ist, über die „Feierlichkeit“ und „Taciturnität“ des dichterlichen Dutzbruders sich baß verwunderte. Der angehende Herr Geheimrath seinerseits verwunderte sich zwar nicht allzu sehr über diese oder jene Eigenschaft oder Eigenheit des herzoglichen Freundes – wie z. B. über dessen Soldatenspielerei, welche ja, meinte Goethe, den deutschen Fürsten wie eine unausrottbare Krätze unter der Haut steckte –, aber er hatte sattsam Ursache, sich darüber zu ärgern, maßen ihm in den nächsten Jahren häufig die Aufgabe zufiel, allerhand aus jenen Eigenschaften oder Eigenheiten entsprungene Unzukömmlichkeiten und Wirrsale auszugleichen und zu lösen. Auch alle die jämmerlichen Krähwinkeleien, welche die Regiererei so eines Undings von Miniaturstaat mit sich brachte, hatte er auszukosten. Die viele Zeit, welche er seiner Stellung zufolge dem Hofleben in Weimar selbst und in der Nachbarschaft zu opfern hatte, suchte er dadurch nutzbar zu machen, daß er seine in den aristokratischen Kreisen gehabten Anschauungen und gemachten [746] Erfahrungen für seinen „Wilhelm Meister“ verwerthete, an welchem er ernstlich zu arbeiten begann.[1] Zur Verschönerung der Residenz an der Ilm trug er ganz wesentlich bei mittels der Parkanlagen, welche nach seinen Eingebungen und unter seiner Leitung ausgeführt wurden. Mit wachsendem Eifer sah er sich in den Naturwissenschaften um; aus dem Getümmel und vor den Sorgen des Lebens, wie vor der Unrast des eigenen Herzens flüchtete er immer wieder in die Philosophie des Spinoza als in eine geweihte Zufluchtstätte, deren erhabene Stille und erfrischende Kühle stets wohlthuend auf ihn wirkten.

So sehen wir also den kraftgenialisch hastenden und tastenden Jüngling zum methodisch strebenden, werkthätig eingreifenden, schaffenden Manne geworden. War er auch ein glücklicher? Kaum. Wußte er doch auch schon von Verarmung zu sprechen. Manches, was ihm früher nahegewesen, hatte er als seinem eigenen Wesen antipathisch von sich gestoßen, anderes hatte der Tod von ihm abgelöst. So seine Schwester, deren Verlust ihm sehr schmerzlich gewesen, so den Vater, dessen Hingang ihn doch wohl mahnen mußte, daß seine Gesinnung und sein Verhalten gegen denselben nicht immer gewesen waren, wie sie billig hätten sein sollen. Seine Stellung im Amt und bei Hofe reizte viel grüngelben Neid gegen ihn auf, denn die Neider wußten ja nicht oder wollten nicht wissen, wie viele Sorgen der Beneidete zu tragen, wie viele Widerwärtigkeiten er durchzukämpfen hatte. Dem dichterischen Schöpfungstrieb mangelte häufig die Muße, so daß kein Ganzes und Großes sich gestalten wollte. „Faust“, „Egmont“, „Tasso“, „Wilhelm Meister“ blieben Stückwerk. Ebenso die im Sommer von 1784 angehobenen „Geheimnisse“, in und mittels welcher Dichtung Goethe mit der Religion und dem Christenthum endgiltig sich auseinandersetzen wollte. Das Unternehmen, welches, wenn fortgeführt und vollendet, ein Faust-Epos, ein Goethe’scher „Parcival“, so zu sagen, hätte werden können, war zunächst für Lotte von Stein bestimmt. An sie richtete sich auch die „Zueignung“, jene herrlichen Stanzen („Der Morgen kam“ u. s. w.), welche jetzt in den Werken des Dichters der Lyrik voranstehen. Es ist in allen seinen Auslassungen gegen die Freundin eine herzbewegende Macht innigsten Zugethanseins. So auch in der Strophe:

„Gewiß, ich wäre schon so ferne, ferne.
Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen.
Bezwängen mich nicht übermächt’ge Sterne,
Die mein Geschick an deines angehangen,
Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne.
Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach dir und deinem Wesen drängt.
Mein Leben nur an deinem Leben hängt –“

welche er von Braunschweig aus, wohin er mit dem Herzoge gegangen, am 24. August von 1784 an Lotte sandte. Aber es gab doch auch Stunden und Tage, wo diese nur halb erwiderte, naturlose Liebe schwer auf ihm lag, von allen Verbitterungen seines Daseins die bitterste. Solch ein Tag war jener 7. September von 1783 gewesen, an welchem auf dem Gickelhahn bei Ilmenau der Brust des Dichters ein Liedseufzer entquoll („Ueber allen Gipfeln ist Ruh’ –“), welcher zu den süßesten, seelenvollsten Naturlauten der Goethe’schen und überhaupt der Poesie gehört. Kein Wunder, daß, als achtundvierzig Jahre später der lebensmüde Greis noch einmal auf dem Gickelhahn stand und das vor nahezu einem halben Jahrhundert von seiner Hand auf die Wand des dortigen Bretterhäuschens geschriebene „Wanderers Nachtlied“ überlas, ihm die Thränen hervorstürzten und er, von Todessehnsucht angefaßt, wiederholt die Schlußzeile vor sich hinsprach: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch!“




Paschawirthschaft in der Türkei.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
Entwerthung des Paschatitels. – Ein Pascha von etwas und ein Pascha von nichts. – Ein alter stocktürkischer Pascha. – Die Grobheit als diplomatisches Hülfsmittel. – Der Schreckensmann im Hausgewand. – Plumpe Schmeichelei. – Wie ein Pascha umsonst lebt. – Der Hungerposten.


Ein Pascha von drei Roßschweifen, das war in der alten Türkei ein Titel, den die allmächtigen, vielgefürchteten allerhöchsten Würdenträger führten und den ein gewisser Zauber umgab. Uns klingt er seltsam, ja er fordert fast den Spott heraus. Noch mehr würde er es thun, wenn statt „Roßschweifen“, das nur ein beschönigender Ausdruck ist, der wahre Gegenstand, nach welchem diese Paschas ihre Würde benannten, stünde. Denn eigentlich waren es die Schweife der Yaks oder Grunzochsen, welche als alttürkische Heerzeichen im Lager eines Feldherrn aufgepflanzt wurden, und zwar je nach der Größe des Heeres, das er befehligte, mehr oder weniger. Der große Heerführer hatte drei, der mittlere zwei, der kleine einen Grunzochsenschweif als Heerzeichen. Später vergaß man den wahren Gegenstand, und der Titel verlor seine ursprüngliche Bedeutung. So lange aber das türkische Reich mächtig war, blieb ein „Pascha von drei Roßschweifen“ ein großer, gewaltiger Herr. Solcher Paschas gab es nicht viele, und selbst manche gewichtige Herren, sogar halbe Landesfürsten, wie der Bey von Tunis, mußten sich mit zwei sogenannten Roßschweifen begnügen. Ja, es gab solche mit einem einzigen, welche gleichfalls oft eine gewichtige Rolle spielten.

Heut zu Tage ist dies anders geworden. Wir leben in einer Zeit, in welcher die Titelsucht in allen Ländern reißende Fortschritte gemacht hat. Jedermann will Titel haben, und die Regierungen finden es sehr bequem, solche statt anderer Belohnungen auszutheilen. Selbst im Orient ist die Titelsucht eingerissen. Man kennt zwar dort nicht solch gänzlich bedeutungslose Titel, wie die unserer vielen Geheimen und anderer Räthe, ohne die eine deutsche Residenzstadt gar nicht gedacht werden kann, dafür sind aber solche Standesbezeichnungen, die ursprünglich nicht leerer Schall waren, wie Effendi, Bey, Agha, dem Loose verfallen, dem alle Titel erliegen, wenn sie zu häufig verliehen werden. Ein heutiger Bey ist ein erbärmliches Ding im Vergleich mit einem Bey vor dreihundert Jahren, der oft ein kleiner Landesherr war, Effendis sind gar so gemein geworden, daß der Volksmund von ihnen „fünf für einen Pfennig“ sagt.

Mit dem Paschatitel ist die Zeit zwar nicht ganz so schlimm gefahren, aber seinen frühern Werth hat er doch nicht mehr. Seit das altehrwürdige Symbol der „Roßschweife“ weggefallen ist, hat man diesen Titel dem europäischen Generalsrang in seinen verschiedenen Abstufungen gleichgestellt, den kleinen Pascha dem Brigade-, den mittleren dem Divisions-General, den großen (den früheren Pascha mit drei Roßschweifen) dem Marschall. Danach wäre freilich dem Paschatitel immer noch eine große Bedeutung geblieben, wenn nur die türkischen Generale in Wirklichkeit dieselbe Bedeutung hätten, wie die unsrigen. Aber mit dem Verfall der Armee ist auch der Generalstitel zu verhältnißmäßiger Unbedeutendheit herabgesunken; selbst die wirklichen Generale bedeuten nicht viel; wie viele giebt es aber nicht, die nur den Titel und gar keine Truppe zu befehligen haben! Pascha ist eben auch ein Titel geworden, der nicht immer ein Amt bedeutet. Dennoch giebt es Paschas, deren Titel nicht leerer Schall ist. Der Volksmund nennt sie „Paschas von etwas“ und die andern „Paschas von nichts“. Fragt man einen Bauer, was er unter diesem „etwas“ und diesem „nichts“ denn eigentlich verstehe, so wird man wahrscheinlich die tröstliche Antwort erhalten, daß das eine „etwas zu stehlen“ und das andere „nichts zu stehlen“ bedeute. Das „nichts“ ist allerdings nicht buchstäblich zu verstehen, denn selbst der erbärmlichste Pascha findet in der Unordnung aller Verwaltungszweige immer noch Gelegenheit, hier und da ein wenig zu stehlen, aber es ist ein „nichts“ im Vergleich mit dem, was die Andern auf die Seite bringen.

