Die Gartenlaube (1876)/Heft 45

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Die Grenzförsterei lag, wie schon erwähnt, nur eine halbe Stunde von der Grenze entfernt, mitten in den dichtesten Waldungen Wiliczas. Das ziemlich große und stattliche Forsthaus war von dem verstorbenen Nordeck erbaut worden, der es mit nicht unbedeutenden Kosten hatte aufführen lassen; trotzdem sah es wüst und verfallen aus, denn seit zwanzig Jahren war nicht das Geringste zu seiner Erhaltung geschehen, weder von Seiten der Herrschaft, noch von Seiten der Bewohner. Der jetzige Förster verdankte seine Stellung ausschließlich dem Einflusse der Fürstin Baratowska, die den Tod seines Vorgängers benutzt hatte, um einen ihrer Günstlinge in den Posten einzuschieben. Osiecki hatte ihn schon seit drei Jahren inne, und seine nur allzu häufigen Uebergriffe, wie seine ziemlich nachlässige Verwaltung der ihm anvertrauten Stellung, wurden von der Gebieterin vollständig übersehen, weil diese wußte, daß der Förster ihr persönlich mit Leib und Seele ergeben war und daß sie unter alle Umständen auf ihn rechnen konnte. Im Anfange war Osiecki mit seinem Herrn wenig in Berührung gekommen und hatte sich im Ganzen dessen Anordnungen gefügt. Waldemar selbst kam nur äußerst selten nach der einsamen und abgelegenen Grenzförsterei; erst seit den letzten Wochen hatten die wiederholten Conflicte zwischen den Forstleuten und dem an der Grenze stationirten Militär sein Einschreiten veranlaßt.

Man befand sich noch immer wie mitten im Winter. Der Wald und das Forsthaus lagen tief verschneit im trüben Lichte eines grauen verschleierten Himmels. In dem großen Zimmer des Erdgeschosses befand sich der Förster mit all seinen Leuten, drei oder vier Forstgehülfen und einigen Knechten. Sie hatten sämmtlich die Flinte über die Schulter geworfen und warteten augenscheinlich auf das Erscheinen ihres Gutsherrn, aber nach Gehorsam und einem friedlichen Verlassen der Försterei, wie Waldemar es anbefohlen, sah die Sache nicht aus. Die finsteren trotzigen Gesichter der Leute verhießen nichts Gutes, und das Aussehen des Försters rechtfertigte vollends die Voraussetzung, daß er „zu Allem fähig sei“. Diese Menschen, die tagaus tagein in der Einsamkeit ihrer Wälder lebten, nahmen es schwerlich genau mit dem, was Gesetz und Ordnung von ihnen verlangten, und Osiecki zumal war dafür bekannt, daß er seiner Willkür einen nur allzuweiten Spielraum ließ.

Trotzdem war die Haltung Aller für den Augenblick eine ehrerbietige, denn vor ihnen stand die junge Gräfin Morynska. Sie hatte den Mantel zurückgeworfen, das schöne blasse Antlitz verrieth nichts mehr von den Kämpfen und Qualen, die es noch vor wenig Stunden durchwühlt hatten, nur ein strenger, kalter Ernst lag jetzt darauf.

„Ihr habt uns in eine schlimme Lage gebracht, Osiecki,“ sagte sie. „Ihr solltet dafür sorgen, daß die Försterei möglichst unverdächtig und unbeachtet bliebe. Statt dessen sucht Ihr Streit mit den Patrouillen und gefährdet uns Alle durch Eure Unbesonnenheit. Die Fürstin ist sehr unzufrieden mit Euch; ich komme in ihrem Namen, um Euch nochmals und mit vollstem Nachdruck jeden Gewaltschritt zu verbieten, sei es gegen wen es sei. Für den Augenblick habt Ihr Euch zu fügen. Euer eigenmächtiges Vorgehen hat schon Unheil genug angerichtet.“

Der Vorwurf machte offenbar Eindruck auf den Förster. Er sah zu Boden und in seiner Stimme klang etwas wie Entschuldigung, als er mit einem Gemisch von Trotz und Reue antwortete:

„Es ist nun einmal geschehen. Ich habe meine Leute diesmal nicht halten können und mich selber auch nicht. Die Frau Fürstin und die gnädige Gräfin sollten nur wissen, wie es thut, hier Tag für Tag an der Grenze still zu liegen, während drüben gekämpft wird, die Soldatenwirthschaft mit anzusehen und sich nicht rühren zu dürfen obgleich man die geladene Büchse in der Hand hat. Da reißt schließlich Jedem die Geduld, und uns ist sie vorgestern gerissen. Wüßte ich nicht, daß wir hier nothwendig sind, wir wären allesammt längst drüben bei den Unserigen. Fürst Baratowski steht nur zwei Stunden von der Grenze; der Weg zu ihm ist nicht schwer zu finden.“

„Ihr bleibt!“ entgegnete Wanda mit Entschiedenheit. „Ihr kennt den Befehl meines Vaters. Er will die Försterei unter allen Umständen behauptet wissen, und dazu seid Ihr uns nothwendiger hier, als drüben im Kampfe. Fürst Baratowski hat Leute genug zu seiner Verfügung. Aber jetzt zu der Hauptsache – Herr Nordeck kommt noch heute.“

„Jawohl!“ sagte der Förster höhnisch. „Er will sich selbst Gehorsam schaffen, hat er gesagt. Wir sollen ja nach Wilicza hinüber, wo er uns fortwährend unter Augen hat, wo wir uns nicht rühren können, ohne daß er hinter uns steht und uns auf die Finger sieht – ja, befehlen kann der Nordeck viel, es ist nur die Frage, ob sich in jetziger Zeit noch einer findet, der ihm gehorcht. Er soll nur gleich ein ganzes Regiment Soldaten mitbringen, wenn er uns aus der Försterei treiben will, sonst möchte die Sache schlimm genug ablaufen.“

„Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte die junge Gräfin langsam. „Vergeßt Ihr, daß Waldemar Nordeck der Sohn Eurer Herrin ist?“

[750] „Fürst Baratowski ist ihr Sohn und unser Herr,“ brach der Förster los. „Und eine Schande ist’s, daß sie und wir Alle diesem Deutschen gehorchen müssen, weil sein Vater sich vor zwanzig Jahren hier eingedrängt hat und mit den Morynskischen Gütern auch gleich eine Gräfin Morynska an sich riß. Es war schon Elend genug, daß sie jahrelang mit diesem Nordeck aushalten mußte, und der Sohn giebt ihr jetzt noch Schlimmeres zu kosten, wir wissen’s ja hinreichend, wie sie mit ihm steht. Wenn sie den auch noch verlöre, sie würde sich wahrhaftig nicht mehr um ihn grämen, als um seinen Vater, und das wäre überhaupt das Beste für die ganze Herrschaft. Dann brauchten die Befehle vom Schloß nicht mehr heimlich zu kommen, dann regierte die Fürstin und unser junger Fürst wäre der Erbe und Herr von Wilicza, wie es sich von Rechtswegen gehört.“

Wanda erbleichte; also so weit hatte es das unglückselige Verhältniß zwischen Mutter und Sohn schon gebracht, daß die Untergebenen kaltblütig erwogen, welche Vortheile der Tod Waldemar’s seinen nächsten Anverwandten bringen würde, daß sie für den äußersten Fall auf die Verzeihung der Fürstin rechneten. Hier galt es mehr zu verhindern, als nur einen Ausbruch augenblicklicher Wuth und Gereiztheit. Wanda sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, aber sie wußte, daß kein Wort, keine Mine ihre innere Angst verrathen durfte. Man respectirte sie hier nur als die Tochter des Grafen Morynski, als die Nichte der Fürstin und glaubte unbedingt, daß sie im Namen der letzteren spreche; errieth man, was sie hierher geführt, so war es zu Ende mit ihrer Autorität und der Möglichkeit, Waldemar zu schützen.

„Wagt es nicht, Euren Herrn anzugreifen!“ sagte sie gebietend, aber so ruhig, als vollziehe sie wirklich nur einen ihr gewordenen Auftrag. „Was auch geschehen mag, die Fürstin will ihren Sohn geschont und gesichert wissen um jeden Preis. Wehe Dem, der sich an ihm vergreift! Er hat das Schlimmste zu gewärtigen. Ihr werdet gehorchen, Osiecki, unbedingt gehorchen; die Herrin erwartet es von Euch. Ihr habt sie schon einmal erzürnt mit Eurem Ungehorsam – versucht es nicht zum zweiten Male!“

Der Förster stieß widerwillig sein Gewehr auf den Boden, und unter den Uebrigen, die bisher schweigend der Unterredung zugehört hatten, gab sich eine unruhige Bewegung kund. Dennoch wagte Keiner zu widersprechen oder auch nur zu murren, es galt ja dem Befehle der Fürstin, die man hier als alleinige Autorität anerkannte, und Wanda hätte jedenfalls ihren Zweck erreicht, wäre es ihr nur vergönnt gewesen, länger auf die Leute einzuwirken. Aber in welcher Eile sie auch gekommen war, sie hatte nur einen Vorsprung von Minuten vor Waldemar gehabt. Soeben fuhr sein Schlitten draußen vor. Aller Blicke richteten sich nach dem Fenster – die junge Gräfin schreckte auf:

„Schon jetzt? Oeffnet mir schnell die Seitenthür, Osiecki! Ihr verrathet mit keiner Silbe meine Anwesenheit! Ich gehe, sobald Herr Nordeck sich entfernt hat.“

Der Förster gehorchte in möglichster Eile. Er wußte, daß die Gräfin Morynska auf keinen Fall hier von dem Gutsherrn gesehen werden durfte, sollte nicht Alles verrathen werden. Wanda trat rasch in einen kleinen halbdunkeln Nebenraum, und unmittelbar hinter ihr schloß sich die Thür wieder.

Es war die höchste Zeit gewesen – zwei Minuten später erschien Waldemar im Zimmer. Er blieb auf der Schwelle stehen und überflog mit einem langen, festen Blicke den Kreis der Forstleute, die sich um ihren Förster geschaart und die Büchsen in die Hand genommen hatten. Der Anblick war nicht sehr ermuthigend für den jungen Gutsherrn, der allein kam, ohne jede Begleitung, um seine widerspenstigen Untergebenen zum Gehorsam zu bringen, aber seine Miene blieb völlig unbewegt, und genau ebenso klang seine Stimme, als er sich an den Förster wandte: „Ich habe Euch meine Ankunft nicht ansagen lassen, Osiecki. Ihr scheint trotzdem darauf vorbereitet zu sein.“

„Jawohl, Herr Nordeck,“ lautete die lakonische Antwort. „Wir warteten auf Sie.“

„Bewaffnet? Und in dieser Haltung? Was sollen die Büchsen in Euren Händen? Setzt sie nieder!“

Die Mahnung der Gräfin Morynska mußte doch wohl gefruchtet haben, denn man gehorchte. Der Förster war der Erste, der seine Büchse bei Seite stellte, allerdings nicht weiter, als daß er sie mit der Hand erreichen konnte, und die Uebrigen folgten seinem Beispiele. Waldemar trat jetzt in die Mitte des Zimmers.

„Ich komme, Osiecki, um von Euch Aufschluß über einen Irrthum zu verlangen, der gestern vorgefallen ist,“ begann er wieder. „Mein Befehl konnte nicht mißverstanden werden. Ich sandte ihn Euch schriftlich, der Bote dagegen muß Eure Antwort nicht verstanden haben. Was habt Ihr ihm eigentlich aufgetragen, mir zu melden?“

Das hieß nun freilich gerade auf das Ziel losgehen. Die kurze bestimmte Frage ließ kein Ausweichen zu; sie forderte eine ebenso bestimmte Antwort. Dennoch zögerte der Förster damit – er hatte doch wohl nicht den Muth, das, was er gestern dem Boten aufgetragen, seinem Herrn in’s Antlitz zu wiederholen.

„Ich bin der Grenzförster,“ sagte er endlich, „und meine, daß ich das bleiben werde, so lange ich überhaupt in Ihren Diensten bin, Herr Nordeck. Ich habe einzustehen für meine Försterei, und also muß ich auch allein das Regiment hier führen und kein Anderer.“

„Ihr habt aber gezeigt, daß Ihr nicht mehr fähig seid, das Regiment zu führen,“ entgegnete Waldemar ernst. „Entweder Ihr könnt oder Ihr wollt Eure Leute nicht im Zaume halten. Ich habe Euch wiederholt gewarnt, als die beiden ersten Excesse vorfielen; der vorgestrige war der dritte, und es wird auch der letzte sein.“

„Ich kann meine Leute nicht halten, wenn sie in einer Zeit wie die jetzige mit den Patrouillen zusammen gerathen,“ erklärte der Förster mit aufflammendem Trotze. „Ich habe da auch keine Autorität mehr.“

„Eben deshalb sollt Ihr nach Wilicza – da werde ich die nöthige Autorität herleihen, wenn sie etwa fehlen sollte.“

„Und meine Försterei?“

„Bleibt vorläufig unter der Aufsicht des Inspectors Fellner, bis der neue Förster eintrifft, der ursprünglich für Wilicza bestimmt war. Er wird es sich gefallen lassen müssen, für’s Erste Euern Posten hier einzunehmen. Ihr selbst bleibt in der Schloßförsterei, bis drüben im Lande wieder Ruhe ist.“

Osiecki lachte höhnisch auf. „Das kann lange dauern.“

„Vielleicht nicht so lange, wie Ihr glaubt. In jedem Falle habt Ihr die Försterei morgen zu räumen.“

Unter den Forstleuten zeigte sich eine einigermaßen bedenkliche Bewegung bei diesem mit voller Entschiedenheit wiederholten Befehle, und der Förster fuhr zornig auf: „Herr Nordeck!“

„Nun?“

„Ich habe schon gestern erklärt –“

„Ich hoffe, Ihr werdet Euch inzwischen besonnen haben,“ unterbrach ihn Waldemar, „und mir heute erklären, daß der Bote Euch nicht verstanden hat, als er mir eine ganz unmögliche Antwort zurückbrachte. Nehmt Euch in Acht, Osiecki! Ich dächte, Ihr kenntet mich doch jetzt hinreichend.“

„Ja wahrhaftig!“ stieß der Förster zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sie haben dafür gesorgt, daß man Sie kennt in ganz Wilicza.“

„Dann wißt Ihr also, daß ich mir den Gehorsam nicht verweigern lasse und daß ich einen einmal gegebenen Befehl nicht zurücknehme. Das Forsthaus von Wilicza ist augenblicklich leer – entweder Ihr seid morgen Mittag mit Eurem ganzen Personale dort, oder Ihr seid entlassen.“

Jetzt wurde ein drohendes Murren laut. Die Leute drängten sich dichter zusammen; ihre Mienen und ihre Haltung verriethen, daß sie nur noch mit Mühe an sich hielten. Osiecki trat dicht vor seinen Gutsherrn hin.

„Oho, das geht nicht so ohne Weiteres,“ rief er. „Ich bin kein Lohnarbeiter, den man heute annimmt und morgen entläßt. Sie können mir meine Stellung kündigen, wenn es Ihnen beliebt, bis zum Herbste aber habe ich das Recht, hier zu bleiben, und meine Leute, die ich in Dienst genommen habe, gleichfalls. Mein Revier ist die Grenzförsterei – ein anderes will ich nicht, und ein anderes nehme ich nicht, und wer mich daraus vertreiben will, dem wird es übel bekommen.“

„Ihr irrt,“ versetzte Waldemar. „Die Försterei ist mein Eigenthum, und der Förster hat sich meinen Anordnungen zu fügen. Pocht nicht auf ein Recht, dessen Ihr Euch selbst verlustig gemacht habt! Was Eure Leute da vorgestern unter Eurer Anführung anstifteten, verdient von Rechtswegen eine [751] strengere Ahndung, als die bloße Versetzung. Ihr habt die Patrouillen insultirt und zuletzt angegriffen – es ist sogar zu Schüssen gekommen. Wenn man Euch nicht sofort verhaftete, so dankt Ihr das nur meiner Geltung in L. Man weiß dort, daß ich den Willen und nöthigenfalls auch die Macht habe, nur hier auf meinen Gütern selbst Ruhe zu schaffen, daß ich nicht gern Fremde zwischen mich und meine Untergebenen treten lasse, man erwartet nun aber auch ein ernstliches Einschreiten von mir, und dieser Erwartung werde ich unverzüglich nachkommen. Ihr fügt Euch sofort dem, was ich beschlossen habe, oder ich biete noch heute dem Commandanten der Truppen die Försterei als Beobachtungsposten für die Grenze an, und morgen hat das Haus Besatzung.“

Osiecki machte eine heftige Bewegung nach seiner Büchse hin, besann sich aber.

„Das werden Sie nicht thun, Herr Nordeck,“ sagte er dumpf.

„Das werde ich thun, sobald noch einmal von Ungehorsam oder Widerstand die Rede ist. Entscheidet Euch, Ihr habt die Wahl! Werdet Ihr morgen in Wilicza sein oder nicht?“

„Nein und zehnmal Nein!“ schrie Osiecki in furchtbarster Gereiztheit. „Ich habe Befehl, nicht von der Försterei zu weichen, – also weiche ich nur der Gewalt.“

Waldemar stutzte. „Befehl? Von wem?“

Der Förster biß sich auf die Lippen, aber das unbedachte Wort war einmal heraus; er konnte es nicht zurücknehmen.

