Die Gartenlaube (1877)/Heft 13

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[205]

No. 13.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Diese Demonstration der Einholung zu verhindern, war man außer Stande. „Wie aber wäre es,“ fragten sich die Mitglieder der Union, „wenn man zur nämlichen Stunde, da jene stattfinden sollte, eine Loyalitätskundgebung vom Stapel laufen ließe, etwa in einer der Kiefernlichtungen auf den jenseitigen Bergen? Wenn man diese zu einem Volksfeste gestaltete, die Tafel dieses Festes mit allen Genüssen reich besetzte, wie sie das Volk liebt?“ Man hatte Geld genug zur Verfügung, um es mit vollen Händen wegzuwerfen.

Die Idee ward mit Begeisterung aufgenommen, und die städtische Behörde genehmigte unbedenklich die Ausführung, halb und halb wider Erwarten. Sie konnte, wenn sie der Gegenpartei eine Gunst hätte erzeigen wollen, sehr leicht geltend machen, daß eine gleichzeitige Mobilisirung der beiderseitigen Truppen die Furcht vor Zusammenstößen nahe legen mußte. Aber das geschah nicht. Die Union wiederhallte von Jubel, und in den Fabriken begannen die nachdrücklichsten Werbungen der Geldfürsten.

In der Bürgerschaft waren die Wirthshäuser die Schauplätze heftiger Redekämpfe, welche in einzelnen Fällen selbst mit Thätlichkeiten endigten. In einem Wirthshause der Uferstraße zerschlug ein Färber die Scheibe vor dem Bilde des Abgeordneten, welches an der Wand hing, zog kaltblütig das Papier hervor, rollte es zusammen und zündete sich die Pfeife damit an; ein paar Minuten später lag er mit blutendem Kopfe auf der Straße und entging nur mit Mühe dem Schicksale, in den Fluß geworfen zu werden. Doch blieben dergleichen Fälle vereinzelt. Im Ganzen zeigte es sich, daß weitaus der größte Theil der Bürgerschaft zur Volkspartei gehörte. Bis in die niedersten Schichten konnte man über die Regierung schelten hören, und in den drastischsten Ausdrücken; die Handwerker würzten ihre Frühstückspausen mit heftigen Protesten gegen den Absolutismus, die Verletzung der Volksrechte, das Schergenthum, das fürstendienerische Ministerium.

Allmählich aber drangen ganz eigenthümliche Gerüchte in das Volk. Man nahm wahr, daß zwischen gewissen Leuten ein Geheimniß webte. In einzelnen Familien, bei denen man dergleichen nie bemerkt, tauchten Waffen auf, vielfach alte Schaustücke, aber für ihren Zweck immerhin noch brauchbar.

Und der Volksmund sagte: „Es geht los!“

Niemand gab bestimmte Anhaltspunkte, verbürgende Thatsachen für diese Ansicht wenn er gefragt wurde, und doch bildete sich mehr und mehr auch außerhalb des Kreises, welcher in den Plan Urban’s eingeweiht war, diese Ansicht zur Ueberzeugung heraus. Die Gewißheit kam, man wußte nicht wie; sie mußte in der Luft liegen, durch die Schlüssellöcher, die Ritzen der Thüren und Fenster eindringen, die Leute anfliegen wie die geheimnißvollen Keime einer Epidemie.

Die Häupter der Demagogie stutzten und schüttelten die Köpfe, aber dann beruhigte man sich. Der Revolutionsgedanke lag im Volke und vermischte sich, wie es schien, unwillkürlich mit dem Plane der Demonstration. Karl Hornemann selbst sprach es zuletzt aus, daß hier nur ein Mißverständniß auf seiten der Elemente vorliegen könne, welche der Agitation noch fern standen, wenn nicht etwa die Gegenpartei ihre Hand im Spiele hatte und jene Gerüchte auf böswillige Aussprengung zurückzuführen waren. Zum Ueberfluß beschloß man, die Getreuen zu warnen und zum Ersticken der verkehrten Auffassung der Sache aufzufordern, soweit sie das vermochten.

Man begegnete einem verständnißvollen Lächeln, das etwas Seltsames an sich hatte, und der unverzüglichen Zusage, und da man das erstere nicht zu deuten wußte, so hielt man sich an die zweite und gab sich zufrieden.

Urban triumphirte. Bis jetzt war alle Aussicht zum Gelingen seines keck angelegten Unternehmens vorhanden. Er arbeitete rastlos; er grübelte und zeichnete, um seine Dispositionen bis in's Kleinste fertig zu haben. Es war ein Riesenwerk, das er schuf, ohne jede Hülfe, und er mußte es schaffen, denn eine einzige wesentliche Lücke, in welche die Verwirrung einbrechen konnte, drohte Verderben für das Gelingen des Ganzen.