Der Statthalter einer Provinz ist gewöhnlich ein solcher „Pascha von etwas“, das heißt, er kann tüchtig stehlen und nebenbei eine fast unumschränkte Macht ausüben. Außerdem ist er meistentheils ein „großer“ Pascha, manchmal ein „mittlerer“. Es kommt indeß auch vor, daß selbst ein „kleiner“ Pascha einer [747] „von etwas“ ist und ein „großer“ einer „von nichts“; ja es ist mir ein Fall bekannt, wo ein großer „Pascha von nichts“ der Vorgesetzte eines kleinen „Pascha von etwas“ ist, ohne deshalb aus seinem „Nichts“ herauszukommen. Dieses Naturwunder hat sich in der Provinz Hedschaz in Arabien ereignet. Die Provinz besitzt als General-Gouverneur einen „großen“ Pascha, der in Mecca residirt. Da indeß der größte Theil seines Amtsbezirks nur auf dem Papier unterworfen, in Wahrheit aber unabhängig ist, so hat er nichts zu verwalten. Dagegen giebt es in seinem Bezirk eine Stadt, Dschedda, welche vollkommen unter türkischer Botmäßigkeit steht und in der er nach Herzenslust den „Pascha von etwas“ spielen könnte, besäße diese nicht einen kleinen Pascha als Untergouverneur, der ihm diese Mühe und Ehre abnimmt.

Der einzige Türke in Hedschaz, dem das Leben nicht sauer gemacht wird, ist eben dieser kleine Pascha von Dschedda. Dieser Würdenträger war zur Zeit meiner letzten Anwesenheit in jener Stadt ein gewisser Nuri-Pascha, ein Original, das es sich wohl verlohnt ein Bischen näher zu betrachten, besonders deshalb, weil er einer der letzten Vertreter einer aussterbenden Race ist, nämlich der alten stocktürkischen Beamtenclasse, die in unserer Zeit, wo Alles von der Kultur beleckt wird, immer seltener wird. Er ist eigentlich ein fürchterlicher Barbar, den man anderswo kaum dulden würde, aber nach Arabien, wo man alles Moderne als halbeuropäisch und ketzerisch verdammt, paßt er. Seine Rohheit selbst flößt hier ein gewisses Vertrauen ein, denn je roher ein Türke, desto fanatischer ist er gewöhnlich auch, und der Fanatismus blüht ja in diesem Lande noch mit ungeschwächter Pracht.

Nuri-Pascha ist ein alter Soldat, vom Gemeinen auf vorgerückt. Durch einschmeichelnde Eigenschaften hat er gewiß die Gunst seiner Vorgesetzten nicht errungen. Daß er es überhaupt zum Pascha gebracht hat, ist ein Beweis, daß eine rücksichtslose Haudegennatur und ein starres Stocktürkenthum selbst heutzutage in der Türkei noch geschätzt werden, oder vielmehr vor zwanzig Jahren noch geschätzt wurden, so lange ist es nämlich her, seit er sein Paschathum errungen hat, das wohl stets nur ein „kleines“ bleiben wird; denn für etwas Höheres ist er denn doch ein „ungeschliffener Diamant“. In seinen jüngeren Jahren soll er eine Zeitlang in Albanien fürchterlich gehaust haben, und man erzählt sich haarsträubende Dinge von seiner dortigen Wirksamkeit und munkelt, daß er noch jetzt ganz grauenerregende Andenken aus jener Zeit bewahre. So sagte mir ein alter Dscheddaner, der sich einer gewissen Vertraulichkeit mit dem alten Tiger rühmte, derselbe schlafe auf einer Matratze, die ganz mit Menschenhaaren gefüllt sei und zwar von Menschen, deren Köpfe er alle eigenhändig abgesäbelt habe. Der Dscheddaner sagte dies nicht etwa tadelnd, sondern glaubte das Lob des grimmen Pascha zu singen; waren doch die Geköpften alle Ungläubige gewesen.

Aber manches einseitige Parteilob klingt dem Andersdenkenden wie Verleumdung. So habe auch ich die fürchterliche Matratze zwar gesehen, jedoch nie an die Menschenhaare darin glauben können. Ebensowenig glaubte ich an ein anderes, aus ähnlicher Quelle stammendes Gerücht, wonach die Rosenstöcke im Harem des Pascha statt in Blumentöpfen in Menschenschädeln wüchsen und zwar natürlich auch von Menschen, die er alle selbst geköpft habe. Verweisen wir dies in’s Gebiet der Fabel. Indeß, wenn man den finstern Pascha ansah, so begreift man sehr gut, wie solche Fabeln entstehen konnten. Es war ein altes Janitscharengesicht, mit buschigen weißen Augenbrauen, unter denen ein Paar stechende Augen lauerten und eine Raubvogelnase kühn hervorragte; der Mund war groß und öffnete sich oft in einer Weise, die den Vergleich mit einem Haifisch nahe legte. Jetzt war die ganze Gestalt zwar vom Alter etwas mitgenommen, das heißt abgezehrt und verwittert, aber sie verrieth noch immer große Energie, und ihre schnellen Bewegungen zeugten, daß hier noch Gluth unter der Asche glimmte. Von jener trägen Ruhe und Genußsucht, welche die Paschas von gewöhnlichem Schlag kennzeichnet und die sich in gedunsener Leibesfülle und sinnlichem Gesichtsausdruck offenbart, war hier keine Spur. Leidenschaften herrschten auch hier, aber es waren die Leidenschaften eines tollkühnen Haudegens, eines geborenen Räuberhauptmanns, nicht die eines Genußmenschen.

Zum Diplomaten nach dem Schulbegriff war Nuri-Pascha sichtlich nicht geeignet, denn natürlich fehlte es ihm an aller und jeder Geschmeidigkeit. Aber sonderbar, es war ihm oft geglückt, Unterhandlungen zu günstigem Abschluß zu bringen und zwar hauptsächlich durch eine bei ihm sehr entwickelte, jedoch keineswegs diplomatische Eigenschaft: die Grobheit. Mancher kleine Häuptling, der mit der Pforte unterhandelte, war durch Nuri-Paschas Grobheit zur Annahme von Bedingungen geschreckt worden, die man durch die schönsten Worte nie von ihm erlangt haben würde. Es soll ein höchst ausdrucksvolles Schauspiel geboten haben, einen arabischen Scheich, der doch gewöhnlich in der Grobheit auch das Seinige leistet, in Unterhandlung mit dem grimmen Pascha zu sehen. Anfangs nahmen Beide kaum von einander Notiz, das heißt der Scheich trat lärmend beim Pascha ein, warf sich flegelhaft hin, grüßte aber kaum; der Pascha dagegen drehte ihm den Rücken und that, als sei er gar nicht da. Verlor dann der Scheich die Geduld und fing er an, sich geräuschvoll zu räuspern, um seine Anwesenheit in Erinnerung zu bringen, so drehte sich der Pascha wohl nach ihm um, sah ihn flüchtig an, aber etwa so, wie man einen Hund ansieht, den man zur Thür hinauswerfen will. Nach Erschöpfung der stummen Grobheiten kam es zu den lauten. Der Scheich fing an, sich unverschämte Ausdrücke zu erlauben, wohl in der Meinung, den Türken, den der echte Araber sich immer feig vorstellt, einzuschüchtern; aber hier fand er seinen Mann, der ihm zu antworten verstand. Nun folgte ein Concert von Schimpfworten, arabischen und türkischen, in dem die erstere Sprache vielleicht den Sieg des Wortreichthums, die letztere aber, wenigstens in des Paschas Munde, den der Energie davontrug. Der Araber schaute erstaunt auf. Einen Türken, der so schimpfen konnte, hatte er noch nicht gesehen. Er bekam plötzlich Respect vor ihm und ließ sich soweit einschüchtern, daß er Dinge versprach, die man sonst nie von ihm erlangt hätte. Die Pforte wußte sehr wohl, warum sie gerade diesen Pascha nach Arabien geschickt hatte.

Selbst den Europäern gegenüber erwies sich des Paschas Grobheit manchmal wirksam. So erinnere ich mich eines Falles, wo ein englischer Telegraphenbeamter nach Dschedda kam, um von dort aus einen Anschluß an das unterseeische Kabel des rothen Meeres zu Stande zu bringen. Er stellte höchst vortheilhafte Bedingungen, welche von der Pforte selbst dem Pascha und den Notabeln von Dschedda dringend zur Annahme empfohlen worden waren; überall würde man seinen Plan willkommen geheißen haben, in Dschedda dagegen erregte er allgemeine Entrüstung, denn gerade das, was man dort am allerwenigsten wünschte, war eben der Telegraph. Man wollte keine schnelle Verbindung mit Constantinopel, die ja auch zur Vermittlung von Beschwerden benutzt werden könnte und überhaupt den ganzen üblichen Schlendrian zu stören drohte.

Selbst alle großen Kaufleute waren dagegen, denn der Araber ändert seine Handelsgewohnheiten höchst ungern. Man drang in den Pascha; man bot ihm sogar Geld, daß er den Unglücksmann unverichteter Sache fortschicke. Das Geld nahm er natürlich an und that dann dafür Das, was er auch unbestochen gethan haben würde, denn ihm war der Telegraph noch viel verhaßter, als den Anderen. Da der Telegraphist vom türkischen Ministerium gut empfohlen worden war, so glaubte er wenigstens auf eine höfliche Aufnahme rechnen zu dürfen. Aber da irrte er sich sehr. Der grimme Pascha empfing ihn auf eine Weise, daß ihm alle Lust zu weiteren persönlichen Verhandlungen verging und er die Sache seinem Consul überließ. Dieser Consul erfreute sich ausnahmsweise der Gunst des Pascha, weil er gut türkisch sprach und ihn richtig zu behandeln wußte. In diesem Fall aber setzte er gar nichts durch; der Engländer mußte wirklich seinen Plan aufgeben, und darum hat Dschedda niemals einen Telegraphen bekommen.

Auch ich lernte den alten Stocktürken kennen, und da er mir gegenüber keinen besondern Grund besaß, seiner beliebten Grobheit die Zügel schießen zu lassen, so konnte ich mich eines wenn auch nicht höflichen, so doch erträglichen Empfanges rühmen. Mit der Zeit brachte ich es sogar dahin, daß, wie mir Andere sagten, der Pascha mich durch zuvorkommende Artigkeit auszeichnete. Die Anderen waren freilich nöthig, um mir das zu sagen; denn was man bei diesem Pascha „Artigkeit“ nannte, verdient nach europäischen Begriffen diesen Namen nicht. Nach unserer Ansicht ist es zum Beispiel gar nicht artig, wenn uns ein Vornehmer, dem wir einen Staatsbesuch machen, in Nachthemd und Unterhosen empfängt und nicht von seinem Bette aufsteht, [748] auf dem er nur aus Laune liegt. Beim grimmen Pascha galt solcher Empfang aber als Zeichen großer Gunst. So wurde auch ich mehrmals empfangen und von den im öffentlichen Saale wartenden Honorartioren sehr um diese Gnade beneidet. Gewöhnlich lag dann der Alte im einem kleinen Nebenzimmer, in der oben beschriebenen leichten Tracht, auf der Erde (denn die altmodischen Türken verschmähen Bettgestell und dergleichen), nur durch die fürchterliche Matratze vom Fußboden getrennt. Viel Notiz nahm er nicht von dem Eintretenden, ja er drehte ihm meist den Rücken und das Gesicht der Wand zu. Aber er wußte sehr gut, wer eintrat, und wehe dem Unbefugten, der sich vermaß, in dieses Heiligthum einzudringen! Dann klatschte er leicht in die alten knochigen Hände und flugs erschienen zwei riesige Neger und beförderten den Eindringling die Treppe hinab.