„Von wem erhieltet Ihr den Befehl, der dem meinigen so direct entgegensteht?“ wiederholte der junge Gutsherr. „Von der Fürstin Baratowska vielleicht?“

„Nun, und wenn das wäre?“ fragte Osiecki trotzig. „Die Frau Fürstin hat Jahre lang uns Allen befohlen, warum soll sie es denn jetzt auf einmal nicht thun?“

„Weil der Herr jetzt selbst zur Stelle ist, und es nicht taugt, wenn Zwei zugleich das Regiment führen,“ sagte Waldemar kalt. „Meine Mutter lebt als Gast in meinem Schlosse, über die Angelegenheiten von Wilicza aber entscheide ich allein. – Also Ihr habt Befehl, die Försterei um jeden Preis zu behaupten und nur der Gewalt zu weichen? Dann scheint es sich doch nun mehr zu handeln, als nur um einen Exceß Eurer Leute.“

Der Förster verharrte in finsterm Schweigen. Seine eigene Unbesonnenheit hatte jetzt verschuldet, was die Fürstin ihrer Nichte gegenüber so drohend „Verrath“ genannt, was Wanda verhindern wollte, als sie selbst hierher eilte. Das eine übereilte Wort verrieth dem Gutsherrn, daß der Widerstand, dem er bisher gar keine besondere Wichtigkeit beigemessen, ein planmäßiger und befohlener war, und er kannte seine Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß, wenn sie Befehl gegeben hatte, die Försterei auf alle Gefahr hin zu halten und es sogar auf die Gewalt ankommen zu lassen, dort all’ die Fäden zusammenliefen, die sie nach wie vor in der Hand hielt.

„Gleichviel!“ nahm er wieder das Wort. „Ueber das Vergangene wollen wir nicht rechten, und von morgen an steht die Grenzförsterei unter anderer Aufsicht. Was wir sonst noch miteinander abzumachen haben, kann in Wilicza geschehen. Auf morgen also!“

Er machte eine Bewegung, als wollte er gehen, aber Osiecki vertrat ihm den Weg. Er hatte sich mit einen raschen Griffe wieder seiner Büchse bemächtigt, die er jetzt anscheinend nachlässig, und doch bedeutungsvoll genug, in der Hand hielt.

„Ich denke, wir machen das lieber sogleich ab, Herr Nordeck! Ein- für allemal: ich gehe nicht von meiner Försterei, weder nach Wilicza noch sonst wohin, aber Sie gehen auch nicht von hier, bis Sie die Versetzung widerrufen haben, nicht einen Schritt.“

Er wollte seinen Leuten einen Wink geben, aber es bedurfte dessen nicht mehr. Wie auf Commando hatte ein jeder seine Büchse wieder ergriffen, und in einer Minute war der Gutsherr umringt. Es waren lauter finstere, drohende Gesichter, die ihn anstarrten, Gesichter, denen man es ansah, daß diese Menschen nicht vor dem Aeußersten zurückschreckten, und das ganze Manöver wurde so rasch, so planmäßig ausgeführt, daß es nothgedrungen vorbereitet sein mußte. Vielleicht bereute es Waldemar in diesem Augenblicke doch, allein gekommen zu sein, aber er bewahrte seine volle Kaltblütigkeit.

„Was soll das heißen?“ fragte er. „Soll ich das etwa für eine Drohung nehmen?“

„Nehmen Sie es, wofür Sie wollen!“ rief der Förster wild, „aber Sie kommen nicht von der Stelle ohne den Widerruf. Jetzt sagen wir ‚Entweder – oder‘. Hüten Sie sich! Sie sind auch nicht kugelfest.“

„Habt Ihr das vielleicht schon zu erproben versucht?“ der Blick des jungen Gutsherrn richtete sich durchbohrend auf den Sprechenden. „Aus wessen Büchse kam die Kugel, die mir nachgesandt wurde, als ich das letzte Mal von hier nach Hause ritt?“

Ein Blitz tödtlichen Hasses, der aus dem Auge Osiecki’s sprühte, war die ganze Antwort.

„Ich habe noch eine Kugel hier im Laufe und jeder meiner Leute hat eine –“ er faßte die Waffe fester. „Wenn Sie es probiren wollen – uns ist’s recht. Also kurz und gut. Sie geben uns Ihr Wort darauf, daß wir allesammt unbehelligt auf der Försterei bleiben und kein Soldat den Fuß hierher setzt – Ihr Ehrenwort, das pflegt bei Ihresgleichen besser zu halten als alles Schriftliche, oder –“

„Oder?“

„Sie kommen nicht lebendig vom Platze,“ schloß der Förster, bebend vor Wuth und Aufregung.

Die Drohung fand laute, fast tumultuarische Zustimmung bei den Uebrigen. Sie drängten näher heran; sechs Flintenläufe, die sich bedeutungsvoll emporhoben, unterstützten die Worte Osiecki’s, aber umsonst. In dem Gesichte Waldemar’s zuckte keine Muskel, während er sich langsam im Kreise umsah. Er stand so gelassen in der Mitte seiner rebellischen Untergebenen, als führe er die friedfertigste Unterhaltung mit ihnen, nur seine Stirn zog sich finster zusammen, während er doch in unerschütterlicher und überlegener Ruhe die Arme kreuzte.

„Ihr seid Thoren,“ entgegnete er in halb verächtlichen Tone, „und vergeßt vollständig, welche Folgen das auf Euch selbst herabziehen würde. Ihr seid verloren, wenn Ihr mich anrührt. Die Entdeckung kann nicht ausbleiben.“

„Wenn wir’s abwarten,“ höhnte der Förster. „Wofür ist die Grenze denn so nahe? In einer halben Stunde sind wir drüben – da ist jetzt Krieg, und da fragt Niemand danach, was unsere Kugeln hier angerichtet haben. Wir haben es ohnedies satt, hier ewig still zu liegen und niemals dreinschlagen zu dürfen. Also zum letzten Male – wollen Sie uns Ihr Ehrenwort geben?“

„Nein!“ sagte der junge Gutsherr, ohne sich zu rühren oder das Auge von dem Sprechenden abzuwenden.

„Besinnen Sie sich, Herr Nordeck!“ – der Grimm erstickte fast die Stimme Osiecki’s – „besinnen Sie sich schnell, ehe es zu spät ist!“

Mit einigen raschen Schritten trat Waldemar zurück an die Wand, „wo er wenigstens im Rücken gedeckt war.

„Nein, sage ich. Und da wir denn doch einmal so weit sind“ – er riß einen Revolver aus der Brusttasche und hielt ihn seinen Angreifern entgegen – „besinnt Ihr Euch, ehe Ihr mir den Kampf bietet! Ein paar von Euch mindestens bezahlen den Mordanfall mit dem Leben. Ich treffe so gut wie Ihr.“

Das entfesselte nun freilich den so lang zurückgehaltenen Sturm. Es erhob sich ein wilder Tumult – zornige Ausrufe, Flüche und Drohungen wurden laut; mehr als Einer legte die Hand an den Drücker, und Osiecki wollte soeben das Signal zum allgemeinen Angriff geben, als die Seitenthür hastig aufgestoßen wurde – in der nächsten Secunde stand Wanda neben dem Bedrohten.

Ihr Erscheinen verhütete nun freilich das Schlimmste, wenigstens für den Augenblick. Die Leute hielten doch inne, als sie die Gräfin Morynska an der Seite ihres Gutsherrn sahen, so nahe, daß ein Angriff, der ihm galt, sie mittreffen mußte. Waldemar dagegen stand einen Moment lang völlig verständnißlos da; er vermochte sich dieses plötzliche Erscheinen nicht zu erklären, auf einmal aber blitzte die Wahrheit in ihm auf. Wanda’s Todtenblässe, der Ausdruck verzweiflungsvoller Energie, mit dem sie sich an seine Seite stellte, sagten ihm, daß sie um seine Gefahr gewußt hatte, daß sie um seinetwillen hier war.

Die Lage war zu bedrohlich, als daß sie den Beiden Zeit gelassen hätte, eine Erklärung oder auch nur ein Wort miteinander auszutauschen. Wanda hatte sich sofort zu den Angreifern gewandt und sprach zu ihnen, leidenschaftlich und gebieterisch. Waldemar, der des Polnischen nicht mächtig war und erst in der letzten Zeit angefangen hatte, sich einigermaßen damit vertraut zu machen, verstand nur so viel, daß es Befehle und Drohungen waren, die [752] sie seinen Gegnern zuschleuderte, aber ohne Erfolg – sie stand hier an der Grenze ihrer Macht. Die Antworten klangen wild und drohend zurück, und der Förster stampfte mit dem Fuße auf den Boden; er verweigerte augenscheinlich den Gehorsam. Die kurze und hastig geführte Unterredung dauerte kaum einige Minuten, aber Niemand wich einen Schritt zurück, Niemand senkte die Waffe. Die auf’s Aeußerste gereizte Wuth der Leute erkannte keine Autorität und keine Rücksicht mehr an.

„Zurück, Wanda!“ sagte Waldemar leise, indem er sie seitwärts zu drängen versuchte. „Es kommt zum Kampfe. Sie können ihn nicht mehr verhindern. Geben Sie mir Raum zur Vertheidigung!“

Wanda gehorchte der Mahnung nicht, im Gegentheil, sie behauptete nur fester ihren Platz. Sie wußte, daß er der Uebermacht erliegen mußte, daß die einzige Rettung für ihn in ihrer unmittelbaren Nähe lag. Noch scheute man sich, sie zu berühren noch wagte es Keiner, sie von seiner Seite wegzureißen, aber der Moment nahte, wo auch diese letzte Schonung ein Ende nahm.

„Gehen Sie zur Seite, Gräfin Morynska!“ tönte die Stimme des Försters rauh und unheilverkündend mitten durch den Tumult. „Zur Seite – oder ich treffe Sie mit!“

Er hob die Büchse. Wanda sah, wie er den Finger an den Drücker legte; sie sah das von Wuth und Haß entstellte Antlitz des Mannes, und bei diesem Anblick schwanden ihr Besinnung und Ueberlegung. Vor ihrer Seele stand nur noch ein einziger klarer Gedanke, die Todesgefahr Waldemar’s, und zum letzten Mittel greifend warf sie sich an seine Brust und deckte ihn mit ihrem eigenen Körper.

Es war zu spät – der Schuß krachte, und schon in der nächsten Secunde antwortete die Waffe Nordeck’s. Mit einem dumpfen Schrei stürzte der Förster zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Die Kugel Waldemar’s hatte mit furchtbarer Sicherheit ihr Ziel getroffen, er selbst aber stand aufrecht und Wanda mit ihm. Die Bewegung, mit der sie ihn zu schützen versuchte, hatte ihn aus der Bahn des tödtlichen Geschosses gezogen, und ihn und sie gerettet.

Das alles geschah so blitzschnell, daß Keiner von den Uebrigen Zeit hatte, sich an dem Kampfe zu betheiligen. In ein und derselben Minute sahen sie die Gräfin Morynska sich dazwischen werfen, den Förster am Boden liegen und den Gutsherrn mit hochgehobener Waffe sich gegenüber stehen, zum zweiten Schusse bereit. Es folgte eine secundenlange todtenstille Pause – Niemand regte sich.

Waldemar hatte unmittelbar nach dem Schusse Wanda in seine eigene einigermaßen gedeckte Stellung gedrängt und sich vor sie gestellt. Mit einem einzigen Blicke überschaute er die ganze Situation. Er war umringt, der Ausgang ihm verwehrt; sechs geladene Büchsen standen gegen seine einzige Waffe. Wenn es überhaupt zum Kampfe kam, so war er auch verloren und Wanda mit ihm, sobald sie es versuchte, ihn noch einmal zu schützen. An eine wirksame Vertheidigung war nicht zu denken. Hier konnte nur die Kühnheit retten, die Tollkühnheit vielleicht, aber gleichviel, sie mußte versucht werden.

Er richtete sich zu seiner vollen Höhe empor, warf mit einer energischen Bewegung das Haar zurück, das ihm über die Stirn gefallen war, und die nächste beiden Flintenläufe mit der Hand zur Seite schlagend, trat er mitten unter die Angreifer. Seine riesige Gestalt überragte sie allesammt, und sein Blick flammte nieder auf die rebellischen Untergebenen, als könne er mit diesem Auge allein sie vernichten.

„Die Waffen nieder!“ donnerte er mit der ganzen Kraft seiner mächtigen Stimme. „Ich dulde keine Rebellion auf meinem Gebiete. Da liegt der Erste, der es versucht hat. Wer es ihm nachthut, theilt sein Schicksal. Nieder die Büchsen, sage ich.“

Die Leute standen wie gelähmt vor Ueberraschung und starrten sprachlos ihren Herrn an. Sie haßten ihn; sie waren im vollen Aufstande gegen ihn begriffen, und er hatte ihnen soeben den Führer erschossen; das Nächste und Natürlichste wäre nur gewesen, daß sie Rache dafür übten, hier, wo die Rache in ihre Hand gelegt war. Sie hatten auch zweifellos die Absicht, sich auf Waldemar zu stürzen, aber als er nun mitten unter sie trat und ihre Waffen mit der bloßen Hand zur Seite schlug, als sei er wirklich gefeit gegen die Kugeln, als er Unterwerfung forderte mit der Miene und dem Tone des unumschränkten Gebieters; da regte sich die alte Gewohnheit des blinden Gehorsams, der, ohne nach dem Warum zu fragen, sich dem beugt, der überhaupt befiehlt, da siegte die instinctmäßige Fügsamkeit untergeordneter Naturen gegen eine überlegene Kraft. Sie bebten scheu zurück vor diesen flammenden Augen, die sie längst fürchten gelernt hatten, vor dieser drohenden Stirn mit der hochaufgeschwollenen blauen Ader. Und Waldemar stand ihnen unversehrt gegenüber. Die nie fehlende Kugel Osiecki’s war machtlos an ihm abgeglitten, aber der Förster lag todt am Boden, mitten in’s Herz getroffen – es lag etwas von abergläubischem Grauen in der Bewegung, mit der die Nächststehenden zurückwichen. Langsam senkten sich die drohenden Läufe. Der Kreis um den Gutsherren wurde weiter und weiter; das Wagniß, mit dem er, der Einzelne, einer sechsfachen Uebermacht die Spitze bot, war geglückt.

Waldemar wandte sich um, und den Arm Wanda’s ergreifend, zog er sie an sich. „Und nun gebt den Weg frei!“ befahl er in dem gleichen gebieterischen Tone, „schafft Raum!“

Einige der Leute rührten sich nicht von der Stelle, die beiden Vordersten aber wichen zögernd zurück und gaben dadurch in der That die Thür frei. Keiner von den Uebrigen widersetzte sich. Kein Wort des Widerspruches wurde laut; schweigend ließen sie ihren Herrn und die Gräfin Morynska durch. Waldemar beschleunigte seinen Schritt nicht im Mindesten. Er wußte, daß er die Gefahr nur für den Augenblick bewältigt hatte, daß sie verdoppelt zurückkehrte, sobald die Leute zur Besinnung kamen und sich ihrer Ueberlegenheit bewußt wurden, aber er fühlte auch, daß das geringste Zeichen von Furcht verhängnißvoll werden mußte. Noch beherrschte die Macht seines Auges und seiner Stimme die ganze sonst so zügellose Bande – es galt, sie hinter sich zu lassen, noch ehe der Bann gebrochen war, und das konnte schon in der nächsten Minute geschehen.

Er trat mit Wanda in’s Freie. Draußen harrte der Schlitten, und der Kutscher mit schreckensbleichem Gesichte eilte ihnen entgegen. Die Schüsse hatten ihn an das Fenster gelockt; er mußte den Vorgang theilweise mit angesehen haben. Waldemar hob rasch seine Begleiterin in den Schlitten und stieg selbst nach.

„Fort!“ sagte er kurz und hastig. „Bis zu den Bäumen dort im Schritt, dann aber gieb den Pferden die Zügel, und so schnell als möglich in den Wald hinein!“

Der Kutscher gehorchte. Er mochte wohl um sein eigenes Leben besorgt sein. In wenigen Minuten hatten sie die schützenden Bäume erreicht, und nun ging es in rasender Eile vorwärts. Waldemar hielt noch immer die Waffe mit dem gespannten Hahn in der Rechten, seine Linke aber umschloß die Hand Wanda’s so fest, als wolle er sie nicht wieder loslassen. Erst als eine ganze Strecke zwischen ihnen und der Försterei lag und jede Furcht vor nachgesandten Kugeln beseitigt war, gab er seine Vertheidigungsstellung auf und wandte sich zu seiner Begleiterin. Er sah es erst jetzt, daß die Hand, welche er in der seinigen hielt, mit Blut bedeckt war – es rieselte noch in einzelnen schweren Tropfen unter dem Aermel des Kleides hervor, und der Mann, der eben noch mit so eiserner Ruhe der Gefahr die Stirn geboten hatte, wurde bleich bis an die Lippen.