Und er war doch zugleich auch nach einer andern Seite hin thätig. Der Fabrikleiter Bandmüller hatte nach seinem Abenteuer nur kurze Zeit am Wundfieber darnieder gelegen; dann war seine Genesung rasch vorwärts geschritten. Er[1] besuchte wieder die Fabrik des Commerzienrathes, dem er über die Entstehung der Wunde ein wohlfeiles Märchen aufgeheftet hatte. Urban erneuerte ihm von Zeit zu Zeit den Verband. Aus der Hand des Letztern empfing er Schriftstücke, die er nach Hause nahm; er brachte andre zugleich mit jenen zurück, deren Beschaffenheit einer sorgfältigen Prüfung unterzogen wurde. Urban wählte einige wenige aus, alles Uebrige wurde den Flammen übergeben, bis jedes einzelne Theilchen zu Asche verglommen war.

Eines Tages erhielt der Doctor einen ganz ungewöhnlichen Besuch: der Polizeicommissar Donner trat in seine Stube. Er blickte den Arzt, der ihn sehr unbefangen begrüßte, mit dem triumphirenden Lächeln eines Mannes an, welcher für den Andern eine große Ueberraschung in der Tasche hat. [206] „Doctor,“ sagte er, nachdem er sich an der scheinbaren Neugier Urban’s eine Weile geweidet, „an Ihnen ist ein Polizeigenie verloren. Jetzt haben wir ihn, und nunmehr, so hoffe ich, soll ihn nichts mehr retten.“

„Ich verstehe Sie nicht. Von wem ist die Rede?“

Statt aller Antwort warf Donner vier Briefe auf den Schreibtisch, sämmtlich Zehren’s Adresse tragend.

„Ah – ich verstehe,“ sagte Urban. „Ein Fischzug auf der Post wahrscheinlich?“

„Lesen Sie! Ich erlaube es Ihnen. Jeder für sich genügt, um ihn mir an’s Messer zu liefern.“

Die Poststempel nannten rheinische Städte als Absendungsorte, aber nur zwei der Briefe waren aus den entsprechenden Orten datirt; mit Chiffren unterzeichnet, enthielten sie statistische Angaben hinter einigen Namen von Ortschaften: Zahlen mit dem Beisatze „Personen“ oder „Comitémittel“, außerdem etwas Text in Geheimschrift. Die zwei anderen Briefe waren durchaus in Geheimschrift abgefaßt.

„Das sind mir böhmische Dörfer,“ sagte der Doctor, nachdem er die Schriftstücke überblickt hatte.

Donner klopfte ihm gnädig lächelnd auf die Schulter. „Etwas Scharfsinn – dann geht es schon. Lesen Sie diese Ueber- und Unterschriften rückwärts!“

„London Circularschreiben, Italienisches Actions-Comité – Paris, Revolutionäre Liga, Abtheilung Deutschland,“ buchstabirte Urban. Er versuchte in der nämlichen Weise auch das Uebrige zu lesen, aber es gelang nicht.

„Verstehen Sie sonst noch etwas?“ fragte er unschuldig.

„Noch nicht,“ erwiderte der Commissar mit Betonung. „Aber ich hoffe gleichwohl dahinter zu kommen. Um ihn verhaften zu dürfen, habe ich vorläufig Material genug. Leider ist er gegenwärtig noch nicht von der Reise zurück, aber ich denke, daß er bei dem Feste nicht fehlen wird, wenn ich ihn nicht schon ein paar Tage vorher unschädlich gemacht habe.“

„Uebereilen Sie sich nicht, Donner! Ich würde in Ihrer Stelle warten, bis er sich eigenhändig um seine politische Unschuld geschrieben hat. Sie müssen diesmal ganz sicher gehen.“

Urban zog, während er dies sprach, wie im Spiel ein Zündhölzchen aus einem vor ihm stehenden Behälter und entzündete die Flamme. Plötzlich raffte er die Briefe zusammen und brachte sie in die Nähe des Brandes. „Wie wäre es?“ lachte er.

„Sind Sie des Teufels?“ schrie der Commissar, sprang mit einem Satze vorwärts und entriß ihm die Papiere, die er eiligst in der Brusttasche barg. „Sie können einmal die schlechten Scherze nicht lassen. Leben Sie wohl!“

Als der Beamte die Thür zugeschlagen, athmete der Doctor tief auf, indem er lose Blättchen beschriebenen Papiers ordnete, welche er im Verlauf des Gesprächs bei Seite geschoben hatte. „Gott sei Dank! Das wäre etwas für diese Spürnase gewesen!“ Dann dachte er einen Augenblick nach und murmelte: „Es ist ein Judasstreich, aber ich muß ihn von ihr trennen, es koste was es wolle! Die Festungen geben Keinen heraus, den sie einmal sicher haben.“ – –

Ein paar Tage nach seinem Wiedereintritt in die Fabrik hatte Bandmüller eine eigenthümliche Besprechung mit dem Commerzienrath Seyboldt.

