Die Gartenlaube (1875)/Heft 12

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[189]

No. 12.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Ein kleines Bild.
Von Ernst Wichert.[1]


An einem jener unvergeßlichen Herbsttage des Jahres 1870, in welchen das bei Sedan siegreich gewesene deutsche Heer vor Paris Stellung nahm, um die Belagerung der Kaiserstadt zu beginnen, suchte auch eine kleine Sanitätscolonne die ihr angewiesenen Quartiere. Sie bestand aus einigen mit dem bekannten rothen Kreuze bezeichneten Fahrzeugen, deren Radspeichen theilweise schon mit Stricken und Pflöcken zusammengehalten werden mußten, einem Chirurgen, mehreren Trainsoldaten und einer kleinen Schaar von freiwilligen Krankenpflegern unter Anführung eines jungen Mannes mit blondem Vollbarte, der den linken Arm in einer Binde, oder vielmehr in einem schwarzseidenen Halstuche trug, das seinem eigentlichen Zwecke ohne andern Ersatz entzogen war.

Der Ort, in welchen die Colonne einmarschirte, gehörte zu dem Kranz halb städtischer, halb ländlicher Ausbauten, die sich in fast ununterbrochener Reihe um Paris ziehen, nicht mehr zur Stadt gehören, aber doch ihren ursprünglich dörflichen Charakter verloren haben, nachdem wohlhabende Pariser sie mit ihren Villen besetzten, oder Fabrikanten aller Art sie ihren industriellen Zwecken dienstbar machten. Er lag bereits jenseits der Vertheidigungs- und vielleicht auch noch hinter der Angriffslinie zurück, aber darüber ließ sich jetzt noch keine bestimmte Auskunft geben, da der Schanzenring der Belagerer sich noch nicht geschlossen hatte und in jeder Stunde andere Dispositionen nöthig werden konnten.

Jedenfalls waren die Bewohner bei Annäherung der feindlichen Heersäulen der Meinung gewesen, daß man hier nicht so „weit vom Schusse“ sei, als Unbetheiligten wünschenswerth. Sie hatten entweder hinter den starken Forts und den Mauern von Paris Schutz gesucht, oder waren weiter in’s Land hinein geflüchtet. Der Ort schien wie ausgestorben: kein Mensch ließ sich auf der Chaussee erblicken, so weit das Auge reichte; die Thüren und Fensterläden waren geschlossen; kein Schornstein rauchte; hier und dort lagen unter den Bäumen am Wege unordentlich Möbel und Wirthschaftssachen, Kisten und Kästen zusammengeworfen, zu deren Fortschaffung sich wahrscheinlich bei der Eile der Flucht nicht mehr Fuhrwerke hatten auftreiben lassen. Tiefste Stille herrschte rundum, und deutlich war jeder Hufschlag der müden Pferde zu vernehmen, die im Schritte vor den nicht gerade schwerbeladenen Karren hergingen. Einer der Trainsoldaten, die als Kutscher fungirten, pfiff einen lustigen Tanz, aber es schien Niemand danach tanzen zu wollen. Mit gesenkten Köpfen folgten wie einem Leichenwagen in gelösten Reihen die jungen Leute, ermüdet von einem weiten Marsche und um die Hoffnung betrogen, in guten Quartieren für ihre Anstrengungen belohnt zu werden.

Die Colonne hatte die Aufgabe, ein Lazareth einzurichten, in dem Verwundete die erste Pflege erhalten könnten. Ein Gebäude mit möglichst hohen und weiten Räumen sollte dazu ausgesucht werden. Rechts von der Straße, ein wenig zurückgebaut, ragte nun ein Haus über die anderen hervor; ein hoher Schornstein dahinter bewies, daß es zu einer Fabrik gehörte. Der Mann mit dem blonden Barte trat an den Chirurgen heran und machte ihn darauf aufmerksam. „Man kann ja sehen,“ sagte derselbe, und gab dem Führer einen Wink zu halten. Beide bogen dann in den Seitenweg ein und kamen schon nach wenigen Minuten mit der Meldung zurück, daß Alles sicher sei. Das Haus stand ganz leer und bot mehr als hinreichende Räumlichkeit für den beabsichtigten Zweck.

Man richtete sich in einigen Zimmern so wohnlich ein, wie es in der Eile gelingen wollte, schaffte die mitgebrachten Lebensmittel herbei, da sich in der Speisekammer des Fabrikherrn nichts Eßbares vorfand, zündete in den Kaminen Feuer an und machte sich’s bequem auf Sophas und Polsterstühlen, die aus dem ganzen Hause zusammengeschleppt wurden. Der Chirurg brachte eine Flasche Cognac zum Vorschein, die er sorglich im Medicinkasten verwahrt gehalten hatte; in den Blechgeschirren brodelte schnell heißes Wasser; ein kleiner Vorrath von Zucker war auch vorhanden, und so wurde bald allen Müden ihr erwärmender Schlaftrunk, der trefflich mundete.

Man kam überein, durch das Loos entscheiden zu lassen, wer die Nachtwache haben solle. Unter den Dreien, die der Zufall hierzu bestimmte, war ein junger schwächlicher Mensch, der sich kaum noch auf den Füßen erhalten konnte und am dringendsten der Ruhe bedürftig schien. Unaufgefordert erbot sich der Mann mit dem blonden Vollbarte sogleich an seine Stelle zu treten. Er könne doch in einigen Stunden noch nicht schlafen, sagte er, und es sei also Sünde, andere Kräfte zu vergeuden. Er grüßte militärisch den sich in die wollene Decke wickelnden Cameraden, der ihm für die Stellvertretung durch ein freundliches Nicken dankte, und trat in den Flur hinaus, von dem eine breite Thür in’s Freie führte.

Es war inzwischen Nacht geworden, aber der Mond, der über den Häusern und Bäumen aufstieg, verbreitete so viel Helligkeit, daß das Auge nach kurzer Zeit jeden Gegenstand in der Nähe deutlich und auch die entfernteren in ihren Hauptmassen unterscheiden [190] lernte. Der Himmel war nicht ganz klar; im Norden hatte sich eine finstere Wolkenwand gelagert, von der allerhand Gezack hoch aufstieg und sich, vom Mondlichte weißumrandet, in phantastischen Formen von der Hauptmasse ablöste. Um so tiefer erschien das Blau des Himmels daneben, um so glänzender die darin schwimmende Mondscheibe. Die Fensterscheiben der oberen Stockwerke blitzten wie illuminirt, und das Zinkdach einer nicht fernen Villa lag vor den dunkeln Kronen der Bäume dahinter wie ein Seespiegel. Der junge Mann, der mit langsamen Schritten die Straße auf- und abging, hätte kein Deutscher sein müssen, wenn ihn dieses zauberhafte Landschaftsbild nicht melancholisch hätte stimmen sollen. Wie er sich nun mit der Schulter an einen Baumstamm lehnte und hinausschaute, dachte er wahrscheinlich an andere schöne Mondnächte, die er in der Heimath dann und wann halb durchwacht, und an die Menschen, die bei ihm waren, und an die Lieder, die sie gesungen, und an die Kahnfahrt auf dem Mühlenteiche … woran nicht alles? Schien doch derselbe Mond auch dort, und die zu ihm aufsahen, dachten vielleicht jetzt ebenso an ihn, bangend und sorgend, wie es ihm ergehen möge im Feindeslande.

Er hatte eine Mutter zu Hause, und Arnold war ihr einziger Sohn. Sie stand einem großen Geschäfte vor, das ihr verstorbener Gatte, der Commerzienrath Rose, in Schwung gebracht hatte und das seinem Sohne und einzigen Erben zu erhalten ihr heilige Pflicht schien. Arnold war ihr zu Liebe Kaufmann geworden, obgleich er eigentlich mancherlei gelehrte Neigungen hatte, wie er denn auch sonst vielfach ihr zu Liebe sein Leben einrichtete und ihre zärtliche Sorge über sich walten ließ. Er wäre gern Soldat geworden, um als Freiwilliger seiner Dienstpflicht zu genügen, aber seiner Mutter war der Gedanke an die möglichen Gefahren, denen er sich im blauen Rocke aussetzte, unerträglich erschienen. Der alte Onkel Helmbach, der Militärlieferungen übernahm und mit hohen Officieren auch wohl beim Glase Wein in Verkehr kam, mußte gelegentlich andeuten, daß der Arnold Rose, sein Neffe, nun auch in dem Alter stehe, wo er sich zur Prüfung der Commission stellen müsse, daß er auch gern dienen wolle, aber doch wohl zu schwächlich sei, und daß seine Frau Mama fürchte, es könne ihrem Einzigen etwas zustoßen. Der Arzt hatte dann einen Wink erhalten und nur oberflächlich untersucht. „Nicht tauglich,“ war die Entscheidung gewesen, die ihn nur deshalb weniger betrübte, weil er wußte, wie sehr sie seine Mutter erfreuen werde. Und nun, einige Jahre später, hatten ihre Thränen ihn doch nicht bewegen können, seinen Entschluß aufzugeben, wenigstens als freiwilliger Krankenpfleger den großen Krieg mitzumachen, bei dem die ganze Nation betheiligt war. Er fühlte sich gesund und kräftig genug, auch thätig sein zu können, und hätte sich krank schämen müssen, wenn es der Mutter gelungen wäre, ihn zu Hause zurückzuhalten. Diesmal redete auch Onkel Helmbach in patriotischem Eifer zu, und so mußte die alte Dame dann wohl geschehen lassen, was sie zu ihrer größten Betrübniß doch nicht hindern konnte. Natürlich gingen in den ersten Wochen täglich Briefe hin und her, dann langten sie bei der immer schwierigeren Postverbindung spärlicher an, und nun bei der Einschließung von Paris waren schon viele Tage ohne Nachricht von Hause vergangen. Arnold Rose hatte sich, besonders auch wegen seiner vollkommenen Kenntniß der französischen Sprache, so trefflich bewährt, daß man ihn gern bald hier bald dort benutzte und mit Aufträgen betraute, deren Verantwortlichkeit sich sehr fühlbar machte.

Der gute Onkel Helmbach! Er hatte bisher noch nichts geschrieben, als einmal die kurze Zeile mit seiner zitternden Hand: „Clärchen läßt herzlich grüßen,“ aber Tag für Tag hatte er sechs Cigarren in ein festes Couvert geladen und diese Kartätsche nach Frankreich hinein geschickt – gute Cigarren! – denn er selbst war ein Feinschmecker und mißtraute den Liebesgaben, die der Patriotismus versendete. Auch diese Päckchen waren nun schon längere Zeit ausgeblieben. Arnold seufzte, indem ihm dies einfiel. Noch eine letzte Cigarre hatte er in seiner Ledertasche für irgend einen außerordentlichen Fall aufbewahrt; diese Mondnacht schien besondere Berücksichtigung zu verdienen; er zog sie vor, prüfte mit Kennerblick das unversehrte Deckblatt und setzte sie in Brand. Wie bedächtig er im Auf- und Abgehen nur gerade so davon naschte, wie die Erhaltung des Feuers es nöthig machte! Wie er den bläulichen Dunst aus der kleinsten Mundöffnung in feinem Zuge langsam ausließ! Wie er ökonomisch auch von Zeit zu Zeit den unter der weißen Asche aufsteigenden Rauch mit der Nase einschlürfte! – es war ja die letzte gute Cigarre, wer weiß für wie lange?

Immer wieder ruhte inzwischen sein Blick auf der hübschen Villa, die eine Strecke straßabwärts mit ihrem mondhellen flachen Dach so zauberhaft zwischen den Bäumen dalag. Er unterschied nun schon die zwei Etagen, die Halle vor der Hausthür, den Balcon mit den zwei Vasen darüber, die vom Mondlicht gestreift wurden. Es zog ihn näher heran, er wußte nicht weshalb. Langsam schritt er die Chaussee entlang dem zierlichen Eisengitter zu, dessen Stäbe in vergoldete Spitzen ausliefen. Er blieb vor demselben stehen und blickte in das Gärtchen. Ein breiter Kiesweg führte zur Hausthür; auf dem Rasenplatz stand in einer Schale von Sandstein ein kleiner Triton, aus dessen Muschelschale aber kein Wasser floß; in einer Laube, deren Blätterschmuck größtentheils schon welk über den Boden ausgestreut war, zeigten sich hübschgeformte Sessel von Eisenguß um einen Tisch mit Steinplatte. Da haben vor Kurzem noch glückliche Menschen gewohnt, mußte Arnold unwillkürlich denken, und nun hat der Krieg sie aus ihrem schönen Besitzthum vertrieben, und ob sie es nicht als einen Haufen Schutt und Kohle wiederfinden werden, wissen sie nicht. Wer mögen sie sein – wo mögen sie weilen – mit welchen Empfindungen mögen sie jetzt hierher denken? Seine Phantasie arbeitete, um Figuren zu gestalten, die diesen Garten, dieses Haus beleben könnten. Und nun glitt das Mondlicht um die Ecke und erhellte auf einmal die ganze Frontseite; alle Fenster leuchteten auf, als würden innen die Gaskronen zu einem großen Ballfeste angesteckt. Deutlich waren die faltigen weißen Vorhänge zu erkennen. Ob sich nicht die Balconthür öffnen und eine schöne Dame hinaustreten und den Arm auf die Vase stützen würde? Lautlose Stille überall.

Die Gitterthür war nicht geschlossen. Arnold trat ein und durchschritt das Gärtchen. Am Portal des Hauses bemerkte er einen Glockenzug und daneben ein blankes Schild mit Aufschrift. Er trat näher heran, um sie zu lesen. „Charles Blanchard“ war in zierlichen Buchstaben in das Schild gravirt. Den Namen des Besitzers wußte er also. Seine Hand legte sich, ohne daß er's merkte, auf den Messingknopf in der Vertiefung daneben. Er zog daran, erst sanft, dann kräftiger. Eine helle Glocke schlug innen an und schien sich gar nicht beruhigen zu können. Erschreckt durch diesen so plötzlich die Stille unterbrechenden Ton trat Arnold auf die Stufen zurück. Das Herz schlug ihm heftig.

Niemand öffnete. Er erwartete nichts anderes. Deshalb aber klang ihm eben die Glocke in dem von seinen Bewohnern verlassenen Hause so schauerlich; es war ihm, als ob er Geister habe wecken und sich mit ihnen in Rapport setzen wollen. Er glaubte freilich nicht an Geister, aber die Einsamkeit und Verlassenheit, die Mitte der Nacht und der Mondschein ließen jenes unheimliche Gefühl in ihm aufkommen, das der Furcht verwandt ist und ein Frösteln bewirkt. In diesem Augenblick rollte ein Luftzug von der Straße her das welke Laub zusammen und trieb es raschelnd unter die Halle. „Du bist ein rechter Narr,“ schalt er sich und trat mit absichtlich verhaltenen Schritten den Rückweg an.

Wohl eine Stunde später, als seine Wache dauern sollte, patrouillirte er im Freien. Dann weckte er die Ablösung, legte sich in der Nähe des Kamins auf den Fußboden, wickelte sich fest in seinen Mantel und schlief, von der körperlichen Müdigkeit überwältigt, bald ein.

Am nächsten Morgen zeigte es sich deutlich, daß der ganze Landstrich gegen die Stadt hin bereits militärisch besetzt war und unsere Colonne sich hinter den Positionen der Angreifer in verhältnißmäßig gesicherter Lage befand. Die Action konnte jede Stunde beginnen und das Lazareth Arbeit erhalten. Eile war deshalb geboten. Man versammelte sich zu einer allgemeinen Berathung, wie man sich die unumgänglichen Bedürfnisse verschaffen sollte.

„Wir brauchen vor Allem Matratzen, Betten, Decken,“ bemerkte der Chirurg, „aber auch Lebensmittel wären erwünscht.“ Rose schlug vor, die Häuser der Ortschaft zu durchsuchen. „Die Eigenthümer selbst,“ sagte er, „verweisen uns auf Gewalt. Gut denn! nehmen wir uns, was wir brauchen, aber – nicht mehr, Freunde! Beweisen wir uns auch darin als gesittete Feinde,

[191] daß wir den Respect vor fremdem Eigenthum nicht einen Augenblick verlieren; daß wir nicht zerstören, außer wo unser Zweck es gebieterisch fordert. Folgt mir!“

Unter Rose's Anführung wurden nach diesem allseitig belobten Princip die Häuser der Nachbarschaft durchforscht. Man fand nicht, was man suchte; überall schienen gerade die Betten entfernt zu sein. An der Villa, dem ansehnlichsten Hause in weitem Umkreise, war Rose bisher wiederholt vorüber gegangen, obgleich man ihn darauf aufmerksam machte, daß dort am meisten Aussicht sei, zum gewünschten Ziel zu gelangen. Man wollte nun den Grund dieser Zurückhaltung wissen, und da er keinen vernünftigen vorzubringen im Stande war, entschloß er sich endlich doch, die Cameraden durch die Gitterthür in das Gärtchen und unter die Halle zu führen.

Die Hausthür ließ sich von außen nur öffnen, wenn man sie mit der Axt einschlug. Rose, der sie geschont wünschte, deutete auf das Fenster daneben, das ein Einsteigen gestatten würde. Bald klirrten die Glasscheiben. Die Fensterflügel wurden aufgerissen; aus der Laube holte man die Stühle herbei und stellte mit ihrer Hülfe eine Art von Treppe zusammen, auf der sich ziemlich bequem das Fensterbrett erreichen ließ. Bald stand die kleine Schaar im Hausflur und verbreitete sich von da durch die unteren Räume.

Rose hatte schon bei der äußeren Besichtigung des Hauses von einer Reihe tiefliegender und vergitterter Fenster auf weite Kelleranlagen unter demselben geschlossen. Er fand auch bald die Treppe, die offenbar zu ihnen hinabführte, und einen dunkeln Corridor, in welchem jeder Schritt, wie unter einem Gewölbe, hallte. Das Auge gewöhnte sich nach einiger Zeit an die Dämmerung so weit, daß es Zugänge zu mehreren abgetheilten Räumen unterscheiden konnte. Sie enthielten aber nichts, als leere Weinlager und Stapel leerer Kisten oder Körbe von Weidengeflecht. Auf der anderen Seite des Ganges ließ sich keine Thür entdecken, und doch mußten sich die Keller hier aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen. Rose trug ein kleines Wachslicht bei sich und zündete es an. Wie er nun damit die Wand entlang leuchtete, zeigte sich eine fast quadratische Stelle dunkler gefärbt. Die Feuchtigkeit ließ nicht zweifeln, daß hier frischer Kalk aufgetragen war, und die Spuren der eiligen Arbeit bedeckten auch den Boden. „Hierher, Freunde!“ rief der glückliche Entdecker die Treppe hinauf, „ich weiß zwar noch nicht, was wir haben, aber dahinter steckt jedenfalls etwas. Man pflegt in Kriegszeiten keine Thür zu vermauern, wenn man nicht etwas Werthvolles zu verbergen hat, und hier hat ganz kürzlich ein Maurer gewirthschaftet. Alle Mann heran!“

Bald setzten sich viele Hände in Bewegung, den Kalkbewurf abzuklopfen und mit Taschenmessern die Fugen zwischen den Ziegeln zu erweitern. Der eiserne Stiel einer Kaminschaufel diente als Brechstange, und schneller, als der Handwerker seinen Verschluß bewirkt haben konnte, öffnete sich wieder die Thür. Ein gewandter Turner schlüpfte durch die Bresche und schlug innen eine laute Lache an. „Da finden wir gerade, was wir brauchen,“ rief er den eifriger das Ziegelwerk abräumenden Cameraden zu. „Matratzen, Betten und Decken genug für ein großes Feldlazareth!“

Er hatte Recht. Der ganze Raum war damit bis zum Gewölbe hinauf angefüllt. Offenbar hatte nicht nur Herr Blanchard seinen Besitz an solchen Gegenständen hier zu sichern gesucht, sondern auch die übrige Bewohnerschaft des Ortes den ihrigen hierher zusammengetragen. In zwei benachbarten Kellern lagerte Wein in Fässern und Flaschen. Auch Vorräthe von Gemüsen, Mehl, Schinken und Würsten fanden sich in einem Holzverschlage. In der freudigsten Erregung nahm man Besitz von diesen Schätzen, brach sofort einigen Flaschen den Hals und dankte Rose, der doch wieder „der Schlauste gewesen sei“.

„Nun aber ein ordnungsmäßiges Verfahren!“ commandirte derselbe. „Geht das so weiter mit dem Zechen, so finden wir uns am Ende nicht wieder aus dem Keller hinaus. Requiriren wir zwangsweise, so viel uns nöthig und gut scheint, aber legen wir dem Wirth über das Entnommene gehörig Rechnung. Hier ist ein Zettel und eine Bleifeder; schreiben wir Stück für Stück auf, und dann mag das Blatt als Quittung zurückbleiben.“

Man hatte sich gewöhnt, seinen immer verständigen Weisungen zu gehorchen, und so war denn auch jetzt bald das Geschäft des Ausräumens organisirt. Ein zweiräderiger Karren, den man in einem Fleischerladen gefunden hatte, erleichterte den Transport der Sachen nach dem Fabrikgebäude. Dort gab der Chirurg weitere Anordnungen wegen der Unterbringung.

Arnold Rose konnte die Genossen allein weiter wirthschaften lassen. Eine unbezwingliche Neugierde trieb ihn an, die Villa, die ihm gestern im Mondlichte fast wie ein verzaubertes Schloß erschienen war, näher in Augenschein zu nehmen. Die unteren Räume boten nichts Bemerkenswerthes: der Herr des Hauses, der ein Kaufmann sein und in der Stadt sein eigentliches Comptoir haben mochte, hatte hier einige Geschäftszimmer nur mit dem nothdürftigen Mobiliar besetzt, während sich auf der andern Seite des Flurs die Küche, die Mägdestube und verschiedene Wirthschaftsgelasse befanden. Die Wohnung selbst mußte im obern Stocke liegen, und dorthin führte eine zierliche Treppe mit eisernem Geländer von bester Gußarbeit. Rose bedachte sich nicht, sie zu besteigen. Der obere Flur war mit Bildwerken ausgestattet. Da hing der erste Napoleon, und der dritte und Eugenie und der kleine Lulu in Corporalsuniform, als wär's dem Besitzer des Hauses darauf angekommen, sich jedem Eintretenden sogleich als ein guter Patriot zu beweisen. Geradeaus öffnete sich eine Flügelthür von braunem Holze nach einem geräumigen Salon, der mit dem Balcon Zusammenhang hatte; rechts und links sah man durch Portièren von blaßgrüner Farbe in ein Wohn- und ein Speisezimmer mit der entsprechenden sehr eleganten Ausstattung. Daran schlossen sich Cabinete, deren eines die kleine Bibliothek und eine Marmorbüste des Corneille beherbergte; weiter folgten zierlich möblirte Schlafräume und Garderobekammern. Ueberall war das Parquet spiegelblank, hingen Glaskronen und Ampeln von mattgeschliffenem buntem Glase an den Decken herab, bedeckten Oelgemälde in breitem Goldrahmen und Stahlstiche die Wände, standen kostbare Pendulen auf den Kamingesimsen, kleine Statuetten, Vasen und allerhand Nippessachen auf den Tischen und Schränken. Arnold hatte bei seiner langsamen Wanderung durch die Zimmer Zeit, sie einzeln zu betrachten.