In dieser bequemen Lage liebte es der Pascha, sich unterhalten zu lassen. Die Besucher mußten ihm Geschichten erzählen. Er zeigte ihnen dabei zwar nur seinen „ungebeugten Rücken“, aber er hörte sie doch. War das Geschichtchen gut und hatte es eine recht beißende Spitze, dann merkten wir an den Bewegungen der langen ausgestreckten Figur, daß der Pascha sehr heiter sein müsse. Dann verkrümmte sich die stramme Gestalt, um aber gleich wieder mit großer Spannkraft in die gerade Lage zurückzuschnellen, und das eine der alten mageren Beine flog, wie im Jubel, etwas in die Höhe. Das war der Gipfelpunkt der Heiterkeit.

Einmal sogar wälzte er sich buchstäblich auf dem Bauche, wenn man bei einem so mageren Manne überhaupt von Bauch reden konnte. Dann lag der Kopf schief in den Polstern; die Beine standen in spitzigen Winkeln in die Höhe, und ein muthwilliges Zucken durchlief die ganze Gestalt. Bei dieser Gelegenheit bekam man auch sein Gesicht zu sehen; er lachte nicht fein, sondern in einer so ausgelassenen Weise und mit so kräftigen Gesichtsbewegungen, daß man bei einem Andern vielleicht an Tollheit geglaubt hätte. Darum beehrte er auch wohl meist die Wand mit dem Anblicke seines Gesichts.

Einmal machte ich die Entdeckung, daß der Alte, trotz seiner eigenen Grobheit, dennoch für Höflichkeit von Seiten Anderer, ja selbst für Schmeichelei nicht unempfänglich sei. Aber ihm durfte nicht fein geschmeichelt werden; dafür hatte er gar kein Verständniß. Je gröber, desto besser, weil desto verständlicher. Zwar erreichte die Schmeichelei selten ihren Zweck, denn bei ihm hieß es, wie beim Könige der Thiere: „Grob oder höflich, ich fresse dich doch“, aber es freute ihn demungeachtet. Im besagten Falle war die Schmeichelei eine ganz besonders plumpe und erregte deshalb nur desto größere Befriedigung. Ein griechischer Branntweinhändler hatte, in dem Wahne, dadurch etwas vom Pascha zu erlangen, dessen Lob in einem in Aegypten in italienischer Sprache erscheinenden Winkelblatte gesungen, und was für ein Lob! Eine Lüge gröber als die andere, ja der Alte wurde für Dinge gepriesen, von denen notorisch war, daß er sie zu thun verweigert habe. So zum Beispiel hieß es, er habe den Armen drei große Cisternen (in dem wasserarmen Dschedda eine ungeheure Wohlthat) geschenkt, während Jedermann wußte, daß er sie theuer verpachtet hatte. Eine dieser Schmeicheleien war jedoch so seltsam, daß man sie dem Pascha gar nicht recht mitzutheilen wagte. Es hieß nämlich, Nuri-Pascha habe sich als „ein Mann des Fortschritts“ und als „aufgeklärt“ erwiesen. Es war nicht räthlich, ihm diese beiden Begriffe wortgetreu zu verdolmetschen, namentlich das letztere Beiwort, das dem alten Fanatiker eher wie Tadel klingen mußte. Das wußte auch der junge türkische Arzt, der den Uebersetzer spielte, sehr gut; denn als der Pascha fragte: „Aufgeklärt? Was ist das für ein Ding?“ erwiderte er beschönigend, es sei ein Mann, der „viel Gutes thue“. Dies ließ sich zwar der Alte gefallen, aber es kitzelte seine Heiterkeit besonders, daß er „viel Gutes thun“ solle. Er „viel Gutes thun“? Es war eine kostbare Ironie! Denn die geleerten Taschen aller Bürger von Dschedda waren da, um zu bezeugen, daß alles Gute, was er that, nur seiner Casse zu Gute kam.

Daß er natürlich auch ein „Vater der Wittwen und Waisen“ genannt wurde, war nur eine beliebte orientalische Uebertreibung, die in keiner Lobhudelei zu fehlen pflegt und deshalb ganz in der Ordnung gefunden wurde. Insofern war sie auch richtig, als er sehr oft bei Wittwen und Waisen in die Stelle des verstorbenen Vaters eintrat, indem er nämlich dessen Vermögen im Besitz nahm, um es natürlich für sich zu behalten, die Hinterbliebenen aber großmüthigst in ein Armenhaus steckte, wo sie Wohnung bekamen, für Kost jedoch auf Almosen angewiesen waren. Bei Erbschaftsprocessen spielte er sehr gern den Vermittler, das heißt er nahm gewöhnlich die Erbschaftssummen, wie es hieß, in „Verwahrung“. War dann endlich der Proceß entschieden, so hätten die Erben ebenso gut in den Mond zu steigen versuchen können, als den grimmen Pascha zur Herausgabe der Erbschaft zu bewegen.

Zuweilen gefiel es ihm, als ein Mann zu erscheinen, dem der Rechtspunkt über Alles ginge. So kam es während meiner Anwesenheit in Dschedda vor, daß die ehemalige Sclavin eines reichen Türken daselbst starb, die Jedermann für bettelarm gehalten hatte, in deren Hause sich aber, in alten Lumpen versteckt, eine sehr ansehnliche Summe vorfand. Diese Summe hätte, nach dem gewöhnlichen Rechtsgebrauch, den Söhnen der Verstorbenen, deren sie zwei und zwar beide von ihrem zweiten Mann, einem Ostindier, besaß, und die unter englischem Schutz standen, gehören sollen. Der englische Consul nahm für diese auch wirklich Besitz davon. Aber er hatte ohne den Pascha gerechnet. Dieser entwickelte unerwarteter Weise die Rechtsfrage dahin, daß er behauptete, die Alte müsse das Geld ihrem ersten Gebieter gestohlen haben, dieses gehöre folglich den Erben des reichen Türken, für deren Rechte der Pascha plötzlich ein lobenswerthes Interesse an den Tag legte. Ob diese selbst etwas davon wußten? Schwerlich! denn, nachdem der Pascha von den ihm gehorsamen Richtern einen ihm günstigen Spruch erlangt hatte und der englische Consul gezwungen worden war, das Geld herauszugeben, wurde der Erben mit keiner Silbe mehr erwähnt. Kein Mensch wußte auch etwas von ihnen und ob sie überhaupt vorhanden waren. Den wahren Erben aber kannte Jedermann; natürlich war es der Pascha.

So flossen denn ganz hübsche Sümmchen in seine Casse und blieben auch darin; denn für seinen Hausstand verausgabte er wenig. Nicht, als ob er schlecht gelebt hätte – im Gegentheil, es herrschte Ueberfluß bei ihm; aber die Sorge hierfür überließ er seinen treuen Dscheddanern, namentlich den reichen Kaufleuten, die ihn mit allem Möglichen, Eßbarem wie nicht Eßbarem, Nützlichem wie Unnützem, umsonst versahen. So besaß er vier stattliche abessinische Sclaven, die, in kostbare Gewande gekleidet, mit schweren goldenen Ketten behangen und mit theuren Ringen geschmückt, die Aufwärter im Audienzsaale machten. Alles, was diese braunen Jünglinge an und um sich hatten, ja ihre eigenen Personen, waren Geschenke bewundernder Untergebenen. Ebenso soll der ganze Harem des alten Stocktürken nur aus geschenkten Sclavinnen bestanden haben, die mit geschenktem Schmuck geziert, in geschenkte Kleider gehüllt und mit geschenkten Lebensmitteln ernährt wurden. Auch für sein Haus gab er nichts aus; es war eine Amtswohnung.

Daß ihm natürlich daran gelegen sein mußte, einen so fetten Posten recht lange zu behalten, begreift sich. Er ergriff hierzu das beste Mittel, das nämlich, diesen Posten als recht schlecht zu schildern, ja er trieb die List so weit, daß er von Zeit zu Zeit eine Bittschrift an’s Ministerium richtete, man möge ihn doch desselben entheben. Aber der alte Wolf, der auch ein Bischen Fuchs war, wußte sehr wohl, daß keine Bittschrift beim Ministerium Erhörung findet, wenn sie nicht von Bestechungssummen begleitet ist, und wohlweislich unterließ er es, solche einzusenden, blieb deshalb auch ruhig auf seiner Stelle, die er einen wahren „Verbannungsposten“ nannte. Der einzige Türke, der ihm hätte schaden können, wenn es ihm gelungen wäre, die wahre Natur des „Verbannungspostens“ zu entdecken, war der „große“ Pascha „von nichts“, der Statthalter der ganzen Provinz, sein Vorgesetzter. Mit diesem aber spielte er ein sehr geschicktes Spiel. So oft derselbe nach Dschedda kam und im Hause seines Untergebenen abstieg, wurde er vorerst durch einen schlechten Empfang und eine ganz niederträchtige Verpflegung in Erstaunen gesetzt. Machte er darüber eine Bemerkung, so wurde ihm in dem beliebten Donnerwetterton erwidert, er verstehe nichts davon, wie schlecht und uneinträglich die Statthalterschaft von Dschedda sei. Er möge es nur selber einmal versuchen, ob er etwas aus diesem Amte herausschinden könne. Er (Nuri-Pascha) selbst sei es müde, länger auf diesem Hungerposten zu bleiben. [749] Glaubte der große Pascha dies nicht und erklärte sich wirklich bereit zur Probe, so überließ ihm sein Untergebener uneigennützig die Zügel der Verwaltung. Aber er hatte dafür gesorgt, daß deren sämmtliche Fäden so verwickelt waren, daß ein sehr langer Aufenthalt, der allein die nöthige Erfahrung geben konnte, dazu gehörte, um sie zu entwirren. Die Bürger von Dschedda, die den großen Pascha als einen noch hungrigeren Blutegel ansahen und von ihm noch größere Erpressungen erwarteten, als von dem kleinen, den sie bereits mit ihrem Blut genährt hatten und gesättigt zu haben glaubten, standen dem Letzteren getreulich gegen den Ersteren bei.