Der Fabrikant hatte in der Frühe wieder eine seiner bekannten Andachten gehalten, verbunden mit der Ermahnungsrede, in der er den Gehorsam gegen die gottverordnete Obrigkeit mit einer Schärfe und Leidenschaftlichkeit gepredigt hatte, wie seine Leute solche an ihm seit dem vorübergehenden Krankheitsanfalle nicht wieder bemerkt. Als er fertig war, winkte er dem Fabrikleiter, ihm zu folgen. Er führte denselben schweigend in den thaufrischen Garten hinunter.

„Bandmüller,“ sagte er, „der Satan erhebt sein Haupt am hellen Tage, und seine Genossen verlassen die Höhlen und Klüfte und suchen die Sonne auf. Der gottverachtenden Revolution wird Macht gegeben, Triumphe zu feiern. Es soll mich nicht wundern, wenn das Gerücht Recht hat und wir am Vorabend offener Empörung stehen. Wie ist augenblicklich die Stimmung unter meinen Leuten beschaffen? Halten Sie es für nöthig, daß wir zuvor noch eine Scheidung der Schafe von den Böcken vornehmen? Und wieviel Arbeiter würde mich dies kosten?“

Der Fabrikleiter schielte den sichtlich Erregten von der Seite an. Dann zog er die Augenbrauen hoch und schien ein wenig nach Worten zu suchen, während das, was von seinem Gesicht zu sehen war, sich röthete.

„Ich habe traurige Erfahrungen gemacht,“ antwortete er endlich zögernd und mit einer gewissen Salbung im Tone. „Wir werden nichts thun können, denn ich muß leider die Ueberzeugung aussprechen, daß sie allzumal angesäuert sind. Sie lassen sich die Meinung nicht ausreden, daß Ihr Vermögen, Herr Commerzienrath, zum größten Theil ihnen selbst gehöre, und ich fürchte –“

„Was fürchten Sie?“

„Daß die Zeit nahe ist, wo sie ihr vermeintliches Eigenthum fordern werden.“

„Die Revolution? Wird sie kommen? Wissen Sie etwas Positives darüber?“

„Sie wird kommen, bald und schrecklich. Ich besuche nicht umsonst den Wiedenhof; ich habe dort die Ohren offen gehalten.“

„Also wirklich?“ seufzte der Commerzienrath vor sich hin. „Und alle meine Arbeiter verdorben, rettungslos verloren? Es ist nicht möglich.“

„Es ist Thatsache,“ meinte Bandmüller achselzuckend.

„Können Sie mir nähere Angaben machen? Wissen Sie Rath zu schaffen?“

Der Commerzienrath blieb stehen und faßte den Andern beim Rockknopf. Der Fabrikleiter legte die Hände auf dem Rücken zusammen, nagte an der Unterlippe und überlegte einen Augenblick.

„Es giebt zwei Mittel, um Ihr ganzes Eigenthum zu sichern, für deren Erfolg ich bürge. Entweder Sie schwören selber zur Revolution – –“

„Sind Sie verrückt?“ rief der Fabrikant zornig.

„Oder ich thue es für Sie, natürlich nur äußerlich.“

„Was soll das nützen?“

„Ich erinnere mich einer Erzählung meines Großvaters aus der Zeit der Napoleonischen Eroberung,“ meinte Bandmüller zögernd. „Die Stadt, in welcher er wohnte, wurde geplündert, und ein Trupp Franzosen war im Begriff, sein Etablissement in Brand zu stecken. Aber mein Großvater wußte Rath. Er ging zum Obersten und bot demselben das Recht des Mitbesitzes an. Während der notarielle Act aufgesetzt wurde, erschien auf dem Grundstücke meines Großvaters ein Detachement, welches die Brandstifter auseinander jagte und die schärfste Wache hielt. Dieses Opfer hatte die Folge, daß dem klugen Manne während der ganzen Franzosenzeit kein Haar gekrümmt und weiter kein Pfennig genommen wurde.“

Der Commerzienrath lachte höhnisch auf. „Sie sind in der That sehr bescheiden in Ihren Forderungen, mein lieber Bandmüller.“

„Sie müssen mich nicht falsch verstehen,“ beeilte sich dieser zu erläutern. „Geben Sie mir einen kleinen Antheil am Geschäft, ernennen Sie mich zum Compagnon – dann dürfen uns die Schurken nichts anhaben. Ich spiele den Demokraten und eine Krähe hackt eben der andern die Augen nicht aus.“

Er forschte heimlich nach dem Eindruck, den diese Worte auf den alten Herrn machten, und bemerkte, daß er nachdenklich geworden war.