„Es ist nichts,“ sagte Wanda, hastig seiner Frage zuvorkommend. „Die Kugel Osiecki’s muß mich gestreift haben. Ich fühle die Wunde erst in diesem Augenblick.“

Waldemar riß sein Taschentuch hervor und war ihr behülflich, es um den verwundeten Arm zu legen. Er wollte reden – da hob die junge Gräfin das todtenblasse Antlitz empor. Sie bat nicht, verbat nicht, aber es stand ein Ausdruck so angstvollen Flehens darin, daß Nordeck verstummte; er begriff, daß er sie für den Moment wenigstens schonen mußte. Nur ihren Namen sprach er aus, aber es lag mehr in dem einen Worte, als eine ganze stürmische Erklärung faßte: „Wanda!“

Sein Blick suchte den ihrigen, aber umsonst – sie hob das Auge nicht wieder empor, und ihre Hand lag schwer und kalt in der seinigen.

„Hoffen Sie Nichts!“ sagte sie tonlos und so leise, daß es nur wie ein ersterbender Hauch sein Ohr berührte. „Sie sind der Feind meines Volkes – und ich bin die Braut Leo Baratowski’s.“

(Fortsetzung folgt.)
[753]
Ein Charakterkopf.

Ferdinand Freiligrath.
Nach einer Photographie von Buchner auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Die Gesichtszüge bedeutender Persönlichkeiten erscheinen oft als wunderlich eigensinnige Räthsel, die dem Scharfsinne oder der Spitzfindigkeit des aus dem äußeren Menschen den inneren ergrübelnden Physiognomen zu rathen aufgeben. Selten jedenfalls ist der Ausdruck genialer Begabung am Menschenantlitze zugleich ein sympathischer, der die Herzen anmuthet und gewinnt.

Wie anders Ferdinand Freiligrath’s aus Bild und Leben volksthümlich bekannter Charakterkopf!

[754] Man brauchte nicht erst in der Schule der Physiognomen lesen gelernt zu haben, um aus dem Gesichte Freiligrath’s den Poeten und den Menschen heraus zu lesen und zwar – den Poeten und den Menschen. Nichts an diesem Kopfe erinnert an die Schablone, nach welcher die Natur Menschengesichter, so zu sagen, en gros zu formen pflegt, nur in kleinen Zügen und Nuancen das persönliche Einzelwesen, das Individuum andeutend oder markend.

Freiligrath hatte nicht blos im Sinne der sprüchwörtlichen Redensart „seinen eigenen Kopf“. Das Düsseldorfer Zuchtpolizeigericht, das im Jahre 1851 unseren Dichter „wegen Theilnahme an einem Complote zum Umsturze der Regierung“ steckbrieflich verfolgte, hätte sich das ganze übliche Signalement ersparen können. „Besondere Kennzeichen: Freiligrath Kopf“ und Punctum. Kein Gensd’arm, kein Polizist und wer und was sonst noch auf politische Verbrecher vigilirte und fahndete, „von Memel bis Saarlouis“, wie man damals statt des spätern „vom Fels zum Meere“ schrieb, hätte mehr zu wissen gebraucht, um den verfehmten Poeten, wo er nur immer auftauchte, sofort „dienstergebenst“ beim weltbekannten Kopfe zu nehmen. Schade nur, daß die weit reichenden Arme des vaterländischen Steckbriefes doch zu kurz waren, um den Dichter drüben im freien Albion, wo er für sich und Weib und Kind ein gastlich sicheres Asyl gefunden hatte, abzufassen.

Aber auch der mit dem Crayon bewaffnete Künstlerhumor hat auf den Poeten mit dem Freiligrath-Kopfe gefahndet, wie ja nur das eigenartig Charakteristische und Bedeutende die Parodie herausfordert. Der Künstler hatte mehr Glück als der Polizist. Er hat den Dichter richtig getroffen.

In dem Album der Gesellschaft „Bergwerk“ zu Stuttgart, die, nach dem Muster der ehemals viel genannten Wiener „Ludlamshöhle“, jetzt „die grüne Insel“, Dichter, Gelehrte, bildende Künstler, Schauspieler, Musiker und was sonst noch solcher Sphäre ausübend oder dilettirend angehört, an bestimmten Abenden zu heiterer Geselligkeit, dem horazischen „desipere in loco“, vereint, findet sich eine von dem verstorbenen Photographen Kaiser herrührende humoristische Illustration zu Freiligrath’s Gedichte „Der Löwenritt“. Der geniale, ebenfalls bereits und leider in der Maienblüthe seines künstlerischen Schaffens verstorbene Silhouettenzeichner Paul Konewka, der Shakespeare’s „Sommernachtstraum“ mit luftig durch die Dichtung huschenden Schattenbildern so anmuthig und übermüthig illustrirt hat, hat an der Ausführung sein Schelmenantheil gehabt. Das Blatt stellt den „Wüstenkönig“ in dem Momente dar, wie er eben aus seinem Verstecke im Schilfe der Lagune der nichts Böses ahnenden armen Giraffe auf den Nacken gesprungen ist:

„In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne;
Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne.“

Ein einziger flüchtiger Blick auf die Zeichnung läßt uns sofort in dem Kopfe des grimmen Giraffenreiters den portrait-ähnlichen, mähnenumwallten Kopf Ferdinand Freiligrath’s erkennen. Statt auf beflügeltem Hippogryphen, himmlisch verklärten Antlitzes, die goldbesaitete Lyra in den Armen, olympwärts sich aufschwingend, wie kunstbräuchlich der Poet dargestellt zu werden gewohnt ist, sehen wir hier den vor unseren leibhaftigen Augen in einen Löwen sich metamorphosirenden Dichter, fest eingekrallt in den Rücken einer Giraffe, durch den glühenden Wüstensand dahin galoppiren, im wilden Ritte sein Riesenpferd mit blutgierigem Behagen verspeisend.

Freiligrath hatte seine hell auflachende Freude an dem jovialen Blatte, das in photographischer Nachbildung seinem Photographiealbum einverleibt ist. Auch ich bin im Besitze einer solchen, die er mir für mein Album geschenkt hat. Der tolle Einfall paßte ihm zu der heiteren Selbstkritik, mit welcher er im Gespräche mit Freunden seinen „Löwenritt“ später in aller Unbefangenheit zu glossiren pflegte. – Bekannt sind die Verse, in denen er jene, seiner ersten jugendlichen Dichterperiode entstammten heißzonigen Phantasiemalereien für einen „überwundenen Standpunkt“ erklärt hat, um mich eines jener Zeit viel gebrauchten junghegelschen Ausdrucks zu bedienen:

„Zum Teufel die Kameele,
Zum Teufel auch die Leu’n!
Es rauscht durch meine Seele
Der alte deutsche Rhein!

Er rauscht mir um die Stirne
Mit Wein- und Eichenlaub;
Er wäscht mir aus dem Hirne
Verjährten Wüstenstaub –“

singt er in seinem Gedichte an Karl Simrock „Auch eine Rheinsage“. Es hat ihm aber nichts geholfen. „Trotz alledem und alledem“ werden jene originellen Dichtungen als hochgeachtete Cabinetsstücke dem Literaturschatze des deutschen Volkes verbleiben. Die deutsche Jugend vor Allen hat nicht aufgehört für sie zu schwärmen und gerade den „Löwenritt“ mit Vorliebe zu declamiren.

Mit Freiligrath’s Löwenkopf hatte es indessen seine volle Richtigkeit; der kecke Stift des Zeichners hat ihm denselben nicht anphantasirt. Auch wer unsern Dichter niemals im Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen, wird bei einem Blicke auf das hier von der „Gartenlaube“ im Holzschnitte gegebene Bildniß Freiligrath’s nach der von dem Phonographen Buchner in Stuttgart 1873 aufgenommenen Photographie – meines Bedünkens unter den unzähligen Bildnissen, die von Freiligrath existiren, das charakteristischste, lebenvollste, von wahrhaft künstlerischer Wirkung – unwillkürlich an ein Löwenhaupt denken. Diese mächtige, trutzigliche Stirn, welcher die majestätisch grollenden Flammendichtungen aus des deutschen Volkes politischer Sturm- und Drangperiode von 1848 entsprungen sind, die in wilder Ueppigkeit das Haupt mähnenartig umwallende Haarfülle, die zorndrohenden Brauen – das Alles machte in der That am Freiligrath-Kopfe den Eindruck des löwengewaltigen Ingrimmes, erinnerte an das „In tyrannos!“ unter dem springenden Löwen auf dem Titelblatte der ersten Ausgabe von Schiller’s „Räuber“.

Und doch wiederum, wie viel versöhnliche Milde lag auf diesem Antlitze! Wie wohlwollend leuchteten unter den buschig grimmen Brauen die hellen, treuen Augen! Wie warm und beredt sprach aus jedem Zuge dieses Gesichtes jene an die ganze Menschheit hingegebene Liebe, von der unserem Dichter Herz und Lied überquollen! Liebe durch die ganze Scala tiefmenschlichen Empfindens, jene, man könnte fast sagen „evangelische Liebe“, wie sie in den feierlichen Choralstrophen seines Liedes austönt: „O lieb’, so lang du lieben kannst etc.“ – in der That hat es Aufnahme in kirchliche Gesangbücher gefunden und oft den Text zu weihevollen pastoralen Trau- und Grabreden geliefert – Liebe in dem Weherufe der „Todten an die Lebenden“, den unser Dichter schmerzbewegt und zornflammend – an des „Sängers Fluch“ in Uhland’s bekannter Ballade gemahnend – gegen die „stolzen Hallen“ eines Königsschlosses geschleudert hat, über Leichen,

„Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten.“ –

Die Prädestination seines Dichtergenius war in bedeutenden „Motiven“, wie der Bildhauer sagt, dem originellen Charakterkopfe Ferdinand Freiligrath’s aufgeprägt; man konnte in dem offenen Gesichte des Dichters lesen, wie in dem aufgeschlagenen Buche seiner Dichtungen, den Poeten und den von diesem unzertrennlichen Menschen.

Auch die erregte Stimmung der flüchtigen, fröhlichen Stunde malte sich in ausdrucksvollen Reflexen auf diesem Löwenkopfe. Wie heiteres Wetterleuchten zuckte es von den Mundwinkeln über die gewaltige Stirne, blitzte die neckische Laune aus den sinnig tiefen Augen, wenn unser Dichter, der Arbeit los und ledig, der innern wie der äußern, geschäftlichen, in munterer Unterhaltung sich seines harmonisch gestalteten Familienlebens am häuslichen Herde erfreuen oder unter gemüthlich einverstandenen „trinkbaren Männern“ seinem Humor in freien Sprüngen die Zügel schießen lassen konnte. Er selbst allerdings war kein „trinkbarer Mann“ in der verwegenen Bedeutung des von Victor Scheffel in die Welt gesetzten Wortes. Aber er war nicht dazu angethan, sich durch „trübe Gedanken tief in die Melancholei“ scheuchen zu lassen, wie Klopstock in seiner Ode „An Ebert“ leichenbitterlich trübselig singt; davor behütete ihn sein fröhliches, dichterisches Verständniß für einen guten süffigen Tropfen. Der alte deutsche Rhein, wie er gesungen, rauschte „mit Wein- und Eichenlaub“ ihm um die Stirn und durch die Seele. Nicht zu vergessen des in grünen Römern blickenden Rheingoldes vom Johannisberge, von Rüdesheim, Geisenheim, Aßmannshausen, Marcobrunn und dem ganzen weiten „U. s. w.“, das die Weinkarte vom rebenglühenden Rheingau vor dem entzückten Blicke „froher, kluger [755] Zecher“ entfaltet. Doch auch die draußen im Reiche als particularistische Säuerlinge schnöde verschrieenen Weine von den Geländen des Neckars und der Tauber, an denen so viele schwäbische Heroen der deutschen Literaturgeschichte sich groß und unsterblich gesogen, hat er in sangesfröhlicher Dankbarkeit zu würdigen gewußt. Ganz besonders wohlig aber konnte sich Freiligrath angemuthet fühlen von der heimgebrauten („homebrewd“, wie die Engländer viel zu schön vom prosaisch dickblütigen Biere sagen), nach Frühling, Waldmeister und dem wunderholden Moselblümchen duftenden Maibowle, vorausgesetzt, daß er mittheilsam aus solcher mit seinem Herzen nahen Menschen „die Neige der köstlichen Zeit“ schlürfen konnte. Dieser seiner poetischen Vorliebe für den Maitrank, die sich von den seiner heimwehen Erinnerung unvergeßlichen, am Rhein gelebten Tagen datirte, hat ihn sein letzter ständiger Aufenthalt im Schwabenlande nicht zu entfremden vermocht. Die Schwaben „hassen dies Gebild aus Menschenhand“. Sie sind abgesagte Feinde aller Mischgetränke. Ich habe ihm noch während seiner Krankheit, im engsten Kreise seiner Angehörigen, manche Maibowle leeren helfen, die Frau Ida unter seiner sorgfältigen Anleitung gebraut hatte. Dieser flotte, fröhliche Zug seines Naturells ist nicht bedeutungslos für eine literaturgeschichtliche Charakteristik des Dichters.

Bei allem empfindungstiefen Ernste, in welchem der Grundton seines dichterischen Genies ausklingt, war Freiligrath reich mit jener „Frohnatur“ gesegnet, die Goethe vom „Mütterchen“ geerbt zu haben sich rühmt und die, wie mich dünkt, keinem Poeten von echtem Schrot und Korn fehlen soll. – Aus dem warm leuchtenden Goldgrunde einer dem fröhlichen, sonnigen Lichte offenen Poetenseele treten die ernsten Gebilde der schöpferischen Phantasie nur um so plastischer in greiflicher Wahrheit hervor. Mit dem Grubenlichte des Humors ausgerüstet, kann sich der Poet in dunkle Gedankentiefen wagen, in die ihm der Philosoph nicht zu folgen vermag. – Unsere Literaturgeschichte hat Goethe noch nicht als einen ihrer größten Humoristen gewürdigt. Ohne die ihm angeborene „Frohnatur“ würde Goethe nimmer seinen „Faust“, die gewaltigste seiner Schöpfungen, „fabulirt“ haben.

In den sechs Bänden von „Ferdinand Freiligrath’s gesammelten Dichtungen“ neuester Ausgabe findet sich nur eine einzige, die dem Humore unseres Dichters ein, nicht blos wie der Jurist das Wort versteht, „classisches Zeugniß“ ausstellt, sein im Exile, 1855, gedichtetes überaus ergötzliches Poem: „Auff Herrn Heinrich Köster’s und Jungfrau Käthen Bloem’s ihre Hochzeit. London. In Verlegung des Authoris.“ – Der zur Zeit unter den sorgsamen Händen der Gattin Freiligrath’s und seiner dichterisch hochbegabten Tochter Käthe Kroeker in London zu einem Supplementbande vorbereitete literarische Nachlaß unseres Dichters wird, unter vielem bisher Ungedrucktem oder als Manuscript Gedrucktem, eine Fülle von Humor sprudelnden, an seine Freunde, wie z. B. an denselben Herrn Heinrich Köster in Düsseldorf, Emil Rittershaus in Barmen, Richard Wehn in Melle und an viele Andere noch gerichteten poetischen Episteln enthalten, die den Namen Freiligrath’s auch unter den gefeierten Humoristen der Neuzeit zu verewigen genügen. – Was er in lachenden Wettgesängen mit Victor Scheffel gedichtet für die Festgelage bei ihrem gemeinsamen und überhaupt aller Poeten, Afrika- und Nordpolreisenden und sonstiger Unsterblichen Gastfreunde, dem originellen, um die Veredelung des schwäbischen Weinbaues hoch- und tiefverdienten Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm, wird dem kritischen Schiedsrichter die Entscheidung nicht leicht machen, welchem von beiden Poeten die Palme zuzuerkennen sei.

Selbst als seine fortschreitende Krankheit bereits die Schatten schauernder Todesahnungen in seine Stimmung geworfen hatte – ach, er lebte gern und hatte allen Grund dazu! – konnte er in freundlich geselliger Unterhaltung, angeregt und anregend, körperliches Leid und trübselige Anwandlungen sich von Leib und Seele wegplaudern und weglachen.

Die rührend humoristische Dichtung, mit welcher er Scheffel zu dessen fünfzigjährigem Geburtsfeste am 16. Februar 1876 beglückwünschte, hat Freiligrath, einen Monat vor seinem Tode, auf seinem Krankenbette geschrieben, wenn ich den Lehnsessel so nennen darf, den er während der ganzen Dauer seiner Krankheit nur für die Nacht mit dem Bette vertauschte und in welchem er auch gestorben ist, ein früher gegen seine Gattin ausgesprochenes prophetisches Wort erfüllend, er werde, wie Goethe, einmal im Sessel sterben.

„Gern wär’ ich heut’ selbst Deines Reigens
Ein Zeuge flott und frank.
Doch meine Reime zeigen’s:
Der sie schickt, ist leider krank.

Hab’ Nachsicht d’rum mit dem Zitt’rer!
Sein Glas tönt voll und rein,
Ist auch sein Wein ein bitt’rer,
Ist’s auch nur Chinawein!“

schließt das Poem, sein letztes!