In der Wohnstube neben dem Salon stand ein Damenschreibtisch von geschmackvollster Form, ganz beladen mit Albums, Mappen, zierlichen Schreibmaterialien, kleinen Figuren von Porcellan und Bronze, Schmuckschälchen von polirtem Steine und Kästchen von Metallguß mit hübschen Reliefs. Arnold sah nur flüchtig darüber hin. Ihm fiel sogleich ein Gestell von vergoldeter Bronze in die Augen, in welchem eine kleine Photographie Platz fand. Er schob den Lehnstuhl ein wenig zurück, setzte sich darauf und besichtigte es näher, nahm es in die Hand, hielt es in verschiedener Richtung gegen das Licht, um dem Bilde die günstigste Beleuchtung zu gewähren, benutzte eine Lupe, die auf dem Schreibzeuge lag, dieselbe in näherer und weiterer Entfernung von seinem Auge prüfend, und schien sich von dem Gegenstand gar nicht trennen zu können. Die Photographie zeigte das Bild eines jungen Mädchens in halber Figur und war schwerlich besser, als Darstellungen dieser Art gewöhnlich zu sein pflegen, es hätte denn der lebhafte Ausdruck des interessanten Gesichtchens auf Rechnung des Künstlers gesetzt werden müssen. Aber diese Augen! Sie schienen wirklich aus dem Bilde herauszusehen und dem Beschauer zuzulachen. So viel natürliches Leben erinnerte Arnold sich nicht schon jemals auf einer Photographie bemerkt zu haben. In wie glücklicher Stimmung, dachte er, hat dieses reizende Kind dagesessen, um sich von der Sonne portraitiren zu lassen! Womit beschäftigte sich während dessen dieses Köpfchen? War das Bild der geliebten Mutter bestimmt und sollte es ausdrücken, wie lieb das Töchterchen sie habe und wie es immer wünsche, sie an die heitersten Momente ihres Beisammenseins zu erinnern? Oder war nicht die Mutter gemeint? Gehörte das Bild einem Andern und war dies gleichsam nur eine Copie? Wer war der Erste, der sich darüber freute, darüber freuen sollte? Wer hatte dem hübschen Mädchen gesagt, daß ihm diese Haltung, diese Viertelwendung gegen das Licht besonders günstig sei, daß so aus dem Schatten heraus diese hellen Augen noch heller lachen würden? Der Spiegel vielleicht?

Nein, kein Gedanke daran! Keine Spur von Coquetterie war bei genauerer Betrachtung zu entdecken. Es war nichts an dem Bilde erkünstelt. Diese Augen konnten gewiß auch sehr schwermüthig blicken, diese Stirn unter den krausen Löckchen [192] sehr nachdenklich sich in die kleine Hand stützen, diese feinen Lippen sich über den Zähnen fest schließen, als bewahrten sie ein tiefes Geheimniß. Wer konnte sagen, ob das Bild so nicht „interessanter“ geworden wäre? Aber es sollte nur wahr sein. Wie anziehend wurde es durch diese Unbefangenheit!

Arnold stellte es wieder an seinen Platz. Er bemerkte jetzt erst ein Pendant auf der anderen Seite des Tisches. Das zweite Bild in ganz ähnlichem Rahmen zeigte einen jungen Officier in auffallend gezwungener Haltung, als sollte vor allen Dingen die Uniform würdig verewigt werden. Das ernste Gesicht contrastirte merklich mit dem heiteren der jungen Dame. Die Stirn war über der schmalen, sanft gebogenen Nase zu einer feinen Falte zusammengezogen. Und der Feldherrnblick! So sah ein künftiger Napoleon als Lieutenant aus. Vielleicht war die Photographie kurz vor dem Auszug der Truppen aufgenommen, und der junge Held träumte sich schon in das eroberte Berlin. Was hatte er in diesen wenigen Monaten seitdem erlebt? Auf welchem Schlachtfelde hatte er Frankreichs Adler in den Staub sinken sehen? Lag er neben anderen Tapferen in kühler Erde bei Wörth oder bei Sedan? War er eingeschlossen in Straßburg oder Metz? Hatte er als Kriegsgefangener in Breslau oder Königsberg Zeit, über die Eitelkeit der Ruhmbegierde nachzudenken? Es gab mancherlei Möglichkeiten, aber jeder haftete eine schwermüthige Betrachtung an.

Das deutsche Gemüth konnte nicht unbetheiligt bleiben. Es suchte ein Verhältniß zu diesen Menschen, die ihm noch vor wenigen Minuten ganz fremd gewesen waren und jetzt ihm Räthsel aufgaben. Der erste Gedanke war: sie sind Bruder und Schwester. Aber dann kamen Zweifel. Jede Familienähnlichkeit schien zu fehlen. Warum nicht Bräutigam und Braut? Vielleicht bereits verheirathet … eine sehr störende Vorstellung.

Warum störend? Was ging ihn die kleine Französin an, oder dieser künftige Marschall von Frankreich? Ah! das war bald gesagt, aber es sind nicht immer logische Schlüsse, die unseren Antheil an dem bestimmen, was zufällig in unsern Gesichtskreis kommt. Es giebt zwischen der Welt in und außer uns geheimnißvolle Verbindungen, die jedes philosophischen Calcüls spotten und für die der Mathematiker keine Formel findet. Hunderttausende wären an diesem unbedeutenden Bilde vorübergegangen, ohne es mehr als eines flüchtigen Blickes zu würdigen. Arnold Rose konnte davon nicht los kommen. Und es zog ihn nicht an, wie etwa ein Kunstwerk; es gefiel ihm auch nicht, wie sonst wohl ein hübscher oder interessanter Gegenstand gefällt, der sich dem Auge einprägt – es war ihm, als ob plötzlich etwas lange Geahntes und immer Unbegriffenes in ihm auflebte und ihn überwältigte. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und deckte die Hand über die Augen; aber nun tauchte sogleich das Bild aus dem Dunkel auf und gewann sogar Farbe. Dasselbe unheimliche Gefühl überkam ihn, wie gestern, als er die Glocke gezogen hatte und der helle Ton durch das leere Haus klang. Er stand auf und eilte mit hastigen Schritten nach dem Salon zurück.

Er trat an die Balconthür und öffnete sie. Die kühle Luft drang erfrischend ein; er athmete leichter auf. Unten trugen die Cameraden Matratzen, Betten und Körbe mit Weinflaschen durch den Garten; sie lachten und scherzten. Auch ein Vorrath von Cigarren schien entdeckt zu sein, denn die meisten pafften munter, daß der blaue Rauch sich über ihren Köpfen kräuselte. „Und Du stehst hier wie Hans der Träumer,“ schalt sich Arnold, „und solltest der Thätigste sein! ‚Ein Mägdelein nasführet Dich!‘ Fort! Das ist eine ungesunde Stimmung. Ein Mann muß wissen, was er will –“

Er wendete sich kurz um und ging der Ausgangsthür zu, fest entschlossen, diese Zimmer nicht wieder zu betreten. Wahrscheinlich wollte er sich auch gar nicht mehr umschauen, aber wenn er auch wirklich nicht den Kopf drehte, die Augen kamen doch, als er den Thürflügel anzog, unwillkürlich in die Richtung der Portière, und es war dann nicht seine Schuld, daß er unter derselben hinweg gerade den vergoldeten Bronzerahmen glänzen sah, und trotz der Entfernung das Bild darin erkannte. Er hätte darauf schwören mögen, es so auf den Schreibtisch gestellt zu haben, daß es ihm jetzt die Kehrseite zuwenden müßte. „Das ist doch wunderbar,“ sagte er halblaut, blieb stehen und schloß wieder die Thür. „Bin ich denn wie verwünscht?“ Es schien ihm bei alledem ganz angenehm zu sein, einen Vorwand zu längerem Zögern gefunden zu haben. Bald saß er wieder auf dem Lehnstuhle vor dem Schreibtische und hatte das kleine Gestell in der Hand.

Er prüfte, wie das Bild darin befestigt sei. Vier Klammern von dünnem Blech drückten es gegen den Rahmen. Sie ließen sich mit Leichtigkeit aufbiegen, selbst ohne Anwendung eines Instruments. Er probirte es an der einen Seite, dann an der andern – das Blättchen fiel auf den Tisch. Seine Hand zitterte ein wenig, als sie sich danach ausstreckte, wie nach unrechtmäßig erworbenem Gute. Was ist denn da zu bedenken? In Feindesland – ! und eine Photographie in Visitenkartenformat! Die Frau Mama oder das Töchterchen hatten gewiß noch Vorrath, und wenn nicht – es war bald ein Ersatz geschafft. Warum nicht ein Andenken mitnehmen, das so wenig reellen Werth hatte? Der gewissenhafteste deutsche Philister konnte bei diesem Raube ruhig schlafen.

Er zog seine Brieftasche heraus und öffnete sie – das kleine Bild schlüpfte hinein zwischen die Briefe der Mutter.

Nun ganz beruhigt durch die Sicherheit seines Besitzes, entfernte er sich ohne weiteren Aufenthalt aus der Wohnung, schloß die Thür hinter sich ab, legte den Schlüssel auf's Gesims und betheiligte sich bei den Arbeiten der Gefährten, die von seiner Abwesenheit keine Notiz genommen hatten.

Die Villa war ihm seitdem gleichgültig; er dachte in den folgenden Wochen, die freilich mehr und mehr seine sehr anstrengenden Dienste im Lazareth in Anspruch nahmen, durchaus nicht daran, ihr einen nochmaligen Besuch abzustatten. Aber auch das Bild beschäftigte ihn jetzt, wo es ihm gehörte und immer in seiner Nähe war, wenig mehr, als ein gelesener Brief von Freundeshand. Er betrachtete es wohl, wenn er zufällig die Brieftasche öffnete, und fand das Mädchengesicht noch immer anziehend genug, um sich seines Beutestückes zu freuen, aber es war ihm nun doch geworden, was es wirklich war: ein Bild. Die Person, die es darstellte, trat zurück, beschäftigte seine Phantasie nicht mehr. Sie hatte sich erschöpft und fand kein Material zu weiteren Luftbauten.

Dann erhielt er Ordre, einen Transport Verwundeter bis zur Grenze zu begleiten, und dann wurde er zur Loire-Armee geschickt, um in einem Feldlazareth Hülfe zu leisten. Als er nach länger als zwei Monaten nach seinem alten Stationsort vor Paris zurückkehrte, fand er dort Vieles verändert. Die meisten Bewohner der Ortschaft waren, nachdem der erste Schrecken überwunden war, aus den benachbarten kleinen Städten und Dörfern in die sie sich geflüchtet hatten und die sich nun nicht sicherer erwiesen, in ihre Häuser zurückgekehrt und hatten ihre Geschäfte, so gut es ging, wieder aufgenommen. Man beobachtete sie scharf, um jeden Verkehr mit der belagerten Stadt zu hindern, behandelte sie aber sonst nicht unfreundlich. Viele von ihnen hatten Einquartierung aufnehmen müssen.

Auch Rose erhielt ein Quartierbillet. Als er nun die Chaussee entlang ging, um das ihm angewiesene Haus zu suchen, fiel ihm wieder die Villa in die Augen. Er stellte sich an das Gitter und blickte in das Gärtchen. Die zerbrochenen Fensterscheiben neben dem Portale waren durch neue ergänzt, die Rouleaux zum Theil aufgezogen. Hatte auch Herr Blanchard es für gerathen gehalten, sich in seinem verlassenen Besitzthume wieder einzufinden, oder hatten sich's Andere darin bequem gemacht? Arnold’s Neugierde, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, war gewiß berechtigt.

Bald stand er wieder unter dem Portale und zog an dem Klingelgriffe. Nach einer Weile sprang die Thür auf; er trat in den Flur. “Fermez la porte, s’il vous plait,“ rief eine weibliche Stimme von oben herab. Er gehorchte. Wie er die Treppe aufwärts schritt, bemerkte er, daß sich oben eine Gestalt in hellem Kleide über das Geländer beugte. Jetzt fing ihm wieder das Herz an zu schlagen unter dem kleinen Bilde, das er wie eine Bleiplatte auf der Brust fühlte. Wenn sie’s wäre?

Sie war’s nicht. Eine ältere Dame empfing ihn, deren Aehnlichkeit mit der Photographie allerdings unverkennbar war. Das Gesicht schien bleich und verhärmt, und der Blick, mit dem sie den Ankommenden eindringlich musterte, drückte schwerste Besorgniß, wenn nicht Schreck, aus.

(Fortsetzung folgt.)

[193]

Südamerikanische Woll-Lieferanten.
Von Ernst Moßbach.


Anknüpfend an einen frühern Aufsatz der Gartenlaube, 1874, Nr. 21, „In der Heimath des Lamas[WS 1], führe ich den Leser nochmals auf die Hochplateaux der Anden Südamerikas und zwar auf die höchsten, die „Paramos, Punas und Purumas“.

Mit diesen Namen bezeichnen die dortigen Indianer den nur drei bis fünf geographische Meilen breiten, aber fast siebenhundert Meilen langen Landesstrich, welcher sich unmittelbar an die bis sechstausendsechshundert Meter hohen Schneeberge der Küsten-Cordillere im Osten anreiht und von der nördlichsten Republik Columbia oder Neu-Granada durch den Kontinent bis an Patagonien erstreckt. Dieser Hochgürtel wird von einem mehr oder weniger winterlichen Klima beherrscht, je nachdem er in seiner wellenförmigen Bodenbildung über oder unter viertausendsechshundert Meter Meereshöhe liegt. So eisig kalt hier die Luft Morgens und Abends weht und so todt und abgeschieden diese Gegenden im Allgemeinen erscheinen, so brennend heiß sind daselbst die Strahlen der mittägigen Sonne von oben und so bemerkbar die Lebenspunkte, hervorgerufen durch die Wirkung des Feuers von innen.


Schur der Alpacos.
Nach einer Skizze von Ernst Moßbach.


In der That befinden wir uns hier auf vulcanischem Boden und mitten in vulcanischer Thätigkeit. Von den nach Hunderten zählenden, theils erloschenen, theils noch thätigen Vulcanen erinnere ich nur an die bekanntesten der letzteren Kategorie in Neu-Granada und den erst im Jahre 1861 entstandenen Vulcan von Chillan in Chile.

Und wenn auch diese Feuerschlünde verstummen und ihre inneren Gluthmassen die Küstenländer erbeben machen und die Bewohner dort in Angst und Schrecken setzen, hier oben auf den Punas fühlen wir nichts von ihrer zerstörenden Gewalt, hier üben sie nur Wohlthat.

Mit dem Worte Calientes (das heißt spanisch „warm“, respective „warme Orte“) hört man öfter Gegenden dieser Hochregion benennen, die, was ihr Klima anbelangt, jene Bezeichnung durchaus nicht verdienen. Das Wort bezieht sich vielmehr auf die heißen Quellen, deren viele den höchsten Gebirgsschluchten entspringen und eine halbe Meile weit fließen, ohne zu gefrieren.

Die Quellen sprudeln nicht fortwährend an einer und derselben Stelle, sondern vertauschen diese nicht selten mit anderen, wenn sich der Spalt, dem sie entweichen, verstopft. So kommt es auch vor, daß sie in den porösen Torf- und Moorboden der Thalbecken dringen, welcher von geschlossenen Decken dichten Yaretamooses überwuchert wird, und daß die sich unter demselben ansammelnden Dämpfe jene Decke aufbauchen, zerreißen und wie Dämpfe aus dem Ventile eines Kessels aufsteigen. Danach sprudelt das warme Wasser wieder krystallhell, weiter, bis sich die Operation durch irgend eine Störung anderswo erneuert. Der Reisende, welcher hier an warmen Quellen vorüberzieht, ist bisweilen Zeuge solcher kleiner Dampfsäulen. Unheimlich unterbrechen dieselben dann durch ihr leise brodelndes Geräusch die lautlose Einsamkeit, aber in ihrer Umgebung sprießt ein kräftiges Pajagras, und selbst das Tolagestrüpp, welches sonst nur kümmerlich und vereinzelt wächst, hat sich auf den inselförmigen Erhöhungen der Brüche dichter angesiedelt und dient den Wasservögeln zum sichern Versteck ihrer Nester. Auch kleine Heerden von [194] Guanacos und Vicuñas, die durch die jagenden Indianer aus behaglicheren Gegenden vertrieben sind, haben Zuflucht zur Puna genommen und in den Thälern warmer Quellen eine neue Heimath gefunden.

Das sind die Punkte, Oasen in der Steppe, wo auch Menschen mit ihren einzigen Hausthieren, den Alpacos und Lamas, leben. Freilich sind ihre Ansiedelungen nur dünn gesät; umsomehr heimelt uns in der öden Gesteinswelt die Lehmhütte mit verblichenem Grasdach an, mehr als die Villa der Haciendas in den grünen Tropenthälern.

Die Alpacos oder Pacos gehören, wie die Lamas und die erwähnten Guanacos und Vicuñas, zur Familie Auchenia. Ganz treffend nennen wir sie „amerikanische Kameelschafe oder Schafkameele“, da alle diese Thiere wirklich viele Eigenschaften des Kameeles und Schafes in sich vereinen. Nur um ein Geringes kleiner, aber langhalsiger als das Lama, theilt das Paco mit letzterm die Störigkeit in der Zucht, zugleich aber auch die Anhänglichkeit an seinen Herrn und Beschützer. Zum Lasttragen giebt es sich jedoch nicht wie das Lama her, obschon seine Körperconstitution eine derartige Arbeitsleistung recht gut ertrüge. Es will einmal nicht arbeiten, und gegen seinen Willen ist weder mit Güte noch mit Gewalt etwas auszurichten. Genau genommen, richtet es sich in dieser Hinsicht nur nach seinen Gebietern, welche auch lieber in der Sonne oder am Feuerherde in ihren Hütten liegen und sich dem süßen Nichtsthun, vielleicht auch einem ebenso süßen Nichtsdenken überlassen. Doch will ich hiermit nicht sagen, daß sie – nämlich die menschlichen Bewohner dieser Hochregionen – geborene Faullenzer seien. Es fehlt ihnen nur die Arbeit; denn wenn sie die wenigen Felder, auf denen ihre bittern Kartoffeln und ihr Kinoa-Hirse gedeihen, bestellt und den Alpacos die Wolle abgenommen haben, Arbeiten, die auf die zwei Monate November und December, den Anfang ihres Sommers fallen, so sind sie, von geringen Unterbrechungen durch die Vicuñajagd und die Reparatur ihrer einfachen Kleidung und ihrer noch einfacheren Behausung abgesehen, mit dem Nothwendigen eigentlich fertig, und da Beil, Hammer, Säge oder gar Feder, Tinte und Papier Dinge sind, die sie kaum dem Namen nach kennen, so ist es am Ende ganz natürlich und verzeihlich, daß sie den größesten Theil des Jahres mit Nichtsthun verbringen. Aber nein. Einige erkühnen sich, ihr erhabenes Heimathland zeitweise zu verlassen, um als Lamatreiber in die tiefern, wärmern Gegenden herabzusteigen. Wenn aber das Wandeln unter Palmen Niemanden ungestraft läßt, so rächt es sich an diesen Hochlandskindern in der empfindlichsten Weise. Ein paar Wochen nur vermögen sie die Palmenluft, das heißt die dichte, schwere Luft der Waldregionen, auszuhalten, dann aber müssen sie in das ihnen von der Natur angewiesene Klima zurückkehren. Dessen sind sie sich auch bewußt und außerdem von einer ewigen Sehnsucht nach ihrer kalten Heimath befangen. Sie verweilen daher nicht gern lange Zeit in den Waldgegenden und an der Meeresküste. Es ist also kein Wunder, daß wir hier, in dem von allen Menschenracen besuchten Europa, keinen Puna-Indianer antreffen.

Die Kameelschafe scheinen ein ähnliches Schicksal mit den Menschen zu theilen, wennschon sie sich europäischer Acclimatisation zugänglicher zeigen. Die Lamas, welche man in Menagerien und zoologischen Gärten am häufigsten sieht, vertragen, jung herübergebracht oder hier selbst geboren, die schwere Luft, respective das europäische Klima am besten. Doch werden sie sich nie zu den vollkommenen schönen Exemplaren entwickeln, wie ihre Heimath deren hervorbringt. (Von der Zucht des Guanaco, welches irrthümlich als wildes Lama gilt, ist mir noch nichts bekannt. Vielleicht ist der Fang dieses scheuen Thieres zu schwierig, seine Zähmung aber ganz unmöglich.) Empfindlicher gegen fremdes Klima zeigen sich die Vicuñas, am empfindlichsten die Alpacos, deren Erhaltung und Fortzucht nach vielfach gescheiterten Versuchen endlich doch gelungen zu sein scheint. So existiren in Amsterdam einige Exemplare; im Schloßparke zu Haag und im Knowslyparke zu Liverpool sollen sogar kleinere Heerden bereits mehrere Jahre gezüchtet sein. In den Alpen, Pyrenäen und den algerischen Gebirgen ist ihre Acclimatisation jedoch mißlungen. Ob aber durch die europäische Züchtung je ein wirklicher Nutzen erzielt werden wird, möchte ich bezweifeln, da die Pflege hier viel kostspieliger, die Erhaltung mißlicher sein dürfte und der Ertrag und die Qualität der Wolle mit Amerika schwerlich concurriren kann. Auf der Puna leben diese Thiere das ganze Jahr hindurch frei in der Natur ohne jegliche Pflege und werden nur zur Zeit der Schur in Corrales, Höfen, welche von Steinmauern ohne Bindemittel umgeben sind, zusammengetrieben und, wie unsere Zeichnung veranschaulicht, mit Lassos eingefangen, an den Beinen gefesselt und dann geschoren. Das Eintreiben und Fangen besorgen die Indianerknaben, das Scheeren die Frauen und Mädchen. Das Abwägen und Verpacken der Wolle sowie der Transport derselben mittels Lamas nach der Küste ist die Arbeit der Männer. Ein Aberglaube verbietet den Indianern, die Alpacos der Kopfwolle zu berauben; vielleicht ist letztere nicht viel werth und außerdem unbequem zu gewinnen.