Wenn der große Pascha sich beim kleinen beschwerte, daß die Bürger nicht nur keine Geschenke machten, sondern sogar im Zahlen der Abgaben säumig seien, so antwortete ihm die Donnerstimme, er kenne eben Dschedda nicht, die Bürger seien alle arm und könnten nichts leisten. Glaubte auch dies der „Große“ nicht und nahm Haussuchungen und Pfändungen vor, so hatte man dafür gesorgt, daß er nur die allererbärmlichsten Dinge vorfand, durch deren Besitzergreifung er sich nicht bereicherte, wohl aber auf sein eigenes ganzes Thun und Treiben das gehässigste Licht warf.

Man wußte ihn auch geschickt in Verwicklung mit dem religiösen Fanatismus zu bringen. In ganz Hedschaz, also auch in Dschedda, giebt es nämlich Leute, die aus irgend einem religiösen Grunde, der meist auf Abstammung vom Propheten beruht, steuerfrei sind, welche selbst die gierigsten Paschas schonen müssen, weil der Fanatismus der Menge jene beschützt. Auf solche Leute hetzte man den „Großen“, verschwieg ihm aber geflissentlich ihre geistliche Eigenschaft. Diese erfuhr er erst, nachdem er sich bereits an ihnen vergriffen und dadurch den Sturm der Entrüstung aller frommen Mohammedaner auf sein Haupt beschworen hatte. So wurde es ihm bald verleidet, Pascha in Dschedda spielen zu wollen. Er gab es auf, zog ab und berichtete auch wohl an’s Ministerium, er habe sich überzeugt, die Stelle in Dschedda sei wirklich erbärmlich. Man möge nur den unausstehlichen Nuri-Pascha, zur Strafe für seine beleidigende Grobheit, dort lassen.

(Schluß folgt.)




Ein revolutionärer Mönch.
Unsere Zeit im Spiegel des fünfzehnten Jahrhunderts.


Verbrennt man mich, seid unerschrocken!
Wenn meine Asche treibt der Wind,
So denkt, daß dies nur Blüthenflocken
Vom schönen Frühling Gottes sind!

(Lenau’s „Savonarola“.)

Wenn in unserer Zeit die Gegensätze von Aberglauben und Wissenschaft, von Unterdrückung und Freiheit, von Papst und Kaiser wieder heftiger als je aufeinander platzen, so erinnert Solches den der Geschichte Kundigen gewiß lebhaft an frühere Zeiten, in denen ähnliche Kämpfe der Geister entbrannten. In unserer Zeit haben wir das seltene Schauspiel erlebt, daß ein Volk, welches sich für ein solches von lauter Aposteln der Freiheit ausgegeben, kaum sich selbst überlassen und völlig frei, sich einen neuen Tyrannen sucht, und daß ein anderes Volk, das man als ein geknechtetes verschrieen, auf dem Wege zur Gedankenfreiheit sowohl, wie zu einer mit vernünftiger politischer Mündigkeit verbundenen Staatseinheit der Welt voranschreitet. Wie anders waren die Zustände in einer der unseren an Wildheit des Kampfes gährender Elemente ähnlichen Zeit vor bald vierhundert Jahren! Die Einheit unter sich zerrissener Völker war nicht nur nicht nahe, sondern die Zerklüftung wurde nur schneidender und schärfer. Der Kampf um Gedankenfreiheit endete nicht mit dem Siege dieser, sondern mit einem neuen geistigen Joche. Denn es galt auf politischem Felde nicht der Freiheit und Einheit, sondern der Gewalt der Gewaltigen, und auf religiösem nicht der Freiheit des Denkens, sondern der Macht des Glaubens.

Und wenn man damals – es war um die Zeit der Entdeckung der neuen Welt – gefragt hätte, wo jener Kampf zwischen den Extremen am heißesten brenne, wo am wildesten um die Gewalt über die Leiber und die Geister gerungen werde, wo die mächtigsten Waffen in’s Feld geführt werden, um Ideen zur Herrschaft zu bringen, so hätte man den Frager müssen an die rauschenden Fluthen des Arno weisen, wo die „blühende Stadt“, Florentia, ihre nach mittelalterlicher Sitte, dem Faustrecht gemäß, befestigten düsteren Paläste erhoben, wo jeder Bürger ein Souverän sich dünkte und weder des Papstes noch des Kaisers Unterthan zu sein erklärte, aber – so waltet des Geschickes Ironie – das ganze Volk Unterthanen einer Kaufmannsfamilie wurde. Ja, es lebte ein frischer trotziger Geist in Florenz, und was keinem Despoten durch Anwendung der blutigsten Gewalt gelungen wäre, das gelang den Medici, noch ehe ein Macchiavelli sie es gelehrt, durch List, Freigebigkeit, Luxus und Schmeichelei. Zu den Jahren 1434–1471 gaben diese gewiegten Kaufleute, welche auf die höchste Gewalt im Staate speculirten, für Almosen, öffentliche Bauten und Steuern 663,755 Goldgulden aus, und in Folge dieser Praxis standen sie immer an der Spitze des Staates, ohne sich diese Stellung angemaßt zu haben. Sie beschützten Kunst und Wissenschaft; in ihren Palästen, die nach und nach unmerklich zum Hofe wurden, trafen sich Bildhauer, Maler und Dichter. Durch ihr Gold blühten die wunderbaren Erzkünstler Brunelleschi, Donatello, Ghiberti und Masaccio, deren Werke noch jetzt das Staunen der Schönheitskenner erregen. Kein Angehöriger dieser berechnenden Familie aber entfaltete solchen fürstlichen Glanz wie Lorenzo der Prächtige (Magnifico). Er vermittelte, von Königen angerufen, Streitigkeiten zwischen ihnen; in seinem Hause kehrten Fürsten aus dem eisigen Norden, wie aus dem glühenden Süden ein. Der deutsche Kaiser buhlte um seine Gunst, und der Papst mußte auf das heißhungrig begehrte Florenz verzichten.

In demselben Jahre, wo Columbus ein Land entdeckte, von dem Niemand eine Ahnung gehabt, stand an dem Sterbebette des Lorenzo Medici, des Prächtigen, ein Mönch, den er mit Umgehung seines regelmäßigen Beichtvaters hatte rufen lassen. Dieser Mönch verlangte von dem Sterbenden Dreierlei: Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes, Rückerstattung alles unrechtmäßig Erworbenen und Wiederherstellung der florentinischen Freiheit. Der am Eingange der dunklen Pforte Stehende aber versprach nur das Erste willig, das Zweite schon unwillig, das Dritte verweigerte er barsch. Da ging der arme Mönch von dem reichen Handels- und Staatsfürsten, den Kaiser und Papst achteten, unbeugsam hinweg, – er hatte ihm die Absolution verweigert. Das that der Prior des Dominikanerklosters San Marco zu Florenz: Girolamo Savonarola.

Zehn Jahre vorher war er, dreißig Jahre alt, als irrender Mönch nach Florenz gekommen; seine Wiege hatte zu Ferrara gestanden, seine Lehrkanzel zu Bologna. Weit verschieden vom Geiste der Zeit waren seine Ideale. Während die regsamen, aber frivolen Kinder des Jahrhunderts im schönen Italien nach einem genußvollen Leben haschten – genußvoll in Beziehung auf die Sinne wie in Durchkostung des Schönen der Kunst und des Neuen, Interessanten, Pikanten der Wissenschaft –, verschmähte der ernste Dominikaner diese Liebhaberei, und seine düstere, nichtsdestoweniger aber glühende Leidenschaft galt der Religion und der Tugend.

Obwohl aber, oder vielmehr gerade weil Savonarola für Religion und Tugend schwärmte, war er ein Gegner der damaligen bittersten Feinde dieser Ideale und ihrer ärgsten Verfolger, der Päpste. Dieser Geist christlich-moralischer Opposition gegen die angeblichen Nachfolger Petri war zu Florenz und in Italien nicht neu. Hatte schon der größte Bürger dieser Stadt, der unsterbliche Dante, ohne Gnade Päpste in seiner Hölle braten lassen und zwar in nichts weniger als Achtung fordernder Situation, – hatte darauf der kunstvolle Dichter der Liebe, Petrarca, die scharfen Pfeile seiner Satire gegen den sittenlosen päpstlichen Hof zu Avignon geschleudert, den er das „neue Babylon“ nannte, so hatte des Letztern Schüler, Marsiglio, bewiesen, daß alle weltliche Gerichtsbarkeit dem Kaiser gehöre [750] und das Papstthum eine Usurpation sei, welche sowohl durch die wahre Geschichte wie durch die wahre Verfassung des Christenthums verurtheilt werde. So dachte auch Savonarola.

Seine ersten Versuche, seine Grundsätze zu predigen, fielen unbeholfen und schüchtern aus, und da ihm die frivole Eleganz der damaligen Prediger, von denen man Alles eher als Glauben und Tugend erwartete, gänzlich fehlte, so waren seine Zuhörer dünn gesäet. Er verließ unmuthig Florenz und predigte in anderen Städten, wo er, muthvoller und geschickter auftretend, glücklicher war und sich bald einen Namen machte. Sein Ruhm gründete sich; er wurde zurückberufen, und seine anfänglichen Feinde, die Medici, beschützten ihn jetzt. Da seine Klosterkirche die Menge Derer, die seinen hinreißenden Worten lauschten, nicht fassen konnte, mußte er im Dome predigen, und man sah unmittelbar nach seinen Reden die zerknirschten und erschütterten Sünder fortgehen und ihre Vergehen möglichst wieder gut machen.

Diesen Erfolg verdankte Savonarola allein seiner Verherrlichung der Moral; die mystisch-religiösen Schrullen und Grillen, denen er außerdem huldigte und über welche er mehrere Bücher schrieb, interessirten Niemanden. Auch wäre sein Leben, wenn er sich fortwährend auf die moralischen Predigten beschränkt hätte, ruhig und ungestört dahingeflossen. Erst trat er aber ohne Scheu vor dem Mächtigen gegen Lorenzo’s Prachtliebe, Unsittlichkeit und Despotismus auf und nachdem Dieser, wie erwähnt, aus dem Leben geschieden, gegen die in den Klöstern und bei der Geistlichkeit überhaupt herrschende Glaubens- und Sittenlosigkeit. Er begann mit seinem eigenen Kloster, aus welchem er als Prior allen Luxus verbannte, wogegen er fromme Uebungen einführte. Diese Reformen fanden solchen Anklang, daß sich bald alle Klöster Toscanas dem seinigen unterordneten und unter seiner Leitung ihre Lebensordnung verbesserten.