Ich weise bei dieser Gelegenheit auf einen bisher unbeachtet gebliebenen merkwürdigen, fast wunderbaren Zufall hin. Mit „Moosthee“ hat Freiligrath seine Laufbahn als deutscher Dichter eröffnet, mit „Chinawein“, dem letzten Worte seiner Dichtung, hat er sie geschlossen. Es waren die Stichworte für sein Auftreten auf die literargeschichtliche Bühne, auf welcher er eine so glorreiche Rolle zu spielen berufen gewesen, und für sein Abtreten von derselben – „the entrance and the exit“, wie es im „Shakespeare heißt. –

Zwischen „Moosthee“ und „Chinawein“ liegt indeß, zum Glück für die vaterländische Literaturgeschichte, der Zeitraum eines vollen halben Jahrhunderts, von 1826 bis 1876. – „Der Trank vom Hekla und vom Geiser“ hat an dem sechszehnjährigen Jüngling die wunderbare Heilkraft bewährt, die der Chinawein dem an einem unheilbaren Herzleiden erkrankten greisen Dichter leider versagte. – Der sterbende Poet, der mit wehmüthig heiteren Verse den gefeierten Collegen vom deutschen Parnaß zum fünfzigsten Geburtsfeste glückwünschend grüßte, war selbst ein Jubilar in weit eminenterer Bedeutung. Sein Todesjahr war das Ehren-Jubeljahr des Dichters; das fünfzigste, seitdem er mit jenem „Moosthee“-Gedichte vor seine Nation getreten! –

„Sechszehn Jahr – und wie ein greiser
Alter sitz’ ich matt und krank;
Sieh’, da sandten mir der Geiser
Und der Hekla diesen Trank.“

Aber der Jubelgreis ist nicht „wie“ – oder jetzt richtiger – als ein „greiser Alter“ gestorben, „matt und krank“. Der hellenische Ausspruch, daß die Götter den Menschen, den sie lieben, zu sich rufen, bevor er seine goldene Jugend ausgelebt, hat sich an Freiligrath glücklich erfüllt. Sein Genius hat sich die goldene Jugendfrische gewahrt; sein Herz war nur pathologisch erkrankt. Es hat bis zum letzten Schlage voll und warm geschlagen für alles Schöne, Gute, Hohe, für seine Ideale und seine Menschen. Und wie alle seine menschlich guten Eigenschaften ist ihm sein liebenswürdiger Humor treu geblieben bis zum letzten Athemzuge. Sein letztes Wort war ein an die geliebte Gattin gerichtetes scherzendes Wortspiel, ein Genre, im welchem unser Dichter in geselliger Unterhaltung sich immer schlagfertig erwiesen hat. Er hätte es darin mit dem seiner Zeit viel citirten Meister des witzigen Wortspieles, mit M. G. Saphir, dreist aufnehmen können. Ich werde an anderer Stelle auf diese, nur seinen näheren Freunden bekannte Eigenschaft unseres verewigten Dichters zurückkommen.

Mit seinem guten, mächtigen Löwenkopfe haben sie ihn in dem Sarg gelegt und auf dem idyllischen Uff-Friedhofe zu Cannstatt in sein kühles Grab gebettet unter schwarz-roth-golden bebänderten Lorbeerkränzen und einem ganzen duftigen Blumenfrühling, von der trauernden Verehrung und Liebe aus Nähe und Ferne gespendet. – Der Tod hat dem Charakterkopfe Ferdinand Freiligrath’s den Stempel der Wahrheit aufgedrückt. Die Signatur, die sein Dichtergenius und sein innerer Mensch auf dieses Angesicht geschrieben, war unlöschlich. – In unvergeßlicher Erinnerung schwebt mir das Bild unseres Dichters vor, wie ich ihn kurz nach seinem Tode in dem Lehnsessel sitzend gefunden, in welchem er mit dem bedeutungsvollen ersten Frühroth des 18. März seine Augen für immer geschlossen hatte. Die Leser der „Gartenlaube“ kennen aus Nr. 16, Jahrg. 1876 das nach einer photographischen Aufnahme in Holz geschnittene Todtenbildniß des Dichters und den sinnigen, herzergreifenden Text dazu, aus der Feder Richard Wehn’s.

Nicht eine Spur in seinem Antlitze wies auf jenen schweren, [756] unheimlichen Kampf hin, in welchem die Gewohnheit des Daseins mit dem unerbittlichen Mahner Tod um die letzte ärmliche Minute ringt. Er war gestorben, wie Dichter sterben sollen. Der Todesgenius schien mit leisem Kusse ihm den letzten Hauch von den Lippen geküßt zu haben; das Leben ihm wie in einem schönen Dichtertraume verklungen zu sein. Das auf dem Pfühl wie schlummernd ruhende Haupt war noch der alte, mähnenumwogte Löwenkopf, mit der trutziglichen Stirn. Nur daß neben den gewaltigen plastischen Zügen – man könnte fast von granitnen Formationen dieses Kopfes sprechen – die langen Leiden seiner letzten Krankheit, vor Allem aber die, in einem ergreifend schönen Gedichte geklagte, Trauer um das junge Leben seines 1873 in hoffnungsvoll jugendlicher Lebensfrische durch ein tückisches Nervenfieber dahin gerafften Sohnes Otto, wie mit leisen Meißelschlägen ihre Spuren gekennzeichnet haben. Das treffliche Buchner’sche Photographie-Bildniß unseres Dichters, das diesen in seiner vollen dichterischen, wie eine Welt herausfordernden Energie darstellt, ist wenige Wochen vor dem Tode seines geliebten Otto aufgenommen. Der elegisch trauernde Zug auf dem Antlitze des verblichenen Dichters erinnerte mich unwillkürlich an Thorwaldsen’s sterbenden Löwen von Luzern!

Ich meine, daß selten wohl das Bildniß eines Dichters zugleich als Illustration zum Verständniß seiner Dichtungen und seines Lebens so habe gelten können, wie der Charakterkopf Ferdinand Freiligrath’s. –
Ludwig Walesrode.




Die deutsche Communisten-Colonie der „Wahren Inspirations-Gemeinde“ in Iowa.
Von Wilhelm Müller.


Mitten in den Prairien Iowas, etwa zweiundsiebenzig englische Meilen von Davenport, liegt eine blühende Niederlassung, welche den hochklingenden Namen Amana führt und aus mehreren Dörfern besteht. Wird ein deutscher Reisender zufällig in eines derselben verschlagen, betritt er dann des Abends die Schenke und sieht den sandbestreuten Fußboden, die langen gescheuerten Tische, die plumpen Bänke ohne Lehnen an den Wänden des niedrigen, durch eine Oellampe spärlich erhellten Raumes, so ist er geneigt, seinen Augen zu mißtrauen oder eine allzu lebhafte Thätigkeit seiner Phantasie anzunehmen. Tritt jedoch der wohlbeleibte Wirth im kurzen Wammse, die Zipfelmütze auf dem Kopfe und eine Pfeife im Munde, näher und erkundigt sich im oberländischen oder elsässischen Dialekte nach den Wünschen des Gastes, so wird diesem ganz auerbachisch zu Muthe, und er fragt sich: „Befinde ich mich denn in dem Westen der Vereinigten Staaten auf den Prairien Iowas, oder in einer Schwarzwälder Dorfkneipe?“ Bleibt der Reisende in dem Wirthshause über Nacht, so wird die Illusion durch die Einrichtung des Schlafzimmers, durch den kahlen Boden und das mächtige Federbett in der Ecke verstärkt und schwindet erst, wenn er am nächsten Morgen einen Spaziergang durch das Dorf macht. Die einfache Bauart der Häuser, die Anlage der Gärten und vor Allem die Tracht der Bewohner tragen zwar dazu bei, den gestern empfangenen Eindruck wieder aufzufrischen; allein die hölzernen Seitenwege der Straße, die flachen Schindeldächer der Gebäude und der regelmäßige Plan wie die Neuheit des Dorfes sind specifische Eigenschaften eines amerikanischen Landstädtchens und erinnern ihn daran, daß er sich nicht in der alten Heimath, sondern an den Ufern des Iowa-Flusses in einer von deutschen Pietisten gegründeten Colonie befindet.

Im Jahre 1816, so erzählen die Jahrbücher der „Wahren Inspirations-Gemeinde“, wurde Michael Krausert, ein Straßburger Schneider, durch die Gnade des Herrn zu einem „Werkzeuge“ erwählt und begann unter Mitwirkung eines Schweizers, Namens Christian Metz, in der Umgegend von Constanz und Schaffhausen durch kräftige Ermahnungen die Herzen frommer Landleute und Handwerker zu rühren und dieselben zu einem gottseligen Leben zu erwecken. Barbara Heynemann, „eine arme und ganz ungelehrte Dienstmagd aus dem Elsaß“, war auserlesen, die einfachen Lehren dieser Männer durch Offenbarungen, welche sie von dem heiligen Geiste empfing, zu bestätigen. Allein verblendet vom bösen Feinde, richtete sie ihr Auge mit Wohlgefallen auf einen jungen hübschen Bauernburschen, Georg Landmann, und heirathete selben trotz ernstlicher Ermahnung der Aeltesten. Da ging sie ihres heiligen Amtes auf längere Zeit verlustig, und Christian Metz wurde vom Geiste zum „Werkzeuge“ berufen. Unter seiner Leitung sammelte sich während der dreißiger Jahre eine größere Anzahl von Gläubigen in Armenburg, wo sie den Offenbarungen des Herrn aus dem Munde seiner Heiligen lauschten und zu einigem Wohlstande gelangten, aber von „Babylon“ verfolgt wurden, da sich die Mitglieder weigerten, den Unterthaneneid zu leisten und ihre Kinder in die Pfarrschulen zu schicken.

Im Jahre 1842 wurde dem Christian Metz durch eine besondere Eingebung vom Geiste befohlen, die verschiedenen Gemeinden zusammen zu berufen und mit ihnen nach Amerika auszuwandern, wo sie nach den Lehren des Herrn und den Forderungen ihres Gewissens ihr Leben einrichten könnten.

Im September desselben Jahres segelte Metz mit vier Begleitern nach den Vereinigten Staaten und kaufte in der Nähe von Buffalo von der Regierung fünftausend Acker Landes, die von den nachkommenden Brüdern besiedelt wurden. Bei dem Baue der Blockhütten und der Urbarmachung der Felder hatten die Ansiedler Vieles unter den Feindseligkeiten der Indianer zu leiden. Durch die Freundlichkeit ihres Benehmens und die Ehrlichkeit im Tauschhandel mit den Rothhäuten wußten sie den Haß derselben zu entwaffnen, während es ihnen durch ausdauernde Thätigkeit, kluge Sparsamkeit und geschickt geleitete Geschäftsunternehmungen gelang, ihre Schulden zu bezahlen, neue Ländereien zu erwerben und die Colonie in hohe Blüthe zu bringen.

Die Gründung der Gemeinde auf einer communistischen Grundlage war ursprünglich von den Auswanderern nicht geplant. Sie hatten sich im fernen Westen eine Freistätte erworben, auf der sie, unbehelligt durch Regierungserlasse und ungestört durch die Agitation orthodoxer Priester, ihr Leben gänzlich dem Herrn weihen und zur Vorbereitung auf die bessere Welt benutzen wollten. Sollten nun Alle der Segnungen dieses Asyls und der reinen Lehre aus dem Munde der Heiligen theilhaftig werden, so mußten sie nothwendiger Weise in Gemeinschaft mit einander leben. Leider waren jedoch die Aermeren gezwungen, hart zu arbeiten und konnten sich nicht, wie die Wohlhabenderen, während der Woche geistlichen Uebungen widmen; auch hatte man nicht Arbeit genug für die Handwerker, und diese mußten sich ihren Lebensunterhalt in den umliegenden Dörfern zu verdienen suchen. Unter diesen kritischen Verhältnissen hatte Metz, der die fünf Bücher Mosis genau studirt und die Taktik des alttestamentarischen Gesetzgebers vollkommen begriffen zu haben scheint, eine Offenbarung, in Folge deren er Gemeinschaft der Güter proclamirte, und „von dieser Stund’ an, erzählt die Chronik, „goß des Herrn Segen Fülle und Wohlstand über die Seinen“.

Um diese Zeit scheint Barbara Heynemann aus Deutschland angekommen und bald nach ihrer Niederlassung unter den Gläubigen ihren früheren Einfluß wieder erlangt zu haben. Sie wahrte von da an, in Gemeinschaft mit Metz, die geistlichen Interessen der Brüder und ist seit dem Tode des Propheten, im Jahre 1867, alleiniges Werkzeug und höchste geistliche Autorität der „Wahren Inspirations-Gemeinden“.

Einige Jahre früher hatte die Commune fünfundzwanzigtausend Acker Land in Iowa erworben, und sobald sich günstige Gelegenheit zum Verkaufe ihres Eigenthums bot, verließen die respectiven Familien die alte Colonie „Eben-Ezer“ und siedelten sich auf dem neuen Besitzthume „Amana“ an.

Die religiöse Anschauung der Amaniten gipfelt in dem Glauben an die Nothwendigkeit eines streng geistlichen Lebens auf dieser Erde zur Vorbereitung für das Jenseits und zeigt die entschiedenste Abneigung gegen die Anwendung von Ceremonien beim Gottesdienste, sowie alle Formen im gewöhnlichen Leben. Sie glauben an die Dreieinigkeit, an die Auferstehung der Todten, an ein letztes, allgemeines Gericht, jedoch nicht an die Ewigkeit [757] der Höllenstrafe. „Die Bibel ist das Wort Gottes und enthält die einzig wahre Lehre; sie ist ein in allen Theilen und Einzelnheiten von Gott inspirirtes Buch. Aber derselbe Geist, der über die Propheten und Apostel kam und ihre Herzen mit himmlischer Weisheit erfüllte, lebt noch und verkündet den Auserwählten den Willen des Herrn durch unmittelbare Offenbarungen. Im siebenzehnten Jahrhundert begann der Geist das Werk der Inspiration in England (bei den Quäkern), im achtzehnten in Frankreich und Deutschland, erweckte die Gemüther vieler Frommen und führte sie durch die vortrefflichen Ermahnungen der Heiligen wieder zur reinen Lehre zurück. Doch der Versuchungen sind viele, und deshalb ist es räthlich, in gänzlicher Absonderung von der Welt durch Werke der Liebe, durch unausgesetzte geistliche Uebungen der Gnade des Herrn würdig zu werden.“

Die Taufe wird nicht ertheilt, dagegen wird das Abendmahl in ähnlicher Weise wie bei den ersten Christen gefeiert. Es wird jedoch nicht an bestimmten Tagen, sondern nur dann gereicht, wenn der Geist einen speciellen Erlaß an ein „Werkzeug“ ergehen läßt, was manchmal während mehrerer Jahre nicht geschieht. Die Gemeinde bereitet sich durch lange und inbrünstige Gebete, durch Belehrungen der Aeltesten, in welchen sich diese nicht nur allgemein über die Bedeutung des Festes und über die Pflichten der Gläubigen verbreiten, sondern einzelne Mitglieder je nach den Eingebungen des Geistes ermuthigen und loben, oder ermahnen und tadeln, auf das gnadenreiche Ereigniß vor. An dem feierlichen Tage versammeln sich die Frommen „zerknirschten Herzens“ im Bethause und bringen mehrere Stunden mit Singen und Beten und dem Anhören erbaulicher Reden zu. Dann waschen die Aeltesten die Füße gewisser durch Frömmigkeit ausgezeichneter Männer und Frauen. Nach diesem Acte findet die Segnung der Brode und des Weines durch das Werkzeug und die Austheilung derselben durch die Aeltesten statt. Darauf lassen sich die Gemeindemitglieder zu einem Liebesmahle, bestehend aus Kuchen, Chocolade und Kaffee, an den langen Tafeln nieder, stärken sich nach Beendigung desselben durch einen geistlichen Gesang und bringen den Rest des Tages in erbaulichem Nachdenken und stillem Gebete in ihren Häusern zu.