„Es ist gut. Sie können jetzt wieder zu den Leuten gehen,“ sagte der Commerzienrath plötzlich und sah ihn mit den kleinen scharfen Augen durchdringend an. „Ich werde Ihren Vorschlag in Erwägung ziehen.“ Eine kurze Handbewegung bestätigte dem Fabrikleiter, daß er entlassen war.

Das Gesicht Bandmüller’s glänzte. „Es scheint wirklich, daß man es auch mit Solidität zu etwas bringen kann, wenn man die nöthige Grütze im Kopfe hat,“ sprach er vor sich hin, als er sich in gehöriger Entfernung von dem Principal befand. „Aber nur kein gutmüthig-dummes Vertrauen! Ich werde heute noch meine Unterofficiere den Eid der Treue leisten lassen.“

Am Ausgang des Gartens trat ihm Toni entgegen, frisch wie eine thaugebadete Rosenknospe im Aufbrechen; sie nickte ihm freundlich zu, und er blieb plötzlich stehen und küßte ihr die Hand. Sie blickte ihm voller Erstaunen nach und strich sich über die Hand.

„Brr!“ sagte sie; „der schreckliche Bart!“

Gegen Abend schafften Leute ein Bierfaß in die Wohnung Bandmüller’s, der am Flußufer wohnte. Später sammelten sich in derselben nach und nach wohl fünfzehn Männer, lauter bekannte Gesichter aus der Seyboldt’schen Fabrik; auch Sebulon Trimpop [207] kam, aber ohne seinen Collegen, den langen Abraham. Es ging laut und lustig zu in dem kleinen Raume; die hell erleuchteten Fenster flammten im Wiederschein des Wassers drunten; rauhe Kehlen sangen bis über die Mitternacht hinaus, und als eine taumelnde Gestalt nach der andern auf die Straße trat, um den letzten Rest von Besinnung nach Hause zu tragen, blieb nur Einer noch übrig, um sich die Hände zu reiben und verschmitzt zu lächeln – der Fabrikleiter Bandmüller.




13.


Der Sonnabend vor St. Kilian war herangekommen und die Aufregung in der Stadt eine fieberhafte.

Die eine Hälfte der Arbeiter feierte und füllte die Wirthshäuser und Straßen in und vor der Stadt; die andere war beschäftigt, aber nicht in Fabriken oder Werkstätten, sondern daheim, bei der alten Balkenbrücke am menschenbesäeten Rauhenfelde, endlich auf der Kiefernlichtung mit dem pinienartig gewachsenen, weithin sichtbaren Riesenstamme in der Mitte. Diese lag auf dem Berge über’m Flusse drüben, und die Union ließ sie durch Plankenverschläge einzäunen. In der Stadt hatte die Volkspartei mit Bekränzung und Beflaggung der Häuser, mit Vorbereitungen auf eine Illumination, mit Vervollständigung der Rüstungen zu thun. Die Absicht, Tag’s darauf loszuschlagen, wurde von Unvorsichtigen bereits mit einiger Dreistigkeit zur Schau getragen, und die Anfragen dieserhalb bei den Häuptern der Partei, soweit dieselben das Festcomité bildeten, mehrten sich zu deren größter Beunruhigung. Es kam selbst eine vertrauliche Anfrage aus dem braunen Cabinet im Rathhause, in dem das Oberhaupt der Stadt Audienz ertheilte, und Karl Hornemann ließ sich einen Weg dorthin nicht verdrießen, um beschwichtigende Erklärungen abzugeben. Der Triumphbogen war ziemlich fertig; durch die sechs grünbewundenen Säulenpaare drängten die Neugierigen; auf den großen Feuerleitern hantierten noch ein paar Leute mit Guirlanden und Flaggen, welch letztere, wie die meisten Fahnen, welche in der Stadt auf die Straße niederhingen, die verpönten schwarz-roth-goldenen Farben zeigten, zum Aerger Donner’s, der sich mehrmals auf dem Rauhenfelde blicken ließ. Auch die Brücke wurde in wirkungsvoller Weise decorirt.

Ein kecker, rauflustiger Geist beseelte die Masse. Derbe Witzworte, welche weithin belacht wurden, Drohungen gegen mißliebige Personen, namentlich gegen anwesende Polizeibeamte, laut erschallende revolutionäre Gassenhauer belebten das bunte Bild. In der Kleidung der Menge waltete die blaue Blouse entschieden vor; Frauen zeigten sich verhältnißmäßig wenige.

Zuweilen ließ sich einer der Führer sehen; man machte ihnen respectvoll Platz, während ein endloses „Hurrah!“ die Luft erzittern ließ. In solchen Momenten bekam man eine Ahnung von der Summe der Kraft, welche sich hier zusammendrängte. Dieser Menschenhaufe in ameisenartiger Erregung und größter Einmüthigkeit in der äußeren Haltung machte einen beklemmenden Eindruck.