Wer aber am wenigsten von dem der Lehre Christi so streng sich anschließenden Beginnen des Mönchs von Florenz erbaut war, das war der sogenannte Statthalter Christi, der Papst zu Rom. Diese Stelle nahm zudem damals das entsetzlichste Scheusal ein, welches jemals nicht nur den päpstlichen, sondern überhaupt einen Thron befleckt hat, der sitten-, glaubens- und gewissenlose Alexander der Sechste aus dem Hause Borgia, der Vater dreier Kinder, welche wie Prinzen an seinem Hofe lebten. Dieses Ungeheuers allerdings arge und zahlreiche Sünden griff Savonarola auf der Kanzel freimüthig an. Um ihn zum Schweigen zu bringen, bot ihm der Papst den erzbischöflichen Stuhl von Florenz und den Cardinalshut an. Savonarola wies diese Bestechungen mit Entrüstung zurück und fuhr fort, gegen die Quelle derselben zu eifern. Dies sollte ihm theuer zu stehen kommen.

Er verfolgte indessen seine Ideen rastlos weiter. Es war denselben günstig, daß gerade damals Lorenzo’s feiger und verrätherischer Sohn Pietro vertrieben wurde. In der nun wieder frei gewordenen Republik predigte Savonarola die Demokratie, und da er durch seine Predigten zu großem Einflusse gelangt war, wurde unter seiner Leitung ein vom Volke gewählter großer Rath an die Spitze des Staates gestellt. Es war jedoch bei des beredten Mönches Eigenartigkeit natürlich, daß es nicht bei der Demokratie blieb. Ein von einem religiösen Schwärmer geleiteter Staat mußte zur Theokratie werden. Feierlich proclamirte er Christus als König von Florenz und Schutzherrn seiner Freiheit, hielt jedoch die auf ihn eifersüchtige Geistlichkeit von allem Einflusse im neuen Staate zurück.

Nun begann ein sonderbares Leben und Treiben in Florenz. Der feurige Prediger des Glaubens und der Sitte verbannte Spiel und Tanz, verpönte die Belustigungen des Carnevals, setzte an die Stelle aller Vergnügungen religiöse Festlichkeiten, unterdrückte den Wucher, führte strenge Sonntagsfeier ein und bewirkte durch seine immer stärker besuchten Predigten überall Buße und Reue. Aus den Kindern der Stadt bildete er eine eigene Gesellschaft mit besonderen Gesetzen und ließ durch sie alle Gegenstände, welche der Eitelkeit und dem Vergnügen dienten, in den Häusern zusammenbetteln und unter Trompetenschall und Glockengeläute auf offenem Platze verbrennen. Es befanden sich darunter Schmucksachen, Spiegel, Schleier, falsche Locken, Masken, Musikinstrumente, Schachbretter, Karten, Würfel, Gemälde und Bücher etc.

Die Florentiner hätten aber keine Italiener sein müssen, wenn sich gegen diesen Geist nicht Opposition erhoben hätte. Ihre Leidenschaft für Parteiungen gab sich auch unter Savonarola’s demo-theokratischem Regimente kund. Sie zerfielen bald in Anhänger und Gegner desselben. Die Ersteren nannte man wegen der weinerlichen Rührung, in welche sie durch seine Vorträge verfielen, Piagnoni (Heuler), die Letzteren aber, bei welchen die entgegengesetzte Wirkung eintrat, Arrabiati (Rasende, Wühler). Außerdem gab es noch Nebenfractionen, wie z. B. die Anhänger der Medici und die demokratischen Gegner des mönchischen Wesens. Die eifersüchtige Geistlichkeit, welche sich zu den Arrabiati schlug, führte gegen den kühnen Mönch die Waffen der Inquisition in’s Feld und bewirkte, daß der sitten- und glaubenslose Papst den Prediger der Religion und Tugend nach Rom citirte, um, wie er heuchlerisch vorgab, seine Lehren besser kennen zu lernen. Die „Heuler“ aber ruhten nicht, bis Savonarola den Ruf ablehnte, da ihm schon oft mit Gift und Dolch nach dem Leben getrachtet worden und seine Feinde so eifrig gewühlt hatten, daß die in Besserung der Sitten erzielten Erfolge bereits wieder in Abnahme begriffen waren. Es wurden andere Prediger von seinen Feinden berufen, um gegen ihn aufzutreten, aber ohne Erfolg; ja eine Nonne wollte mit ihm öffentlich disputiren, wurde aber von ihm sarkastisch an den Spinnrocken verwiesen.

Der auf’s Neue von den „Rasenden“ bearbeitete Papst citirte nun den „Verbreiter falscher Lehren“, wie er ihn nannte, abermals nach Rom; als dies nichts fruchtete, untersagte er ihm das Predigen, was aber ebenfalls nichts nutzte, da die Regierung von Florenz das Gegentheil forderte. In Folge dieses Streites verbreitete sich Savonarola’s Ruf durch reisende Florentiner über ganz Europa. Selbst der türkische Sultan ließ seine Predigten in seine Sprache übersetzen und las sie eifrig. Es erschienen zahlreiche Schriften für und gegen ihn. Die „Heuler“ mußten eine Leibwache bilden, um den Reformator gegen Angriffe zu schützen; seine Predigten wurden von den „Wühlern“ gestört, und der Papst excommunicirte ihn. Da trat er endlich, nachdem er bisher noch am Papstthum festgehalten, offen gegen dasselbe auf, verwarf die Unfehlbarkeit des Pontifex und schrieb an die Fürsten Europa’s, daß sie ein Concil versammeln sollten, um den Papst zu entsetzen. Das war dem wüthenden Borgia zu viel. Schon vorher hatten in Florenz in Folge des Treibens der Päpstlichen Savonarola’s Feinde bei den Wahlen gesiegt, und die neue Regierung sperrte ihm die Kanzel. Auf Verlangen der Franziskaner, welche seine ärgsten Feinde waren, wurde nun zwischen ihm und seiner Gegenpartei eine Feuerprobe angeordnet. Trotz seiner Abneigung gegen diesen Aberglauben mußte er sich darein fügen; aber die Ausführung wurde durch einen Regen vereitelt. Da gab man dem thörichten Volke vor, der Reformator sei überwunden, und ein Sturm auf sein Kloster erfolgte, dessen Mönche sich tapfer vertheidigten. Sie unterlagen, und das Kloster wurde erstürmt. Mit Mannesmuth nahm Savonarola von seinen Anhängern Abschied – eine Scene des Schmerzes und der Wehmuth, welche unser heutiges Bild mit dramatischer Lebendigkeit darstellt. Savonarola und sein eifrigster Jünger Fra Domenico wurden gebunden abgeführt, vom wankelmüthigen Volke mit Steinen geworfen, beschimpft, geschlagen und endlich eingekerkert. Ein vom Papste freudig bewillkommneter und durch seine nach Florenz gesandten Inquisitoren geleiteter Proceß, in welchem alle gesetzlichen Formen mit Füßen getreten wurden, endete mit der Verurtheilung Savonarola’s und seiner Mitmönche Domenico und Silvestro zum Feuertode. Vor dem gänzlich umgewandelten Volke, das sie vorher vergöttert hatte, wurden sie am 23. Mai 1498 öffentlich ihrer geistlichen Würde beraubt, dann über einem brennenden Scheiterhaufen an einen Galgen gehängt und ihre Asche in den Arno gestreut. Alle ihnen treu Gebliebenen unterlagen der grausamsten Verfolgung.

Zwei Jahre nach dieser Ketzerverbrennung begann indessen – so schwankt die öffentliche Meinung – eine Reaction zu Gunsten des Gemordeten. Der Platz seiner Hinrichtung wurde am Jahrestage derselben mit Blumen bekränzt; in Rom selbst wurden zu seiner Ehre Medaillen geschlagen, und die folgenden Päpste, besonders Leo X., sprachen sich für ihn aus und stellten durch ein geistliches Gericht die Ehre seiner Rechtgläubigkeit her.

Man hat sich darüber gestritten, ob Savonarola ein Vorläufer Luther’s gewesen oder nicht. Dieser Streit ist überflüssig. Gewiß war der Grundzug des Auftretens Beider derselbe. Luther

[751]

Die Verhaftung Savonarola’s.
Originalzeichnung von Prof. Haeberlin in Stuttgart.

[752] war unabhängig vom florentinischen Reformator Savonarola. Beide waren, was sie sein mußten: Jener ein Deutscher und sächsischer Monarchist, dieser ein Italiener und florentinischer Republikaner. Beide suchten die Kirche im Geiste des Urchristenthums zu verbessern. Beide hielten so lange als möglich am Papstthum fest. Beide sagten sich von ihm los, als es sich selbst von allen christlichen Grundlagen lossagte. Nur unterlag der Italiener, weil ihn seine feigen Mitbürger im Stiche ließen, und der Deutsche siegte, weil energische Fürsten ihm ihren Schutz gewährten. Nichtsdestoweniger ist für jeden aufrichtigen Christen ehrwürdig das Andenken des ersten Altkatholiken Savonarola.

Dr. Otto Henne-Am Rhyn.




Das Ende vom Liede.
Eine Berliner Geschichte von Albert Moedinger (Max Alt).
(Schluß.)

Die Tagebuchblätter, welche, nur auf einer Seite beschrieben, aneinandergeheftet waren und die ich nicht eher aus der Hand legte, als bis ich zu Ende gelesen, lasse ich in der Reihe folgen, die der Schöngeist ihnen gab.




Eduard Sandow hat ein Testament hinterlassen, in welchem er Frau und Mutter zu gleichen Theilen zu Erbinnen seines Vermögens eingesetzt hat. Die junge Wittwe hat nach Verlauf ihres Trauerjahres (die damalige Mode war sehr hübsch, und der schwarze Krepp stand sehr gut zu ihrem feinen Teint) einen jener Privatstallmeister geheirathet, welche eine Reitbahn halten und Unterricht geben. Sie hatte ihn kennen gelernt, als sie sechs Wochen nach dem Tode ihres Mannes zur Stärkung ihrer angegriffenen Gesundheit mit einer gleichgestimmten Freundin einen Cursus bei ihm begann. Er soll ein sehr schöner stolzer Mann gewesen sein, der damals bei den Damen sehr in Mode war und um dessen Besitz sich eine große Concurrenz eröffnete. Sie erinnern sich, daß Concurrenzen eine schwache Seite Marie Sandow’s waren; sie bewarb sich und erhielt in diesem Falle den Preis. Sie ist nun Frau von Fennstein (er ist adelig und war früher Officier; Sie wissen, was das sagen will, und man kann sie häufig im Thiergarten an der Seite ihres Gatten auf einem sehr schönen silbergrauen Zelter sehen.