Die Amaniten haben dreimal die Woche, des Mittwochs, Samstags und Sonntags, Morgengottesdienst und täglich um sieben Uhr Abendandachten. Die Gemeinde ist, je nach der Heiligkeit der Mitglieder, in drei Grade oder Classen eingetheilt, welche sich gewöhnlich in besonderen Localen, am Samstag jedoch gemeinsam in der thurmlosen Kirche zusammenfinden. Am oberen Ende des geräumigen, niedrigen Betsaales befinden sich ein Tisch und mehrere Stühle, zu beiden Seiten des mittleren Ganges lange Bänke ohne Lehnen, auf denen die Gläubigen, rechts die Männer, links die Frauen, Platz nehmen. Die plumpen Möbel, die ungetünchten Wände und die Abwesenheit allen Schmuckes in dem Raume machen auf den Beschauer einen ungemein traurigen Eindruck, überhaupt sind die Amaniten fanatische Anhänger der Utilitätstheorie und haben der Schönheit und der Kunst in jeder Form den Krieg erklärt. Die Andachten werden gewöhnlich durch Absingen eines geistlichen Liedes eröffnet und beschlossen. Diese Gesänge – geschmacklose und holperige Versificationen der Psalmen mit hinzugefügten Nutzanwendungen und Lebensregeln – haben gewöhnlich zwölf bis vierundzwanzig Strophen, die wohl ein vom Geiste erfüllter Heiliger im Vorgeschmack himmlischen Entzückens zu dichten, jedoch selbst ein Amanite mit seiner unerschöpflichen Geduld nicht alle zu singen vermag. So werden gewöhnlich vier Strophen gesungen und der Rest derselben von den Aeltesten gelesen. Nach dem Gesange verharrt die Gemeinde einige Minuten in feierlichem Schweigen, um dann andächtigen Gemüthes einem kurzen Gebete des Aeltesten, gewöhnlich in Versen, zu lauschen. Darauf sagen alle männlichen Mitglieder, einzeln und in einer gewissen Reihenfolge, in singendem halblautem Tone ein kürzeres oder längeres Gebet her. Ein Aeltester improvisirt nun ein Gebet und liest einige Capitel aus den aufgezeichneten Verkündigungen der Werkzeuge, in den Morgenandachten dagegen hält er gewöhnlich eine erbauliche Ansprache, die sich durch die einfachste Diction und vollständige Planlosigkeit auszeichnet. Manchmal jedoch, wenn der Geist über das Werkzeug kommt, verfällt dasselbe in einen religiösen Paroxysmus; es windet sich in krampfartigen Zuckungen und stößt erhabene Prophezeiungen aus, welche an glühender Bilderpracht und absoluter Unverständlichkeit manchen Stellen in der Offenbarung Johannis gleichkommen. Der Gottesdienst wird durch Absingen eines geistlichen Liedes beschlossen. In den einzelnen Gebeten wechseln die Frauen und Männer miteinander ab. E. L. Gruber hat einundzwanzig „Regeln für ein gottgefälliges Leben“ geschrieben. Dieselben bilden das Moralgesetz der Amaniten und gebieten Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, Mäßigkeit und Enthaltsamkeit von müßigen Gedanken, Worten, Werken und allen weltlichen Lustbarkeiten, Schweigsamkeit und Arbeitsamkeit, Vermeidung des Umgangs mit Andersdenkenden und Personen des anderen Geschlechtes, Geringschätzung irdischer Güter, Heiligung aller Handlungen durch Gebet, Gehorsam gegen die geistliche und weltliche Obrigkeit und Demuth und Selbsterniedrigung vor den Aeltesten.

Aus den vorstehenden Benennungen ergiebt sich, daß die Bewohner der Colonie harmlose religiöse Schwärmer sind. Sie gehören meistens den unteren Schichten der Gesellschaft an. Merkwürdig ist jedoch die Thatsache, daß sie neben ihrem religiösen Eifer einen bedeutenden Grad gesunden Menschenverstandes und klugen Geschäftstactes besitzen. Hierdurch wurden sie befähigt, die erkauften Ländereien bald in fruchtbare Felder, blühende Gärten und üppige Wiesen zu verwandeln und mit großem Erfolge Fabriken zu errichten und Gewerbe zu betreiben.

Die Niederlassung Amana – der Name ist dem Hohen Liede entnommen – besteht jetzt aus sieben Dörfchen: Amana, Homestead, Ost-, West-, Süd- und Mittel-Amana und Amana am Hügel. Die Commune besitzt zwei Wollspinnereien, eine Brauerei, zwei Getreide- und drei Sägemühlen, eine Gerberei und eine Druckerei, welche in den verschiedenen Dörfern liegen und für ihre Produkte bei den benachbarten Farmen, sowie in den nächsten Städten Absatz finden. In jedem Dorfe findet man Werkstätten für die Handwerker, eine Schenke, einen Laden, mehrere Bethäuser und in entsprechenden Entfernungen Speisehäuser, worin etwa vierzig Personen gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen. Die Speisen werden von einer gewissen Anzahl hierzu bestimmter Frauen und Mädchen zubereitet, welche die nothwendigen Lebensmittel, im Verhältniß der Besuchenden, aus dem Laden beziehen. Das Essen ist einfach, aber kräftig – Brod, Butter und Käse sind ausgezeichnet. Kranken Mitgliedern werden die Speisen in ihre Wohnungen gebracht. Die Amaniten haben die Gewohnheit des zweiten Frühstückes und des Vesperbrodes beibehalten. Bei den Mahlzeiten sitzen die Geschlechter gesondert in demselben Saale, die Kinder essen in einem besonderen Hause, unter der Aufsicht von Wärterinnen. Die Bewohner der Colonie sind weniger ascetisch als die Shakers und Rappisten. Sie haben weder Bacchus noch Gambrinus abgeschworen, bauen einen erträglichen Landwein und brauen ein leichtes, wohlschmeckendes Bier. Beide Getränke werden sowohl bei den Mahlzeiten, wie zu jeder anderen Zeit genossen, und die meisten Männer wissen den Genuß einer Nachmittags- oder Abendpfeife wohl zu würdigen. Die Dörfer bestehen aus einer langen Straße, auf beiden Seiten derselben liegen die aus Holz oder Backstein erbauten Häuser, von einem großen Garten umgeben. Die äußerst geräumigen Scheunen und Ställe, die Mühlen und Fabriken, sowie die Häuser der Tagelöhner, deren die Commune etwa zweihundertfünfzig beschäftigt, befanden sich außerhalb des Dorfes.

Die Familien bewohnen besondere Häuser, deren Einrichtung einen gänzlichen Mangel an ästhetischem Sinne, ja selbst an Bequemlichkeitsliebe offenbart. Die Wände sind ungetüncht; die Möbel bestehen aus rohen Brettern. Alle Gefäße sind ungewöhnlich plump, dagegen läßt sich überall eine wahrhaft holländische Reinlichkeit bemerken. Nach dem Frühstücke und dem Mittagsmahle gehen die Erwachsenen, unter der Leitung eines Vormannes, ihrer Arbeit nach; die Kinder versammeln sich in der Schule, wo sie von einem Lehrer in der Religion, in der deutschen und englischen Sprache, sowie in den Elementarfächern unterrichtet werden. Mädchen und Knaben werden zum Stricken von Strümpfen, Handschuhen und Halstüchern angehalten, und die verfertigten Kleidungsstücke genügen nicht nur dem Bedürfnisse der Commune, sondern bilden einen gewinnbringenden Export-Artikel. Der Schwerpunkt des Unterrichts liegt in dem Memoriren des Katechismus und in religiösen Uebungen. „Wir brauchen keine Advocaten und Prediger – wozu sollten unsere Knaben studiren? Gottes Gebote aus der Bibel zu lernen und [758] darnach zu leben, in Gehorsam gegen ihn und Liebe gegen ihre Nächsten, das ist alles, was ihnen Noth thut –“ so sagte der Lehrer zu einem Fremden.

Die Kleidung der Amaniten ist einfach, aus selbstgewobenem, dunkelfarbigem Zeuge gemacht und ähnelt der Tracht der Bauern im badischen Oberlande.

Die Leitung der municipalen und geschäftlichen Angelegenheiten liegt in den Händen von dreizehn Vertrauensmännern, welche jährlich von allen männlichen Mitgliedern der Commune gewählt werden. Dieselben wohnen in den verschiedenen Dörfern und haben nur als Körperschaft Autorität. Jedes Dorf hat seine eigenen Bücher und regelt selbstständig seine Geschäfte. Am Ende des Jahres werden die Bücher nach Mittel-Amana gebracht und durch die Vertrauensmänner geprüft; in dieser Weise wird der Gewinn oder Verlust der einzelnen Gemeinden festgestellt. Die Aeltesten sind Männer, ausgezeichnet durch Einsicht und makellosen Lebenswandel; sie werden nicht gewählt, sondern nach der Eingebung des Geistes von dem „Werkzeug“ ernannt. Sie berathen sich allabendlich mit den Vormännern über die Anordnung der Arbeit für den folgenden Tag, wie über die zweckmäßigste Verwendung der Arbeitskräfte.

Das schöne Geschlecht erfreut sich bei den Amaniten keiner besonderen Achtung und wird im Allgemeinen als ein zur Fortpflanzung der Gattung zwar nothwendiges, jedoch den Seelenfrieden störendes und der Erreichung höherer geistlicher Vollkommenheit hinderliches Element betrachtet. Gruber warnt die Männer vor der Gesellschaft der Frauen als „einem gefährlichen Magneten und magischen Feuer“. Die Ehe ist erlaubt, wird jedoch den jungen Leuten auf alle mögliche Weise erschwert. Der Hochzeitsfeier selbst gehen so viele innere Erweckungen, kräftige Ermahnungen und endlose Andachtsübungen voraus, daß ein liebendes Paar des Heldenmuthes und der Lammesgeduld eines Amaniten bedarf, um durch die Fegefeuerqualen der Vorbereitung begehrend nach den Freuden des Ehehimmels zu schauen. Die echten Frommen schließen nur dann Heirathen, wenn der Geist durch den Mund eines Werkzeuges ein solches Opfer von ihnen heischt; denn das Cölibat ist nach den Worten des großen Apostels Paulus heiliger und dem Herrn wohlgefälliger als das Leben in der Ehe und ermöglicht die Erreichung höchster geistlicher Vollkommenheit. War ein Mann vor seiner Vermählung in der ersten Classe der Gläubigen, so degradirt er sich durch diesen Act zu einem Mitgliede des dritten Grades. Diese Geringschätzung der Frauen leitet zu deren gänzlicher Ausschließung von allen weltlichen und geistlichen Aemtern und zur vollkommenen Absonderung der Geschlechter bei allen Zusammenkünften; selbst den Knaben und Mädchen ist es verboten, mit einander zu sprechen und zu spielen. Aber die Rechte der Natur sind stärker, als die Gebote des Glaubens, als die Macht der öffentlichen Meinung und tiefgewurzelter Gewohnheit; der junge Amanite hat Augenblicke, wo sein Herz für die Reize einer Schwester besonders empfänglich ist und deren Besitz ihm süßer erscheint, als ein Anrecht auf die Himmelsfreuden eines Gläubigen ersten Grades, und so führt er sich oft trotz des heiligen Paulus ein Weibchen heim.

Die Kleidungsstücke werden nach einem eben so einfachen wie zweckmäßigen Plane vertheilt. Jedem Mitgliede wird eine Summe bestimmt, deren Werth es in Anzügen, Stoffen, Uhren und ähnlichen Artikeln in den entsprechenden Läden erhält. Dieses Maß wird nie überschritten; im Gegentheil ergiebt sich oft für die Sparsamen am Ende des Jahres ein Guthaben, das ihnen für das nächste Jahr angerechnet wird. Auf diese Weise vermochte die Commune während des letzten Krieges zwanzigtausend Dollars zu verschiedenen wohlthätigen Unternehmungen beizusteuern, ohne das Budget der Gemeinde mit einem Cent zu belasten.

Die jungen unverheiratheten Amaniten beiderlei Geschlechts werden von der Aeltesten unter die Familien vertheilt. Die Bibliothek enthält nur die Bibel, die Jahresbücher der Gemeinde, sowie verschiedene Gesang- und Erbauungsbücher. Zeitungen sieht man nur selten in Amana, dessen Bewohner nur ihren eigenen Interessen leben und um so zufriedener und glücklicher sind, je weniger sich die Welt um sie kümmert. Die Gemeinde erhält ihren Zuwachs durch deutsche Einwanderer, denen sie oft die Reise aus dem alten Vaterlande durch Vorstreckung der nothwendigen Mittel möglich macht. Diese neuen Ankömmlinge werden gewöhnlich nach zweijähriger Prüfungszeit, manchmal jedoch auf eine Offenbarung hin sogleich nach ihrer Ankunft, unter die Gläubigen aufgenommen.

Unter Nachbarn und bei Geschäftsfreunden genießen die Amaniten die höchste Achtung. Sie gelten allgemein als tüchtige Farmer, erfolgreiche Viehzüchter und äußerst redliche Geschäftsleute, als etwas sonderbare, aber friedliche und nützliche Bürger. Ihre Felder und Gärten sind im besten Stande; sie haben die schönsten Schafe und das kräftigste und wohlgenährteste Rindvieh weit und breit; die Erzeugnisse ihrer Fabriken werden ihrer Güte und Dauerhaftigkeit halber allenthalben gern gekauft und mit dem besten Preise bezahlt. Die meisten Bewohner Amanas erfreuen sich ausgezeichneter Gesundheit und erreichen ein hohes Alter. Die Männer wie die Frauen sind kräftige Gestalten, etwas langsam und abgemessen in allen Bewegungen. Auf den Gesichtern der Amaniten drücken sich heitere Sorglosigkeit, ungetrübter Gleichmuth und ein Hang zur Selbstbeschaulichkeit, daneben aber auch Gleichgültigkeit gegen ihre Umgebung und Stumpfheit des Gefühls- und Gedankenlebens aus. Die Streitigkeiten der Mitglieder untereinander werden durch die Aeltesten geschlichtet. Der Friede der Colonie wurde noch niemals gestört. Sie bedarf weder der Polizei zum Schutze der Person und des Eigenthums, noch eines Gefängnisses zur Bestrafung der Verbrecher, und ihre Bewohner führen zweifelsohne einen tadellosen Lebenswandel.

In der raschen Entwickelung und der bewundernswerthen Blüthe Amanas und anderer Communisten-Colonien in Amerika liegt die praktische Lösung eines socialen Problems. Die Etablirung eines Gemeinwesens auf communistischer Grundlage erweist sich nur da als möglich, wo eine kleinere Anzahl von Menschen mit geringen Bedürfnissen und beschränkten Anschauungen, derselben Gesellschaftsclasse angehörend und auf ähnlicher Bildungsstufe stehend, ihre Energie auf die Erreichung nahe gelegener und bestimmter Ziele richtet und dabei unter dem Einflusse einer mächtigen religiösen Stimmung die Autorität eines überlegenen Führers anerkennt. Der französische Socialist Cabet und der schottische Menschenfreund Owen suchten ihre philanthropischen Ideen zu verkörpern, indem sie Niederlassungen gründeten, in welchen das Zusammenleben der Mitglieder auf der Grundlage brüderlicher Gleichheit und Freiheit durch Vernunftgesetze geregelt, durch Bildung und Duldsamkeit veredelt und durch Kunst, Wissenschaft und schöne Geselligkeit verklärt werden sollte. Diese Experimente endeten mit dem gänzlichen Ruine der Unternehmer und der Demoralisation der Commune. Nur der geistig träge und religiös beschränkte oder der an seinem Glücke verzweifelnde Mensch vermag seine Freiheit und Selbstständigkeit als Preis für ein friedliches Dasein ohne Sorge, aber auch ohne Streben einzusetzen; das denkende Individuum wird durch das Bedürfniß der Entwickelung seiner Eigenthümlichkeiten und den Trieb, den Fortschritt der Gattung zu fördern, auf weitere und freiere Bahnen hingewiesen.




Land und Leute.
Nr. 38. Das Marollenviertel in Brüssel. (Mit Abbildung.)


Zur Zeit als Leopold der Zweite Thronerbe war und den Titel Herzog von Brabant führte, brachte er hier und da einen Abend im Cercle artistique et littéraire zu. Geschah es, so verfehlte er selten, Victor Capellmans, damals Mitarbeiter der „Independance belge“, zu bitten, eine populäre Volksscene im Marollendialekt zum Besten zu geben. Der Fürst amüsirte sich dann wie ein Kind. Er lachte und kicherte nach Herzenslust, ein Genuß, der nachgerade den Fürsten seltener als gewöhnlichen Menschenkindern zu Theil wird. Heute noch, obgleich mehr als ein Jahrzehnt seitdem vergangen ist, gedenkt der König gern jener [759] Stunden, und führt ihn der Zufall mit einem Mitgliede des Cercle artistique zusammen, so spricht er wohl davon und hat ein Wort des Bedauerns für das tragische Ende Capellmans’, der als Chefredacteur des „Journal de St. Petersbourg“ eine glänzende Carrière gemacht hatte, dann aber plötzlich von jenem unheilvollen Gebreste erfaßt ward, vor welchem der französische Publicist de Sarcey bereits unter dem zweiten Kaiserreiche Künstler und Schriftsteller in einem erschreckend wahren Artikel gewarnt hatte, der den bezeichnenden Titel führte: „Gare nos moëlles!“ („Laßt uns für unser Rückenmark sorgen!“) Der humoristische belgisch-russische Publicist starb in der Zwangsjacke eines Lütticher Krankenhauses.

Nichts in seinem Wesen hätte eine solche Katastrophe voraussetzen lassen, da bei ihm, wie bereits bemerkt, der Ernst mit einem trockenen überraschenden Humor gepaart war. Namentlich besaß er eine wahre Meisterschaft in der Handhabung des Marollendialekts. Hier fragt wohl neugierig mancher Philolog: Was ist denn das eigentlich für ein Dialekt? Es wird ihn allerdings vergeblich in den Dialektensammlungen suchen. Er ist den gelehrten Sammlern entgangen, ganz wie das Marollenviertel den Reisehandbuchliteraten der Herren Bädecker und Comp. Und doch bietet gerade dieser Stadttheil und sein Dialekt ein wirklich ethnographisches und philologisches Interesse.