Bei den Vorbereitungen der Union auf dem Berge ging es weniger lebhaft zu. Man zimmerte, rammte Pfähle ein, überspannte Zelte, richtete Kletterbäume auf mit Nadelgrün, Bändern und einem Allerlei von Geschenken auf der Spitze, kurz, bereitete auf's Vollständigste alle Requisiten vor, welche erforderlich sind, um einem Volksfeste die rechte Würze zu geben. Im Hintergrunde war man sogar im Begriffe, die Bestandtheile eines Caroussels zu vereinigen; die abgegriffenen Pferdeköpfe mit den kläglich blickenden Lackaugen ragten mumienhaft unter buntfarbigen Draperien hervor. Hier und da standen Pechtonnen, bestimmt, das Feuerwerk zu verstärken, mit welchem man die Illumination der Volkspartei zu übertrumpfen beschlossen hatte. Flatternde Fahnen, Wimpel, Bänder trugen durchaus das preußische Schwarz-Weiß. Der gewaltige Plankenzaun ging seiner Vollendung entgegen; in einer fertigen Ecke lagerten Fässer und Kisten mit Lebensmitteln in mächtigem Haufen.

Das Clublocal der Union glich einem Taubenschlage; einen sonderlich siegesgewissen Eindruck machten die Gesichter der Aus- und Eingehenden keineswegs, wohl aber lagerten auf mancher Stirn schwere Sorgenwolken. Es war nicht der Einzug des Abgeordneten, der die Stirnen kraus zog und die harten, trüben, giftigen Worte hervorlockte, – es war das Medusenhaupt der Revolution, das seine Schlangen schüttelte.

In allem dem wilden unruhigen Treiben bewegte sich still und feierlich wie ein sinniges Kinderspiel die Sorge um den heiligen Kilian. Der Sacristan stäubte in der Kirche den Purpur-Baldachin aus, unter welchem der hochwürdige Dechant mit dem Allerheiligsten ziehen sollte, und putzte Geräthschaften blank, und die Mütter nähten und bügelten die weißen Kleidchen und suchten die Lockenwickel für die Kleinen, welche mit pochenden Kinderherzen der Herrlichkeit des Kilian’s-Tages gedachten und die Lieder zu Ehren des Schutzpatrons probirten.

Selig sind die Kinder! Aber die Freiheit ist ein Lorbeerreis für Sieger, und der Kampf braucht Männer.

Die Sonne stand bereits tief am westlichen Himmel, über einem blau-schwarzen Streifen Gewölk, welcher den Horizont wie mit einer Mauer besetzte. Durch die schon abgekühlten Straßen schritt Urban, die Lippen zusammengepreßt und die Augen von trotziger Entschlossenheit leuchtend. Seine Stunde war nicht ferne mehr; das Terrain war von nun ab ziemlich frei für ihn, denn die übrigen Großmächte des Wiedenhofes saßen in drei Karossen und fuhren die Chaussee hinauf, um dem Erwarteten entgegenzufahren und erst am nächsten Morgen zugleich mit demselben zurückzukehren. Unter diesen Großmächten befand sich diejenige, welche er am meisten fürchtete: Karl Hornemann.

Er hatte die Boten aus dem Rauhenfelde abgefertigt, und war im Begriffe, Bandmüller aufzusuchen, den er auf die Chaussee, in die Nähe der Schmiede, bestellt hatte.

„Nun?“ fragte er, als er ihn an der bezeichneten Stelle mit ingrimmigem Gesichte antraf, „was giebt’s? Sie sehen ja aus, als wollten Sie Jemandem den Hals umdrehen.“

„Privatangelegenheiten,“ war die durch die Zähne gegebene Erwiderung. Der Zornige besann sich indessen eines Besseren und fügte mit bitterem Lachen hinzu: „Ich habe vorhin eine kleine Auseinandersetzung mit dem Commerzienrath gehabt. Ich hatte neulich die unterthänigste Frechheit, ihm eine Bitte vorzutragen, nicht ohne daß ich ihm eine Gegenleistung anbot – damals vertröstete er mich in hoffnungerweckender Weise – und heute schlägt er mir Alles rundweg ab; ich mag nicht sagen, wie! Wenn ich diese Rechnung mit dem heimtückischen Schleicher ausgleichen werde, dann gnade ihm Gott!“ Er stieß mit dem Fuße einen Stein fort, daß er weit über die Chaussee hinflog.

„Seien Sie nicht so heftig!“ sagte Urban. „Uebrigens bin ich auch der Ansicht, daß das einzig Gute an ihm seine Tochter ist,“ scherzte er.