Wie schreckenerregend aber der Anblick solcher nackten Geschöpfe besonders auf die Saumthiere wirkt, davon habe ich mich selbst einmal in höchst unangenehmer Weise überzeugen müssen. In einer Carawane von sechs Mann zu Pferde mit ebensovielen Maulthieren, welche unser Gepäck trugen, hatten wir in einer der unwirthlichsten Gegenden zwischen Choco und Caquena auf den Peruanischen Punas bei untergehender Sonne eine Indianer-Ansiedelung erreicht. Im Vorgefühle der behaglichen Ruhe nach einem achtstündigen ermüdenden Ritte wollten wir eben in die Oeffnung des ein paar Hütten umzäunenden Hofes einlenken, als sich plötzlich ein Dutzend lange dünne Hälse mit unförmlichen, zottigen Köpfen über die Mauern erhoben und sich neugierig uns entgegenstreckten. Wie von einem elektrischen Schlage getroffen, ergriffen unsere Thiere die Flucht. Zwei Maulthiere stürzten auf dem steinigen Wege und verloren ihre Last; zwei andere geriethen in Sümpfe und der Rest schlug sich seitwärts in eine mit gigantischen Trachytblöcken übersäete Ebene. Glücklicher Weise waren die Indianer uns schnell zur Hülfe gekommen und hatten die nächsten Thiere wieder zusammengebracht, worüber freilich drei volle Stunden vergangen waren. So todtmüde diese Bestien auch waren, so entschieden weigerten sie sich doch, zu dem gefürchteten Hofe zurückzukehren. Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als ihnen zum Nachtquartiere ein vor Wind und Wetter einigermaßen geschütztes Plätzchen zwischen den Trachytblöcken auszusuchen, welche ihnen die Aussicht auf die verdächtigen Mauern verdeckten.

Schließlich noch ein paar Worte über die Wolle der Kameelschafe, welche an der Westküste Südamerikas einen nicht unbedeutenden Ausfuhrartikel bildet. Am geschätztesten ist die der Vicuñas. Zwar nur kurz, kaum zwei Zoll lang, und gekräuselt, übertrifft sie an Weichheit, seidenartigem Glanz und selbst in der schön rothgelben leuchtenden Farbe alle andern Wollen. Allein „Gut und Viel“ ist selten beisammen. Die Vicuña ist die kleinste und zierlichste Species der Auchenias, der graciösen Gemse nicht unähnlich, aber ungehörnt und liefert höchstens zwei Pfund Wolle.

Die jagenden Indianer treiben die Vicuñas an geeigneten Orten in große Umzäunungen, die sie ungefähr ein Meter über dem Boden mittelst Stöcken und Stricken herstellen und an welche sie Federn, kleine Tolazweige und allerhand Lappen hängen. Vor diesen vom Winde bewegten Gegenständen fürchten sich die ängstlichen, scheuen Thiere dermaßen, daß sie sich eher todtschlagen lassen, als daß sie versuchen, die Umzäunung zu durchbrechen. Zur Bekundung der angeborenen Gutmüthigkeit der Indianer, wenigstens der von den peruanischen Hochlanden, sei hier beiläufig erwähnt, daß sie bei diesem Jagen die Vicuñas nicht tödten, sondern dieselben, einige Wenige zum Braten ausgenommen, nur scheeren und dann wieder laufen lassen. Es gehört auch ein hoher Grad von Grausamkeit dazu, einem so zarten, reizenden Wesen den Todesstoß zu geben, welches, in die Enge getrieben, sich vor seinem Verfolger auf die Kniee wirft und ihn mit den großen, sprechenden Augen, Erbarmung flehend, ansieht.

Nächst der Vicuñawolle ist die der Alpacos am gesuchtesten. Sie wird fünf bis acht Zoll lang, daher besonders als Kammgarn geschätzt, ist schlicht oder leicht gewellt, jedoch nicht so weich und seidenartig wie jene. Es giebt schwarze, weiße und gefleckte Alpacos; in Peru werden fast nur schwarze Exemplare gezüchtet. Der Ertrag von einem ausgewachsenen Thiere schwankt zwischen fünfzehn und zweiundzwanzig Pfund, in welchen annähernd sechs bis acht Pfund Fett und andere Unreinigkeiten, besonders Staub, enthalten sind. Die Wolle der Guanacos und Lamas endlich, nur unwesentlich von einander verschieden, bildet die geringste Qualität. [195] Sie besteht aus einem feinern, kürzern, filzigen Unterhaar und einem gröbern, längeren, zottigen Deckhaar. Die Guanacos, welche sich bisweilen zugleich mit den Vicuñas in den Umzäunungen fangen, liefern eine hellbraunrothe Wolle, die Lamas dagegen die verschiedensten Nüancen vom dunkelsten Schwarz durch Braun und Gelb bis zum blendendsten Weiß. Auch im Ertrage stehen Beide den Alpacos nach, da sie nur fünfzehn bis achtzehn Pfund Wolle geben.




Die deutsche Seewarte in Hamburg.
Von J. Loewenberg.


Wenige Tage nachdem der jugendliche Alexander von Humboldt im März 1792 als stimmberechtigter Assessor in das Bergwerks- und Hüttendepartement zu Berlin eingetreten war, schrieb er dem Freunde und Freiberger Studiengenossen Karl Freiesleben in heiterem Spott: „Ich gehe auf fünf bis sechs Tage nach Linum, wo die große Torfstecherei, nach Zehdenik, wo ein hoher Ofen, und nach Rheinsberg, wo ich Auftrag habe einen Fayenceofen zu untersuchen. Das sind bergmännische Beschäftigungen!! – Aber es wird bald besser. … Ich bleibe gewiß nicht lange in Berlin, da Berlin ebenso füglich der Sitz eines Admiralitäts-, als eines Bergcollegiums sein könnte.“

Ähnlich scherzte auch noch später H. W. Dove. In seiner Ansprache bei dem Feste des fünfundzwanzigsten Bestehens der Berliner geographischen Gesellschaft (1853) sagte er: „Es war ein kühner Gedanke, in Berlin eine geographische Gesellschaft zu gründen. Wenn man im Hafen von Liverpool über den Wald von Masten blickt, wenn man die riesigen Dampfschiffe sieht, die wie eine fliegende Brücke die Neue Welt mit der Alten verbinden, so mag man wohl meinen, hier, wo die Fäden eines die ganze Erde umspannenden Netzes der Verbindung zusammenlaufen, möge die Stelle sein, einen solchen Verein zu gründen. Aber ein Blick auf die bescheidene Aepfelflotte, welche am Fuße des königlichen Schlosses in Berlin vor Anker liegt, ermutigt wenig zu einem solchen Unternehmen.“

Wir können dieser Scherze mit heiterer Befriedigung gedenken.

Seitdem Dove jenes Wort gesprochen, waren noch keine fünfundzwanzig Jahre wieder verflossen, und ein noch kühnerer Gedanke hat im April 1873 in demselben Berlin „die afrikanische Gesellschaft“ in's Leben gerufen, die in wissenschaftlichem, idealem Streben keine geringere Aufgabe hat, als die Erforschung des unzugänglichen äquatorialen Binnenlandes von Afrika. In demselben Berlin ist seit geraumen Jahren der Sitz eines Ober-Bergamtes, von dem die reichsten, einträglichsten Berg-, Hütten- und Salinenwerke Deutschlands ressortiren. In demselben Berlin endlich ist auch der Sitz eines Admiralitätscollegiums, eines Marineministeriums, dessen eisengepanzerte Schiffe deutscher Habe, deutschem Recht, deutscher Ehre in allen Meeren und Zonen Schutz, Respect und Geltung verschaffen, und nicht minder auch der wissenschaftlichen erdkundlichen Disciplin aus allen Ländern und Meeren hochschätzenswerthe Beiträge zuführen.

Wie dies Alles geworden, das ist eine lange, großentheils schmerzlich schmachvolle Vorgeschichte. Noch brennt Zorn und Scham in Duckwitz’s Geständnissen vom Jahre 1849 „über die Gründung der deutschen Kriegsmarine“. Wir hatten Eisen und Kupfer in unseren Bergen, in unsern Wäldern hochgewipfelte Tannen, riesige Eichen, knorriges Krummholz in unendlicher Fülle zu Masten und Raaen, Kielen, Rippen und Planken, aber wir verführten alles in die Ferne auf schnöden Markt. Wir hatten Hanf zu Tauwerk und Segel. Wir hatten Zimmerer, Schmiede und Stückgießer. Vom Samlande bis nach Friesland hatten wir ein zahlreiches Fischer- und Schiffervolk, breit an Brust und Schultern, mit markvollen Knochen, scharfen Augen, Piloten, deren wettergebräuntes Gesicht trotzig in den Sturm schaut, und die die Pfade und Tiefen des Meeres überall kennen. Wir hatten geschützkundige Meister, Soldaten, die den Tod nicht scheuen; wir hatten entschlossene, kühne Schiffsführer. Wir hatten die Wissenschaft, welche die Sternenbahnen, die Meeresströmungen, die Sturmeswege abmißt und die Gesetze der Natur kennt, und – dennoch auch nicht ein einziges Kriegsschiff, um einen übermüthigen, kleinen Nachbar hinter seinen schmalen Belten aufzusuchen und zu züchtigen.

Wir waren das ärmste reiche Volk auf Erden, wie jene Wittwe des einst unermeßlich reichen Kaufherrn, die an den Kirchthüren in goldenen Becken Almosen bettelte für die „arme – reiche Frau“! – Aus fremden Seestaaten kauften wir für theures Geld unzuverlässige Aushülfe, und der österreichische Admiral, dem die Oberleitung der deutschen Reichsmarine angetragen wurde, würdigte die „deutsche Centralgewalt“ nicht einmal einer Antwort.

Bei allem Reichthum fehlte es an Allem. Nur an papiernen Werken war kein Mangel. Ein Denkmal jener bureaukratischen Verordnungen im Seewesen ist die „Verordnung, betreffend die Uniformirung der Reichsmarine“. Da war Schnitt des Kragens und der Schöße, Breite und Weite der Hosen- und Rocktressen, Zahl, Größe und Abstand der Knöpfe und aller, aller Tand der Rangeszeichen mit mikroskopischer Genauigkeit berathen und festgesetzt; da war … doch der Rest sei Schweigen!

Nur an das prophetische Wort Friedrich Wilhelm Barthold’s aus dem Jahre 1850 sei noch erinnert. Barthold schließt seine „Geschichte der deutschen Seemacht“ mit dem patriotischen Zuruf: „Täuscht uns unsere Prüfung alter Geschichten und der deutschen Volksnatur nicht, so bleibt uns nur ein Mittel, um jeder Seemacht der Welt gewachsen zu sein: starke Territorialeinheit an unseren Meeren, durchdrungen von stolzem demokratischem Geiste.

Und so geschah es.

Welche Wandlungen, welche Mißbräuche auch immer die Deutung des Wortes seither erfahren, dieser Geist des Demos, des Volkes, war es, der Deutschland erhob, der es auf der Höhe erhält, und der – das walte Gott! – es in langer Zukunft wird erhalten können.

Das Jahr 1866 gab nachhaltigen Aufschwung zu dem großen, langgeträumten Ziele einer nationalen Marine. Wir erhielten Eine Flagge, die preußische Flotte wurde zur deutschen Flotte, der Norddeutsche Reichstag begann das Schöpfungswerk, und mit der Entstehung des deutschen Kaiserreichs trat auch die deutsche Flotte in ein neues Stadium der Entwickelung.

Mit der Macht wuchs der Beruf und die Pflicht. Die Schutzmacht der Heimatsküste mußte auch Schutzmacht werden des Verkehrs in allen Meeren und allen Ländern. Nicht mehr bei Fremden, nicht mehr beim „Kadi“ – den Ziegler in seiner parlamentarischen Zornrede anrief – sollte der Deutsche Recht suchen. Fünf Millionen Deutsche, in aller Welt zerstreut, einten sich wieder in freudigem Stolze mit der neuen Größe des alten Vaterlandes. Wie die Mühle von Sanssouci das Symbol preußischen Rechts geworden, so wurde die deutsche Flagge das Wahrzeichen deutschen Rechtsschutzes bis zu den Samoa-Eilanden in den fernsten Oeden des großen Oceans.

Unsere Handelsflotte, obwohl schon seit geraumer Zeit bedeutend an Zahl der Schiffe und Umfang des Verkehrs, entbehrte lange dieses Rechtsschutzes, nunmehr bot ihn die deutsche Kriegsmarine. Und man erkannte alsbald, zum besten Landheer gehöre auch eine tüchtige Seemacht. Aber beide insgesammt, Handels- wie Kriegsflotte, bedürfen des Beistandes der Wissenschaft. In diesem Sinne hatte der praktische Amerikaner zuerst die Resultate der Wissenschaft praktisch für die Kriegs- und Handelsnautik verwerthet.

Maury's vortreffliche Arbeiten, schon seine ersten „Wind- und Strömungskarten“, waren geradezu bahnbrechend für die Kunst sicherer und schneller Seefahrt. Der Hauptzweck dieser Karten bestand zunächst darin, daß die Erfahrungen aller Seefahrer in Bezug auf Winde und Meeresströmungen gesammelt, die von denselben darüber gemachten Bemerkungen erwogen und dann die Resultate durch Farben und Symbole in Karten zu einem Gesammtbilde augenfällig veranschaulicht und zum Besten der Schifffahrt veröffentlicht wurden.

[196] Durch einen bloßen Blick auf diese Karten konnte der Seefahrer sofort ersehen, aus welcher Gegend der Wind in jedem Monat vorzugsweise wehe, welche Schiffe, in welchem Jahr und Monat, und welche Straßen sie hier fuhren; er sah die Stellen wo und wann Stürme, Windstillen, wo zuerst die Passate sie trafen und verließen, wo sie Regen, Nebel, Gewitter gehabt hatten. Nicht Theorien, Conjecturen, oder die schwachen Lichtblitze vereinzelter Erfahrungen, ein heller, breiter Lichtstrom war es, welchen die Beobachtungen aller Seefahrer vor ihm ausbreiteten, und der sein sicherer Führer in den Weiten des Oceans wurde.

Durch dieses Hülfsmittel der Belehrung wurde die Fahrt in vielen Fällen wesentlich abgekürzt und gewissermaßen die entferntesten Winkel der Erde einander näher gerückt. So verringerte sich die Fahrt von London zum Aequator um zehn Tage. Die Ueberfahrt nach Californien hatte früher durchschnittlich hundertdreiundachtzig Tage gedauert, mit Hülfe der Maury’schen Karten wurde sie in hundertfünfunddreißig Tagen zurückgelegt. Zur Fahrt von England nach Australien brauchte man vor diesen Karten hundertvierundzwanzig Tage, mit denselben durchschnittlich nur siebenundneunzig. In der Jahresversammlung der „British Association“ von 1853 kam es zur Sprache, daß solche Karten für den Indischen Ocean in jenen Gewässern allein für den britischen Handel jährlich eine Ersparniß von einer bis zwei Millionen Dollars, und in allen Meeren von zehn Millionen einbringen würden. In Hunt’s „Merchant’s Magazine“, Mai 1854, wird folgendes Ersparniß berechnet: der mittlere tägliche Frachtpreis für die Tonne ist wenigstens fünfzehn Cents; da sich aber die Fracht sämmtlicher Handelsschiffe jährlich sicher auf eine Million Tonnen beläuft, so werden, wenn auch durchschnittlich nur fünfzehn Tage auf den Reisen nach fernen überseeischen Häfen gespart würden, 15 . 15 . 1,000,000 Cents, oder 2,250,000 Dollars blos auf den Reisen von den amerikanischen Häfen aus jährlich erspart.

Ein Princip, eine Methode, welches so reiche Resultate bietet und noch reichere verspricht, zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, empfahl sich der mitwirkenden Theilnahme aller Seefahrer der civilisirten Welt und erweckte in allen strebsamen Seeleuten einen ganz besonderen Eifer, die Kenntniß des Meeres und seiner Wunder zu erweitern.

Die ältesten Seejournale und Logbücher wurden aus den Archiven hervorgesucht, die Karten nach ihnen entworfen, und man staunte, wie alle Seeleute dem Kielwasser ihrer Vorgänger folgten, gewissermaßen wie ein Wanderer in der Wildniß der Fährte des Andern nachfolgt. Da geht z. B., um von den Vereinsstaaten nach Indien, China, den Goldbezirken Australiens zu kommen, die Straße anfangs ostwärts im atlantischen Ocean bis zu den capverdischen Inseln, von hier wieder westwärts bis zur Küste Brasiliens und von hier endlich wieder südostwärts nach dem Cap. Sie durchkreuzt also dreimal den atlantischen Ocean, während der Rückweg vom Cap nur eine, fast gerade Linie zeigt. Das war die alte Route, breit, aber doch scharf begrenzt. Zu beiden Seiten blieben auf hunderte von Meilen unbesuchte Räume, Gebiete der Sclavenhändler, Piraten und des Räubergesindels.

Welcher Ingenieur aber hatte diese oceanische Zickzackstraße abgesteckt? Welche Wegweiser zeigten die Richtung? Warum fuhren die Kauffahrer nicht auch auf dem Hinwege nur einmal quer durch den atlantischen Ocean wie auf dem Rückwege? –

Winde und Strömungen waren die Ingenieure, Tradition und Gewohnheit die Führer.

Maury’s Karten richteten aber die Aufmerksamkeit auch auf die leeren Räume neben den Fahrstraßen, und die Seefahrer überzeugten sich von der Wichtigkeit besserer und häufigerer Beobachtungen, als die alten Schiffsbücher sie boten. Man kam überein, bestimmte Beobachtungen auf den Fahrten nach einem bestimmten Schema zu registriren und diese Register regelmäßig an das Nationalobservatorium in Washington einzusenden, dafür sollte Jeder kostenfrei ein Exemplar der Karten und Anleitungen für Seefahrer (Sailing directions) erhalten, die man nach diesen Beobachtungen ausarbeiten würde. In kurzer Zeit waren mehr als tausend Seefahrer Tag und Nacht in allen Meeren beschäftigt, nach einheitlichem Plane Beobachtungen zu sammeln über Richtung und Stärke der Winde, Strömungen, Tiefen, Temperaturen, Salzgehalt, Circulation der Atmosphäre, Magnetismus, kurz über alle wahrnehmbaren Phänomene. Eine im August 1853 in Brüssel versammelte Conferenz der seefahrenden Staaten adoptirte und empfahl Maury’s Plan und erklärte das Logbuch eines im Kriege eroberten Schiffes als unverletzlich. Nach dem Vorgange in den Vereinsstaaten wurden in England, Holland, Norwegen Institute errichtet, welche die Seefahrt nach bestimmten Instructionen fördern.

Hierzu kam noch das im Anfange des vorigen Jahrzehnts von dem Admiral Fitzroy begründete englische System von Sturmsignalen, indem man nach den täglich von allen Theilen der britischen Küste und anderen centralen Beobachtungsstationen eingesandten meteorologischen Berichten auf das Herannahen eines Sturmes schloß und durch das Aufziehen von Signalen an geeigneten Küstenpunkten die Strandbevölkerung und die in der Nähe befindlichen Schiffsführer warnend darauf aufmerksam machte.

Neben der Nautik und dem überseeischen Handel hatte die Wissenschaft bei alledem das höchste Interesse. Nie zuvor wuchs die Zahl von Beobachtern für irgend eine physikalische Disciplin so sehr, wie die, welche seitdem unsere Kenntniß der physischen Geographie des Meeres hülfreich fördert.

In Deutschland verblieb es geraume Zeit bei dem wissenschaftlichen Interesse, das der hochbetagte Humboldt dieser neuen geographischen Disciplin zuwandte, und die von ihm den Namen „die physische Geographie des Meeres“ erhalten hat. Hunderte von Strömungs-, Wind-, Peilungs- und Schiffskarten, die sich in seinem Nachlasse, selbst noch in Correcturabzügen mit seinen und Maury’s eigenhändigen Bemerkungen und Notizen aller Art vorfanden, gaben hiervon redendes Zeugniß. Vergebens suchte schon im Jahre 1854 Professor Neumayer den größten norddeutschen Küstenstaat, Preußen, für die Vervollkommnung seines Seewesens in praktisch wissenschaftlicher Richtung zu interessiren.

Noch nachdrücklicher waren die Verhandlungen der Geographenversammlung zu Frankfurt am Main im Jahre 1865. Man erkannte den Nothstand der deutschen Seefahrt und die Dringlichkeit eines nautisch-meteorologischen Instituts an der Nordküste Deutschlands, aber noch lag die Nacht des Bundestages auf Deutschland, und – es geschah nichts. Auch die Arbeiten des preußischen meteorologischen Instituts, des hydrographischen Bureaus der kaiserlichen Admiralität hatten andere Interessen.

Da war es der Director der Navigationsschule zu Elsfleth, W. v. Freeden, der im Jahre 1868 nach eigenem Plane, mit Hülfe der Hamburger und Bremer Handelskammer und mehrerer Rheder beider Städte, die „Norddeutsche Seewarte“ in Hamburg als Privatinstitut gründete. Ihr Zweck war Sicherung und Abkürzung der Seefahrten und die Resultate ihrer Sammlungen und Beobachtungen theils in unmittelbarem Verkehre mit den Schiffern, theils durch regelmäßige Publicationen für die Schifffahrt nutzbar zu machen. – Aber wie sehr auch ihre Leistungen durch staatliche Unterstützung anerkannt wurden, sie konnte als Privatinstitut, bei beschränkten Mitteln den täglich zunehmenden Forderungen der Praxis und der Wissenschaft nicht befriedigend entsprechen.

Versuchen wir hier nur auf einige Schwierigkeiten hinzuweisen, welche die Nautik unserer Tage zu überwinden, einige Forderungen oder Aufgaben darzustellen, welche sie zu lösen hat. Die altüblichen, unentbehrlichen Werkzeuge der Seefahrer waren der Compaß und das Chronometer; sie sind's noch heute. Aber wie anders ist oft ihre heutige Sprache und das Verständniß derselben gegen früher geworden! – Betrachten wir zunächst den Compaß.