In diesem Viertel, dessen Entstehen uns bis zu 1660 zurückführt, und das seinen Namen von einer frommen Stiftung erhielt, deren nur weibliche Mitglieder sich „Apostolines“ oder „Marolles“ nannten und, ohne das Klostergelübde abgelegt zu haben, sich der Erziehung junger Mädchen widmeten, in diesem Viertel flossen Wallonen und Vlamen zusammen und aus der Verschmelzung jener zwei sonst entgegenstrebenden Elemente entstand der Marollendialekt, ein prickelnder pikanter Mischmasch von Französisch und Vlämisch. Das wallonische Element ist indeß vorwiegend, sowohl in der Sprache, wie in der physischen Erscheinung der Bewohner, die größtentheils kleiner Statur sind und eine lebhaftere Beweglichkeit zeigen, als die gewöhnlichen Vlamen. Das Marollenviertel hat sogar seine eigene Literatur, die aber jetzt wohl, wie der enge, dumpfe Schauplatz, dem sie entsproßte, mit den letzten Ueberbleibseln Alt-Brüssels verschwinden wird.

Gewöhnlich erstreckt sich hier zu Lande die Pietät für das Alte so weit, daß man dort, wo man dem modernen Leben und seinen Anforderungen einen größeren Spielraum zu eröffnen bedacht war und Licht, Luft und Sonne in die engen dicht auf einander gebauten Straßen und Stadttheile brachte, vorsorglich vorher durch photographische Aufnahmen, und künstlerische Reproductionen der Nachwelt, wenigstens im Bilde, den Charakter der früheren Stadt übermachte.

Als vor fünf Jahren die großartigen Bauten in Angriff genommen wurden, welche jetzt den Südbahnhof mit dem Nordbahnhofe verbinden und durch Ueberwölbung des Senneflusses, der früher die untere Stadt durchfloß, den neuen Centralboulevard schuf – ein kostbares, reiches, steinernes Album moderner Architectur – beauftragte die brüsseler Baubehörde einen der hervorragendsten belgischen Architecturmaler, Herrn van Moer, die interessantesten und originellsten Ansichten an zu zerstörenden Straßen, die viel mit den holländischen Städten gemein hatten, in einer Reihe von größeren Gemälden, die jetzt das Rathhaus zieren, der Vergessenheit zu entreißen. Mancher alte brüsseler Bürger findet heute ein wehmüthiges Vergnügen daran, stundenlang vor diesen Gemälden zu verweilen und, die Gegenwart vergessend, der Zeit zu gedenken, wo er als Knabe und als Jüngling sich in den engen Winkelgäßchen herumtummelte oder, über das Geländer einer der zahlreichen Brücken gebeugt, die Fenster musterte, wo, nach der Senne hinaus, häufig ein reizender Blumenflor von Topfpflanzen sich entfaltete und zwischen Gelbveigelein und Rosmarin hier und da eine schnippische Stulpnase und neckisch tolle Augen hervorlugten. Kein Haus, kein Stein mahnt an Ort und Stelle mehr an das Vergangene; das beste topographische Gedächtniß wird irre, will es im Geiste das alte Brüssel reconstruiren. Es mangelt eben an einem Anhaltspunkte.

Kein Photograph und kein Künstler wird es sich indeß beikommen lassen, irgend eine Studie im Marollenviertel zu machen, ehe dasselbe spurlos verschwindet. Dort hausen eben nur Arme, und die Armuth trägt überall die gleichförmige graue Livrée des Elends und der Noth. Jahre lang war sogar die Gegend so übel beleumundet, daß Niemand sich heineinwagte. Verirrte sich durch Zufall ein mit Cylinderhut und Ueberrock bekleideter Mensch dorthin, so war das eine so ungewohnte Erscheinung, daß Klein und Groß ihn als eine Art Meerwunder beschauten und lose Zungen, namentlich weibliche, ihn in ihrer derben Art bekrittelten und durchhechelten. Das Marollenviertel erstreckt sich im südlichen Theil der Stadt, zwischen der Hochstraße und Gerberstraße, zwei bedeutenden Verkehrslinien, in der Weise, daß die genannten Straßen gleichsam die beiden Stämme einer Leiter darstellen und eine Unzahl von Sträßchen, Sackgäßchen und Winkeln der Marolle die Sprossen. Auf engem Raum zusammengepfercht, in Gäßchen, wo zumeist keine zwei Personen neben einander gehen können, wo man in die Höhe schauen muß, um einen Streifen des Himmels zu entdecken, und wo ein Sonnenstrahl als ein verwegener Eindringling betrachtet wird, lebt, webt, arbeitet, darbt und stirbt eine zahlreiche Bevölkerung, die unter allen Kümmernissen und Entbehrungen ihren guten Humor behauptet, ihre Sitten und Gebräuche hat, welche häufig an jene des Mittelalters erinnern, und sogar ihre Feste und Volksspiele feiert.

Um dies zu ermöglichen, sparen sich die Leute das Erforderlichste am Allernothwendigsten ab. Ihr Verdienst ist heute geringer als je: die Männer betreiben das höchst unergiebige Handwerk der gemeinen Pappendeckelarbeiten; die Frauen das Spitzenklöppeln, das noch weniger Gewinnst abwirft. Die gewandteste Spitzenarbeiterin, selbst wenn sie von Morgens bis Abends unausgesetzt arbeitet, vermag kaum und nur dürftig ihren Lebensunterhalt zu fristen. Das öffentliche Wohlthätigkeitsbureau zählt denn auch die meisten Bewohner unter ihren Pensionären, was aber kaum zureichen würde, die Noth zu lindern, wenn die armen Leute unter einander nicht gleichsam eine große Familie bildeten und sich gegenseitig, oft mit überraschender Zartheit und Herzensgüte, zu Hülfe kämen. Man ahnt dies allerdings nicht, wenn man das Viertel hastigen Schrittes durchschreitet: halbnackte Kinder jedes Alters wälzen sich dort im Schmutz; vor den Hausthüren sitzen alte Mütterchen, den Parzen gleich, und ihre knorrigen, schmutzigen, welken Finger schaffen emsig und geschickt jene zarten Blumen- und Arabeskengewebe, die im Auslande ein so gesuchter und hochgeschätzter Schmuck sind. Auch junge Mädchen arbeiten um die Wette, und die Unterhaltungen sind selten erbaulicher Art.

Am ersten Mai ist die Marolle in festlicher Bewegung; an diesem Tage zieht Jung und Alt aus, um, einer alten Gerechtsame zufolge, in einem Walde der Löwener Commune eine junge Maie zu holen, die dann in festlichem Aufzuge, mit Musik und berittenen, als Ritter verkleideten Leuten, nach Brüssel geführt und in der „Rue du Marais“ aufgepflanzt wird. Einige Monate später begiebt sich ein noch abenteuerlicherer Aufzug nach dem in der Nachbarschaft gelegenen Städtchen Hal, einem berühmten Wallfahrtsorte, wo die „schwarze Jungfrau“ für den, der sich ihr gläubig nähert, Wunder thun soll. In der dortigen altgothischen, höchst bemerkenswerthen Kirche liegen, gleich am Eingange, die bei einer Beschießung der Stadt von der „Jungfrau“ mit der Hand aufgegriffenen Bomben. Aber man wird vergebens suchen, sie zu zählen, sagen die Halenser, welche sich vom Aberglauben Anderer mästen, ohne selbst orthodox zu sein; jedes Mal, wenn man glaubt recht gezählt zu haben, wird man irre und muß wieder von Neuem anfangen, ohne zum Ziele zu gelangen.

Die Bewohner der Marolle ziehen übrigens weder wegen des „schwarzen Marienbildes“, noch um die Granatenkugeln zu zählen, nach Hal. Sie haben, kraft eines alten verbrieften Rechts, Anspruch an einem bestimmten Tage, von der dortigen Kirchenfabrik, mit Wein und Kuchen bewirthet zu werden, und welche Geldanerbietungen man ihnen auch gemacht, sie wollen bis jetzt nicht davon abstehen.

Am tollsten aber geht es in dem Marollenviertel zu, wenn dasselbe seine eigene Kirmeß feiert. Von einem Hause zum anderen werden dann farbige chinesische Laternen mit Tannengezweig vermischt angebracht und die originellsten unglaublichsten Wettspiele mit obligaten Preisen finden dann unter dem Vorsitz der ältesten Einwohner statt, wobei die Weiber, welche durch ergötzliche Grimassen und Späße excelliren, die Hauptrolle spielen. Der [760] Wettkampf, der hier im Bilde mitgetheilt ist, hat vor allen anderen die Eigenschaft, die Lachmuskeln der Zuschauer in steter Bewegung zu erhalten, ohne irgendwie die Sittlichkeit zu verletzen.

Der Preiskampf findet vor dem offenen Fenster einer Schenke statt; hier sitzen die Kampfesrichter. Auf der Straße stehen oder sitzen die beiden Bewerberinnen, den linken Arm an irgend einem Pfosten oder Stuhle befestigt, mit verbundenen Augen, einen ungeheuren Topf mit dicker Reismilch vor sich und einen großen Kochlöffel in der Rechten, den sie gefüllt in den Mund ihrer Rivalin zu bringen trachten.

Der Leser kann sich die Scene vorstellen und in welcher Weise diese Damen der Marolle zum großen Gaudium der Zuschauer sich gegenseitig tättowiren.

Man darf nicht allzu streng mit der Rohheit jener Spiele ins Gericht gehen. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden sie von oben herab begünstigt, ja der hohe Adel scheute sich nicht, bei derartigen Spielen seiner Hörigen den Vorsitz zu führen. Heute erscheinen diese gar zu derben Späße aber doch sehr wenig zeitgemäß. Man hat das Lachen oben und unten verlernt. Die Zeiten sind ernst. Sonderbar genug, daß das letzte Echo jener populären Lustigkeit der Vorzeit uns aus demjenigen Viertel Brüssels entgegenschallt, in welchem man eigentlich am wenigsten die Fröhlichkeit suchen sollte. Und doch herrscht sie zumeist in jenen Kreisen, die sorglos in den Tag hineinleben und den Augenblick in ihrer Weise genießen. Es ist das Gesetz der natürlichen Ausgleichung.
Max Sulzberger.




Kein Herz.
(Schluß.)


Freude und Leid der Einzelnen behält auch dann sein Recht, wenn Weltgeschicke über die Erde rollen; doch blüht und schmerzt sich’s in solcher Zeit gern in der Stille aus, fast schamhaft, denn wie gering zählt das einzelne menschliche Dasein, wo Tausende hingeben müssen, was durch lange Jahre mit Sorgfalt und Hoffnung gepflegt worden, wo sich jeder Tag mit ehernen Zügen in das Buch der Geschichte gräbt! Dies empfand Valentine lebhaft, als sie von der stillen Insel in die Hauptstadt zurückkehrte, und es war ihr wohlthuend, daß sich die Wendung ihrer Stimmung, vielleicht ihres Geschickes, vorerst nur innerlich ausklingen durfte. Ein Wiedersehen Hartung’s stand nicht unmittelbar bevor; noch war er in Norddeutschland gebunden und konnte dem ehrenvollen Rufe in die Heimath erst im Frühjahre entsprechen. Alles war gut, so wie es war.

Den wenigen, aber guten Worten, mit denen Valentine seine Zeilen beantwortet, war eine Correspondenz gefolgt, die, von beiden Seiten mit leiser Zurückhaltung begonnen, im Laufe der Wochen und Monate so rege ward, daß an jedem Briefe für den Empfänger ein glücklicher Tag hing. Noch ward mit keinem Laut einer gemeinschaftlichen Zukunft gedacht. Beide empfanden aber klar, daß ein Wiedersehen zugleich ein Wiedererfassen sein müßte. Bot Valentinens Erscheinung in dieser Zeit auch äußerlich die gewohnte, schöne Reife, so war doch ihr ganzes Wesen von neuer Anmuth erfüllt, wie die Rose vom Dufte, und die unablässige Thätigkeit, womit sie von früh bis spät wirkte, verrieth gleichfalls den frischen Lebensquell, der in ihr strömte.

Von General Wittstein, dessen Brigade im Südosten Frankreichs stand, liefen stets gute Nachrichten ein. Das Jahr ging zu Ende. Schon war die Zahl der Verwundeten, welche die Armee als Zeugen ihrer Thaten in die Heimath sandte, so bedeutend geworden, daß alle Transportfähigen von Etappe zu Etappe weiter geschafft werden mußten. Auch das dem Kriegsschauplatze so ferne München erhielt eine namhafte Anzahl von Pfleglingen, die in Lazarethen und Privatwohnungen Aufnahme fanden. Jeder Stadt, jeder kleinsten Ortschaft war es Ehrensache, an so heiliger Pflicht Antheil zu gewinnen, Ehrensache jedem Einzelnen, nach Kräften und Vermögen hülfreich zu sein. Valentinens reiche Mittel flossen in mannigfaltiger Form den Wittwen und Waisen, den Verwundeten, den Leinwandkammern der Spitäler zu; sie gab und half unaufhörlich, und ihre fleißigen Hände, ihr opferbereites Herz regten sich zwiefach, denn gleich ihrem Schatten begleitete sie Monika, welche ihr von Frauenwörth nach München gefolgt war. Valentinens Vorschlag hierzu hatte nicht nur willige, sondern auch lebhafte Zustimmung gefunden. Auch den Angehörigen der jungen Frau war es erwünscht, daß Monika bei dem Fräulein blieb, so lange Huber im Felde war: dort wußte man sie wohl versorgt, und zu Hause gab es, nun gar im Winter, nichts für sie zu thun.

Wenn der Gedanke, Monika mit sich zu nehmen, auch nur aus Valentinens gutem Herzen und ihrem Interesse für die junge Frau entstanden war, ergab es sich bald, daß deren Anwesenheit eine große Erleichterung für sie selbst bot. Valentinens Schwester verweilte noch immer mit ihrem Kinde in Passau bei den Schwiegereltern; mit der Dienerschaft allein in der großen Wohnung auszuhalten, welche Wittstein’s in München inne hatten, würde für die Herrin des Hauses um so ungemüthlicher gewesen sein, als in jenen Tagen Jeder von seinen eigenen Interessen zu sehr in Anspruch genommen, zu vielfach beschäftigt war, um mit Anderen viel zu verkehren.

So einfach und ungelehrt Monika auch war, hatte sie durch ihre Eigenart von jeher Valentine interessirt und angezogen. Da sie eine verheirathete Frau war und als Gast mit ihr kam, ließ sich von vornherein leicht eine Stellung für sie im Hause schaffen, die von der Dienerschaft respectirt wurde. Trotz ihres anspruchslosen Standes und Wesens hatte es nichts Auffallendes, daß die junge Frau in solcher Zeit immer um die Herrin des Hauses war und ihr in allen Geschäften beistand. Monika’s Geschick, ihr heller Verstand machten sie zu jeder Leistung brauchbar; an der stets unmittelbarem Zweck dienenden Thätigkeit richtete sich ihr Gemüth auf, und der erschütterte Körper begann sich wieder zu der alten, schönen Gesundheit zu erheben.

Valentine verlor die Aufgabe, welche sie sich der jungen Frau gegenüber gestellt hatte, niemals aus dem Sinne und beobachtete diese leise, aber fortwährend. Monika sprach nie von ihrem Manne, doch konnte der Herrin kein Zweifel bleiben, daß sie viel an ihn dachte. Die Art, wie sie auf jede Nachricht von der Armee horchte, welche in ihrer Gegenwart zur Sprache kam, ihre unverkennbare Erschütterung, so oft sie mit einem der Verwundeten in Berührung gerieth, trug tiefe Spur persönlichen Interesses; Valentine sah mit geheimer Befriedigung, daß in dem Herzen des Weibes die Sorge um den Mann erwacht war. Sie hütete sich wohl, mit dem leisesten Worte an den sprossenden Keim zu rühren, doch jetzt ließ sich hoffen, alles Beste hoffen. Auf ihre Anfrage bei dem General hatte sie erfahren, daß Huber in der That bei seinem alten Regimente stand und bis jetzt unverwundet sei; in persönliche Berührung mit dem Chef der Brigade kam jener natürlich nicht. In der steten Sorge, durch irgend ein Eingreifen gerade das zu stören, was sie zu entwickeln wünschte, hatte Valentine um so weniger Monika’s brieflich gegen ihren Vater Erwähnung gethan, als der General sich nie für etwas interessirte, was ihn nicht persönlich anging. Wie spann sich aber des Fräuleins inniges Gemüth die Zukunft aus! Glück und Vereinigung sollte am Ende all des Kriegsgrauens, all der schweren Menschengeschicke die Lösung sein. Wie oft, wenn sie Monika heimlich die Liste der Verwundeten und Todten bei Seite legen sah, um sie in Verborgenheit zu durchforschen, wie oft wäre sie da der lieben jungen Frau gern um den Hals gefallen und hätte gerufen: „Sei nur ruhig! Habe ihn nur lieb! Es wird Alles gut; wir werden Beide glücklich sein.“

Es war kurz nach Neujahr. Valentine hatte soeben einen Brief von Hartung empfangen, der sie bis in den Nerv des Herzens traf. Welche Fülle in so leichtwiegendem Blatte! Das Sandkörnchen selbst, das am Worte hängen bleibt, hat Reiz; es macht den Brief so frisch, all die Meilen, welche er durchlaufen hat, verschwinden davor.