„Sie ist vorhin hier vorbeigefahren,“ meinte Bandmüller; „der Alte hat sie der Vorsicht halber auf’s Land geschickt, damit morgen ihre Nerven nicht in Gefahr kommen.“

„Wohin denn?“

„In die Erlenfuhrt. Hornemann’s Schwester wohnt seit einiger Zeit dort.“

Urban ließ die Augen unruhig über den Fluß schweifen bis auf den Berg hinauf, wo die schwarz-weißen Fahnen der Union flatterten.

„Bandmüller,“ sagte er, „Sie können mir einen Gefallen thun. Sorgen Sie, daß die Leute heute mit dem letzten Zuge richtig fortkommen! Hier haben Sie Geld. Ich verspüre eine merkwürdige Lust, einen Spaziergang in die Erlenfuhrt zu machen. Wollen Sie?“

Er reichte dem Fabrikleiter ein paar Goldstücke, welche dieser mit einem mißtrauischen Blick auf den Geber in Empfang nahm.

„Wollen Sie Fräulein Toni besuchen?“

„Nicht sowohl Fräulein Toni wie vielleicht Jemand Anderes.“

„Aha! Nun, was die Eisenbahnsache betrifft, so dürfen Sie sich auf mich verlassen. Ein Hurrah! für morgen!“

Urban ging schnellen Schrittes die Chaussee hinunter, an der Schmiede vorüber und weiter.

Es war nicht das erste Mal, daß er in jüngster Zeit diesen Weg gemacht hatte.

Eines Abends war der kleine Herr Pieper bei ihm eingetreten und hatte ihm ein rosenfarbenes Billet mit einer Empfehlung von Fräulein Seyboldt überreicht. Ohne Anrede und Unterschrift sagte ihm dieses Billet, daß Milli Hornemann, wie sie selbst in einem Briefe angezeigt, gar nicht mehr in der Stadt, sondern bei ihrer Verwandten in der Erlenfuhrt wohne. Schreiberin dieses sei daher vorläufig außer Stande, ihr gegebenes Versprechen zu erfüllen. Seitdem hatte der Doctor trotz der riesigen Anstrengungen, [208] die er sich neben seiner Praxis zumuthete, mehr als einmal Zeit zu finden gewußt, um die Erlenfuhrt aufzusuchen. Er war durch die paradiesische Gegend gestrichen, heimlich wie ein Dieb, um das schöne Mädchen zu überraschen; er hatte hinter den Uferbäumen in der Nähe des Hauses Schildwache gestanden, auf einer Felskuppe, welche die Gegend beherrschte, stundenlang gelegen, um das helle, modische Sommerkleid zu erspähen, welches sie von jeder Bewohnerin dieses Landaufenthaltes unterscheiden mußte. Alles umsonst.

Fast widerwillig empfand er, wie ein geheimer Zug, eine unruhige Sehnsucht in ihm zunahm, die ihn in ihre Nähe zwang, sehr verschieden von jenem anfänglichen Gefühl beleidigten Stolzes, das Rechenschaft für die demüthigende Enttäuschung, für die plötzliche Entfremdung forderte. Einst, in der Knospenzeit seiner Neigung, hatte er Aehnliches gefühlt, später nie wieder.

Es giebt stolze, selbstbewußte und selbstsüchtige Herrschernaturen unter den Menschen, die nur das lieben, was sie abstößt und was sie nicht zu ihren Füßen zwingen können. Sie bedürfen der Demüthigung, um zu lieben, denn die Liebe fängt mit der Demuth an. War er eine solche Natur? Und geschah es darum, daß jene süße Mischung von Wehmuth und Sehnsucht ihn wieder quälte, wenn er ihr fern war, und daß die Luft in der Erlenfuhrt ihn geheimnißvoll elektrisch berührte, – darum, weil sie ihn verstoßen hatte?

Was ihn in diesem Augenblick gerade zu der abendlichen Wanderung trieb – er hätte es schwerlich zu sagen gewußt. Die Worte Bandmüller’s hatten bewirkt, daß aus dem dumpfen Gewirr ganz anderer Interessen und Ideengänge plötzlich die farbenglänzenden Gestalten der beiden Mädchen vor seiner Phantasie auftauchten und je lebhafter er sie vor sich sah, desto mehr zerfloß das Uebrige in formlosen Nebel. Ihm schwebte eine dunkle Hoffnung vor, daß das lebenslustige junge Mädchen die Freundin in’s Freie locken und außergewöhnlich lange im Freien halten würde.

Sein Herz brannte leise. Hinter ihm ging der Mond auf; als er sich umwandte, sah er ihn wie eine große Goldorange auf dem Berge liegen. Der dunkelnde Höhenzug spiegelte sich schwarz in dem Flusse, nur ein schmaler Streifen Wassers war mit den stillen himmlischen Sternen wie mit Feuerfunken besät. Dann und wann sprang ein Fisch aus der Fluth oder flatterte eine Fledermaus lautlosen Fluges durch seinen Gesichtskreis.