Je mehr das Holz beim Schiffsbaue durch Eisen verdrängt wird, desto complicirter sind die Erscheinungen des Compasses. Es ist außer allem Zweifel, zahlreiche Schiffsunfälle haben ihren Grund einzig und allein in der Unkenntniß der Natur und der Gesetze dieser Erscheinungen, oder in der schlechten Beobachtung des Compasses. Heuglin verlor im Westen der Waigatschstraße nur dadurch vier volle Tage mit verfehlter Fahrt, weil man übersah, daß durch das Niederlegen des eisernen Schornsteins auf dem kleinen Dampfer die Magnetnadel abgelenkt werden mußte.

„Aber wie ist es denn überhaupt möglich, am Bord eines eisernen Schiffes vom Compaß Gebrauch zu machen, da hier ja die Nadel gebannt, von ihrer polaren Weisung abgezogen und zu Mißweisungen geleitet werden muß?“

So ist es in der That. Aber man ist diesen Mißweisungen [197] oder Deviationen auf die Spur gekommen. Noch mehr. Man hat erkannt, daß jedes Schiff schon gleich bei seinem Baue, auf seinem Gerüste in der Werft, ein individuelles, ganz eigenthümliches magnetisches Leben erhält, von, man möchte sagen, nervöser, physiologischer Art, je nachdem die Richtung seines Kiels beim Baue gewesen, je nach der verticalen oder horizontalen Neigung des Schiffes nach der einen oder anderen Seite.

Erinnern wir uns einer Thatsache. Es ist längst bekannt, daß ein in der Richtung des Erdmagnetismus gehaltener weicher Eisenstab zwar nur leicht, aber doch immer meßbar magnetisch wird. Genau dieselbe Erscheinung findet statt, wenn das Schiff in der Richtung des Erdmagnetismus gebaut wird. Diese Magnetisirung, diese Uebertragung oder Induction der magnetischen Kraft wird aber noch erhöht durch das Einhämmern der Nägel und Eisenstücke. Dem Schiffe wird ein Baumagnetismus, gewissermaßen sein magnetischer Charakter eingekeilt, den es zeitlebens behält und der sehr wesentlich zu den Deviationen des Compasses beiträgt. Und außer diesem Baumagnetismus wirken auch noch andere Kräfte auf den Compaß, z. B. je nachdem der Kessel geheizt ist oder nicht, je nachdem die Maschine arbeitet oder nicht.

Dank den eifrigen scharfsinnigen Forschungen ist es gelungen, die Complication dieser Einflüsse mathematisch klar zu legen, zu messen und in Zahlenwerthen, in Formeln auszudrücken. Der Gebrauch des Compasses ist nunmehr vollständig geordnet. Die Theorie der räthselhaften Deviationen, ihre Ursachen und ihre Gesetze werden vollkommen verstanden und in Formeln ausgedrückt, so daß sie auf jedem einzelnen Schiffe ermittelt werden können und festgestellt werden müssen. Diese Deviationen gehören zur Charakteristik des Schiffes, sie sind sein Signalement, sein National, das amtlich festgestellt und registrirt werden muß.

Gleich strenger Prüfung müssen auch die Uhren, die Chronometer vor der Reise unterworfen werden. Die Beobachtung und das Signalement ihres Ganges ist in England, den Vereinigten Staaten, in Frankreich eines der wichtigsten nautischen Erfordernisse. Selbst für die Handelsschiffe werden die Chronometer auf den Sternwarten des Staates amtlich einer mehrmonatlichen Beobachtung in den verschiedensten Bewegungen und Temperaturen unterworfen. Jeder einzelne Chronometer erhält seine Charakteristik und zu seiner Verwendung ein Abgangs-, ein Abiturientenzeugniß seiner Eigenart, um bei Berechnungen die etwa nöthigen Correcturen zu berücksichtigen.

Nach dem bereits Gesagten braucht die Wichtigkeit vielseitiger meteorologischer, physikalischer Beobachtungen und ihrer amtlichen einheitlichen Bearbeitung hier nicht mehr erörtert zu werden. Ebenso erkannte man, daß es die Aufgabe der deutschen Kriegsmarine ist, in Friedenszeiten das Gedeihen der Handelsmarine zu fördern. Sie soll nicht nur als starke Waffe der Reichspolitik dem deutschen Handel in der Fremde Schutz gewähren, sie soll auch der Handelsmarine auf See und an den heimischen Küsten schnelle und sichere Fahrten vermitteln, alle wissenschaftlichen und technischen Erfahrungen zugänglich machen, die Bildung der Seefahrer überwachen.

Endlich wurde in Folge von Verhandlungen auf verschiedenen meteorologischen Congressen, von Petitionen, Berichten, Gutachten vom kaiserlichen Reichskanzleramte ein Gesetz, betreffend die Gründung der deutschen Seewarte in Hamburg, bei dem Reichstage eingebracht und von demselben in der Sitzung vom 14. December des vorigen Jahres angenommen.

Nach diesem Gesetze hat die Seewarte umfassende Aufgaben die hier nur in Kürze angedeutet werden können.

1) Förderung der Seefahrten im Allgemeinen. Dieselbe erstreckt sich auf:

Sammlung von Beobachtungen über die physikalischen Verhältnisse des Meeres, die meteorologischen Erscheinungen auf hoher See mit regelmäßiger Bearbeitung und Berücksichtigung auch der Publicationen anderer Nationen und stetiger Verbindung mit den gleichartigen Institutionen und den tüchtigsten Seemännern des In- und Auslandes;

Prüfung und Regulirung der auf Schiffen gebräuchlichen Instrumente, Chronometer, Barometer, Thermometer, Sextanten, des Compasses etc. – Sammlung einer umfassenden nautischen Bibliothek und der entsprechenden Karten;

Bearbeitung von Segelbüchern für die verschiedenen Seewege;

Ertheilung von erbetenen Informationen und Belehrungen.

2) Sturmwarnung zur Sicherung der Küstenfahrten. Dieselben erstrecken sich auf:

regelmäßige Einsammlung von Beobachtungen über den meteorologischen Zustand der Atmosphäre von bestimmten Plätzen an der Küste im Innern des In- und Auslandes;

regelmäßige telegraphische Verbreitung dieser Beobachtungen und sofortige Warnung bei gefahrdrohenden Erscheinungen an fast fünfzig Signalstellen an der Küste und in den Häfen;

Bearbeitung und periodische Veröffentlichung des für Praxis und Wissenschaft gewonnenen Materials.

Die Zweckmäßigkeit aller dieser Arbeiten ist wohl auch dem Laien einleuchtend. Sie fallen in vieler Hinsicht mit den Arbeiten des „hydrogrophischen Bureaus“ der kaiserlichen Admiralität zusammen, und es ist daher die Seewarte als Centralstelle dem Ressort der kaiserlichen Admiralität unterstellt worden. Für die tüchtige Ausführung der Arbeiten bürgen die Männer, die an die Spitze des Instituts gestellt sind: Neumayer, Koldewey, Wagner, Börgen.

So sei denn die deutsche Seewarte ein Institut zur Wohlfahrt des neuerstandenen, vereinten Vaterlandes! Mit ihrer Gründung ist den Bedürfnissen der deutschen Kriegs- und Handelsmarine, wie den Forderungen der Wissenschaft entsprochen worden. Und welche Wünsche auch noch immerhin übrig bleiben mögen, für nautische Bildungsanstalten, für strengere Regulirung der Sanitätseinrichtungen auf Auswandererschiffen, für Leucht- und Signalfeuer, Betonnung etc.: die Interessen für die Förderung deutschen Seewesens sind einmal in agitatorischem, schöpferischem Fluß, und die stolze, kühne Devise „Vom Fels zum Meer“ heiße nunmehr noch stolzer und kühner:

„Vom Fels in's Meer!“




Franzosen und Französinnen.[2]
Von Ludwig Kalisch.
I.


Ich hege keine Nationalvorurtheile, und ich denke, man kann ein guter Deutscher sein, ohne die Franzosen zu hassen, sowie man den Franzosenhaß zur Schau tragen kann, ohne deshalb ein wahrer deutscher Patriot zu sein, ein Patriot nämlich, der seine Vaterlandsliebe nicht blos durch hohle Phrasen, sondern durch opferfreudige Thaten bekundet.

Seit dreiundzwanzig Jahren lebe ich in Frankreich. Während dieses langen Zeitraums habe ich dieses Land, das ich nach allen Richtungen durchreist, genau kennen gelernt. Ich bin mit allen Ständen, mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung gekommen, und es war mir vergönnt, das französische Familienleben ununterbrochen zu beobachten. Meine Theilnahme für Frankreich, die ich als ehrlicher, unabhängiger Mann frei und offen gestehe und von der ich mir auch vollkommen Rechenschaft zu geben weiß, hat mich gegen die Fehler der Franzosen nicht blind gemacht. Ich kenne diese Fehler recht gut; nur sind es [198] nicht dieselben, von denen man so häufig spricht. Man dichtet den Franzosen gar manche Gebrechen an, während man von den Gebrechen, an denen sie wirklich leiden und durch die sie sich schon oft dem furchtbarsten Verderben ausgesetzt, selten oder niemals redet.

Man spricht oft von dem Leichtsinn der Franzosen, ohne zu bedenken, daß der Leichtsinn keine große Nation schafft und daß Frankreich viele Jahrhunderte daran arbeitete, um aus den celtischen, römischen und germanischen Elementen eine Nationaleinheit von bewundernswürdiger Gleichartigkeit herzustellen. Durch Leichtsinn läßt sich ein so schweres Werk gewiß nicht vollbringen. Der Franzose ist nicht leichtsinnig, er ist leichtlebig. Ein unermüdlicher Arbeiter, ist er sehr mäßig und sehr sparsam. Diese Eigenschaften, welche ihm selbst von seinen eifrigsten Feinden zuerkannt werden, zeigen doch gewiß von keinem Leichtsinn; sie erklären vielmehr Frankreichs außerordentlichen Reichthum, der die Welt in Erstaunen setzt. Der Franzose schafft darauf los, um sich im reiferen Mannesalter als Rentier zurückziehen zu können, und in dieser Hoffnung ist er darauf bedacht, etwas bei Seite zu legen. Man bedenke auch, wenn man von dem Leichtsinn der Franzosen spricht, daß über die Hälfte der französischen Bevölkerung sich mit Ackerbau beschäftigt, und kein Geschöpf auf Erden ist weniger leichtsinnig als der französische Bauer. Er arbeitet unausgesetzt im Schweiße seines Angesichts, um mit dem ersparten Gewinn den einzigen, den ausschließlichen Zweck seines Lebens zu erreichen, und dieser besteht in der Vergrößerung seines Grundstückes.

Seit die große französische Revolution ihn zum Herrn des Bodens gemacht und er die Frucht seiner Arbeit genießen darf, findet er diesen Genuß in der Vermehrung seines Besitzes. Ich habe längere Zeit auf dem Lande in den verschiedenen Departments zugebracht und unter den Bauern manchen Millionär kennen gelernt, der die Holzschuhe und die geflickte Blouse nur an Sonn- und Festtagen ablegte. Nicht der Leichtsinn ist der Grundfehler der Franzosen; ihr Grundfehler ist die Unwissenheit. Und diese herrscht nicht nur unter der Classe, die weder schreiben noch lesen kann, sondern in sämmtlichen Schichten der Bevölkerung. Man macht sich oft und mit Recht über die geographische Unkenntniß des Franzosen lustig; dieselbe bildet indessen nur einen Theil seiner wahrhaft encyclopädischen Unwissenheit, über die er zwar manchmal selbst spottet, von der er sich aber zu befreien weder Muth noch Lust hat, und zwar trotz aller bitteren Erfahrungen, die er soeben gemacht. Der Franzose ist sehr intelligent und von ungemein schneller Auffassungskraft, aber sich über das zu belehren, was im Auslande vorgeht, ist seine Sache nicht.

Wie gering ist die Zahl der Franzosen, die eine englische oder deutsche Zeitung lesen können, und wie wenig französische Zeitungen giebt es, die ihre Leser regelmäßig und gründlich über das Ausland unterrichten! Das Studium fremder Sprachen, das bei dem immer mehr zunehmenden Völkerverkehr eine Nothwendigkeit geworden, wird in Frankreich, trotz der dringenden Ermahnung aufgeklärter Patrioten, auf’s Erbärmlichste vernachlässigt. Freilich wird in den Lyceen Englisch und Deutsch gelehrt; das Resultat dieses Unterrichts ist jedoch äußerst gering, und der Schüler, der während seines mehrjährigen Schulbesuchs mit Mühe und Noth einige deutsche oder englische Phrasen gelernt, beeilt sich, dieselben zu vergessen, sobald er die Schule verläßt. Wirft man nun den Franzosen ihren unerklärlichen Widerwillen gegen die Erlernung fremder Sprachen vor, so behaupten sie, daß ihnen die Begabung dafür fehle, besonders wenn es sich um die deutsche Sprache handelt, die sie für eine „langue impossible“ halten. Diese Behauptung ist jedoch grundfalsch, und ich habe mehr als irgend ein Anderer die Erfahrung machen können, daß, wenn der Franzose keine fremde lebende Sprache kennt, dies blos seiner Unlust und nicht seinem Mangel an Begabung zuzuschreiben ist.

Die Unkenntniß fremder Sprachen übt besonders einen traurigen Einfluß auf die Presse aus. In Deutschland ist doch ein halbwegs gebildeter Schriftsteller mit der Literatur Frankreichs und selbst Englands vertraut und kennt, wenigstens in Uebersetzungen, das Schriftthum auch anderer Nationen. Die meisten französischen Schriftsteller kümmern sich jedoch um solche Dinge wenig oder gar nicht. Sie kennen von der deutschen Literatur blos Goethe, Schiller, Hoffmann und Heine und die ersten Beiden kaum mehr als den Namen nach. Einige große Journale ausgenommen, bietet die politische Tagespresse ihren Lesern über das Ausland fast nichts als telegraphische Depeschen. Einige magere Telegramme reichen aber gewiß nicht zur Belehrung über die politischen und socialen Zustände außerhalb Frankreichs hin. –

Ein anderes Nationalgebrechen der Franzosen ist das Haschen nach Staatsämtern. Ein Familienvater sucht seinen Einfluß, seine Verbindungen geltend zu machen, um seinem Sohne oder seinen Söhnen eine öffentliche Anstellung zu verschaffen. Er schreckt dabei vor keinem Hinderniß zurück; er überwindet jede Schwierigkeit und ruht nicht früher, bis er mit Hülfe von Freunden und Verwandten seinen Zweck erreicht. Die Regierung, die in ihrem Selbsterhaltungstriebe sich nicht mit einflußreichen Familien überwerfen mag, vertheilt die Aemter trotz des Ueberflusses an Beamten, welche sie dann als willige Werkzeuge benutzt. Frankreich hat tausende und aber tausende Staatsbeamten zu viel, die, bei der auf’s Aeußerste getriebenen Centralisation der Regierung, dieser mehr dienen als dem Lande und den bureaukratischen Schlendrian unterhalten. Gar zu oft gehorchen sie blindlings nach oben und herrschen willkürlich nach unten. Der bureaukratische Geist erstickt jede Selbstständigkeit, und da man Alles von der Regierung erwartet, macht man auch die Regierung für Alles verantwortlich, was überall geschieht, wo nicht die Regierung das Werkzeug des Volkswillens, sondern das Volk ein Werkzeug in den Händen der Regierung ist. Bei der ungeheuren Menge der Staatsdiener geräth die Staatsmaschine nicht selten in’s Stocken. Rollt doch ein Wagen schneller mit zwei, als mit zwölf Pferden!

Es fehlt freilich nicht an einsichtigen Patrioten, die mit Feuereifer gegen den Bureaukratismus ankämpfen; dieser Kampf wird aber um so länger dauern, als das Uebel im Charakter der Nation liegt und so viel Interessen dabei im Spiele sind.

Wie kommt es aber, daß die Franzosen ungeachtet ihres lebhaften Unabhängigkeitsgefühls sich so sehr nach Staatsanstellungen drängen, während in England die Stellenjägerei – „place hunting“, wie sich der Engländer ausdrückt – den Gegenstand der Verachtung bildet? Ich glaube die Ursache in der Liebe des Franzosen zu seinem Lande zu finden. Der Engländer schickt seine Söhne, nachdem er ihnen eine tüchtige Erziehung gegeben und sie mit den nöthigen Geldmitteln versehen, in die Colonien. Dort finden sie einen heitereren Himmel als in England und entbehren kaum etwas, was sie in ihrem engeren Vaterlande besessen. Ueberhaupt äußert sich der Auswanderungstrieb doch nur bei Denjenigen, die in der Fremde ihr Loos zu verbessern hoffen. Diese Hoffnung hegen jedoch nur sehr wenige Franzosen.

Frankreich ist, wie Schiller sagt, „das Paradies der Länder“. Der Franzose verläßt daher sein Vaterland nur gebrochenen Herzens und fühlt sich im Auslande sehr selten glücklich. Sein innigster Wunsch im Auslande ist, wieder nach seinem Vaterlande zurückkehren zu können. Uebt doch Frankreich selbst auf die Fremden einen solch unwiderstehlichen Zauber aus, daß es ihnen nach einem längeren Aufenthalte in diesem Lande schwer wird, es zu verlassen und sie von der Sehnsucht nach demselben bei der Rückkehr in ihre Heimath gequält werden. Ich habe mich unmittelbar nach dem deutsch-französischen Kriege auf’s Unwiderleglichste davon überzeugt. Kaum war nämlich die Commune überwunden, als eine große Menge Deutscher wieder nach Frankreich kam. Sie waren bei dem Ausbruche des Krieges ausgewiesen worden und hatten keine freundliche Aufnahme zu erwarten. Als ich dies meinen Landsleuten bemerkte, sagten sie einstimmig, daß man nicht gut anderswo leben könne, wenn man längere Zeit in Paris gelebt. Ich bin überzeugt, daß in Frankreich der Andrang zu öffentlichen Anstellungen viel geringer wäre, wenn die jungen Leute nicht davor zurückschreckten, im Auslande ihr Glück zu versuchen.

Ein nicht geringerer Nationalfehler des Franzosen ist die Routine. Er hält viel hartnäckiger am Althergebrachten, als man glaubt. Statt neue Bahnen zu betreten, beharrt er in den alten Gleisen, die er immer mehr aushöhlt, bis es ihm fast unmöglich wird, sich aus denselben heraus zu arbeiten. Die Routine herrscht in allen Zweigen der Verwaltung. Sie herrscht [199] im öffentlichen Unterrichte und in der Landesvertheidigung, und man sieht, wie sehr selbst jetzt, nach den furchtbarsten Katastrophen, die Besten und Begabtesten der Nation im Kampfe gegen die Routine sich abhetzen.

Ein anderer großer Fehler der Nation entspringt aus einer ihrer vorzüglichsten und hervorragendsten Eigenschaften. Der Franzose hat viel Geist und Witz, was er mit dem Worte „Esprit“ ausdrückt. Witz und Geist ist ihm einerlei, und er kann sich diesen kaum ohne jenen denken. Nun, der Witz ist durchaus nicht zu verachten und darf wohl, um mich mit unserem vortrefflichen Lichtenberg auszudrücken, mit zu Gerichte sitzen. Nur darf er nicht ausschließlicher Richter sein. In Frankreich ist er es aber allzu häufig; ja, er ist Richter und Scharfrichter zugleich, und man sieht leider erst nach der Hinrichtung, daß der Richter ungerecht war. Der Franzose sagt: „Le ridicule tue,“ das Lächerliche tödtet. Er hält dies für eine unbestreitbare Wahrheit. Man sucht daher in Frankreich durch einen Witz seinen Gegner lächerlich zu machen, ohne zu bedenken, daß nicht selten die Lacher, die man auf seiner Seite hat, bei Weitem lächerlicher sind, als die Gegner, die man belacht.

Der Franzose hält übrigens den „Esprit“ nicht nur für eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften, sondern auch für eine ausschließlich französische Eigenschaft. Wenn ein Ausländer in irgend einem geselligen Kreise sich durch ein geistreiches witziges Wort bemerkbar macht, so gerathen alle Franzosen in Verwunderung. Sie rufen dann wohl: „Pas mal pour un étranger – nicht schlecht für einen Fremden“ – und wenn ihnen die gute Lebensart es verbietet, dies auszusprechen, so zeigt sich doch das Erstaunen in ihren Gesichtszügen. Das größte Lob, das der Franzose einem witzigen geistreichen Ausländer spendet, drückt er mit den Worten aus: „Il a l'esprit français – er hat französischen Esprit“ – und er hält ihn dann schon für einen halben Franzosen. Dies zeugt freilich von Eitelkeit, und der Franzose ist eitel. Indessen glaube ich, daß man diesen französischen Nationalfehler gar zu sehr übertreibt, und daß die anderen Nationen, welche den Splitter in den Augen der Franzosen sehen, den Balken in ihren eigenen Augen nicht bemerken.

Wie das Individuum nur die Eitelkeit seines Nachbars wahrnimmt und bespöttelt, seine eigene Eitelkeit aber für eine wohlberechtigte Selbstanerkennung hält, so sind auch ganze Völker bereit, ihre eigenen Vorzüge auf Kosten anderer Völker zu überschätzen, oder sich gar Vorzüge anzudichten. So war es zu allen Zeiten; so wird es zu allen Zeiten bleiben. Unter den alten Völkern hielt jedes alle anderen für Barbaren. Der Engländer glaubt, daß nur in seinem Vaterlande der wahre Gentleman zu finden, und er scheut sich nicht, dies so oft wie möglich zu behaupten. Der Deutsche spricht von deutscher Treue, als ob außerhalb Deutschlands die Treue weniger fest sei, und er spricht sogar mit besonderem Nachdrucke von der deutschen Eiche, als ob ihm diese ihr Entstehen verdanke und im Auslande die Eiche sich nicht ebenso kräftig entwickele, wie auf deutschem Boden. Man muß übrigens den Franzosen zugestehen, daß sie sich oft über ihre Eitelkeit lustig machen und auch über ihre Sucht nach glänzenden Phrasen selbst spotten. Wie dem aber auch sei und ob der Franzose auch an vielen Schwächen und Fehlern leidet, so hat man an ihm doch anzuerkennen, daß er dieselben nicht verbirgt. Er trägt das Herz auf der Zunge und Heuchelei ist seinem Naturell zuwider. Er ist auch zu gesprächig, zu leidenschaftlich, um seine Gefühle und Empfindungen verbergen zu können. Ueberhaupt betreibt er Alles mit Leidenschaft und folgt seinen heißblütigen Herzen eher, als dem besonnenen Verstande. Was sich durch große Leidenschaft vollbringen läßt, vollbringen die Franzosen wie kein anderes Volk; was aber nur durch vieljähriges bedächtiges Streben erzielt werden kann, erzielen sie weniger als andere Völker. Daher kommt es auch, daß Frankreich die Revolution von 1789 vollbracht, daß aber bis jetzt gar manches andere Volk die Früchte derselben ruhiger genießt, als Frankreich.