Sie las von Neuem und lächelte. Wo war ihr Altsein geblieben? Unwillkürlich dachte sie an Bernardin und schickte dem Freunde, welcher seit October in Florenz verweilte, einen Gruß.

[761]

Der Breikampf im Marollen-Viertel in Brüssel.
Nach der Natur aufgenommen von L. von Elliot.

[762] Ja, ja, wer glaubt den Propheten? Und doch behalten sie zuweilen Recht. Daß der Geliebte dem Freunde, welchen sie unter allen am höchsten schätzte, sympathisch gewesen, that ihr auch so wohl. Sie griff zur Feder, um gleich aus dieser Stimmung einmal wieder an Bernardin zu schreiben – da öffnete sich die Thür und Monika kam herein, strauchelnd, todtenblaß. Sie öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, das Wort erstickte ihr in der Kehle – mit verzweifelten Augen warf sie sich neben Valentinens Sessel nieder und hielt ihr einen zerknitterten Druckbogen entgegen. Des Fräuleins Blick irrte erschrocken von ihr auf das Blatt und wieder zu ihr zurück. Monika erfaßte krampfhaft ihren Arm und deutete mit der Rechten auf eine Linie des Bogens.

Dies war die Todtenliste. Unter den bei Villersexel Gefallenen stand: „Wilhelm Huber, Gefreiter. Todt.“

Valentine umschlang mit überströmenden Augen die arme junge Frau, welche halb entseelt in ihren Armen hing. Nach einigen Augenblicken wand diese sich los und sah mit geisterhaftem Blicke in das Leere.

„Jetzt kann ich nimmer heim zu ihm nach meinem Willen, wie ich fort bin nach meinem Willen – so haben Sie gesagt, Fräulein, gleich das erste Mal. Damals hab’ ich’s nicht hören mögen und hab’ doch immer an das Wort deuten müssen, von der Stund’ an. Jetzt kann ich nimmer heim, und er hat mir nicht zuvor verziehen, was ich ihm angethan hab’. Daß Gott mir’s verzeihen soll – war sein letztes Wort für mich.“

Ihr Kopf neigte sich immer tiefer. Ohne Bewußtsein sank sie vor Valentine nieder.


Die Todeskunde bestätigte sich. Valentine, die noch auf die Möglichkeit eines Irrthums gehofft und sofort an den General geschrieben hatte, erfuhr durch diesen den Hergang. Während jener Tage, in denen das vierzehnte Armeecorps dem mit überlegenen Kräften vorrückenden Feinde gegenüber wiederholt den Standort wechselte und ihm, um die Belagerung Belforts zu decken, bei Villersexel in die Flanke fiel, war der Gefreite Huber als Führer einer Patrouille ausgesandt worden und so weit vorgegangen, daß der kleine Trupp plötzlich von feindlichen Kugeln beschossen wurde. Die Mannschaft sah den Gefreiten fallen; Einer von ihnen eilte herzu, fand Huber mit einem Schusse am Kopfe todt hingestreckt und rettete sich mit den Cameraden nach seinem Corps zurück.

Wenige Wochen später wurde Monika von Seiten der Ortsgemeinde, welcher Huber angehöre, der nach ihrer Heimath gesandte Todtenschein ihres Mannes zugestellt. Sie trug das schwarze Ehrenkleid, das Tausende von Müttern, Wittwen und Waisen gleich ihr trugen.

Der Schmerz hat, gleich der Liebe, viele Gestalten. Pocht auch in aller Menschen Brust dasselbe Herz, jedes hat seine eigene Liebe, seine eigenen Schmerzen. Das eine will sich ausklagen; fühlt es auch dunkel, daß die wenigsten der Zuhörenden dabei an sein Leid denken, sondern nur an das, was sie selbst ähnlich betroffen hat oder betreffen könnte, so ist ihm dennoch schon die eigene Klage Erleichterung. Das andere hüllt seine Todespein in Schweigen. Grausam ist ihm ein Trostwort; die Wunde zuckt bei der zartesten Berührung; sie will und kann nur nach innen bluten. Das gotterfüllte Herz fühlt sich dem Himmel zwiefach verbunden; das zweifelnde klagt den Himmel an, allen aber reift die gleiche Erfahrung: von Menschen kann Trost nicht kommen, auch von den theuersten nicht, und selbst Gott hat ihn nur der Zeit aufgetragen. Das verzweifeltste Weh verliert seinen Stachel, wenn das Bewußtsein erwacht, daß man wohl das Wesen verlieren kann, woran das Herz hängt, nicht aber die Liebe. Einen Schmerz aber giebt es, über den selbst die Zeit nichts vermag: den Verlust, dem sich der Vorwurf gesellt. Ist ja doch das menschliche Herz so geschaffen daß wir uns weit mehr davor fürchten, die Todten zu betrüben, die allem Leide entrückt sind, als die Lebenden. Fordert es unsere Meinung, dann halten wir uns entschuldigt, ja berechtigt, unseren Nächsten und Liebsten wehe zu thun, aber dem letzten Wünschen oder Wollen eines Todten zuwider zu handeln, tragen wir tiefste Scheu, selbst dann, wo unsere Ansicht, wo alle Umstände widersprechen. Die Todten sind fern und wehrlos, aber sie üben höchste Gewalt. Ihre letzten Worte klingen in alle Ewigkeit nach. Und war dieses letzte Wort, das wir von ihnen gehört, eine Anklage – was auf Erden und im Himmel gäbe es wohl, um sie je wieder schweigen zu machen!

Nach jenem Ausbruch der ersten Stunde hielt Monika Alles, was in ihr vorging, tief in sich verschlossen. Nachdem sie von einer Krankheit, die ihrer Ohnmacht gefolgt, aber nur von tagelanger Dauer gewesen, wieder aufgestanden war, ging sie im Hause umher und beschäftigte sich wie gewohnt. Nur sprach sie nie, außer wenn sie um etwas befragt wurde. In ihrem Wesen war nichts von der unheimlichen Starrheit, welche nach dem Tode ihres Kindes sie versteinert hatte und trotz Valentinens liebreicher Pflege erst nach langen Wochen gewichen war. Dennoch machte sie ihr jetzt weit größere Sorge als damals. Monika erschien gleich einem Instrument, dessen Hauptsaite gerissen ist; die übrigen tönen noch, aber kein Vollklang ist möglich. Die junge Frau regte unermüdlich ihre Hände; sie weinte nicht – oft, wenn Valentine sie liebevoll anblickte, lächelte sie sogar, wenn sie aber des Morgens eintrat, zeugten ihre tiefeingesunkenen Augen, deren altes Lächeln für immer dahin zu sein schien, von trostlosen Nächten.

Tag reihte sich an Tag. Die Ereignisse waren inzwischen ihren gewaltigen Weg vorwärts gegangen. Der Ausgang Januar geschlossene Waffenstillstand war bereits bis Ende Februar verlängert worden. Um diese Zeit schrieb der General an Valentine und forderte sie zu einem Rendez-vous in Straßburg auf, da er sich für einige Tage frei machen konnte. Der Vorschlag erfüllte sie mit großer Freude; trotz all seiner selbstsüchtigen Eigenheiten hing sie mit tiefer Innigkeit an ihrem Vater, und die Sorgen um ihn hatten ihr in jüngster Zeit ihre Anhänglichkeit noch lebhafter zum Bewußtsein kommen lassen. Ihn wohlbehalten wiedersehen zu dürfen, so unverhofft, war ihr hoch willkommen, um so mehr, als man wohl den Frieden heiß ersehnte, seiner wirklichen Nähe aber noch keineswegs sicher sein konnte. Ueberdies war es Valentine höchst erwünscht, ihren Vater persönlich zu sprechen, ehe sie Hartung wiedersah. Noch hatte sie sich nicht entschließen mögen, sich über die wieder angeknüpfte Beziehung brieflich zu äußern; das Thema war so zart, die Zukunft noch so im Schleier, und vor Allem ihre Ueberzeugung, hiermit dem Vater Unwillkommenes mitzutheilen, so begründet. Daß es Kampf kosten würde, die schon früher nicht besonders gern gewährte Zustimmung zu diesem Bündniß zu gewinnen, wußte sie. Doch bangte ihr darum nicht. Hatte die Zeit eine Entscheidung nur erst gereift, so wußte sie gleichfalls, daß ihr Recht auch Billigung erringen würde. Gut aber war es, hierauf leise vorbereiten zu können.

Der nächste Gedanke des Fräuleins war Monika. Sie rief sie zu sich, sagte ihr von der nächster Tage beabsichtigten Reise und fragte, ob Monika sie begleiten wolle.

Die junge Frau sah sie dankbar an: „Fräulein, ich sehe schon, Sie möchten mich durch die Reise zerstreuen. Aber ich bitt’ schön, nehmen Sie die Anna mit, die sich ja auch besser auf alles Nöthige versteht! Mich lassen Sie lieber da!“

„Nicht gern,“ entgegnete Valentine und strich ihr leise über die Stirn.

„Machen Sie sich doch keine Sorge um mich!“ sagte Monika flüchtig erblassend. „Ich habe ja zu thun.“

„Freilich hat es auch sein Gutes, wenn Sie zu Hause bleiben. Im Verein, im Lazareth können Sie mich vertreten, und Alles bleibt im Gang.“

„Wenn ich die Sachen auch nicht so gut einzurichten weiß, wie Sie, Fräulein, will ich doch gewiß meine Schuldigkeit thun.“ Sie schrak unwillkürlich zusammen. „Ach, Fräulein, wie oft hab’ ich mich sonst über das Wort geärgert – jetzt hab’ ich’s endlich selber begriffen, was das heißt, seine Pflicht und Schuldigkeit thun. Jetzt wüßt’ ich mir nicht mehr ein und aus auf der Welt, gäb’s nicht das Wort; das ist wie Speis’ und Trank; man lebt davon, und hätte man’s nicht, dann wär’s mit Einem aus und vorbei.“

Valentine drückte ihr warm die Hand, Gottlob! Endlich ein freiwilliges Wort und das beste!

Am zweitfolgenden Morgen begleitete Monika ihr Fräulein nach der Bahn. Obgleich es noch im Februar war, herrschte doch heute jene milde Temperatur, welche sich mitunter in das als rauh berüchtigte Klima der Hauptstadt einschleicht, wie ein Vorfrühling. Die Sonne vergoldete Alles und spielte auch über Valentinens zartes, etwas geröthetes Gesicht hin. Im Begriff, [763] das Wartezimmer zu verlassen, reichte sie der jungen Frau noch einmal die Hand.

„Gott behüt’ Sie, Fräulein!“ sagte Monika und sah sie mit voller Liebe an. „Grüßen Sie den Herrn General und kommen Sie gesund wieder! Eh’ Sie aber fortgehen, lassen Sie sich noch Eins sagen – das ist mein Morgen- und Abendgebet: Vergelt’s Gott, Alles!“

Der Conducteur schloß die Thür. Monika blieb dahinter stehen und blickte durch die Scheiben, bis der Zug von dannen war. Ein schwerer Seufzer hob ihre Brust. Sie kam sich recht verlassen vor.

Als sie den bedeckten Gang des Perrons entlang ging, sah sie eine ihr bekannte Frau in einen der Wartesäle dritter Classe treten. Es war die Wittwe eines Unterofficiers, welche zu den Schützlingen Fräulein von Wittstein’s gehörte. Die Frau war mit Gepäck beladen, und Monika ging ihr nach, um zu erfahren, ob sie fortreiste und wohin; auf ihre Frage erfuhr sie, daß dieselbe zu Verwandten in’s Oberland wollte.

„Ich bin zu früh hier; der Schalter ist noch zu,“ sagte die Frau. „Wüßt’ ich, daß meine Sachen hier sicher lägen, so könnte ich gut noch einen nöthigen Gang in’s Karlsthor machen. Ich glaubte, es wär’ dafür schon zu spät.“

„Dann gehen Sie nur, Frau Kern!“ sagte Monika, „ich bleibe so lange da und hab’ Acht auf Ihr Gepäck; ich hab’ im Augenblick nichts zu versäumen.“

Das Anerbieten wurde dankbar angenommen, und Monika setzte sich ruhig in dem leeren Wartezimmer nieder und dachte an ihre Reisende. Der Kopf that ihr weh; es war ihr eine Wohlthat, vor dem grellen Sonnenschein draußen geschützt zu sein und in dem Winkel des kühlen, etwas düsteren Wartezimmers zu sitzen. Sie hatte all das Gepäck vor sich auf den Tisch gelegt, stützte ihre schmerzende Stirn dagegen und schaute auch nicht auf, als nach ein paar Minuten Jemand eintrat.

Als sie sich nach einer Weile aufrichtete, sah sie an einem der Tische des übrigens leeren Zimmers einen Mann sitzen, der einen Soldatenmantel und auf dem verbundenen Kopfe eine Militärmütze trug. Er saß mit dem Rücken gegen sie, hatte aber schon für ihren ersten, zerstreuten Blick etwas so Bekanntes. Sie sah schärfer hin – ein Stich ging ihr durch das Herz; der Soldat dort hatte gerade solch eine Figur, wie ihr Wilhelm. So pflegte er hinzusitzen, wenn er unbeschäftigt war. Das Herz schlug ihr so heftig, daß ihr fast der Athem verging – sie wußte nicht warum. Aber dem Manne, der ihrem Wilhelm so ähnlich schien, mußte sie in das Gesicht sehen – es war ein Verwundeter; sie konnte ihm vielleicht in etwas helfen. Sie stand auf und machte ein paar hastige Schritte gegen ihn hin. Der Soldat wandte bei dem Geräusch mechanisch den Kopf.

Heiliger Gott, es – war Wilhelm!

Sie stürzte auf ihn zu; sie umklammerte ihn mit beiden Armen, um ihn eben so plötzlich wieder los zu lassen und an seinem Gesicht, an seinen Händen herumzutasten, wie ein Blinder, der wissen will, ob er sich im Erkennen nicht irrt.

„Du bist am Leben?! Wilhelm, Wilhelm, Du bist wieder da?!“

Er faßte sie in seine starke Arme und hielt sie fest und dicht an seine Brust geschlossen. Große Tropfen rollten über sein männliches Gesicht. Damit saßen die Beiden zusammen nieder, sein Arm um ihren Leib, Wange an Wange, und schwiegen in den nächsten Augenblicken ganz still. Sie streichelte ihm nur die Hände. Endlich sagte er mit tiefem Athemzuge: „Jetzt ist Alles gut.“

Monika besann sich. „Ist es wirklich gut?“ sagte sie mit ängstlichem Blicke auf den Verband, welchen er am Kopfe trug. „Du bist verwundet – ist das schlimm? Wilhelm, wo kommst Du her? Bist Du von den Todten auferstanden? Sieh mein Kleid an! Ich trag’ seit vier Wochen Trauer um Dich.“

Er sah sie liebreich an und strich mit leiser Hand über ihr Gewand hin. „Das hab’ ich wohl gewußt,“ sagte er, „aber nicht, wie Dir dabei im Herzen zu Muthe war. Oft dacht’ ich daran und hätt’ ein Glied vom Leibe drum gegeben, das zu wissen. – Alles ist ganz natürlich zugegangen, Monika. Ich war für todt liegen geblieben, wie die Franzosen aber auf den Platz kamen, sahen sie wohl, daß ich mich noch regte, und nahmen mich mit. Da hab’ ich im feindlichen Lazareth gelegen, und zweimal sind Gefangene ausgewechselt worden, ohne daß ich nur davon was erfahren hätte, denn ich wußte nicht viel von mir selber, so lang ich so im Fieber dalag. Wie es besser ging – es hat gar keine Gefahr mehr, Monika – wie es also besser ging, bin ich mit noch Einigen zum Austausch an mein Regiment escortirt worden, und weil ich noch keinen Dienst thun kann, haben sie mir Urlaub gegeben, damit ich mich daheim auscurire. Bei der Gelegenheit hab’ ich auch den Herrn General gesprochen und von dem erfahren, daß Du bei dem Fräulein bist. Er hat eigens meine Reisekarte über München ausstellen lassen.“

„Und doch hast Du – weiter gewollt?“

„Wie hätt’ ich vor Dich hintreten können, Monika, nach Dem, was Du mir zuletzt gesagt hast? Ich meinte, wenn Du erführest, daß ich noch da bin, und denkst jetzt anders, dann müßtest Du mir selbst ein gutes Wort zukommen lassen. Wissen konnt’ ich ja nichts. Deßwegen hab’ ich nicht einmal in meinen Heimathsort schreiben mögen, als sie mir bei’m Regiment sagten, ich wär’ dorthin für todt gemeldet. Daß Du es jetzt bald erfahren würdest, wußt’ ich. Der Herr General hatte seinen Spaß daran, daß er mit der Nachricht das Fräulein überraschen wollte. Der Herr war gut zu mir, hat mich beschenkt und mir auch einen sicheren Civilposten in Aussicht gestellt, aber so lang er mit mir redete, war mir traurig genug zu Muth. Er wußte ja nichts, wie es mit uns Zwei stand, und machte seine Späße.“

Monika schwieg und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. „Hast Du mir denn verziehen, daß ich fort ’gangen bin?“ fragte sie endlich scheu.