Die Erlenfuhrt, von der die Rede ist, bestand nur aus einigen wenigen Häusern: ein paar Bauernwirthschaften, einem kleinen Hammerwerke, sowie einem sehr primitiv eingerichteten Gasthause. Die wohlhabendste der Bauernwirthschaften war es, in welche die Schwester des Pascha sich zurückgezogen hatte. Die Lage dieser Niederlassung, auf dem rechten Flußufer, war von hohem Reize. Gärten lagen zwischen den Häusern und dem Wasser; die kleine Thalausweitung strotzte von Ueppigkeit. Unterhalb des Ortes unterbrach eine Felspartie den ruhigen Lauf des Flusses; schroffe, ausgewaschene Schiefermassen stiegen an beiden Ufern empor, und in mächtigem Sturze sauste die Wassermenge polternd und zischend in eine ziemlich bedeutende Tiefe nieder, um, aus einem Schaumstrudel auftauchend, sich allmählich zu beruhigen und friedlich weiter zu fließen. Vielklippig ragte es aus dem Falle empor, feuchtglänzend und dunkel starrte das zerrissene Ufergestein, in dessen Klüften sich Moose und Farrnbüschel angesiedelt hatten. Ueber dem Kessel schnitt die kleine Wasserschwalbe durch die Luft und flog der schillernde Eisvogel herüber und hinüber.

Noch weiter unten, wo die Schiefermassen sich in das Thalniveau hinabsenkten, führte eine breite Holzbrücke über den Fluß. Die Chaussee umging die Erlenfuhrt und ihre Felsen und lief am Fuße des steil abfallenden Bergzuges hin, der den Hintergrund des Bildes ausmachte, aber ein Fahrweg zweigte sich nach der Brücke ab und setzte sich auf dem linken Ufer fort, wo er alsbald im dichten Gehölz verschwand. Dort wuchs zwischen dem saftgrünen Buchengebüsch die zartglänzende Stechpalme und rankte das wilde Geisblatt mit den großen, süßduftenden Blüthen. Und wenn die heiße Sommersonne in die Blätter schien, schwärmte und summte es in den Büschen, und die Grasmücken und Finken schlugen, und die Meisen zwitscherten. Sie war eines Besuches wohl werth, diese Landschaft in der Nähe der staubigen, dampfenden, lärmenden Fabrikstadt.

Es war noch heller Tag, als Toni Seyboldt, von Johannes mit den muthigen Apfelschimmeln gefahren, in der Erlenfuhrt anlangte. Der Wagen bog in das Gehöft; die Hunde bellten; die Hähne krähten, und in der Hausthür stand die schöne, ernste Freundin und empfing die kleine Sylphe, die ihr schon aus dem Wagen Kußhände zuwarf.

„Wie Du blaß aussiehst!“ sagte diese besorgt. „Freilich, wenn man solche Dinge erlebt wie Du, wird man in alle Ewigkeit keine Landpomeranze. Ich hoffe, daß Du mich wenigstens durch eine kleine Ritze in Dein Herz sehen läßt, arme Milli. Was mich betrifft, so kannst Du sicher sein, daß ich Dir eine ganze Bibel voll offenbaren werde. Was hast Du denn die ganze Zeit hier getrieben? Hast Du Tauben und Hühner gefüttert?“

Emilie lächelte trübe. „Es giebt hier nicht viel zu thun für mich; ich habe auch nicht viel Zeit für fremde Arbeit gehabt, denn ich hatte mit mir selber genug zu thun. In der letzten Zeit habe ich doch noch eine andere Beschäftigung gehabt; Du wirst sie nicht errathen: ich habe einen Bären gezähmt!“

Toni blickte sie fragend an.

„Ja, staune immerhin! Einen großen, stattlichen blonden Bären, und rauh und ungeleckt war er genug. Er lebt im Wirthshause, wo er sich, wie ich glaube, meinethalben einquartiert hat: mit einem Worte, es ist ein Freund meines Bruders, der mich hier aufgefunden hat und Harro heißt. Du wirst ihn kennen lernen und dann begreifen, daß mir die Zeit hier nicht lang geworden ist. Er ist jetzt zu den Zigeunern in den Wald hinübergegangen, denn Zigeuner haben wir auch hier, und ein hübsches, wunderliches Geschöpf von Zigeunermädchen ist dabei und eine arme Frau, die im Sterben liegt.“

„Ich kenne das Mädchen, wenigstens glaube ich gewiß, daß es die nämliche ist, die mir und –“

„Und?“

„Mir und dem Doctor Urban prophezeit hat,“ schloß Toni und senkte erröthend die Augen. „Wir müssen nachher auch einmal hinüber gehen,“ sagte sie lebhaft hinzu.