In der Familie ihrer Mutter sieht es nicht ganz so erfreulich aus. Die zweite Tochter ist (in Folge einer Liebschaft mit einem Schauspieler) ohne Talent zum Theater gegangen. Die beiden Söhne – der Engländer ist schon lange heimgekehrt – liegen der Mutter zur Last und jagen ihr nach und nach das letzte Bischen ihres geringen Vermögens ab. Den jüngern, den von der Hochzeit, sehe ich häufig Abends in diesem oder jenem Wirthshause. Er ist regelmäßig angetrunken und ewig in Geldverlegenheiten.




Meine Tante, die Kriegsräthin, hat schwer durch den Verlust ihres Sohnes gelitten. Sie ist sehr alt geworden, und es hat lange gedauert, ehe sie etwas zur Ruhe gekommen ist. Mit Hülfe des L’hombres ist es endlich einigermaßen gelungen. Nur an den Geburts- und Sterbetagen des Verlorenen war sie regelmäßig in solcher Aufregung gewesen, daß die Partie abbestellt wurde. Sie werden gleich hören, warum. Drei Jahre waren seit Eduard’s Tode vergangen und der traurige Tag wieder vor der Thür, als die Kriegsräthin meine älteste Schwester bat, sie „morgen“ nach dem Kirchhofe zu begleiten, da ihre alte Gesellschaftsdame krank sei.

„Gern, Tantchen!“ antwortete meine Schwester. „Ich wollte so wie so hinausgehen.“

„So sei um sieben Uhr früh am Fenster, mein Kind! Ich werde mit dem Wagen vorfahren,“ fuhr die Kriegsräthin fort.

„Aber um sieben Uhr, Tantchen, Ende September, in Ihren Jahren?“

„Sprich nicht, Kind!“ erwiderte die alte Dame. „Es muß sein. Wir müssen gleich nach sieben Uhr da sein. Vielleicht ist es noch nicht einmal früh genug.“

Als sie am Tage darauf um die genannte Zeit zusammen hinausgefahren waren, soll meine Tante auffallend erregt gewesen sein und fortwährend leise mit sich selbst gesprochen haben. Meine Schwester, deren Gegenwart sie so wenig beachtete, als wenn sie gar nicht da war, wollte die leise gemurmelten Worte, die sie oft wiederholte, endlich verstanden haben. Sie behauptete, sie hätten gelautet: „Ich muß es entdecken, – ich muß es entdecken – ich habe keine Ruhe eher, … und wenn ich den ganzen Tag auf seinem … Grabe bleiben soll.“

Als der Diener am Ende ihrer Fahrt den Wagenschlag geöffnet hatte und sie ausgestiegen und auf die kleine Kirchhofsthür zugegangen waren, verließ ein sehr einfach, aber sauber gekleidetes junges Mädchen den Friedhof und trat zu derselben Thür heraus. Meine Tante fuhr auf sie zu mit einem Schrei, und es soll sehr seltsam ausgesehen haben, wie sie ihre noch immer hohe Gestalt klein gemacht hat, um der Fremden unter den runden Hut zu sehen. Diese soll augenscheinlich den Wunsch gehabt haben, sich dem eindringlichen Examen zu entziehen, aber es gelang ihr nicht. Meine Tante hatte sie mit beiden Händen an den Schultern gefaßt, als wenn sie sie schütteln wollte; sie hatte es aber nicht gethan, sondern das junge Mädchen nur eine Zeitlang stumm angesehen und dann sehr schnell, obgleich mit zitternder Stimme, die Worte hervorgestoßen: „Sie waren es! … Sie waren es! … ich wußte es … ich danke Ihnen … Sie waren es!“ Dann hatte sie ihren Arm unter den der Fremden geschoben und in einem bei ihr seltenen weichen Tone hinzugefügt: „Machen Sie mir die Freude, mein Kind – einer alten Frau – mich noch einmal zu ihm zu begleiten!“ und hatte das junge Mädchen, das noch immer schwieg, willenlos mit sich fortgezogen.

Meine Schwester sagt, daß sie, ihnen folgend, das unbehagliche Gefühl eines Menschen gehabt habe, der deutlich empfindet, daß er mehr als überflüssig ist. Diese Lage war dadurch noch gesteigert worden, daß sie sich von den Beiden nicht entfernen konnte, weil sie den größeren Theil der frischen Kränze trug, deretwegen sie doch hinausgekommen waren. So war sie langsam hinterher gegangen und hatte die Tante noch ein paar Mal wiederholen hören: „Sie waren es! … ich wußte es!“ Weiter war nichts gesprochen worden. Als sie an der Stelle angekommen waren, wo sie ihn vor vier Jahren gebettet hatten, lag der Grabhügel vor ihnen im schönsten Blüthenschmuck, und die alte Dame soll davorgestanden haben mit stummen Thränen im Auge, und ihre Stimme soll immer noch gezittert haben, als sie sagte: „Wie im vorigen Jahr, und vor zweien … Sie waren es – ich danke Ihnen – ich wußte es.“ Darauf hat sie meiner Schwester die Kränze abgenommen, als wenn sie auf einem Nagel aufgehängt wären, und hat sie, sich bückend, an den Seiten des Grabhügels befestigt, augenscheinlich, um nichts zu ändern an dem Schmuck seiner oberen Fläche. Dann war sie auf die Bank gesunken, die zu Seiten des Hügels stand, und hatte die Fremde, auf deren Arm sie sich wieder gelehnt, mit sich niedergezogen.

Meine Schwester wollte den günstigen Moment erfassen, um eine in der Nähe ruhende Freundin zu besuchen, aber ein herrischer Blick der alten Dame hatte sie fest an die Stelle gebannt, wo sie gerade stand. Ein ganz kurzes Schweigen war noch gefolgt, dann hatte meine Tante sich aufgerichtet und mit volltönender Stimme gesagt, als wenn sie zu einer größeren Versammlung spräche und es auch Die hören sollten, die nicht da waren: „Ich bin hart gestraft worden, liebes Kind, sehr hart, und ich trage schwer daran, glauben Sie mir! Welch ein glücklicher Mann könnte er jetzt sein, welch glückliche Mutter ich, wenn ich diesen erbärmlichen Stolz nicht gehabt hätte! Worauf war ich stolz, mein Gott! worauf? War es mein Verdienst, daß Er mich so reich gesegnet hatte!? Er zog zürnend seine Hand von mir, und ich wußte es an dem – Tage, es war die Strafe für meine Schuld, meine Schuld, die uns – Alle unglücklich gemacht hat! Es muß heute herunter von meinem [753] Herzen, ich kann es nicht länger tragen. Lindern Sie mein Leid, Emma, so weit Menschenworte es lindern können! Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir, was ich – Ihnen that!“

Die arme gebeugte Frau nahm so die Schuld auf sich, die doch Der nur trug, welcher da unter dem blumigen Hügel schlief. Das junge Mädchen mußte die Opferfreudigkeit dieses treuen Mutterherzens empfinden, denn es überkam sie plötzlich eine tiefe Rührung, der sie bis dahin glücklich widerstanden hatte. Ihre Thränen stürzten unaufhaltsam hervor, und sie beugte sich nieder zu der alten zitternden Hand, die in der ihren ruhte. Aber sie berührte sie nicht mit den Lippen, wie sie es doch wohl thun wollte, denn die Mutter zog sie an die Brust und hielt die Schluchzende dicht umfangen. Sie merkte jetzt nicht, daß meine Schwester sich nun doch zu ihrer Freundin geschlichen hatte.

Als sie eine Viertelstunde später in den Wagen stiegen, der draußen gewartet hatte, wollte das junge Mädchen den Heimweg fortsetzen, in dem sie auf so seltsame Art unterbrochen war. Aber ohne zu wissen wie, saß sie plötzlich auf den sammtenen Kissen, und noch ein herrischer, nicht mißzuverstehender Blick hatte es bewirkt, daß meine Schwester sich auf dem Rücksitz wiederfand. Im Fond saß die kleine Näherin neben der stolzen Frau.


Das ärmliche, in einer entlegenen Straße stehende Haus hatte sich von seiner Erregung noch nicht erholt und sprach noch immer von der glänzenden Equipage und dem reich galonnirten Diener, der die Näherin aus dem vierten Stock aus dem Wagen gehoben und sie mit dem Hut in der Hand zur Thür geleitet hatte. Die Leute drinnen drehten die Sache nach allen Seiten und konnten nicht in’s Klare darüber kommen, als am andern Tage die Equipage wieder angerollt kam und vor ihrer Thür stillhielt. Eine alte Dame stieg heraus und machte sich langsam daran, die vier Treppen zu ersteigen. Die Geduld der weiblichen Conferenz, welche sich allsobald auf dem Flur eröffnete, wurde auf eine harte Probe gestellt. Eine Stunde war nun schon verflossen, und die dampfenden Pferde warfen noch immer auf derselben Stelle den Kopf in die Höhe und scharrten das Straßenpflaster, daß zuweilen Funken am hellen lichten Tage aufsprühten. Endlich öffnete sich die Thür, die das Geheimniß verbarg, und die alte Dame stieg die Treppe hinunter. An ihrer Seite ging stützend das junge Mädchen; es hatte rothgeweinte Augen und trug in seiner linken Hand ein großes Bündel, das in sehr weißes Linnen geschlagen war. Emma stieg mit der Dame in den Wagen, und ein Zettel an der Hausthür kündigte ein paar Tage darauf an, daß vier Treppen hoch eine kleine Wohnung mit Kochgelaß zu vermiethen sei.