Offenherzigkeit ist eine hervorstechende Eigenschaft der Franzosen. Mucker und Heimducker sind unter ihnen selten, und nichts ist ihnen verhaßter als Scheinheiligkeit. Dieselbe wird auch in dem größten Meisterwerke ihres größten Dichters gebrandmarkt, welchen sie als den lebhaftesten Ausdruck ihres Nationalcharakters betrachten.

In Glaubenssachen ist der Franzose sehr tolerant, und diese Toleranz beruht weniger in seiner Ueberzeugung als in seinem Naturell. Vielleicht ist sie zum großen Theile seiner Gleichgültigkeit in religiösen Dingen zuzuschreiben. Dem sei aber, wie ihm wolle: es wird der ultramontanen Partei nicht gelingen, Frankreich in die Zustände vor 1789 zurückzuführen, und es hat sich erst vor Kurzem gezeigt, wie vergeblich sie sich anstrengt, durch mühevoll organisirte Wallfahrten nach Lourdes und Paray-le-Monial einen religiösen Fanatismus anzufachen. Die Ultramontanen reden viel von der Verjüngung Frankreichs. Sie behaupten, das französische Volk zu verjüngen, indem sie es in die Kinderwindeln stecken und am Gängelbande herumführen wollen. Sie wollen es nicht jung, sie wollen es kindisch machen. Nun, die Verjüngung Frankreichs wird nicht durch den Sieg der Ultramontanen, sondern durch den Sieg über dieselben stattfinden, und bei der großen Lebenskraft der Nation und der immer mehr wachsenden Macht der Wissenschaft ist man zu der Annahme berechtigt, daß die Niederlage nicht auf Seiten der Nation sein wird.

Eine große Toleranz zeigt der Franzose besonders im geselligen Verkehre. Wohlwollend von Natur, läßt er sich in der Unterhaltung den schroffsten Widerspruch gefallen, so lange dieser nicht durch die Form verletzt. Selbst bei der unerheblichsten Verneinung vergißt er niemals als Milderung derselben das Wörtchen „Pardon“ vorauszuschicken. Er begeht eher eine Ungerechtigkeit als eine Unhöflichkeit und erträgt auch jene ruhiger als diese.

Eine ganz besondere Nachsicht zeigt er im Verkehre mit den Ausländern, deren Sitten nicht selten mit den seinigen einen schroffen Gegensatz bilden, und diese Nachsicht macht dem Fremden den Aufenthalt in Frankreich angenehm. Der Franzose unterscheidet sich darin von dem Engländer, der manche fremde Sitten fast für Unsitten hält und kaum begreift, daß man ein anständiger Mann sein kann, ohne einen Frack zu besitzen. Ich habe in London mehrere unserer Landsleute, welche in Folge der Bewegungen von 1849 nach England verschlagen worden, in der größten Noth gesehen, weil ihnen der verhängnißvolle Frack fehlte. In Paris hingegen sah ich einst am Empfangsabende im Hause eines berühmten Gelehrten einen jungen Mann in einem dicken Flausrock und mit vernachlässigtem Bart und Gelocke. Fiel mir dies schon auf, so fand ich es noch auffallender, daß dieser Struwelpeter einen Kreis von Herren und Damen um sich gebildet hatte, die mit sichtbarem Interesse seinen Worten lauschten. Ich hörte bald, daß er ein sehr gelehrter und talentvoller Grieche sei und daß man bei seiner ungewöhnlichen geistigen Cultur die Uncultur seines Aeußern gern vergesse. Dem Franzosen imponirt nichts mehr als das Talent. In keinem Lande unseres Welttheils herrschen so wenig gesellschaftliche Unterschiede wie in Frankreich, und in keinem anderen Lande der Welt ist das Gefühl für sociale Gleichheit so lebhaft; nirgendwo aber behaupten namhafte Künstler und Schriftsteller einen solch hohen Rang wie in Frankreich. Man ist stolz darauf, sie als Gäste zu besitzen, und man betrachtet sie in allen Schichten der Bevölkerung als die wahren Größen des Landes.

Ich will nur einen Fall anführen, der die Wahrheit meiner Behauptung bezeugen mag.

Ich hatte einst einen Landsmann, einen Schriftsteller, zum Besuche. Mein Freund war von den Franzosen eben nicht eingenommen und unterließ es auch nicht, seiner herben Kritik freien Lauf zu lassen. Es war nun an einem herrlichen Märzmorgen, als wir den Weg zum Institut einschlugen, um dem Leichenzuge Halevy's beizuwohnen. Wir fanden den Leichenwagen bereits vor der Thür und hinter demselben Minister, Marschälle, Generäle, Diplomaten in glänzenden Uniformen und mit blitzenden Sternen und Kreuzen geschmückt. Eine ungeheure Menge drängte und drückte sich rechts und links auf den Quais und auf dem Pont des Arts, ohne die militärischen und diplomatischen Größen sonderlich zu beachten. Da kam ein Greis in der Akademiker-Uniform von dem rechten Seine-Ufer über die Brücke. „C'est Monsieur Auber!“ rief Alles, den Hut lüftend und zurückweichend, um dem Componisten der „Stumme von Portici“ freie Bahn zu machen.

Durch diese Scene ward mein Freund etwas milder gegen die Franzosen gestimmt.

[200] Der Patriotismus spielt bei der Verehrung des Talents keine ausschließliche Rolle. Rossini und Meyerbeer erfreuten sich einer ebenso großen Popularität. Schon seit länger als einem Menschenalter trägt eine Straße in der Nähe der alten großen Oper den Namen des Ersteren, und eine der neu angelegten Straßen dicht an dem soeben eröffneten Opernhause trägt den Namen des Letztern. Freilich werden Beide, da sie einen großen Theil ihres Lebens in Frankreich zubrachten und hier eine Reihe ihrer Werke schufen, fast für Franzosen gehalten. Will man nun dies als Nationaleitelkeit auslegen, so muß man doch zugeben, daß eine solche Eitelkeit, welche die Größen des Auslandes sich anzueignen strebt, der kalten Gleichgültigkeit vorzuziehen ist, mit der manches Land seine eigenen Größen behandelt.

Ich habe eben von dem lebhaften Gefühle der Franzosen für sociale Gleichheit gesprochen. Dasselbe ist so tief im Herzen des französischen Volkes eingewurzelt, daß keine Regierung, selbst die unumschränkeste, es nicht ungestraft verletzen dürfte. Wenn der Franzose mit eben solcher Eifersucht an seiner politischen Freiheit hielte, so wären die Staatsstreiche, die Willkürherrschaften und in Folge derselben die blutigen Umwälzungen in Frankreich unmöglich.


Livingstone, einen Fluß passirend.
Nach einer Skizze von Livingstone.


Die Hinwegräumung der gesellschaftlichen Schranken hat wohlthätig in Frankreich gewirkt. Sie hat durch die mehr oder minder innige Berührung aller Volksclassen eine sociale Bildung erzeugt, die bei dem Mangel allgemeiner Schulbildung nicht hoch genug anzuschlagen ist. Die niedrigen Volksclassen in Frankreich unterscheiden sich nicht so sehr wie in anderen Ländern von den höheren in der Aussprache und in der Ausdrucksweise, und man begegnet oft Arbeitern, die kaum lesen und schreiben können, im Benehmen aber und in der Sprache eine große Gewandtheit zeigen. Die außerordentliche Geselligkeit und Gesprächigkeit der Franzosen erleichtert den Verkehr zwischen Hohen und Geringen und giebt den Letzteren nicht nur einen äußern Schliff, sondern verbreitet und erhält unter ihnen den ästhetischen Sinn. Daher läßt es sich auch erklären, daß Frankreich allen Völkern den Rang in jener Industrie abläuft, die sich fast bis zur Kunst erhebt. Man wird diese Erklärung richtig finden, wenn man bedenkt, daß der deutsche Arbeiter in Frankreich sich schnell den Kunstgeschmack aneignet, ihn sich aber bei seiner Rückkehr in’s Vaterland nicht lange erhält, ja, daß selbst der französische Arbeiter ihn nach und nach im Auslande verliert.

Der Geselligkeitstrieb des Franzosen, die Leichtigkeit seines Umgangs, so wie seine von Niemand bestrittene Liebenswürdigkeit sind Eigenschaften, die um so schätzbarer sind, als sie aus der Gutherzigkeit entspringen, ohne welche die Liebenswürdigkeit sich überhaupt nicht denken läßt. Der Franzose hilft gern, wo er leiden sieht, und es thut ihm weh, wenn er nicht helfen kann. Ich spreche hier nicht von den Reichen, welche die Armen unterstützen, sondern von den Armen, welche den Aermeren beistehen. Wer in Paris lebt, wo der Kampf um das Dasein weder Tag noch Nacht ruht, kann sich jeden Augenblick, auf öffentlicher Straße von der Leutseligkeit der Bevölkerung überzeugen. Leidenschaftlich von Natur und dem Triebe des Herzens eher folgend, als der kalten Ueberlegung, läßt der Pariser sich jedoch, wenn er gereizt wird, fast ohne allmählichen Uebergang vom heftigsten Zorne und in diesem zu Gewaltthätigkeiten hinreißen. Er läßt sich lange die Willkür der Regierung ruhig gefallen, bis er sie plötzlich über den Haufen wirft. Diesem Temperamente ist es zuzuschreiben, daß in Frankreich die gründlichen Reformen so selten, die heftigen Umwälzungen so häufig sind. Die Regierungen, sind freilich eine Hauptursache dieser Umwälzungen; das Volk aber trägt doch die Schuld, den Regierungen keinen besonnenen Widerstand zu leisten und ihnen die Willkür unmöglich zu machen. Ein politisch reifes Volk läßt sich seine Rechte und Freiheiten nicht von dem Willen eines Alles auf’s Spiel setzenden Ehrgeizigen entwinden; es weiß vielmehr durch seinen unerschütterlichen Willen jeden Eingriff in seine Gerechtsame zu gehöriger Zeit abzuwehren. Ein solches Volk läßt sich keinen Staatsstreich gefallen. Die Franzosen haben sich daher selbst anzuklagen, wenn sie in diesem Jahrhunderte schon zweimal an den Rand des Abgrundes geschleudert wurden. Der achtzehnte Brumaire hat zu Waterloo, der zweite December hat zu Sedan geführt. Die Beiden militärischen Niederlagen sind in dem Gelingen der beiden Staatsstreiche zu suchen, und die zweite militärische Niederlage war um so größer, je unverantwortlicher die Schlaffheit war, mit der die Franzosen den zweiten Staatsstreich über sich ergehen ließen. –

Gar manche an dem Franzosen gerügten Fehler entspringen aus seinen Vorzügen, und man würde jene weniger streng beurtheilen, wenn man diese etwas genauer kennte. „Comprendre, c'est pardonner, – erkennen heißt verzeihen“: Dieses Wort ist ebenso tief wie human. Wie die Überschätzung, entsteht auch die Unterschätzung aus unzulänglicher Prüfung, und wir wären viel nachsichtiger, wenn wir einsichtiger wären. Der Franzose ist nicht zuverlässig. Er verspricht leicht, und es wird ihm dann [201] schwer, sein Versprechen zu halten. Das ist ein großer Fehler und bringt den pünktlichen Mann, der auf die Pünktlichkeit Anderer rechnet, oft in Verzweiflung. Die Unzuverlässigkeit des Franzosen entspringt aber aus seiner Gutmüthigkeit und Dienstwilligkeit. Er giebt nicht gern eine abschlägige Antwort. Nun verspricht er zwar nicht mit der Ueberzeugung, das Versprechen nicht zu halten; er verspricht aber auch nicht mit der Ueberzeugung, es halten zu können, und da er sich Allen gefällig zeigen will, setzt er Viele in die größte Verlegenheit.

Im Geschäftsverkehr zeigt der Franzose einen hohen Grad von Redlichkeit, und selbst der kleinste Boutiquier hält es für eine Ehrensache, seinen Verpflichtungen auf’s Pünktlichste nachzukommen. So philisterhaft, beschränkt und eigennützig der Pariser Boutiquier auch sein mag, er ist doch äußerst ehrenhaft und hat dies auch nach dem jüngsten deutsch-französischen Kriege auf die unwiderleglichste Weise bekundet. Die Belagerung von Paris hatte den Wohlstand der Meisten zerstört; sie hätten sich also insolvent erklären können, ohne sich – in Anbetracht der beispiellos traurigen Verhältnisse, einen Makel zuzuziehen. Sie haben aber nur einen Zahlungsaufschub begehrt und nach Ablauf der bewilligten Frist ihre Gläubiger vollständig befriedigt. Diese Rechtschaffenheit erzeugt ein großes Vertrauen bis in die untersten Volksclassen. Nirgend ist der Credit leichter als in Paris, und ich glaube, daß er nirgendwo weniger mißbraucht wird.




David Livingstone’s Ende.
Mit zwei Abbildungen.


Zu allen Zeiten wird David Livingstone groß dastehen, sowohl durch seine Wirksamkeit für die geographische Aufschließung des noch unerforschten afrikanischen Continents wie durch die Energie, mit welcher er es sich angelegen sein ließ, die Keime der Civilisation unter den barbarischen Negervölkern Innerafrikas zu verbreiten, namentlich aber durch seine Bestrebungen gegen den empörenden Menschenhandel.


Ankunft Livingstone’s an seiner letzten Raststätte.
Nach einer Skizze.


So groß die Zahl Derer ist, welche sich ähnlichen Zwecken früher und gleichzeitig mit ihm widmeten, Keiner kann sich einer so umfassenden Wirksamkeit rühmen. Natürliche Eigenschaften seines Charakters, Kaltblütigkeit, Vorsicht, Sanftmuth und Offenheit unterstützten Livingstone in seinem Verkehr mit diesen ungebildeten, allerdings auch nicht verbildeten, Naturkindern. Wie es einerseits schwer ist und oft diplomatischer Schlauheit bedarf, mit den theilweise den elementarsten Leidenschaften unterliegenden Häuptlingen umzugehen, so finden sich auf der andern Seite in Livingstone’s Aufzeichnungen so viele Züge uneigennütziger Herzensgüte, daß sie uns fast aussöhnen mit den vielen Rohheiten, von denen er uns berichtet. Schließlich unterstützte ihn eine über dreißigjährige Erfahrung, welche ihm natürlich sehr zu Statten kam.

Livingstone betont in seinem letzten Werke, welches jetzt in deutscher Sprache unter dem Titel: „Letzte Reise David Livingstone’s, 1865 bis 1873“ erscheint, wie sehr entgegenkommend die Eingeborenen sich ihm größtentheils bewiesen haben, und wie sie geneigt seien, Jedem in gleicher Weise entgegenzukommen, der in uneigennützigen Zwecken zu ihnen kommen wird, wie gerne sie auf Belehrung hören, und wenn seine Lehren, namentlich gegen den Sclavenhandel, aus Gründen des persönlichen Vortheils nicht überall sofort befolgt wurden, so hofft er doch, daß das Samenkorn in ihren Herzen früher oder später aufgehen wird, um so mehr, als eigentlich das materielle Interesse die Völker zur Aufgebung des Menschenhandels bringen sollte, da durch die Sclavenkriege eine Entvölkerung entsteht, welche diese großen Landstrecken noch unleidlicher macht, als sie an und für sich bereits durch klimatische Verhältnisse sind.

Um zu einem richtigen Verständniß des Abschlusses von Livingstone’s Wirksamkeit zu gelangen, müssen wir seine vorhergehenden Kreuz- und Querzüge wenigstens in großen Zügen andeuten. Wir dürfen dabei seine früheren Reisen, welche mit dem Jahre 1840 beginnen, bis zu seiner letzten Reise (1865) als bekannt voraussetzen.

Durch die hierbei erworbenen Erfahrungen auf’s Beste ausgerüstet, begleitet von Eingeborenen, welche in der englischen Mission erzogen waren, indischen Sepoys, sowie verschiedenen Lastthieren, Kameelen, Büffeln und Eseln, brach Livingstone im Februar 1866 von Zanzibar auf, um, dem südlichen Flusse Rovuma folgend, zuvörderst den Nyassasee zu erreichen. Die versuchsweise mitgenommenen [202] Sepoys bewährten sich sowenig wie die Lasttiere. Erstere, sowie andere, durch das von den Sepoys gegebene böse Beispiel zu Faulheit und Diebstahl verführte Mitglieder der Karawane mußten zurückgesandt werden und verbreiteten nun, weil sie sich schämten, zurückgeschickt zu sein, an Zanzibar das 1868 entstandene falsche Gerücht von Livingstone’s Ermordung. Die Thiere starben hauptsächlich durch den Biß der Tsetse-Fliege.

Die disponiblen Kräfte schwanden bald in dem Maße, daß die Waarenladungen, die man zum Einkauf von Lebensmitteln mit sich führen muß, theils zurückgelassen, theils durch fremde Träger befördert und, wo diese nicht erhältlich, der Weg zu deren Fortschaffung mehrmals gemacht werden mußte. In dieser Gegend waren durch Einfälle der Mazitu die Einwohner verjagt und die Lebensmittel vernichtet worden, so daß eine Hungersnoth im Anzuge war. Livingstone berichtet uns von ganzen verlassenen Sclavenkarawanen, welche theils Hungers auf der Straße gestorben, theils in so schwachem Zustande gefunden wurden, daß sie zum Sprechen unfähig waren. Ihre Herren hatten mit knapper Noth nur für sich Lebensmittel erhalten, und dann lediglich auf die Rettung des eigenen theuren Lebens Bedacht genommen, unbekümmert um das Verderben Hunderter von Menschen.

Während Livingstone seine Reise in dieser Weise mit dem Gefühl beginnt, sich nirgends so sehr am Platze und körperlich so wohl zu fühlen wie hier, seinem Berufe folgend, muß er bald inne werden, daß die Wunden, welche seine früheren Reisen, namentlich am Zambere, seiner Gesundheit geschlagen haben, unter den wiederkehrenden Verhältnissen von Neuem aufbrechen. Des öfteren Fiebers gelingt es stets Herr zu bleiben, doch die sich wieder einstellende Dyssenterie ist nicht mehr zu beseitigen und nagt unaufhörlich, bald mehr, bald weniger, an seinen Lebenskräften.

So geht der Weg, häufig durch unfreiwillige Aufenthalte unterbrochen, im Zickzack weiter. Die Richtung bestimmte sich nach der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit reichlicher Lebensmittel in den zu passirenden Districten, nach dem freund- oder feindschaftlichen Verhältnisse, in welchem die verschiedenen Stämme zu einander stehen. Verheerte und den kriegerischen Einfällen ausgesetzte Gebiete müssen häufig in weiten Umwegen umgangen werden.

Vom Nyassasee wendet sich Livingstone im September 1866 nördlich dem Tanganyikasee zu, den er im April 1867 an seinem Südende berührt, erforscht dann den See Moero näher, entdeckt den enormen Binnensee Bemba und erreicht im Mai 1868 Carembe wieder, um dem Westufer des Tanganyikasees zuzueilen. Die Vorräthe waren durch Verbrauch, Verlust und Diebstahl zusammengeschmolzen. Schon lange hatte er weder Papier, Tinte noch Bleistift. In dieser Periode sind seine Reisejournale theilweise auf altes vergilbtes Zeitungspapier, wie es sich gerade in seinem Gepäcke vorfand, quer über das Gedruckte vollgeschrieben mit einem gelben Baumsafte, welchen er sich selbst zubereitete.

Zu seiner nicht geringen Freude traf ihn in Ujiji, an der Ostseite des Tanganyika, der zu seiner Aufsuchung ausgezogene Mr. Stanley, der ihn mit dem Nöthigen versorgte und seine Papiere, als er ihn nach längerem Beisammensein verließ, mit nach England nahm.

Stanley wandte alle Beredsamkeit an, ihn zur Rückkehr in die Heimath zu bewegen. Er führte alle möglichen Argumente in’s Feld, als Wiederherstellung seiner Gesundheit, die Nothwendigkeit künstlicher Zähne, da er die seinen verloren hatte, und daß es ihm später besser möglich sein werde, sein Werk zu vollenden; jedoch vergebens. Eine Stelle in Livingstone’s Tagebüchern berichtet darüber: „Meine innere Stimme sagt mir: Alle Freunde werden wünschen, daß ich eine wirklich genaue Feststellung der Nilquellen beschaffe, ehe ich heimkehre. Meine Tochter Agnes schreibt: ‚So sehr ich wünschen würde, Dich heimkehren zu sehen, so würde ich doch lieber sehen, daß Du zu eigener Befriedigung Dein Werk vollenden und mich dann mit gänzlicher Heimkehr erfreuen möchtest.‘ Recht und edel gesagt, mein Liebling Nannie! Meinen Segen für sie und alle Uebrigen!“

Livingstone begleitete Stanley bis zur Küste, bis Unyanyembe. Dann zurückkehrend wieder zum See Tanganyika, wendete er sich von Neuem südwärts dem Bangweolosee zu, um dessen Erforschung zu vervollständigen.

Mittlerweile war das Ende 1872 herangekommen. Das Journal enthält bereits früher fortwährend Berichte über Livingstone’s verzehrende, unheilbare Krankheit. Unter solchen Umständen kann es nicht Wunder nehmen, wenn sieben Jahre unter ungünstigen klimatischen Verhältnissen endlich seine Kräfte schwinden machen mußten. Die Symptome werden anhaltender und schmerzlicher, oft seinen sonst allezeit heiteren Gemüthszustand umnachtend. Zudem die ungünstige Jahreszeit, die tropische Regenzeit, welche das Reisen fast unerträglich macht, und in einer Gegend, welche schlimmer war, als alle früher passirten.