„Ich hab’s begriffen; drum hab’ ich’s auch verzeihen müssen,“ sagte er in tief treuherzigem Tone. „Ich hab’ Dich viel zu lieb, als daß ich Dir lang hätte bös sein können. Und unser liebes Kind hat auch immer Deinen Namen gerufen, so oft es mir in den Sinn kam.“

Die junge Frau umschlang ihren Mann mit überströmenden Augen. „Und von Dir, Wilhelm, hab’ ich gemeint, Du hättest kein Herz! Verzeih’, o verzeih’ mir und vergiß für alle Zeit, daß – ich kein’s hatte, als ich Dich allein gelassen hab’! Jetzt bleiben wir beisammen in Ewigkeit.“
A. Godin.




Blätter und Blüthen.

Immergrüne Weihnachtsbäume. Während ich vor Kurzem mit dem Pflanzen junger Fichten beschäftigt war, erhielt ich den Besuch eines Pfarrers aus der Umgegend, der meine Gartenanlagen anzusehen wünschte. Da in denselben die Nadelhölzer eine ziemlich reiche Verwendung gefunden haben, theils freistehend, theils in Gruppen oder Hecken, so hatte ich wohl schon Gelegenheit, zu bemerken, welches Interesse, ja welche Bewunderung dieselben jederzeit bei den Besuchern erregten, und war namentlich deshalb, weil die Verpflanzung derselben im Allgemeinen vom Laien für eine sehr schwierige gehalten wird und etwaige Versuche damit ihm auch in der Regel mißlingen. Fast schwärmend äußerte sich aber der erwähnte geistliche Herr, und das frische Aussehen meiner Fichtenanpflanzungen veranlaßte ihn zu der halb vorwurfsvollen, halb ermunternden Frage, warum ich nicht auch Fichten und Tannen in Kübel einsetze, um so dieselben auch im Zimmer, und zwar insbesondere in Krankenzimmern, halten zu können. Suche man der Trockenheit der Zimmerluft durch Zimmer-Springbrunnen abzuhelfen, warum nicht diese Luft durch die würzigen Ausathmungen der immergrünen Nadelhölzer noch verbessern? In jedem Hause, vor Allen in Spitälern, Speisesälen, Corridors sollten Tannen und Fichten in Kübeln stehen! Die schönste Verwendung würde sie aber als Weihnachtsbäume finden. Seit Jahren habe er, wenn das liebliche Weihnachtsfest herannahe, mit Trauer daran gedacht, daß nun so viele Tannen- und Fichtenbäumchen gefällt, oder Spitzen hoher Tannen abgebrochen würden. Wie viele Nadelbäume könnten vor frühzeitigem Untergang bewahrt werden, denn jedes eingesetzte und gedeihende Bäumchen würde jedes Jahr einem Bruder im Walde das Leben retten. Seit etwa zehn Jahren habe er den Weihnachtsbaum in der eigenen Familie angezündet; hätte er gleich im ersten Jahre wenn auch nur einen kleinen lebenden Baum gehabt, so wären neun von dessen Brüdern mit ihm am Leben geblieben. Und erst welche Freude würde es den Kindern gewähren, wenn ihr Liebling nicht mehr entfernt zu werden brauchte, sondern den ganzen Winter hindurch, sei es auch ohne Schmuck, im Zimmer bliebe, und mit welcher Freude werden die Kinder den lieben Winterfreund auch im Sommer im Garten pflegen! Wird der Baum zu groß für das Zimmer, nun, so setze man [764] ihn in den Hof! Dort möge er hoch und mächtig werden, und vielleicht dem Greise, dem er in seiner Kindheit die erste himmlische Freude bereitet, nun auch die Bretter zur letzten Ruhestätte geben!

Es gereichte mir zum besondern Vergnügen, dem begeisterten Fichtenfreunde seine Eingangs aufgeworfene Frage in befriedigender Weise mit dem Hinweise auf zwei in Kübeln vor meinem Hause stehende Fichten beantworten zu können, sowie seiner Idee über deren schönste Verwendung die Thatsache an die Seite zu stellen, daß die fraglichen Bäume zu den erwähnten Zwecken bestimmt wären und bereits auch bei mir selbst als Weihnachtsbäume gedient hätten. Ebenso leicht war es mir, seinem Wissensdrange nach Behandlung der Nadelhölzer behufs ihrer erfolgreichen Verpflanzung Genüge zu leisten, denn die Behandlung derselben ist im Wesentlichen keine andere als die allen Baumarten zu Theil werdende. Beim Versetzen junger Pflanzen, zwei- bis dreijähriger, muß die Pfahlwurzel, die namentlich bei den Tannen außergewöhnlich lang ist, bis auf acht bis zehn Centimeter eingekürzt werden, bei größeren Bäumen vier- bis achtjährigen, sind auch die Seitenwurzeln, welche nur wenige Centimeter tief unter der Erde fortlaufen, bis auf zehn bis zwanzig Centimeter abzuschneiden; auch ist es rathsam, solche ältere Bäume, wenn sie nicht bereits in den früheren Jahren in der angegebenen Weise einmal versetzt worden waren, mit dem Erdballen zu verpflanzen und eventuell einzuschlemmen. Will man noch größere Bäume zu Anpflanzungen oder um Einsetzen in Kübel verwenden, so muß auch durch mehrmaliges Versetzen und Verschneiden der Wurzeln in der Baumschule für die Bildung einer der Größe des Baumes entsprechenden Wurzelkrone gesorgt worden sein, ganz wie bei allen anderen Bäumen auch. Die Zeit zur Verpflanzung der Nadelhölzer ist beliebig, nur dürfen sie nicht im Triebe stehen, was während der Monate Mai, Juni und Juli und je nach Gegend und Klima auch wohl im August der Fall ist. Ich habe als beste Zeit im Frühjahre die des Safteintrittes und im Herbste den October erprobt.

Sehr erfreut, daß der Durchführbarkeit der Idee keine praktischen Schwierigkeiten entgegenstehen, wie er immer gefürchtet, drang nun mein freundlicher Besuch in mich, das große Publicum mit der Sache bekannt zu machen und zu diesem Zwecke dieselbe in der „Gartenlaube“ zu besprechen, und da die Redaction sich in liebenswürdigster Weise zur Aufnahme einer diesbezüglichen Notiz bereit erklärte, glaubte der Unterzeichnete die oben geschilderte Begegnung als am geeignetsten hierzu dem freundlichen Leser bieten zu sollen. Mögen sich recht Viele an der Verbreitung und Durchführung der Idee betheiligen und sich so, nach dem Ausspruche meines geistlichen Besuchers, den herzlichsten Dank aller frohen Kinder und aller Tannen-Elfen verdienen!

     Kronstadt in Siebenbürgen, im October 1876.
O. Luckhardt.




Novellisirtes Lustspiel. Einen neuen Beitrag zum Capitel der literarischen Freibeuterei liefert uns ein Brief aus Königsberg von unserem geschätzten Mitarbeiter Ernst Wichert. Wir beeilen uns, derselben zur Warnung vor ähnlichen Vorkommnissen hier mitzutheilen.

     „Geehrte Redaction!

Sollte man es für möglich halten, daß es einem Menschen in den Sinn kommen kann, ein Lustspiel, das fast ein halbes Hundert Aufführungen im königlichen Schauspielhause zu Berlin erlebt hat, Repertoirestück des Wiener Hofburgtheaters und auf allen größten und kleinsten deutschen Bühnen heimisch geworden ist, das überdies in Reclam’s Universal-Bibliothek für zwanzig Pfennige erworben werden kann, in eine ‚Humoristische Original-Novelle‘ umzuschreiben? Dieses Ungeheuerliche leistet ein Herr Hermann Görwitz in einem in Zittau erscheinenden Blatte ‚Deutscher Kriegerbund‘ – officielles Organ diverser deutscher, mecklenburgischer, kur- und neumärkischer etc. Kriegerbünde, Wochenschrift für alle Vereine ehemaliger Militärs in Deutschland – und das Opfer ist mein Lustspiel ‚Ein Schritt vom Wege‘. Freilich nennt Görwitz die Quelle nicht, denn er schreibt ja eine humoristische ‚Original-‘Novelle, auch mißfällt ihm der Titel, und er macht daraus: ‚Des Premier-Lieutenants Flitterwochen im Bade‘, wie er denn auch sämmtlichen mithandelnden Personen andere Namen beilegt, aber damit hat seine Originalität auch ihr Genüge. Im Uebrigen hat er ganz harmlos Scene nach Scene in eine entsprechende Anzahl Original-Capitel umgewandelt und selbst große Theile des Dialogs wörtlich hinübergenommen. Daß Herr Görwitz mit dem Vermerke ‚Nachdruck verboten‘ am Kopfe seiner Novelle den Schutz des Gesetzes gegen literarische Freibeuterei in Anspruch nimmt, wird man nur vorsichtig nennen können; er scheint aus eigener Erfahrung zu wissen, wie gefährlich es ist, einen guten Einfall zu publiciren. Vielleicht passirt ihm noch die Unannehmlichkeit, daß Jemand seine ‚Original-Novelle‘ in ein deutsches ‚Original-Lustspiel‘ umschreibt und damit Geschäfte macht. Er würde es sicher sehr übel vermerken, wenn dann nicht wenigstens auf dem Theaterzettel zu lesen wäre: ‚Nach einer Original-Novelle von Hermann Görwitz.‘

Die Ungenirtheit, mit der hier fremdes Eigenthum benutzt wird, verdient Bewunderung. Aber so gern ich auch den deutschen Kriegern eine humoristische Unterhaltung gönne, zu der ich die Kosten trage, scheint es mir doch Pflicht, die Redactionen, denen etwa diese ‚Original-‘Novelle zum Nachdrucke angeboten werden möchte, öffentlich darauf aufmerksam zu machen, daß der muntere Vogel sich mit fremden Federn schmückt.

Die Klagen mehren sich, daß neu erscheinende Novellen und Romane von allgemeinem Interesse sofort in der schamlosesten Weise von Schauspielfabrikanten für ihre Zwecke ausgebeutet werden, aber in den meisten dieser Fälle wird doch wenigstens nicht versäumt, auf die Quelle hinzuweisen. Bleibt die umgekehrte Freibeuterei, bei der sogar geflissentlich durch Aenderung des Titels und der Namen der Ursprung verhüllt wird, ungerügt, so möchte bald Niemand mehr seines Gutes sicher sein.

Aus diesem für den ganzen Schriftstellerstand bedeutsamen Grunde halte ich die Sache für wichtig genug, um Sie ersuchen zu dürfen, in Ihrem weitest verbreiteten Blatte durch Veröffentlichung dieser Zuschrift davon Notiz zu nehmen.

Mit größter Hochachtung Ihr
ergebenster
Ernst Wichert.




Ein neuer amerikanischer Industriezweig. In Amerika haben sowohl die täglichen wie die wöchentlichen amerikanischen Zeitungen sehr große Auflagen, und man verlangt daselbst, daß broschirte Zeitschriften aufgeschnitten seien, ebenso die Bücher nur gebunden (oder wenigstens steif broschirt) und aufgeschnitten auf den Markt kommen. Nun haben die erfinderischen Amerikaner, um Zeit und Arbeitskosten zu sparen, längst daran gedacht, selbstarbeitende Falzmaschinen, verbunden mit Zuricht-Apparaten herzustellen. Unter allen denen aber, welche dieses Ziel verfolgten, haben die Herren Chambers Brothers u. Comp. zu Philadelphia, freilich nach einer mühevoller und große Kosten erfordernden Arbeit von fünfundzwanzig Jahren, den besten Erfolg errungen.

Sie haben Zeitungsfalzmaschinen erfunden, welche entweder an der Presse befestigt sind und dann mit derselben arbeiten oder gesondert ohne dieselbe. Auch können die feinsten Bücher auf diese Weise accurater, schneller und billiger gefalzt werden, als es mit der Hand geschehen kann. Andere solche Maschinen falzen und kleistern zugleich; wieder andere falzen, kleistern und broschiren etc.

Dies hat nun auf den Gedanken gebracht, ein eigenes Geschäft, eine „Versendungsanstalt“ zu begründen, dessen Aufgabe ist, Zeitungen, periodische Zeitschriften und dergleichen zu falzen, zu beschneiden, einzupacken und adressirt zur Post zu schaffen, ohne daß sich der Herausgeber darum im mindesten noch zu kümmern braucht. Viele Blätter haben diese Gelegenheit schon benützt, und es ist in der That eine große Verbesserung in der Expedition besonders von umfangreichen Wochenblättern, wenn man nun dieselben beschnitten und gekleistert oder geheftet, wie z. B. das „New Yorker Belletristische Journal“, welches acht Blätter enthält, wie ein Buch zur Hand nehmen kann. Und diese Zurichtung geschieht so schnell, daß, wie Herr Lexow, der Herausgeber des erwähnten Blattes, seinen Lesern versichert, das Blatt in derselben Zeit, wie früher, expedirt wird.

Ich glaube, diese Erfindung wird auch nicht ohne Einfluß auf das Zeitungswesen in Deutschland bleiben, und es wäre ein wirklicher, vom Publicum gewiß gewürdigter Fortschritt, wenn die Verleger ihre periodischen Zeitschriften, Broschüren und sogar Bücher aufgeschnitten, wie in Amerika, zum Verkaufe bringen würden.[1]
D.




Ein Leipziger Historiker als Humorist. In unseren Tagen, wo große und ernste Culturaufgaben zu lösen sind, wo über Arbeit und Mühen der naive Sinn und die echte Herzensfrische mehr und mehr verschwinden, ist der Humor, der Alles verjüngt und erquickt, eine köstliche Gottesgabe – und nun gar ein ganzes Heft voll heiterer Laune! Ein solches liegt uns in dem soeben erschienenen Werkchen „Lose Blätter und leichte Waare“ von dem Leipziger Geschichtsprofessor Woldemar Wenck (Leipzig, Bernhard Schlicke) vor. Es ist ein wahrer Jungbrunnen flott strömender Gemüthsfröhlichkeit, der in diesen „Gedichten für Stunden heiterer Einsamkeit“ seine Wasser rauschen und rieseln läßt und sie nicht selten zu prächtigen Cascaden launigen Uebermuths keck und frisch emporschnellt. Wer auf ein Stündlein hineinsteigt in das lustige Wellenbad, das sich hier aus den vollen Schläuchen Wenck’scher Witzeslust ergießt, der wird in den Strudeln und Sprudeln des Jocus alle Sorgen und Grillen hinwegspülen und sich gesund baden für so lange, wie diese leichtblüthigen Verse in ihm nachklingen, und nachklingen werden sie bei den meisten Lesern recht lange; denn das ist eben eine bezeichnende Eigenschaft dieser „Losen Blätter“ wie aller echten Poesie, daß sie eben so schnell und unmittelbar wie eindrucksvoll und nachhaltig wirken. Er hat einen kräftigen Zug und Flug, dieser Wenck’sche Humor, und doch ist er zart und decent genug, um selbst prüdesten Ansprüchen gerecht zu werden; er scheint leicht dahinzuflattern, und doch spricht aus ihm oft ein ernster Geist, stets ein feiner Sinn.

Unser Poet ist, soviel wir wissen, bisher nur in Albums und Sammelwerken mit seinen humoristischen Liederblüthen an die Oeffentlichkeit getreten, und dann auch wohl stets unter dem bescheidenen Mantel der Anonymität. Wir wissen es ihm Dank, daß er, die Aufgabe der heitern Muse richtig schätzend, gerade heute die fröhliche Schaar seiner sonst zerstreuten Geisteskinder in lachender Gemeinschaft mit Pritsche und Schellenkappe in die Welt hinaus sendet. Die Mission der humoristischen Dichtung, zu erfreuen und zu erheitern, ist, wie oft es auch anders scheinen mag, zu keiner Zeit gering zu schätzen, am höchsten aber steigt ihr Werth, wie schon angedeutet, in Zeiten rüstigen Bauens und Schaffens an großen Aufgaben, in Zeiten, wo wir uns in den kurzbemessenen Arbeitspausen, müde des Wirkens, nach einem heiteren, gutgelaunten Freunde umschauen, der dem Gemüthe Speise und Labung und so dem Geiste neue Kraft und frischen Muth bringe – in Zeiten, wie heute. Darum ein „Willkommen!“ dieser „leichten Waare“!




Ein Mitarbeiter der „Gartenlaube“, früherer Staatsbeamter, Dr. phil. und anerkannter populärwissenschaftlicher Schriftsteller, sucht eine seinen Kenntnissen und Leistungen entsprechende Stellung. Die Redaction dieses Blattes kann ihn bestens empfehlen und nimmt für ihn Anträge gesicherter literarischer Beschäftigung mit Angabe der Bedingungen gern entgegen. Der Betreffende würde sich namentlich zur Verwaltung wissenschaftlicher Sammlungen, Archive, Bibliotheken etc. sowie zu jeder Redactionsstellung gut eignen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ob sich diese Erfindung auch bei gut illustrirten Zeitschriften wird anwenden lassen, ist freilich noch die Frage.
    D. Red.