Die große Neuigkeit kam bald auch zu uns, und ich kann Ihnen sagen, ich freute mich wie ein Kind darüber. Ich höre, daß Emma Schulz zu der Kriegsräthin „Mutter“ sagt, und daß diese sie selbst am L’hombretisch nie anders als „meine Tochter“ nennt. Ich erwarte mit Bestimmtheit, daß meine Tante sie adoptirt, und ich gönne es dem braven Mädchen von ganzem Herzen. Nun male ich mir aus, wie der Wiederschein dieser Jugend und das süße Bewußtsein des gesühnten Unrechts neuen Sonnenschein in das dunkle Leben der alten Frau bringen wird. Zuweilen wird wohl die Erinnerung mit ihrer grauen Stiefschwester, der Reue, an der Hand in das Zimmer schweben, und die alte Frau wird ihnen zunickend sagen: „Ich weiß es wohl, ich weiß es, wir könnten so glücklich sein, wenn ich ihrer Verbindung nichts in den Weg gelegt hätte!“ Dann wird das junge Mädchen, wie ich es kenne, wieder zu den Füßen der noch immer Träumenden liegen, und wird, die alten Hände streichelnd, mit gläubigem Lächeln sagen: „Weine nicht, Mutter, weine nicht! Laß uns geduldig warten, bis Gott uns einst vereint, um uns nie wieder zu trennen.“


Vor acht Tagen, als ich aus dem Theater kam, führte mich meine alte, unbesiegbare Gewohnheit in eines der Kaffeehäuser unter den Linden. Das Licht strömte mir beim Eintreten blendend entgegen, und ich irrte rathlos, meine beschlagene Brille putzend, durch das Gewirr der dicht besetzten Tische, als ich mich plötzlich am Arme erfaßt fühlte mit den Worten: „Oho, alter Sohn, rennen Sie die Leute nicht um! Kommen Sie! Hier ist ein Platz frei für Sie.“ Es war Otto Mannstein, den ich erkannte und an dessen Tisch ich schon saß, ehe ich den Gebrauch meiner Augen wieder erhalten hatte. Er sah ziemlich reducirt aus und freute sich außerordentlich mich zu sehen.

„Sie haben mir einen tüchtigen Stein vom Herzen genommen,“ sagte er, dicht zu mir heranrückend. Leiser sprechend fuhr er fort: „Ich bin hier versetzt; ein Freund, der einen andern Freund hier suchte und nicht fand, ist fortgegangen, um Geld zu holen; aber ich fürchte, daß er nichts aufgetrieben hat, und so sitze ich schon seit drei Stunden hier und trinke ein Glas nach dem andern, obgleich die Kellner anfangen, verdammt bedenkliche Gesichter zu schneiden. Es mußte geradezu ein Wunder geschehen, und es war da, als Sie eintraten und auf mich zukamen. Nur zwei Thaler bis morgen oder übermorgen.“

Ich schob ihm erstaunt das Gewünschte in die Hand, und er bestellte augenblicklich sehr lärmend zwei Gläser Grog.

„Sie erlauben doch?“ sagte er, sich wieder zu mir wendend, „er ist vortrefflich, aber theuer. Ich bin schon bei dem fünften Glase.“

Man merkte es. Er widerte mich an, denn er duftete nach Alkohol, wie ein Sonnenbruder. Sein lärmendes Wesen zog Aller Blicke auf uns, und ich machte schon Miene, mich wieder zu entfernen. Aber ich vermochte es nicht, ohne nach seiner Schwester, der Frau von Fennstein, gefragt zu haben.

„Oho!“ rief er lachend, „der geht es gut, sehr gut. Sie wissen ja: ‚Je größer der Strick – je größer das Glück.‘ Sie hat das schöne Geld bekommen, und ihr zweiter Mann ist ein ganzer Kerl, der sich vor dem Teufel nicht fürchtet. Sie selbst ist noch ganz die Alte; noch ebenso salope wie früher, ebenso. Nur Eines fiel mir als neu an ihr auf, als ich sie das letzte Mal sah, ha ha ha! und ich wünschte ihr aufrichtig Glück dazu, ha ha! Sie hatte – verweinte Augen.“




Blätter und Blüthen.


Die „stolzen Spanier“ als Ritter von der traurigen Gestalt. (Mit Abbildung, S. 743.) Der Zeichner unserer heutigen Skizze macht uns aus San Sebastian (Provinz Guipuzcoa) in den Pyrenäen interessante briefliche Mittheilungen über die neuesten Recrutenaushebungen in Spanien. Auf Grund dieser Mittheilungen geben wir im Folgenden einige Erläuterungen zu dem charakteristischen Bilde.

Es ist eine alte Geschichte, daß die Praxis selten mit der Theorie gleichen Schritt hält. Beide in Einklang zu bringen, ist auch der republikanischen Regierung in Spanien nicht gelungen. Nachdem Amadeo vom Schauplatze der Begebenheiten abgetreten, wurde als eine der größten Errungenschaften der „wieder erworbenen Freiheit“ dem Volke das neue Evangelium der Abschaffung der quintas oder Recrutenaushebungen gepredigt. Manche schöne Phrase ist über diesen Gegenstand, geschrieben und gesprochen, in die Welt geschickt worden. Die natürliche Folge davon war Mißtrauen, Ungehorsam, thätliche Auflehnung gegen die Vorgesetzten und theilweise gänzliche Auflösung der einzelnen Corps. Der Carlistenaufstand gedieh unter solchen Umständen auf das Trefflichste, und seine Parteigänger konnten sich ungestraft die größten Schandthaten zu Schulden kommen lassen. Im Süden halfen ihnen später die Communisten und anderes Gesindel. Der Einberufung der Reserven folgte eine Recrutenaushebung, wie sie in so absoluter Weise unter anderen Regierungen niemals in’s Leben getreten war. So fiel man, wie es häufig zu geschehen pflegt, von einem Extrem in’s andere.

Die auf dem gegenwärtigen Bilde dargestellten Recruten gehören zu der ungefähr zweihundert Mann starken Abtheilung, die nach San Sebastian zur Instruction geschickt wurde. Die theilweise noch blutjungen Leute kamen am Morgen des zweiten September mit dem Dampfer „Isla de Cuba“ von Santander auf der Rhede von San Sebastian an und wurden mittelst kleiner Dampfböte sogleich ausgeschifft. Noch halb seekrank, wahre Ritter von der traurigen Gestalt, wankten die armen Kerle über den Hafendamm, um sich nach und nach in Compagnien zu formiren. Eine solche Menge verkommener und verwahrloster Menschen ist wohl selten auf einem Haufen gesehen worden. Kein Wunder! Denn die Losung bei der Aushebung hieß:

„Und folgt ihr nicht willig, so braucht man Gewalt.“

Man hat eben Alles genommen, was nicht geradezu bucklig oder lahm war; denn über Einäugige und Taube hat man leicht hinweggesehen. Und dann ohne Weiteres auf die Reise!

Viele waren ohne jegliche Kopfbedeckung, Andere mit einem schmal zusammengelegten, oder auch den ganzen Haarwuchs fast bedeckenden, meist weißen, gelben oder rothen Kopftuche versehen, dessen Enden oft auf den Nacken herniederfielen. Hemdsärmel, eine Weste von eigenthümlichem Schnitt und oft aus den buntfarbigsten Zeugen zusammengesetzt, zerrissene Kniehosen von lederartigem grobem Tuche, einst weiß gewesene Strümpfe ohne Socken, Sandalen an den nur spärlich umhüllten Füßen – das sind die Bekleidungsstücke dieser „stolzen Spanier“. Es waren meistens Land-Leute [754] Leute aus den Provinzen Leon, Salamanca und Avila. Die aus den größeren Ortschaften trugen größtentheils Mützen und Filzhüte, braune Jacken, lange braune Beinkleider und lederne Schuhe.

In den ersten Tagen ihrer Anwesenheit in San Sebastian waren fast alle diese angehenden Soldaten unzertrennlich von einem kleinen weißleinenen Beutel, den jeder statt eines Tornisters an leinenem Tragriemen auf dem Rücken überall hin mit herumschleppte und in dem die Meisten einige Eßwaaren, vielleicht das letzte, was ihnen Mutter oder Schwester zugesteckt, aufbewahrten. Der Eindruck, den diese armen Kinder des stolzen Spaniens hervorriefen, war eher der von Zigeunerbanden, die in Strafanstalten geführt werden, als von angehenden Soldaten.

Man sieht, wie in Spanien Alles spanisch zugeht, so ging’s auch bei der Recrutenaushebung. Von der Regierung ist fast gar nicht oder doch sehr unvollkommen für die Bekeidung und Unterbringung der Wehrpflichtigen gesorgt worden. Viele Casernen im spanischen Reiche stehen leer, da Vorräthe an Betten und sonstigem Mobiliar fast gänzlich fehlen. In San Sebastian müssen die Bürger alle Lasten der Einquartierung tragen. Als echte Kinder des südlichen Himmels campiren die Recruten indessen meistens unter freiem Himmel.

Scenen, wie unser heutiges Bild eine darstellt, kann man täglich auf den Promenaden San Sebastians und besonders auf den Bänken der Kirchenvorplätze sehen. Da sitzen sie, diese zerlumpten und verhungerten Gestalten, die höchst primitive Feder in den ungelenken Händen, und berichten über ihre beklagenswerthe Lage in die Heimath, an Eltern und Geschwister, an die Geliebte und die Freunde. Diese armseligsten Briefsteller von der Welt, was werden sie den Ihrigen zu erzählen haben! Elend und Entbehrung, Noth und Drangsal. Die Sehnsucht nach besseren Zeiten wird wohl in allen diesen Briefen der immer wiederkehrende Refrain sein, ein Wunsch, der gewiß von allen Völkerschaften des schönen Spaniens getheilt werden wird.


Ein junger Nilpferdjäger. Durch die Freundlichkeit des schon mehrmals in der Gartenlaube erwähnten Thierhändlers C. Hagenbeck in Hamburg sind wir in den Stand gesetzt, einige Abenteuer mit Nilpferden mitzutheilen, welche sein jüngster Bruder Dietrich erlebte, nachdem er eigens auf den Fang von jungen Nilpferden, nach welchen jetzt in den zoologischen Gärten große Nachfrage ist, ausgezogen war. Diese Mittheilungen beweisen zugleich, wie unendlich schwieriger der Fang wilder Thiere, als ihre einfache Jagd ist. Die hier unter den größten Strapazen angestellten Bemühungen blieben ohne Erfolg. Wahrscheinlich hätte aber der junge, kaum zwanzigjährige Jäger doch noch seinen Zweck erreicht und junge Nilpferde erlangt, wenn er nicht in Folge dieser Strapazen und des Klimas vom Fieber auf’s Todtenbett geworfen worden wäre, leider ein Opfer mehr in der langen Liste der von Afrika nicht Wiedergekehrten. – Hier nun die betreffenden Stellen aus den mitgetheilten Briefen, die wir ganz so, wie sie vorliegen, mittheilen:

„Darra Salam (im Suaheli-Lande), 29. April 1873.