Das ganze Land auf viele Meilen Entfernung rund um den See war theilweise vollständig mit Wasser bedeckt, oder hatte in den Niederungen „Schwämme“, wie sich Livingstone ausdrückt. Es entsteht nämlich aus der fortwährenden Erneuerung und dem Wiederverderben einer üppigen Vegetation eine Bodenschicht, welche das Wasser nicht einsinken läßt, sondern es fest hält und, wenn vollgesogen, schließlich das Wasser wieder abgiebt. Hierdurch erklärt Livingstone theilweise die Regelmäßigkeit der Ueberschwemmungen, auch die des Nils. Die ganze Gegend um den See herum ist fast nur ein großer Schwamm, und seine Ufer unterscheiden sich vom Lande nicht mehr. Die Dörfer liegen größtentheils auf erhöhten Stellen, und gerastet wird häufig auf den enormen Ameisenhügeln. Sonst geht die Gesellschaft Tag ein Tag aus im Wasser. Livingstone hat einen Esel; theilweise erlaubt sein Zustand jedoch das Reiten nicht, und er wird getragen. Häufig kommen in dieser unendlichen Wasserfläche tiefere Bäche vor, die, weiter aus dem Lande kommend, dem See zuströmen.

Unser Bild, welches nach den eigenhändigen Skizzen Livingstone’s entworfen, zeigt ihn und seine Mannschaft auf dieser Wasserpartie beim Durchwaten eines solchen kleinen Stromes. Es läßt das besser als alle Worte erkennen, welchen Anstrengungen sich der todtwunde Mann unterziehen mußte. Seine Kräfte sanken denn auch immer mehr, und in seinen Aufzeichnungen mehren sich die Ausrufe und Stoßseufzer über seine Leiden.

Endlich hören seine eigenen Niederschriften ganz auf, bis auf das Einschreiben des Datums. Seine letzten Worte waren am 27. April 1873 aufgezeichnet in Kalunganjovu’s Stadt: „Knocked up quite, and remain – recover – sent to buy milch goats. We are on the banks of Molilamo.“ (Gänzlich aufgerieben, und bleiben – mich wieder erholen – fortgeschickt, um Milchziegen zu kaufen. Wir sind an den Ufern des Molilamo.) Wir sind jetzt auf die Berichte seiner Diener Chuma und Susi angewiesen, welche sich jedoch so treu und pietätvoll erwiesen haben, daß wir ihnen allen Glauben schenken dürfen.

Die vorerwähnten Milchziegen konnten nicht herbeigeschafft werden – überall dieselbe Geschichte: Die Mazitu. welche von Manchen mit den bekannten Zulukaffern identificirt werden, hatten die ganze Gegend ausgeraubt. Feste Nahrung zu sich zu nehmen, war Livingstone unmöglich. Er war unfähig zu gehen, nicht einmal vor die Thür der Hütte; damit er in die Tragbahre, welche man für ihn gemacht hatte, gelangen könne, mußte sie vor sein Lager gebracht und dann die Wand der kleinen Schilfhütte eingerissen werden, damit er hinaus kommen könnte. Ein zu passirender kleiner Fluß macht besondere Schwierigkeiten. Man fürchtet den kranken Mann zu tragen, weil ein Fehltritt ihn von der Bahre in’s Wasser werfen könnte. Er wird mit den Betten abgehoben und auf den Boden eines Canoes gelegt.

Der Weg ist der schlechteste. Alle Augenblicke verlangt der Kranke, daß sie anhalten und die Tragbahre hinsetzen; doch es war nicht möglich, daß der Arme stehen konnte. Wenn er aufgehoben wurde, verließen ihn die Kräfte. Dies war hauptsächlich einmal bei einem Baum am Wege der Fall, wo er halten und seine Leute sich um um ihn versammeln ließ, doch er war zu schwach zum Sprechen. Sie legten ihn in der Tragbahre wieder zurecht und gingen, so gut es gehen wollte, weiter. Später wünschte er Wasser, aber es war keines da. Endlich kam ihnen Susi entgegen, der zu den nöthigen Vorbereitungen nach Chitambo’s Stadt vorausgeeilt war. Bei einem nochmaligen Anfall hatte es den Anschein, als sollte es schon da zu Ende gehen; Livingstone hieß die Träger niedersetzen, wo sie waren. Glücklicherweise fachte der Umstand, daß jetzt das Dorf in Sicht kam, noch einmal seine Lebenskräfte an, so daß er nach einer Stunde Rast weiter transportirt werden konnte. Nach kurzem Warten in einem [203] Feldhüterhäuschen konnte er zu der für ihn in einiger Entfernung vom Dorfe errichteten Hütte gebracht werden.

Unser Bild giebt diesen letzten Rastort des berühmten Reisenden getreu wieder: In der Hütte war ein Lager aus von Stöcken zusammengehaltenem Gras errichtet. Ein Reisekasten diente als Tisch, worauf die Medicinkiste stand. Vor der Hütte gegenüber der Thür wurde ein Feuer angezündet. Am Morgen des 30. April kam der Häuptling zum Besuch. Doch Livingstone mußte ihn bitten, andern Tags wieder zu kommen, wo er hoffe, mehr Kraft zu haben. Nachmittags zog er noch die Uhr auf, die Susi ihm halten mußte.

Die Stunden schlichen hin bis zum Einbruch der Nacht. Jeder hatte das Gefühl, daß das Ende nicht weit sein könne, und suchte lautlos seine Hütte auf. Um elf Uhr Nachts beunruhigten ihn hörbare Flintenschüsse. Es waren die Dorfbewohner, welche damit einen Büffel von den Saatfeldern vertrieben.

Nach einer Stunde fragte Susi nochmals nach seinen Wünschen. Er bat um einiges heißes Wasser, ließ sich dann die Medicinkiste geben und suchte mit vieler Schwierigkeit das Calomel, welches er ihn bat herauszulegen. Dann ließ er etwas Wasser in eine Schale gießen und eine andere voll davon daneben stellen und sagte mit leiser Stimme:

„Es ist gut. Du kannst jetzt gehen.“

Das waren die letzten Worte, welche überhaupt von ihm gehört wurden.

Es mag ungefähr vier Uhr Morgens gewesen sein, als Susi den als Wache verbliebenen Majwara kommen hörte, welcher in der Suaheli-Sprache zu ihm sagte:

„Komm zu Bwana! Ich fürchte mich; ich weiß nicht, ob er noch lebt.“

Des Jungen augenscheinliche Bestürzung ließ Susi sofort noch Chuma, Chowperé, Matthew und Muanyaséré wecken, und diese Sechs eilten unverzüglich nach der Hütte. Sie traten ein und richteten ihre Blicke auf das Bett. Livingstone lag nicht mehr darauf, sondern in knieender Stellung davor, so daß es den Anschein hatte, als wenn er bete. Bei diesem Anblicke zogen sie sich instinctmäßig zurück, um ihn nicht zu stören. Majwara flüsterte jedoch:

„Als ich mich niederlegte, war er bereits in dieser Stellung, gerade wie jetzt, und eben weil er ohne Bewegung bleibt, fürchte ich, daß er todt ist.“

Die Frage, wie lange er geschlafen habe, konnte Majwara zwar nicht genau beantworten, glaubte aber, daß es längere Zeit gewesen sei. Darauf traten die Männer näher.

Ein Licht, mit seinem eigenen Wachse auf dem Deckel der Medicinkiste befestigt, verbreitete eine unsichere Beleuchtung, eben genügend, den Umriß seiner Gestalt hervortreten zu lassen. Livingstone kniete zur Seite des Lagers, den Körper vorgebeugt, den Kopf in die Hand gestützt, auf einen Pfosten des Lagers gelehnt. Die Männer hielten den Athem an und lauschten. Kein Laut, keine Bewegung war wahrzunehmen. Endlich faßte sich Matthew ein Herz und näherte sich ihm leise, mit seiner Hand seine Wange berührend. Es war kein Zweifel – das Leben war schon einige Zeit entflohen, der Körper völlig kalt – Livingstone war todt. – Nachdem sie seinen Körper ordentlich gebettet und zugedeckt hatten, gingen sie in’s Freie, um über die ferneren Maßnahmen zu berathschlagen.

Es war nicht weit bis zum Morgengrauen. Dieses, zusammengehalten mit dem Umstande, daß Susi kurz vor Mitternacht mit ihm zuletzt sprach, ermöglicht mit ziemlicher Gewißheit zu bestimmen, daß Livingstone in der Frühe des 1. Mai 1873 starb. Wir können uns leicht die Schwierigkeit vergegenwärtigen, in welche die doch nur aus mehr oder weniger lose zusammenhängenden Elementen bestehende Gesellschaft jetzt, nachdem der Oberbefehlshaber todt war, durch die geringste Uneinigkeit leicht gerathen konnte. Mit möglichster Ruhe wurden Alle von dem, was sich ereignet hatte, in Kenntniß gesetzt. Nach Tagesanbruch wurde die ganze Reisegesellschaft zur Berathung versammelt. In Aller Gegenwart wurden die das Gepäck enthaltenden Kästen geöffnet und Jakob Wainwright, der Einzige, welcher schreiben konnte, veranlaßt, ein Verzeichniß der Gegenstände aufzunehmen.

Livingstone, als alter praktischer Reisender, hätte sein Gepäck so knapp wie möglich eingerichtet und in zwei Blechkästen gepackt, welche ihm ein Freund in England in Ansehung der besonderen Umstände, denen sie dienen sollten, mit außerordentlicher Sorgfalt hatte anfertigen lassen. Hier waren Schriften und Instrumente vor den schlimmen Witterungseinflüssen bewahrt geblieben. Außer diesen Dingen fanden sich Uhr und Hut, Bibel und Gebetbuch, weniges Geld und einige Medicinalgewichte darin vor.

Bekannt mit der Angst, welche die Eingeborenen dieser Gegend vor einem Todten haben, welche so weit geht, daß manche Stämme ihre Wohnplätze wechseln, wenn Jemand gestorben, weil sie meinen, daß die abgeschiedene Seele an den Lebenden Rache nimmt und überhaupt Böses verübe, beschloß man, den Todesfall zu verheimlichen. Man konnte nicht wissen, ob die Eingeborenen die Reisegesellschaft jetzt nicht feindselig behandeln würden.

Es mußte auch berathen werden, was ferner geschehen sollte. Glücklicherweise verband alle das gemeinsame Interesse, von diesem entferntesten Punkte der ganzen Reise glücklich heimzukehren. Die jüngeren von Mr. Stanley abgegebenen Mitglieder der Expedition ordneten sich naturgemäß den älteren erfahrenen Mitgliedern unter. So wurden Chuma und Susi, zwei Zöglinge der Mission, fernerhin als Chefs betrachtet, denen die Anderen unbedingten Gehorsam versprachen.

Es wurde ferner beschlossen, daß der Leichnam, komme was da wolle, nach Zanzibar zurückgetragen werden müsse. Zum Zwecke der Einbalsamirung, wenn wir bei den geringen zu Gebote stehenden Hülfsmitteln die nöthige Präparation so benennen dürfen, erbaten sie sich vom Häuptlinge, unter Verschweigung des wahren Beweggrundes, die Erlaubniß, ein besonderes Lager abseits des Dorfes bauen zu dürfen, welche gern ertheilt wurde. Die später zum Einkaufe von Lebensmitteln in’s Dorf gesandten Leute hielten jedoch keinen reinen Mund, und so wurde die Sache ruchbar. Sofort kam der Häuptling herbeigeeilt und machte Chuma Vorwürfe, ihm den wahren Sachverhalt vorenthalten zu haben.

„Ihr hattet Angst,“ sagte er, „es mich wissen zu lassen, aber fürchtet nichts! Ehe die Mazitu in’s Land fielen, bin ich selbst mehr als einmal an die Küste gereist. Ich weiß, daß Ihr nicht in bösen Absichten kommt, und daß der Reisende oft seinen Tod auf dem Wege findet.“

Alle waren durch diese aufgeklärte Denkweise sehr erleichtert und gaben nun ihre Absicht zu erkennen, den Leichnam zu conserviren und fortzubringen. Chitambo rieth, ihn lieber zu begraben als diese unmöglich scheinende Aufgabe zu unternehmen. Sie beharrten jedoch bei ihrem Entschluß. Mit Dankbarkeit gedenken Alle dieses gutherzigen und edelmüthigen Häuptlings.

Chitambo versammelte sein Volk und kam, von seinen Frauen begleitet, zu der neuen Ansiedelung. Er war in fest um den Leib geschlungenes, bis auf die Knöchel fallendes Baumwollenzeug gekleidet und trug um die Schultern ein breites, rothes Tuch. Alle führten Bogen, Pfeile und Speere, jedoch keine Gewehre. Zwei Trommler vereinigten ihre Anstrengungen mit dem wildheulenden Klagegeschrei, in das alle einstimmten, während die Männer zugleich, nach der portugiesischen und arabischen Weise der Todtenceremonie, eine Pfeilsalve nach der anderen in die Luft abschossen.

Tags darauf erschien noch ein officieller Klager in besonderer Kleidung nach dortigem Ritual, zu der große, speciell für diesen Zweck getragene Fußringe gehören, welche aus Reihen von hohlen Samenkapseln, mit rasselnden Kieselsteinen gefüllt, gebildet sind. Während er tanzte, sang er einen monotonen Gesang mit tiefer Stimme, welcher auf Deutsch etwa heißen würde:

„Heute ist der Engländer gestorben,
Dessen Haare von den unsern verschieden sind.
Kommt und seht den Engländer!“

Dieser in den Augen der Eingeborenen ehrenvolle Nachruf wurde mit einem reichlichen Geschenk an Perlen belohnt.

Der Leichnam Livingstone’s wurde jetzt mit Salz und Branntwein behandelt und der Sonnenhitze ausgesetzt, Tag und Nacht von seinen Leuten bewacht, welche rings um das Gehege, in das der Tode gebracht war, ihre Hütten errichtet hatten.

Nach genügender Zeit wurden die Vorbereitungen getroffen, den Weg fortzusetzen. Der Körper wurde in weißes Baumwollenzeug gewickelt, die Beine gebogen, um die Ausdehnung zu verkürzen. In Ermangelung von Holz stellte man aus Borke des Myongabaumes, welche sich in großen Stücken abschälen läßt, eine Art Cylinder her. Hierhinein wurde der Leichnam [204] gelegt und das Ganze in Segeltuch eingenäht und mit einer Tragstange für zwei Mann versehen.

In einen großen Baum, welcher in der Nähe stand, wurde Livingstone’s Name und Todestag eingeschnitten, und Chitambo versprach, die Umgebung von Gras freizuhalten, um den Baum vor den öfteren zerstörenden Buschfeuern zu bewahren. Außerdem errichteten sie noch zwei dicke Holzstämme mit einem Kreuzstück von ähnlicher Stärke, welche mit Theer, der für das Boot bestimmt gewesen war, angestrichen wurden. Dieses Zeichen wird vermöge seiner Solidität wohl manche Generation überdauern. Zum Zeichen ihrer Anwesenheit für zukünftige Reisende erhielt Chitambo eine blecherne Biscuitkiste mit englischen Zeitungen. Der Häuptling versprach, Alles zur Erhaltung der Zeichen zu thun, wofern er nicht von den Mazitu verdrängt werde.

So setzten sie ihren traurigen Weg fort, den See Bangweolo an der andern Seite umgehend, dann die gekommenen Wege zurück, den Tanganyika am Südende berührend, in möglichst directer Richtung dem Land Unyanyembe zu, wo sie die betretenere Handelsstraße der Küste zu verfolgten und endlich im Februar 1874 in Zanzibar die sterblichen Ueberreste ihres geliebten Herrn dem englischen Consul Prideam übergeben konnten.

Die zugleich mit überlieferten Papiere erwiesen sich in Anschluß an die früher bereits von Mr. Stanley zurückgebrachten Schriften als die vollständige Wiedergabe der verflossenen achtjährigen Reiseperiode, so daß auch nicht eine einzige Lücke zu beklagen ist. Dieselben zu ordnen, schien allerdings anfänglich kaum möglich. Durch die vorerwähnte Benutzung von Zeitungspapier, mit gelbem Saft beschrieben, und durch die oft zitternden Schriftzüge des Kranken schienen sich der Entzifferung unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzusetzen. Schließlich gelang es einigen mit seiner Handschrift völlig vertrauten Personen, die Aufzeichnungen mit Hülfe von Vergrößerungsgläsern zu entziffern. Dennoch wäre eine Ordnung der Papiere unmöglich gewesen, wenn nicht Livingstone mit eiserner Consequenz täglich das Datum und die Jahreszahl eingeschrieben hätte. Zugleich lagen viele Skizzen bei. Obgleich nicht Künstler, hatte er sich doch eine gewisse rohe Manier der Skizzirung angeeignet, welche als Unterlage für die spätere Ausführung vollständig genügte. Ferner fanden sich alle Gegenden, die er durchzogen hatte, topographisch aufgenommen, wonach eine genaue Karte mit geringer Mühe zusammengestellt werden konnte.

Wir haben aus dem zur Verfügung stehenden Material das dramatisch abgeschlossene Ende herausgehoben und alle Begebenheiten bis dahin nur in großen Linien angeführt. Des Neuen und Interessanten in dem Buche ist soviel, daß der Herausgeber und Freund Livingstone’s, Horace Waller in Twywell, nicht mit Unrecht von einem „Zuviel des Guten“ spricht.

Für Alle, die sich für die Sache interessiren, wird es angenehm sein, zu hören, daß die deutsche Ausgabe dieser Aufzeichnungen unter dem Titel: „Letzte Reise von David Livingstone in Central-Afrika von 1865 bis zu seinem Tode 1873“ in den nächsten Tagen erscheinen wird.[3]

A. H.


  1. Verfasser des „Schuster Lange“, Jahrgang 1873.
  2. In der festen Ueberzeugung, daß in der großen Mehrheit unseres deutschen Volkes ein Franzosenhaß, überhaupt ein Nationalhaß nirgends existirt, halten wir es für unsere Pflicht, die obige Schilderung unseres langjährigen Mitarbeiters, der seit mehreren Jahrzehnten in Frankreich lebt, dem unparteiischen Urtheile unserer Leser zu unterbreiten. Wenn wir auch nicht gewöhnt sind, von unseren überrheinischen Nachbarn gerechte und vorurtheilslose Aussprüche über Deutschland und den deutschen Charakter zu hören, so wollen wir doch das Unserige dazu beitragen, daß derartige häßliche und absprechende Verurtheilungen um jeden Preis nicht auch bei uns Platz greifen. Trügen übrigens nicht alle Anzeichen, so befestigen sich die friedlichen Beziehungen zwischen dem besonnenen Theile des französischen Volkes und Deutschland ohnedies jetzt mehr als bisher.
    D. Red.
  3. Wir sehen uns zu der ausdrücklichen Bemerkung veranlaßt, daß unsere beiden Abbildungen nicht in den xylographischen Ateliers der Gartenlaube gefertigt worden, sondern nur Clichés der englischen Originalausgabe sind.
    D. Red.


Die amerikanische Nationalhymne.


Von Eduard Leyh.


Auch in unseren aufgeklärten, nüchternen Tagen giebt es noch Zauberlieder, welche mit unwiderstehlicher Gewalt die Gemüther ergreifen und selbst philisterhafte Naturen aus ihrem Gleichmuthe rütteln, Lieder, die in der Hand des Zeitgeistes zu Ruthen werden, mit denen er die Völker aus dem warmen Bette träger Gewohnheit scheucht. Meistens entstehen dieselben wie über Nacht, mitunter aber kennt man Text und Melodie jahrelang, das Lied bleibt jedoch unbeachtet, weil seine Stunde noch nicht geschlagen hat. Kommt dann endlich die rechte Zeit, dann erhält plötzlich jedes Wort einen tieferen Sinn, jede Strophe der Melodie einen eigenen, früher nie geahnten Reiz, und wie ein geistiges Contagium fliegt das Lied durch die Nation; im Palaste und in der Hütte, im Putzzimmer und in der Küche, in der Schenke und im trauten Familienkreise singt, trillert, brüllt, summt und pfeift man die geheimnißvolle Weise; im Norden und im Süden, auf dem Markte, und auf dem Felde, im rasch pulsirenden Leben des Städters und in der tiefsten Waldeinsamkeit, allüberall ist das Lied; es macht Greise zu Jünglingen und Hasenherzen zu Helden; es erzeugt todesfreudige Begeisterung und reißt Tausende mit sich in das Gewühl der mörderischen Schlacht.

Luther’s mächtiger Choral war seiner Zeit ein solches Zauberlied und derselbe hat seine Kraft durch drei Jahrhunderte hindurch bewährt bis auf den heutigen Tag. Der rauschende Schlachtgesang des spanischen Erbfolgekrieges gehört in diese Classe. Er wurde fast gleichzeitig am Rheine, in den Niederlanden, in den Urwäldern Nordamerikas gehört, und das Marlborough-Lied hatte noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts seine Macht über die Gemüther nicht verloren, sagt nicht Goethe in seinen römischen Elegieen:

„So verfolgte das Liedchen ‚Marlbrough‘ den reisenden Briten.
 Einst von Paris nach Livorn; dann von Livorno nach Rom,
Weiter nach Napel hinunter, und wär’ er nach Smyrna gesegelt,
 ‚Marlbrough‘ empfing ihn auch dort! ‚Marlbrough‘ im Hafen das Lied.“

Der Gesang vom meerumschlungenen Schleswig-Holstein darf unter die Zauberlieder gerechnet werden, sogar Niklas Becker’s Rheinlied hat gewissen Anspruch auf diesen Rang. – Und erst die „Wacht am Rhein“! Welcher Deutsche wüßte nicht, was dieses Lied für das neue Reich gethan hat! Es wird kaum festzustellen sein, welcher Antheil des Verdienstes an Deutschlands glorreichem Feldzuge auf den Schmalkaldener Liedercomponisten Karl Wilhelm kommt, aber Niemand kann es wagen, dessen Anspruch in Abrede zu stellen. Die „Wacht am Rhein“ half Schlachten gewinnen und Festungen erobern. Sie half Mühsale und Strapazen ertragen; sie hat Gefangene getröstet und Verwundeten ihre Schmerzen erleichtert, und unter ihren Klängen stürzten sich Tausende freudig in den blitzenden, qualmenden Tod. Es ist wohl kaum eine Uebertreibung, wenn man sagt: „Moltke hat Tausend, die ‚Wacht am Rhein‘ aber hat Zehntausend geschlagen;“ Schneckenburger’s Lied war der Ausdruck nationaler Begeisterung und dasselbe wird auf lange Zeit den Rang als deutsche Nationalhymne behaupten.

Auch andere Völker haben den Zauber solcher Lieder erfahren; noch heute lebt im Munde der Schotten das Cameron’s gathering, und das alte Lied, welches bereits vor Jahrhunderten die sächsischen Feinde der Hochländer hörten, übte am Tage von Waterloo aus Hochländer und Anglo-Sachsen auf’s Neue seinen Zauber aus. Die Marseillaise war ein solches Zauberlied und hat unter Hoche, Marceaux und Kleber, vor allen Dingen aber unter Napoleon Bonaparte Wunder gewirkt; daß ihre Wunderkraft im letzten Kriege entschwunden war, ist selbstverständlich, hatte doch Napoleon der Dritte während seiner Regierungszeit dieses Lied streng verboten.

Die amerikanische Republik hat gleichfalls ihre Marseillaise; der Zauber derselben ist noch ungeschwächt, hat doch erst neuerdings ein Enthusiast dreihunderttausend Dollars verwilligt, um dem Dichter der amerikanischen Nationalhymne ein Monument zu errichten. Dieser Umstand, speciell aber die Thatsache, daß viele Tausende von Lesern der „Gartenlaube“ das Lied kennen und lieben, veranlaßt mich, eine deutsche Uebersetzung desselben, sowie eine kurze Geschichte seiner Entstehung hier mitzutheilen.


Das Sternenbanner.

O sprich! kannst du seh’n bei der schwindenden Nacht,
Was wir freudig noch grüßten im Abendrothsglanze,
Uns’re Streifen und Sterne, die während der Schlacht
Im Winde geflattert, dort, hoch auf der Schanze?
Der Raketen Gesaus, – und der Bomben Gebraus
Verkünden durch’s Dunkel: die Flagge hält aus!
O sprich! weht das Banner im Morgenlichtsschein
Noch über den Helden, im Lande der Frei’n?

[205]

Was ist’s, das am Strande im Nebel dort weht,
Wo die muthlosen Heere des Feindes jetzt rasten?
Was ist’s, das so stolz auf der Wallhöhe steht,
Das die Lüfte des Morgens so flatternd erfaßten?
Sieh’ es glänzen im Licht – wo der Morgen anbricht –
Hellstrahlend und leuchtend – jetzt ist es in Sicht.
’S ist das Sternenbanner; lang weh’ es allein
In der Heimath der Helden, im Lande der Frei’n!

Und wo ist das Heer, das so prahlend einst schwur,
Durch verheerenden Krieg uns und blutige Thaten
Die Heimath zu rauben, die heilige Flur? –
O, ihr Blut hat verlöscht jede Spur, die sie traten.
Kein Hort schützte mehr das gemiethete Heer –
Sie entfloh’n oder fielen; das Grab deckt sie schwer.
Und das Sternenbanner weht siegreich allein
In der Heimath der Helden, im Lande der Frei’n.

O stets sei es so, wenn sich Männer bewehrt,
Zu vertheid’gen ihr Land gegen feindliche Horden!
Der Sieg und der Frieden sei ihnen bescheert.
Preist den Himmel, daß endlich wir frei sind geworden!
Recht siege hinfort – an jeglichem Ort.
Und dies ist der Wahlspruch: „Sei Gott unser Hort!“
Und das Sternenbanner weh’ immer allein
In der Heimath der Helden, im Lande der Frei’n!


Die Fahne mit den Sternen und Streifen wurde im October 1775 zuerst im Hafen von Baltimore entfaltet, indem der damals in Philadelphia tagende Colonialcongreß die neue Flagge, über deren Farben man sich soeben geeinigt hatte, dem Commandeur des ersten ordentlichen Kriegsschiffes der aufständischen Colonien, der von Bermuda gekauften Schaluppe „Hornet“ zusandte, welcher sie unter Musik und Kanonendonnern aufhißte. Wenige Wochen später war die Rebellenflagge der Schrecken der caraibischen See. Merkwürdiger Weise wurde in demselben Hafen neununddreißig Jahre später auch das Lied des von einer Rebellenstandarte zur Nationalflagge avancirten Sternenbanners gedichtet.

Die amerikanische Nationalhymne entstand in der Nacht vom 12. zum 13. September 1814 während des zweiten Krieges zwischen England und den Vereinigten Staaten unter folgenden Umständen. Die Engländer waren nach verschiedenen im Norden erlittenen Niederlagen in Maryland eingefallen, hatten bei Bladesburg eine Schlacht gewonnen und das offene Washington eingeäschert. Der britische Admiral Cockburn segelte sodann in die Chesapeakebai, um die damals bedeutende Handelsstadt Baltimore zu zerstören. Die Baltimorer griffen prompt zu den Waffen; die wackeren Freisassen von Maryland eilten herzu. Pennsylvanien schickte seine Milizen, und die in Zwillich und „Homespun“ gekleideten, größtentheils nur mit Jagdausrüstung versehenen Bauern traten auf der Landspitze von North-Point, zwölf englische Meilen von der Stadt, Wellington’s „Invincibles“ gegenüber und – schlugen sie. Während die Schlacht auf der Landzunge tobte, engagirte die britische Flotte das Fort Mac Henry, um die Einfahrt in den Hafen zu erzwingen. Von der Besatzung des Forts wurde am Abende des 12. Septembers ein Parlamentärboot nach dem Admiralschiffe geschickt, um die Freilassung eines gefangenen Arztes zu erwirken. Sprecher der Parlamentäre war der junge Francis S. Key, Neffe des Richters Nicholson, welcher das Fort vertheidigen half. Die Engländer behielten die Parlamentäre während der Nacht am Bord und setzten in Folge ihrer Niederlage auf dem Lande die Beschießung des Forts um so eifriger fort. Dort unter dem Dröhnen der Breitseiten, dem Bersten der Bomben und dem Zischen der Raketen dichtete der junge Key sein unsterbliches Lied. Er warf seine Gedanken flüchtig auf einen Briefumschlag und als er am folgenden Morgen entlassen wurde und glücklich in’s Fort zurückgekehrt war, schrieb er seinen Gesang ins Reine. Richter Nicholson erkannte sofort den Werth des Gedichtes und schickte es nach der Officin des „American“. Redacteure und Setzer des Blattes waren jedoch in Reih’ und Glied, nur ein halbwüchsiger Lehrling, Namens Samuel Sands, war zur Beaufsichtigung des Locales zurückgeblieben. Dieser Junge zeigte übrigens, daß er ein Amerikaner war; er setzte das Gedicht sofort ab, machte einige hundert Abzüge und vertheilte dieselben in den Straßen und unter den Milizen; noch an demselben Abende wurde das Lied vom sternbesäten Banner gesungen. Ein Schauspieler, Namens Charles Durang, wird als der Urheber der Melodie genannt.

Mein alter Freund und Mentor, der 1871 in Cincinnati verstorbene Journalist August Becker, welcher meine vorstehende Uebersetzung vor dreizehn Jahren während des Bürgerkrieges zuerst publicirte, wollte übrigens dem armen Durang seinen Ruhm niemals gönnen; er meinte, eine so herrliche Melodie könne gar kein Amerikaner erfinden, dieselbe sei entschieden deutsch. Als Beweis führte er den Endreim eines hessischen Soldatenliedes an, welcher lautet:


„Unser Landgraf, der soll leben, und die Landgräfin daneben!
Hesse-Darmstädter sein mir, ja Hesse-Darmstädter sein mir.“


Becker argumentirte nun, daß die damals von ihren sauberen Fürsten an die Engländer verschacherten Hessen dieses Lied auf amerikanischem Boden häufig gesungen hätten und die Melodie hier von den Amerikanern aufgegriffen worden sei. Thatsächlich herrscht zwischen dem Liede der Darmstädter Patrioten und dem Endreime unserer Nationalhymne große Aehnlichkeit und ich war immer geneigt, Herrn Becker in diesem Punkte Recht zu geben; aber deshalb wollen wir doch den Ruhm des Schauspielers Durang nicht antasten, zumal die Melodie der sechs ersten Verse entschieden originell und, was noch mehr sagen will, amerikanisch ist.

Wer niemals mit Amerikanern verkehrt hat, der weiß nicht, welche magische Gewalt dieses Lied auf die Bürger der großen Republik ausübt; die Union verdankt demselben verhältnißmäßig ebenso viel, wie Deutschland seiner „Wacht am Rhein“. Die junge kaum drei Monate alte Nationalhymne half die Engländer am 8. Januar 1815 bei New-Orleans besiegen; sie hat seither gar oft die wilden Horden der Indianer geschreckt; unter ihren Klängen wurden die Schlachten bei Buena-Vista, Cerro-Gordo, Molina-del-Rey und Chapultepec geschlagen, und mit diesem Liede auf den Lippen zogen die siegreichen Truppen der Union in die Hauptstadt Mexicos ein. Welche Wunder es im letzten Bürgerkriege gewirkt, ist noch Allen, die jene große Zeit erlebt haben, frisch im Gedächtniß. Wer den Charakter des Amerikaners kennt, der findet es erklärlich, daß ein reicher Mann eine Viertelmillion zu einem Denkmale für den Dichter des Sternenbannerliedes aussetzen konnte. Apropos! dieses Denkmal. – Deutsche Künstler werden mir vielleicht für folgende Notiz aus dem „Californischen Staatskalender“ dankbar sein:

„Diejenigen Schenkungen Lick’s, welche in Europa das größte Interesse erregen, sind die für Errichtung von zwei Monumenten ausgesetzten 400,000 Dollars. Das eine Monument, zu Ehren des Dichters der amerikanischen Nationalhymne, soll den ‚Golden Gate-Park‘ von San Francisco zieren, das andere dagegen soll im Staatscapitolpark in Sacramento errichtet werden, und in Figur und Form die Geschichte des Staates, seinen Fortschritt und seine schnelle Entwickelung repräsentiren. Ein ganzes Jahr lang soll zur Einrichtung von Plänen für das letzte Monument aufgefordert, für den besten Plan ein Preis von 5000 Dollars und für den zweitbesten ein Preis von 2500 Dollars ausgesetzt werden. Vielleicht werden zwei Fünftel der ausgesetzten Summen für das Fundament und Granitpiedestal verausgabt, so daß noch 90,000 Dollars für das Key- und 150,000 Dollars für das Staatsmonument verbleiben. Die Trustees haben bis jetzt noch nicht zur Einreichung von Plänen aufgefordert. Eine unserer Zeitungen hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Monument nach eingereichten Modellen und nicht nach Plänen angefertigt werden solle, daß von jedem eingegangenen Modelle eine Photographie angefertigt und dieselbe an die berühmtesten Kunstschulen und Gesellschaften in Amerika und Europa gesandt werde, daß man sich nicht für ein Modell entscheide, bevor die Photographien sechs Monate lang abgesandt sind, und daß ferner der Contract denjenigen Personen überwiesen werde, die in Bronzeguß und Metallarbeit Erfahrung besitzen. Die Bewerbung für Ausführung der Monumente soll allen Personen offen stehen, gleichviel welcher Nationalität sie angehören und in welchem Theile der Erde sie wohnen. Dieser Vorschlag ist bis jetzt der einzige und scheint vielen Beifall zu finden, besonders die Idee, daß nicht zur Einreichung von Plänen, sondern zur Einsendung von Modellen aufgefordert werden soll. Letztere geben unbedingt ein besseres Bild von einem Monumente, als eine Zeichnung. Durch Befolgung dieses Planes dürften sich vielleicht auch deutsche Künstler veranlaßt [206] fühlen, sich um einen oder beide Preise zu bewerben. Es ist jedenfalls eine Seltenheit, daß solche Summen wie 90,000 Dollars und 150,000 Dollars für einzelne Kunstwerke verausgabt werden.“

Dieses ist die kurze Geschichte der amerikanischen Nationalhymne. – So lange dem Lande noch täglich Männer erstehen, wie Hopkins, Peabody, Corcoran, Mac Donogh, Lick etc., so lange die Fahne der Republik, wie es der letzte Krieg dargethan, noch hunderttausende um sich zu schaaren vermag, hat der Cäsarismus, von welchem neuerdings in der Tagespresse so viel geschrieben wird, keine ernste Gefahr. – Ich kann vielleicht diese Skizze nicht besser schließen, als mit der ersten Strophe eines anderen patriotischen Liedes der Amerikaner, welches neben dem Liede vom „Sternenbanner“ den zweiten Rang behauptet:

„O Columbia, du Perle der Meere,
Du Heimath der Muth’gen und Frei’n!
Die Welt zollt dir Achtung und Ehre;
Die Herzen der Bürger sind dein.
Dein Aufruf kann Helden erwecken,
Wenn erzittert dein herrlicher Gau,
Dein Banner Eroberer schrecken –
Das siegreiche Roth, Weiß, Blau.“




Blätter und Blüthen.


Pneumatischer Leichentransport. Mit dem Beginne des gegenwärtigen Jahres ist Wien in die Reihe der Weltstädte, wie London, Paris, Berlin, New-York eingetreten, welche ihren localen Stadtpostverkehr zum größten Theile auf pneumatischem Wege, das ist mittelst atmosphärischen Luftdrucks, vermitteln. – Ein halbes Jahrzehnt dürfte verflossen sein, seit eine erste Versuchsstation dieser Art in London zwischen den belebten Stadttheilen High-Holborn und Euston Square, einer Entfernung von einer guten halben Wegstunde, eröffnet wurde. Seitdem hat die praktische Anwendung dieses Verkehrsmittels eine nicht geahnte Ausdehnung erfahren. Unseres Wissens ist jedoch bis zur Stunde New-York der einzige Ort, welcher das System der Beförderung durch Luftdruck oder künstlich erzeugten Sturm auch auf Personen ausdehnte. Eine solche Transportanstalt besteht dort auf dem Broadway. Ganz neu dürfte indeß die Idee sein, diese Beförderungsart auf den Transport der Todten, die, in großen Städten angesammelt, in Massen nach den entfernten Friedhöfen überführt werden müssen, anzuwenden.

Bekanntlich zieht die englische Hauptstadt ihre Leichen in dem großen Bahnhofe der unterirdischen Eisenbahn King’s Cross zusammen, um sie nächtlicherzeit vermittelst separater Züge den mehrere deutsche Meilen entferntliegenden Friedhöfen zuzusenden. In Wien wird gegenwärtig die Frage sehr ernst ventilirt, diese letzte Reise auf pneumatischem Wege auszuführen. – Die Sterblichkeit in der Hauptstadt Österreichs ist bekanntlich eine große und die sich ergebende Ziffer im Verhältnisse zu der anderer Städte gleichen Ranges eine ungünstige. Inbegriffen seiner Vororte zählte Wien nach den letzten Ausweisen 980,000 Seelen, oder rund eine Million Bewohner. Dem gegenüber steht eine Jahresziffer von 36 bis 40,000 Todten, was proportionell zur Sterblichkeit Londons sich wie 2 : 1 verhält. Die die bis zum Ende des Vorjahres benutzten städtischen Friedhöfe konnten dem Bedarfe nicht entfernt mehr entsprechen; die Gemeindevertretung mußte mithin diesem Mangel abhelfen. Wem die Lage der österreichischen Hauptstadt bekannt ist, weiß, daß schon aus gesundheitlichen Gründen die Anlage eines Centralfriedhofes nur im Osten der Stadt möglich ist. In Folge dessen bestimmte denn auch die Commune auf den zwei Stunden östlich gelegenen Fluren von Kaiser-Ebersdorf eine Ebene von vorläufig dreihundert österreichischen Joch zu einer neuen Friedhofsanlage, welche mit Anfang dieses Jahres der Benutzung übergeben ward. Während des gegenwärtigen Winters stellten sich dem Transporte der Leichen nach der fernen Ruhestätte ungewöhnliche Hindernisse entgegen. Wohl wurde jener ungarischen Heerstraße entlang, welche den Verkehr mit Kaiser-Ebersdorf vermittelt, zu der neuen Kirchhofanlage ein Schienenweg gelegt, aber dennoch blieben die gerade bei Leichenzügen so widerwärtigen Verkehrsstörungen nicht aus. In Folge der Terrainverhältnisse leidet diese Straße während der Winterszeit an fortgesetzten Schneeverwehungen, ein Uebelstand, dem auch das vollkommenste Beförderungsmittel, die Eisenbahn, kaum zu begegnen vermag.

Dies brachte den Erbauer der Pariser und Wiener pneumatischen Post, Herrn Ingenieur von Felbinger, auf die Idee, das Project einer pneumatischen Leichenbeförderung zum neuen Centralfriedhofe auszuarbeiten und vorzulegen. Während die Eisenröhren für den in Wien befindlichen vierzehn Kilometer langen Post- und Depeschenverkehr nur eine lichte Weite von zweieinhalb Zoll haben, sind jene für die Leichenbeförderung auf fünf Meter, gleich fünfzehn Fuß, projectirt, und stellen sich die Gesammtkosten, diesem Vorschlage zufolge, für die eine deutsche Meile, also sieben Kilometer lange Strecke auf 1,070,000 Gulden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit welcher sich die vor dem Sturmwinde eilenden Züge bewegen, beziffert sich auf ungefähr anderthalb Minuten Zeit für eine halbe Wegestunde. Die dem pneumatischen Dienste anvertrauten Todten werden somit ihre letzte Reise zum Centralfriedhofe in circa sechs Minuten, oder mit einer Schnelligkeit von zehn deutschen Meilen per Stunde, mithin mit einer Geschwindigkeit vollbringen, welche die Züge des europäischen Continentes dem Lebenden zur Zeit nicht bieten. Rechnet man bei einer durchschnittlichen Beförderung von 38,000 Todten per Jahr nur eine Fahrtaxe von zwei Gulden für eine Leiche, so ergiebt eine Jahreseinnahme von 76,000 Gulden, hinreichend, um die Zinsen des Baucapitals und die Kosten der sehr einfachen Verwaltung zu decken.

Wir setzen die Einrichtung des pneumatischen Dienstes im Allgemeinen als bekannt voraus, wollen indeß doch einige Worte über die technische Eigenart desselben hinzufügen. Der Apparat hat die Aufgabe, auf künstlichem Wege Luftdruck, das heißt Sturm zu erzeugen. Als Motor hierzu wird in der Regel und so lange unsere Mechanik nichts besseres erfindet, die Dampfmaschine dienen müssen, die, je nachdem die Anforderungen beim Personen- oder Leichentransporte große sind, in dem entsprechenden Caliber beigestellt werden müssen. Die Elasticität unserer atmosphärischen Luft ist bekannt; die Technik hat somit die nur sehr einfache Aufgabe, Sturm zu erzeugen und ihm Halt! zu gebieten. Der hier in Anwendung kommende Motor bewegt ein Schwungrad, dessen Kreisungen zwei Hebel auf- und niederschwingen. Einer dieser Hebel bringt eine große Luftpumpe in Bewegung, welche die Luft aufsaugt und mit ungeheurer Gewalt zusammenpreßt. Der andere Hebel bewegt eine gleichgestaltete Pumpe, welche aus einem durch eine Röhre mit ihr verbundenen Cylinder diese Luft einsaugt und sie austreten läßt. Die erstgenannte Pumpe heißt „Compressionspumpe“. Sie füllt mit der in ihr verdichteten Luft den Eisencylinder, welcher technisch das „Compressionsreservoir“ genannt wird. Der andere Cylinder, aus welchem die zweite, die „Vacuumpumpe“, die Luft aufsaugt, ist das „Vacuumreservoir“.

Durch diesen Vorgang besitzt man zwei große Behälter, von welchen der eine verdichtete, der andere verdünnte Luft enthält. Die Rohrstränge münden in diese Reservoirs; durch Ventile werden der eine oder andere, je nachdem sie mit verdünnter oder verdichteter Luft gefüllt sein sollen, geöffnet. Wenn der Zug abgehen soll, wird das Rohr durch den Vacuumcylinder ausgepumpt; die Luft ist somit verdünnt. Man legt jetzt in dasselbe jene Kapseln, welche den Transportgegenstand enthalten, hinter diese den luftdicht schließenden Piston und öffnet das Compressionsventil. Die verdichtete Luft nun strömt ein und mit Sturmesschnelle jagt sie den widerstrebenden Zug vor sich her. Begreiflich, daß der Sturm nicht blos hin-, sondern auch herwehen kann, es müssen also auch am entgegengesetzten Ende des Stranges Motor und Luftreservoirs aufgestellt sein. Auf Zwischenstationen sind in der Regel nur zwei Luftreservoirs aufgestellt, welche durch besondere Röhren von den Endstationen aus gefüllt werden.

Die Mündungen der Röhren für Post- und Depeschendienst sehen wie bronzene Kanonenrohre aus. Sie ruhen auf eisernen Tischen und lassen sich durch Riegelverschluß luftdicht öffnen und schließen. Die obere Hälfte des Rohres wird als Deckel zurückgeklappt, der Train sammt Piston eingeschoben, der Deckel geschlossen, das Ventil gerichtet, die entsprechende Reservoir- und die Empfangsstation telegraphisch avisirt; der Luftstrom langt an – und blitzschnell brausend fährt der Zug ab. Wie wir bereits erwähnten, ist der Sturm sehr schnell, so daß bei Leichentransporten das Sprüchwort „Die Todten reiten schnell“ buchstäbliche Erfüllung findet.

Gleich dem nie rastenden Menschengeiste treibt allein der Sturm, der künstliche, die Posten, mit Lebenden, Todten oder Nachrichten gefüllt. Es ist nichts weiter als die rasende Bewegung der Luft, entstehend dadurch, daß ihre kälteren, also dichteren Massen in jene Regionen stürzen, in welchen durch momentane Erwärmung sie verdünnt und gelockert wurden. Wir erzeugen mechanisch diesen Sturm, indem wir beliebig die Luft verdünnen oder verdichten, und zwingen sie damit zu jener in diesem Falle gezügelten Raserei, die wir Orkan nennen. Diesem Orkane übergiebt die Broadway ihre Lebenden; die Wiener werden ihm ihre Todten anvertrauen. Ohne Zweifel steht dem pneumatischen Dienste eine eine sehr große Zukunft bevor!




Schiller’s Begräbniß. In Veranlassung meines Aufsatzes „Der katholische Schiller“ in Nr. 8 der „Gartenlaube“ geht mir von mehreren Seiten der Wunsch zu, daß das Weimarische Oberpfarramts-Zeugniß, auf welches jener Artikel Bezug nimmt, wörtlich und vollständig abgedruckt werden möge. Gern entspreche ich diesen Wünschen, indem ich das Zeugniß hier wörtlich genau folgen lasse. Das Original desselben liegt bei der Redaction zu Jedermanns Ansicht bereit.