Lieber Bruder! Ich bin nun schon wieder einen Monat hinter den Nilpferden hergewesen, habe aber noch keins abfassen können. Es giebt deren hier genug, aber die Eingeborenen sind keine Jäger. Faulheit gehört zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften: sie wollen Geld verdienen, aber nichts thun. Kürzlich war ich weiter nach Süden gegangen nach einigen Ortschaften, in deren Nähe zwei kleine Flüsse direct in’s Meer fließen. Eine sechszig Fuß lange Insel diente mir und meinen Leuten zum Wohnorte. Drei Tage lang verfolgte ich ein altes Nilpferdweibchen mit einem Jungen und zwar bei einem Regenwetter, wie wir es in Europa gar nicht kennen. Ich scheuete mich nicht, bis an die Brust in’s Wasser zu gehen und so die Alte längere Zeit hindurch zu verfolgen. Plötzlich dreht sich das Ungethüm um und stürzt, mit aufgesperrtem Rachen und den Kopf nach allen Seiten herumwerfend, auf mich los. Meine Leute, welche meine schweren Elephantengewehre trugen, liefen feige davon und hielten sich nicht einmal auf der Insel für sicher, sondern stürzten sich in’s Wasser, um an’s Ufer zu kommen, so daß mir zu meinem Schutze nur die kleine Doppelbüchse mit Explodirkugeln blieb, welche mir der Schwager Rice in England geschenkt. Mit dieser schoß ich der Bestie, als sie mir bis auf fast drei Schritte nahegekommen war, eine Kugel zwischen Hals und Schulter. Du hättest sehen sollen, wie mein Kiboko (Name für Nilpferd in der Suahelisprache) Kehrt machte! Wie ein Kreisel drehte es sich herum und verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. – Später habe ich eine Anzahl Fallgruben angelegt und hoffe, auf diese Weise ein Kiboko zu fangen.“

„Bogamoya, 25. Juni 1873.

Lieber Bruder! Endlich habe ich einmal das glückliche Malheur gehabt, ein Kiboko zu fangen, welches anderthalb Meter lang und fünfundsechszig Centimeter hoch war, aber leider nach sechs Tagen starb. Die Geschichte trug sich so zu. Vier Herren, ein Deutscher, ein Engländer, ein Franzose und ein Italiener, besuchten mich in Kingany, und gemeinschaftlich fuhren wir flußabwärts, um Kibokos zu jagen. Wir hatten bereits auf mehrere Herden geschossen, als wir ein großes Weibchen sich in’s Wasser zurückziehen sahen. Nachdem wir an der Uferstelle, wo wir das Thier hatten verschwinden sehen, angekommen waren, rief mein Diener Ira: ‚Kiboko, ein kleines Kiboko, Herr, liegt da und schläft.‘

Ich sah hin, und richtig, ein kleines Nilpferd lag schlafend in einer Schlammfurche. Schnell brachte ich das Boot an’s Ufer, nahm die Harpune zur Hand, und nun ging’s, bis an den Leib in Schlamm und Wasser, darauf los. Als das keine Nilpferd mich erblickte, sprang es auf und lief schreiend zum Wasser, aber ich hatte ihm bereits den Weg abgeschnitten, harpunirte es jetzt und warf mich noch selbst auf das Thier, es fest umarmend. Dabei näherten wir uns aber doch wider meinen Willen dem Wasser, und jetzt zeigte sich auch die Alte, ihren Kopf grunzend aus dem Wasser hebend. Ich rief um Hülfe, und Mr. Makuison kam zu meinem Beistand herbei, als ich mich mit dem Jungen bereits im Wasser herumbalgte. Jetzt banden wir den Gefangenen mit Allem, was zur Hand war, mit Leibbinden, Stricken etc. und zuletzt zog ich ihm noch meinen Segeltuchkittel über den Kopf, denn wir waren Alle von dem Schlamm so schlüpfrig wie das Nilpferd und konnten es nicht mehr fest anfassen. Wir zogen das Thier über ein Brett in’s Boot, und nun ging’s unter strömendem Regen wieder flußaufwärts, verfolgt von dem alten Kiboko, welches sich aber nach einigen Schüssen zurückzog.

Auf halbem Wege, als wir gerade über unser schlammiges Aussehen schwatzten, geräth unser Boot plötzlich in ein unerwartetes Schwanken. Das kleine Nilpferd schreit und zappelt, daß ich es kaum halten kann, und auf einmal erscheint zwei Fuß vom Boot der Kopf eines gewaltigen Kiboko aus dem Wasser, mit offenem Rachen uns angrunzend. Alles griff nach den Flinten, aber das Ungethüm war bereits wieder untergetaucht, als der erste Schuß nach ihm abgefeuert wurde. Meinen Dienern war vor Angst das Rudern vergangen. So ließ ich denn am Ufer anlegen, da das Weiterfahren doch nicht räthlich schien, denn das Boot war schadhaft geworden und die zum Weiterfahren erwünschte Fluth noch nicht eingetreten. Dann aber ging es wieder vorwärts bis zur Dhau (kleines Küstenschiff, mit welchem man auch die Flüsse befährt). Mit einem Bootsegel wurde das keine Nilpferd in das Schiff gehoben, wo ich es unter einem Dach auf Gras bettete. Ich entdeckte dabei eine große Wunde an seinem Hinterbein, welche von einem Krokodilbiß herzurühren schien. Da wir seit sechs Uhr Morgens Nichts genossen hatten und es jetzt sechs Uhr Abends war, so ließ ich ein frugales Essen zurichten, reinigte mich von Schlamm und wechselte die Kleider, denn wir waren mit einer förmlichen Schlammkruste überzogen. Dann fuhren wir wieder flußabwärts der Mündung zu, wo wir Nachts um zwei Uhr ankamen. Am andern Morgen begab ich mich zur französischen Mission und erhielt vom Vorsteher die Erlaubniß, das Thier vorläufig bei ihm unterzubringen. Es bekam einen schönen Platz mit Wasser, nahm auch Milch zu sich, starb aber doch am sechsten Tage, offenbar an der erwähnten Wunde, denn als ich es untersuchte, fand ich den Knochen ganz frei und schon schwarz. Trotzdem hoffe ich doch noch ein Nilpferd zu fangen und am Leben zu erhalten. Ich werde morgen nach dem Wamy River gehen, um mein Glück dort zu versuchen.“

Aber diese Hoffnungen blieben unerfüllt. Merkwürdiger Weise scheinen dazu sogar die neuerlichen Bemühungen der Engländer, den Sclavenhandel in Südost-Afrika abzuschaffen, beigetragen zu haben. Die Eingeborenen waren dadurch so gegen die Europäer gestimmt, daß an mehreren Orten, wo der junge Nilpferdjäger erschien, die Einwohner sämmtlich mit Geschrei flohen und sich nur schwer beruhigen ließen. Die Absichten der Engländer müssen denselben in ganz falschem Licht dargestellt worden sein.



Kleiner Briefkasten.

L. K. in L. Die Beantwortung Ihrer Anfrage bezüglich der Bereitung und Verwendung des Sacca-Kaffee’s hat sich bis heute verzögert, da wir, um Sie gründlich unterrichten zu können, zuvor von einem Handelsplatz, wo dieser Artikel vertreten ist, Erkundigungen einholen mußten; dieselben ergaben Folgendes:

„Der Name Sacca-Kaffee stammt aus Arabien, dem ursprünglichen Heimathlande des Kaffeebaumes. Bekanntlich wächst die Kaffeebohne (oder richtiger der Kaffeekern) nicht so, wie wir sie hier in Deutschland zu Gesicht bekommen. Die Kaffeebohnen, von denen je zwei fest aufeinander liegen, sind vielmehr zunächst mit einer zähen, pergamentartigen Haut, der sogenannten Umhüllungs-Membran, umkleidet, dann aber auch noch von einer dicken fleischigen, kirschenfruchtähnlichen Masse umschlossen. Diese äußere Umhüllung wird nun, nachdem die reife Frucht an der Sonne getrocknet ist, von den Kernen oder Bohnen getrennt, besonders präpariert, geröstet und pulverisirt, um so bereitet unter dem Namen Sultan- oder Sacca-Kaffee als Zusatz zu den gerösteten Kaffeebohnen von dem Araber consumirt zu werden. Diese alte Gewohnheit der Araber hat wohl darin ihren Grund, daß ein mäßiger Zusatz davon dem Kaffeegetränk einen noch schöneren Geschmack verleiht. Wenn der Sultan- und Sacca-Kaffee nicht schon seit längerer Zeit auch in Europa ein allgemeiner Handels- und Consumtionsartikel geworden ist (im „Welthandel“ [1871] wird seiner freilich schon vor einigen Jahren als eines sich besonders in England einer sehr großen Beliebtheit erfreuenden Kaffeesurrogats erwähnt, dessen Herstellung noch als Geheimniß bewahrt würde), so liegt dies wohl nur in der Unkenntniß der Verarbeitung desselben.

Doch nun zur Bereitung des Kaffeegetränkes unter Anwendung des in den deutschen Handel gebrachten Sacca-Kaffee (unseres Wissens bis jetzt nur durch ein Handlungshaus in Hamburg, Firma Gebrüder Lefeldt, geliefert). Vielfache Prüfungen durch Fachleute wie Chemiker haben erwiesen, daß bei Anwendung des Sacca-Kaffees jede Sorte Kaffeebohnen nicht unerheblich an Wohlgeschmack und Kraft gewinnt, ganz abgesehen von der dadurch gleichzeitig erzielten Ersparniß von zwei bis drei Silbergroschen an jedem Pfund gebrannter Kaffeebohnen (bei jetzigen Kaffeepreisen). Man nehme zu drei bis vier Theilen oder 3/44/5 Pfund gebrannter Kaffeebohnen ein Theil oder 1/41/5 Pfund Sacca-Kaffee und verfahre bei der Bereitung des Getränks ebenso, wie man’s bisher mit jedem Kaffee gewohnt gewesen. Dem auf diese Weise bereiteten Kaffee wird sicher ein Jeder – und dies bezieht sich auch auf jeden Feinschmecker – den entschiedenen Vorzug vor dem aus reinen Kaffeebohnen gewonnenen geben, selbst wenn letzterer aus den allertheuersten und besten Sorten auf das Sorgfältigste bereitet würde. Zum Ueberfluß kann noch den Homöopathen die Versicherung gegeben werden, daß mehrfache gründliche chemische Untersuchungen dieses Artikels constatirten, daß solcher nicht die Spur von Cichorie, sondern nur gesunde nährende Stoffe enthält.

Achtjährige Abonnentin in Berlin. Wir bedauern, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können. Sie dürften an Ort und Stelle Hülfe finden.

C. H. Sch. in Leipzig, Math. K. in München, M. M. in B. und E. K. in Posen. Ungeeignet! Manuscripte stehen zur Verfügung.

E. M. in Dresden. Für Novellen haben wir keine Verwendung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Anfänge des Werkes sind bekanntlich in das Jahr 1777 zu setzen.