Weimar, im März 1875. Dr. Robert Keil.

„Donnerstag am neunten Mai des Jahres Ein Tausend acht Hundert und fünf (9. Mai, 1805) Abends halb 6 Uhr starb allhier in der Großherzogl. Sächsischen Residenzstadt Weimar in einem Alter von 45 Jahren, 6 Monaten nach kurzem Krankenlager an einem Nervenschlage der Hochwohlgeborene Herr, Herr

 Dr. Carl Friedrich von Schiller,

Fürstlich Sachsen-Meiningischer Hofrath, hier. Derselbe wurde am 12. Mai, 1805, Nachts 1 Uhr mit der ganzen Schule in das Landschafts-Kasse-Leichengewölbe hier beigesetzt. Die Leichenrede wurde von Sr. Magnificenz, dem Herrn General-Superintendenten Vogt, in hiesiger St. Jacobskirche am 12. Mai, Nachmittags 3 Uhr gehalten.

Der Verstorbene hinterließ die Ehefrau und 4 Kinder.“

Vorstehendes wird auf Grund des Todten-Protokolls der evangelischen Gemeinde allhier in Weimar bezeugt und durch Unterschrift und Kirchensiegel beglaubigt.

Weimar, am 12. December 1874.

Das Großherzoglich Sächsische evangelische Oberpfarramt daselbst.

(L. S.) Dr. Hesse.

 Venus, Stadtkirchner.




[207] „Ist kein Dr. Bock da?“ So darf man jetzt täglich fragen, wo der Schwindel der Heilmittel und Curpfuschereien wieder so üppig in’s Kraut schießt.

In Guben hat die Post täglich achtzig bis hundert Thaler Nachnahme für Pillen zu besorgen, welche von dort aus als Mittel gegen Trunksucht angepriesen werden. Ein dortiger Droguenhändler, ehemals Apotheker, fabricirt sie centnerweise und läßt sie – der Fabrikationspreis beträgt etwa einen Silbergroschen für die Dosis – an die Pillenverkäufer ab, denen der Volkswitz den Titel „Saufdoctoren“ beigelegt hat und die zwar „unentgeltliche Cur“ versprechen, sich von den Verwandten der zu curirenden Trunkenbolde aber für die Dosis einen bis zwei Thaler bezahlen lassen. Die Pillen enthalten Brechweinstein und bewirken eben weiter nichts, als Uebelkeit; so lange der Säufer sie nimmt, läßt der Durst wohl nach, kommt aber bald wieder und veranlaßt neue Gelegenheit zu neuen Bestellungen. Aber was hilft das Alles? Die Dummen werden doch nicht alle! --

Einen recht überraschenden Fingerzeig giebt eine Hamburger Zeitung in einem kleinen Artikel mit der Ueberschrift „Apotheker-Privilegium und Staatsanwaltschaft“, eine Angelegenheit, die wir für so wichtig halten, daß wir zu ihrer Weiterverbreitung nach Möglichkeit helfen wollen. Es heißt dort:

„Unsere Leser werden sich der Verhandlungen erinnern, welche jüngst vor dem Strafgerichte gegen H. P. Lorenz wegen ,Medicinalpfuscherei’ stattfanden. Das den Angeklagten verurtheilende Erkenntniß des Polizeigerichts ward vom Strafgerichte bestätigt und derselbe wegen Verkaufs eines äußeren Heilmittels, ,Ginsa’, in zwanzig Thaler Strafe genommen. Bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, daß Lorenz die Flasche Ginsa, im Werthe von acht Groschen, für zehn Mark verkauft hatte. Der Staatsanwalt äußerte sich sehr entrüstet, daß, wenn Lorenz noch ferner das Ginsa mit demselben hohen Nutzen verkaufen sollte, er des Betrugs angeklagt werden würde. Jetzt hat, wie wir aus einem Zeitungsinserate ersehen, der Fabrikant dieses Wundermittels sich auf eine Weise zu helfen gewußt, welche möglichen Falls die Staatsanwaltschaft in Verlegenheit bringen dürfte. Der Verkauf des Ginsa ist nämlich einer hiesigen Apotheke übergeben worden, und diese annoncirt sehr gemüthlich die Flasche der ,enorm heilbringenden’ Ginsa zu dem alten Preise von zehn Mark. Jetzt ließe sich doch wohl die Frage auswerfen, ob das Apotheker-Privilegium nicht eine Ungleichheit vor dem Gesetze herbeiführt, wie sie kaum auffallender gedacht werden kann. Oder gedenkt die Staatsanwaltschaft etwa mit einer Anklage gegen die das Ginsa feilbietende Apotheke einzuschreiten? Hiermit dürfte sie schwerlich einen Erfolg erzielen, denn die Apotheken sind zum Verkaufe von medicinischen Mitteln berechtigt, und hier handelt es sich wahrscheinlich doch nur um ein Commissionslager. – So stehen wir denn vor einem eigenthümlichen Räthsel: wird ein Geheimmittel, welches medicinische Substanzen enthält, von Nicht-Apothekern verkauft, so kann es schädlich wirken und der Verkauf ist gesetzlich strafbar. Das Gegentheil findet bei einem Verkaufe aus der Apotheke statt. Außerdem kann der Nicht-Apotheker wegen zu hohen Nutzens des Betrugs angeklagt werden, nicht aber der Apotheker. Erkläret mir, Graf Oerindur!“






Eine letzte Bitte. Nachstehendes Gedicht ist ein Kind des Schmerzes. Es geht uns von einer jungen Dame zu, welche, von unwiderstehlichem Drange getrieben und im Widersprüche mit den Ihrigen, sich unlängst den weltbedeutenden Brettern zugewandt. Zur Stunde liegt eine schwere Schule der Enttäuschung und des Schmerzes hinter ihr. Es ist eine kurze Geschichte, diese Geschichte der armen Flora: Zuerst Ueberschätzung des eigenen Könnens und jugendliche Unkenntniß des Lebens, dann Ernüchterung und sinkende Hoffnung, zuletzt Reue und tiefste Zerknirschung. Heute nun, nachdem unsere junge Künstlerin bereits mehrmals vergebens an die Thür der erzürnten Eltern geklopft, sendet sie durch die Gartenlaube den Ihrigen – sie gehören zu den Abonnenten unseres Blattes – eine letzte Bitte um Wiederaufnahme in den Schooß ihrer Familie. Mögen die schlichten Verse, welche auf dichterischen Werth keinen Anspruch erheben können und nur ein psychologisches Interesse gewähren, ihre Adresse nicht verfehlen und ihren Zweck, ein Mutterherz zu erweichen, erfüllen!


„Erbarmen!

Ich hab’ gefehlt – mich traf der Fluch,
Für heiß’ Begehren schwer zu leiden.
Die mich so warm am Herzen trug.
Von Elternliebe konnt’ ich scheiden.

5
Es winkte mir, den Kranz in Händen,

Von fern ein Bild, so hehr, so licht.
Wer kann des Herzens Wünsche wenden?
Erbarmen! O, verdammt mich nicht!

Sie lockte mich sirenenhaft,

10
Daß ich mit Herz und Hand ihr diene,

Die Kunst der höchsten Leidenschaft,
Die zauberische Kunst der Bühne.
Versuchung hier – dort meine Lieben;
Ihr spracht: „Entsagung ist Dir Pflicht,“

15
Doch mächtig fühlt’ ich mich getrieben –

Erbarmen! O, verdammt mich nicht!

Ein schwerer Kampf – ich unterlag
Und stürzte mich in’s bunte Leben.
Ein kurzer Wahn, ein Sommertag,

20
Umblüht von Rosen und von Reben -

Dann kam die Nacht, die Nacht ohn’ Ende
Und der Enttäuschung Schreckgesicht.
Zu Euch empor heb’ ich die Hände:
Erbarmen! O, verdammt mich nicht!

25
Wie brennt so heiß der Reue Gluth!

Entschwund’nem Glück gilt all’ mein Sehnen.
Was ich verscherzt im Uebermuth,
Nicht kauft’s zurück ein Meer von Thränen,
Und kein Gebet macht wieder blühen

30
Die Blume, die der Lenz schon bricht.

O, laßt mich nicht verzweifelnd ziehen!
Erbarmen! O, verdammt mich nicht!

Flora.“






Aufruf zur Stiftung eines Ehrengeschenks für Arnold Ruge.

Das deutsche Volk, an dem langerstrebten Zielpunkte der Einigung und der nationalen Machtfülle angelangt, hat die Pflicht, für diejenigen seiner Söhne einzutreten, welche mit Einsetzung ihrer ganzen Existenz die Wege der Ehre und Gerechtigkeit gebahnt und geebnet haben. Den Helden des Schwertes schritten die Helden des Geistes voran.

Arnold Ruge steht seit mehr denn einem vollen Menschenalter oben an unter den Männern, welche den Kampf für die höchsten Güter der Nation auf philosophischem und politischem Gebiete tapfer und erfolgreich geführt und für ihre selbstlose Hingabe an die von ihnen erstrebten patriotischen Ziele Gefängniß und Entbehrung geerntet haben. Er war in einer politisch schlaffen und gedrückten Zeit einer der frischesten und unverdrossensten Mitbegründer jener aufrichtigen Denkfreiheit, welche das Fundament zur politischen Ermannung Deutschlands legte. Seine Hallischen und Deutschen Jahrbücher schossen die erste Bresche in das damalige gelehrte und politische Zwinguri; sie lehrten das jüngere Geschlecht, daß die bürgerliche Freiheit geschichtlich und dialektisch auf der Befreiung des Geistes und des Gewissens begründet ist. So hat Ruge seit vielen Jahren vorausgesehen und vorbereitet, was 1866 und 1870 glorreich vollbracht wurde.

Mögen auch, nachdem das Schwerste erreicht ist, für die große Mehrheit der schnell lebenden Zeitgenossen die Anfänge vergessen sein, aus denen der deutsche Staat langsam und mühevoll erwachsen ist, Ruge hat länger denn ein halbes Jahrhundert, von seinen Studentenjahren an als Agitator und Journalist, als Philosoph und Politiker wacker an diesem Bau mitgearbeitet und sich mit seinen tapferen Thaten einen unvergänglichen Ehrenplatz in der Geschichte unserer geistigen Entwickelung gesichert.

Und wie die jetzt zu Männern herangewachsene Jugend von ihm gewaltig angeregt wurde. so leuchtet er auch für die gegenwärtige und für die zukünftigen Generationen als Muster des überzeugungstreuen, uneigennützigen Mannes, der sich trotz persönlichen Mißgeschicks den Kopf frei und das Herz frisch erhalten hat, und der die neue Gestaltung der Dinge in unserem Vaterlande, trotzdem daß sie durch andere Mittel und aus anderen Wegen als den von ihm gewollten bewirkt wurde, mit jugendlicher Begeisterung rückhaltlos begrüßt hat und fördern hilft.

Wenn auch durch unerschrockene Arbeit vor augenblicklicher Sorge geschützt, so bedarf doch der jetzt in seinem dreiundsiebenzigsten Lebensjahre stehende Ruge der Ruhe und Erholung. Ihm diese zu verschaffen, ist der Zweck unseres Aufrufs, den wir der „Gartenlaube“ zur Veröffentlichung übergeben.

Berlin, im Februar 1875.

Ludwig Bamberger, Reichstags-Abgeordneter. Adalbert Delbrück, Banquier. Franz Duncker, Reichstags-Abgeordneter. Friedrich Kapp, Reichstags-Abgeordneter. Eduard Lasker, Reichstags-Abgeordneter. Wilhelm Löwe-Calbe, Reichstags-Abgeordneter. H. B. Oppenheim, Reichstags-Abgeordneter. Benoit Oppenheim. Banquier. Hermann Schulze-Delitzsch, Reichstags-Abgeordneter. Gustav Siegmund, prakt. Arzt. H. V. v. Unruh, Reichstags-Abgeordneter. Rudolph Virchow, Prof. u. Landtags-Abgeordneter.


Der Redaction der „Gartenlaube“ ist Seitens des Comite’s der ehrenvolle Auftrag geworden, für die Veröffentlichung und Verbreitung der obigen Ansprache Sorge zu tragen. Mit voller Ueberzeugung und aller Wärme des Herzens fügt sie den Namen

[208] der unterzeichneten Männer auch den ihrigen hinzu. Wie unsere Leser sehen, handelt es sich um eine Ehrengabe für einen unserer hervorragendsten Schriftsteller, für einen hochverdienten Veteranen im langwierigen und leidensschweren Kampfe um die Wiedergeburt und Erlösung des deutschen Volkes. Was er in den Tagen der frischaufstrebenden Jugend und der rüstigen Manneskraft als unermüdlicher Geistesstreiter für die Sache des Vaterlandes gewirkt und geschaffen, gelitten und geopfert hat, das soll ihm in den Tagen des Alters von der Dankbarkeit und liebevollen Fürsorge des Vaterlandes vergolten werden.

Wer noch an sich selber das aufrüttelnde Wehen des neuen Geistes erfahren, der einst in trüber vormärzlicher Dämmerzeit aus Ruge’s Hallischen und Deutschen Jahrbüchern zu den Denkenden der Nation und namentlich zu der wissenschaftlichen Jugend gesprochen, wer sodann später mit Verständniß für das Werden der Dinge die Früchte jener ausgestreuten Geistessaat emporblühen sah in großen und segensreichen Bewegungen, einem gewaltigen Um- und Aufschwünge des ganzen Volks- und Staatslebens, der kann nur mit herzlicher Theilnahme auf die persönlichen Geschicke des Mannes zurückblicken, der sich um diese wunderbare Entwickelung unbestreitbar hohe Verdienste erworben hat. Immer nur seinem Ideale, einer besseren Zukunft Deutschlands, nachstrebend, hat Arnold Ruge an seine Aufgabe die beste Kraft seines Lebens gesetzt, das ein Leben unausgesetzten Leistens, freudiger und hingebungsvollster Arbeit gewesen ist. Die Herabdrücker des Volksgeistes aber, wider die er mit seinen Genossen das Feuer einer vernichtenden Kritik richtete, waren nicht gewillt, ihre auf der Umnebelung und Fügsamkeit der Geister beruhende Gewalt durch eine so flammend aufleuchtende Gedankenmacht erschüttern zu lassen; es war natürlich, daß sie den ihnen erstandenen Widersacher haßten und den gefürchteten Gegner zu vernichten suchten.

Dadurch ist sein Dasein, welchem reichlich die äußeren Mittel zu vollem Behagen gegeben waren, ein meistens unstätes und ruheloses geworden, das Dasein eines Verfolgten, ein Leben im Kerker, auf der Flucht, in der Verbannung. Die Revolution von 1848 hatte ihn eine Zeitlang in der geliebten Heimath und im Vordergründe ihrer Bewegungen gesehen, aber von Neuem mußte er vor der wiedererstarkten Reaction den Wanderstab ergreifen, nachdem ihm die Hoffnungsstürme jenes großen Frühlings die letzten Reste eines beträchtlich gewesenen Vermögens unwiederbringlich verweht hatten. Aus eigenem, ziemlich genauem Wissen können wir bezeugen, daß unserm Ruge bei vier polizeilichen Unterdrückungen schön aufblühender Journalunternehmungen nicht weniger als siebenzigtausend aus seiner Tasche geflossene Thaler verloren gegangen sind.

Als ein mittelloser und längst nicht mehr jugendlicher Flüchtling landete er 1849 an der Küste Englands. Dort hat er sich und den Seinen ein neues Heim gegründet und mit seinen reichen Kenntnissen eine hochangesehene Stellung als Lehrer erlangt. Von dort hat er uns oft genug mit schriftstellerischen Producten erfreut, die Zeugniß gaben von der Ungebrochenheit seiner Geistesfrische und von seiner unverstimmten Theilnahme für alle vaterländischen Fragen auf dem Gebiete der Politik, der Wissenschaft und Literatur. Unvergessen wird es bleiben, wie der Verbannte deutsche Mann in den Jahren 1866 und 1870 jubelnd seine Stimme gemischt hat in den brausenden Erhebungsjubel seines Volkes.

Inzwischen aber sind wiederum mehrere Jahre verflossen, und Freunde, die den ausgezeichneten Landsmann in Brighton besucht, bringen die Meldung zurück, daß für ihn die Zeit gekommen, wo jedem Sterblichen ein Ausruhen von heißem Lebenswerke dringend zu wünschen ist. Jeder nächste Tag kann dem Hochbejahrten eine Mäßigung seines noch immer emsigen Fleißes gebieten, ohne daß er gegen die Folgen dieses naturgemäßen Verhängnisses eine Sicherung besitzt. Dürfen wir theilnahmlos warten, bis drüben auf fremdem Boden über den großen deutschen Schriftsteller und Denker, über den stolzen Patrioten und makellosen Charakter ein so widriges Geschick hereingebrochen ist und eine schwere Trübung den reichverdienten Frieden seines Lebensabends stört? Unbedingt nicht!

In Arnold Ruge lebt uns noch immer der muthigste Bahnbrecher, einer der wirksamsten Entzünder jener reformatorischen Verjüngungskraft, die endlich stark und unwiderstehlich geworden in dem Schwerte, das im Jahre 1870 unsere Geschicke entschieden hat. Zur Abtragung der Ehrenschuld an ihn eröffnen wir hiermit eine Sammlung und sprechen die Zuversicht aus, daß eine lebhafte Betheiligung in allen bewußten Classen des Volkes, denen die Jünger Ruge’s wie die nachgeborenen Erben seines Wirkens, deine zahlreichen Verehrer und Freunde diesseits und jenseits des Oceans mit gutem Beispiele vorangehen mögen, den Ertrag zu einem unseres Vaterlandes würdigen gestalten wird.

Leipzig, den 6. März 1875.

Die Redaction der Gartenlaube.
Ernst Keil.





An Gaben für das Ehrengeschenk gingen bereits in Markbeträgen ein: Königl. Musikdirector Dr. E. Franck in Berlin 20. –; Banquier Benoit Oppenheim in Berlin 300. –; Professor Pott in Berlin 30. –; Professor Stenzler in Breslau 15. –; Dr. Albert Franck in Dresden 30. –; Geh. Commerzienrath Franck in Breslau 45. –; R. Echtermeyer in Berlin 75. –; Rechtsanwalt Dr. Lasker in Berlin 75. –; Fabrikbesitzer Heyl in Worms 75. –; Banquier G. Siemens in Berlin 150. –; Dr. Wolffson in Hamburg 75. –; Appellationsgerichtsrath von Cuny in Berlin 75. –; Obergerichtsanwalt Laporte in Hannover 75. –; Bankdirector Dr. von Schauß in München 75. –; Hüttenbesitzer Koch in Karlshütte 60. –; Stadtrath Dr. Dohrn in Stettin 60. –; Banquier Hm. B. H. Goldschmidt in Berlin 300. –; Goldschmidt in Frankfurt a. M. 183. 26; aus Hamburg: Dr. Eduard Cohen 200. –, L. Lieben 150. –, Gustav Wolde 100. –, F. Lacis 50. –, M. Albrecht 50. –, C. E. Lang 6. –, G. Hertz 50. –, M. Bonne 150. –, Th. Rapp 50. –, M. Lessmann 50. –, H. Brehm 50. –, A. Schamanus 50. –, F. Schneider 30. –, G. Oetling 50. –, Präses Dr. Albrecht 50 –, Dr. Noack 50. –, Schulrath Harms 20. –, Carl Eggert 200. –, M. M. Warburg u. Co. 150. –, Julius Ris 100. –, Dr. Haase 50. –, J. Lipmann 75. –, Th. Wille 150. –, G. Hesse 100. –, B. Heylbut 50. –, G. Knauer 50. –, Dr. Köstlin 20. –, Senator Dr. Versmann 20. –, W. Lazarus 20. –, Dr. Gläser 20. –, Dr. Sonntag 10. –, Dr. Dansel 20. –, Ad. F. Cohen 100. –, Aug. Herz 40. –, Frau Marie Oppenheim 105. –, Dr. Helbert 50. –, L. Nordheim 30. –, N. N. 20. –, Gebr. Weinert 10. –, Jul. Richter 50. –, N. N. 20. –, B. S. Schönfeld, 50. –, H. Cremer 50. –, J. R. Schöning 30. –, Z. Brieger 100. –, Barth 10. –, F. Bade u. Ph. B. 9. –, Dr. Dehn 20. –, R… 20. –, A, May 45. –, Professor Wiebel 30. –, Dr. F. Wiebel 20. –, Dr. Mönckeberg 20. –, Ludw Lippert 100. –, Dr. Arming 30. –; Banquier A. Delbrück in Berlin 225. –; Banquier H. Leo in Berlin 225. –; Banquier Hm. Marcuse in Walluf 150. –; Familie Hohenemser in Frankfurt a. M. 90. –; aus Berlin: Justizrath Lesse 30. –, Rechtsanwalt H. M. 15. –, Rechtsanwalt J. S. 15. –, Justizrath J. M. 15. –, Rechtsanwalt O. 150. –, Geheime Rath Dr. Wegscheider 45. –, H. Hardt 150. –, C. Sander 150. –, W. Loewe 75. –, G. Kutter 75. –, v. d. Leeden 75. –, Dr. J. Rösing 150. –, Abgeordneter Lipke 75. –, Abgeordneter von Unruh 75. –, Abgeordneter Dr. Websky 60. –, Abgeordneter Dr. Kapp 75. –, N. N. 75. –, Abgeordneter Dr. Oppenheim 90. –, Wilh. Friedeberg 75. –, Frau B. Friedeberg 150. –, Heinrich Friedeberg 75. –, E. Kapp 150. –, Gebrüder Stommel 150. –, Abgeordneter Schulze-Delitzsch 30. –, Abgeordneter Sonnemann 75. –; v. Cramer Clett in Nürnberg 1500. –; Wm. Aufermann in Zur Straße 30. –; Professor O. Liebreich 45. –; Frau C. S. 45. –; Dr. G. Siegmund 75. –; N. N 75. –; Dr. Bamberger 300 Mark.

Weiter gingen uns zu: Dr. A. Fränkel 15. –; Al. Wiede 30. –; Redaction der Gartenlaube 300. –.





Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen aus das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Abonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich, pro Quartal um 10 Pfennige erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennige anstatt 1 Mark 60 Pfennige). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „In der Heimath der Lamas“