„Ich denke, wir gehen erst in das Haus,“ sagte Milli Hornemann abbrechend.

Sie saßen ein halbes Stündchen in der Idylle des Bauernhauses, mit der Besitzerin, einer freundlichen Matrone, plaudernd, welche die städtische Herkunft nicht verleugnete, und sie tranken dazu Milch, die sie mühsam vor den Fliegenschwärmen schützten. Toni erklärte, daß sie mit Johannes und den Pferden bis zum Abende des folgenden Tages Urlaub habe, wenn nicht bis zu diesem Termine noch eine nachträgliche Verlängerungsbewilligung eingetroffen sein werde. Es sei nämlich, wie ihr Papa gesagt habe, den nächsten Tag über nicht geheuer in der Stadt; Johannes behauptete sogar, es werde eine Revolution geben, aber Papa hätte gemeint, das sei gar nicht wahr, es würden nur zwei Volksfeste gefeiert.

„Zwei Volksfeste? Ich weiß nur um eines,“ sprach Milli, und ihre Augen begannen zu glänzen, „bei welchem Karl, mein Bruder, an der Spitze stehen wird.“

„Nein, ganz gewiß zwei, nämlich noch eines, wobei Papa mitwirkt, mit den schwarz-weißen Fahnen der Union. Wenn ich morgen Abend zurückfahren muß, solltest Du mich eigentlich begleiten, Milli. Es giebt Illumination und Feuerwerk zu gleicher Zeit.“

„Einen Augenblick Geduld!“ sagte Milli Hornemann, indem sie hastig aufstand und die Stube verließ. „Eine Revolution – es ist möglich,“ murmelte sie draußen, und ihr Herz klopfte heftig. „Karl vielleicht auf den Barrikaden und alle die tapferen Herzen neben ihm, und ich –!“

Ihr Antlitz verfinsterte sich, und ihre Lippen preßten sich fest aufeinander; sie war auf dem Wege zu dem Kutscher, der im Stalle den Pferden Hafer vorschüttete. Aber wenn sie gehofft hatte, von diesem etwas Bestimmtes zu erfahren, so sah sie sich getäuscht; er kannte nur das Leutegerede, den heftigen Zwiespalt und die Aufregung in der Stadt. Gleichwohl kehrte sie lebhaft bewegt und mit stolzerer Haltung in die Stube zurück, und sie hing mehr ihren Gedanken nach, als daß sie auf das Gespräch Acht gab.

(Fortsetzung folgt.)



[209]
Der Pionier des Volksrechts.

Seit einer Reihe von Jahren stand er mit der Weise seines Auffassens und Urtheils in ausgesprochenem Gegensatze zu den Ansichten und Bestrebungen, welche die Mehrheit seiner Nation bewegten. Fehlte es seinem Lebensabend auch nicht an dem erwärmenden Lichte treuester Verwandten- und Freundesliebe, so war doch seine Stellung als Politiker immer mehr eine vereinsamte geworden inmitten großer geschichtlicher Processe und Umwandlungen, die nicht nach seinem Sinne sich vollzogen und zu denen er kein anderes Verhältniß finden konnte, als das der Verwerfung und des Widerspruches.

Johann Jacoby.
Orginalzeichnung von Adolf Neumann.

Unter diesen Umständen war es natürlich, daß die Stimme des altbewährten Volksmannes ihren früher so machtvollen Einfluß verlor und allmählich eine kühle Entfremdung Platz griff zwischen ihm und der Macht einer veränderten Zeitströmung. So stand es länger als ein Jahrzehnt hindurch bis zu seinem Ende, und erst sein Tod rief das Bewußtsein tiefer liegender Beziehungen von Neuem in den Ueberlebenden wach. Als die Nachricht kam, daß sein Auge für immer sich geschlossen, da zeigte sich doch ein stilles Neigen der Häupter und eine Regung ernster Ergriffenheit in allen politischen Kreisen. Aller Orten haben die hervorragenden Organe der Presse mit unzweideutiger Anerkennung seinen Namen gefeiert, und viele Tausende aus der Nähe und Ferne folgten in feierlichem Zuge dem lorbeergeschmückten Sarge, als man ihn am 11. März dieses Jahres durch die Straßen seiner Vaterstadt Königsberg zur letzten Ruhestätte führte. Wo in Deutschland während dieser zweiten Märzwoche denkende Menschen bei einander waren, da ist auch unzweifelhaft der Name Jacoby mit Ausdrücken der Ehrfurcht und Dankbarkeit genannt worden. Es sind das die Gefühle, mit denen der bewußte Theil der Nation auf das frische Grab des Mannes blickt.

Die Ehrfurcht gilt der Persönlichkeit und dem ganzen Leben des Mannes, der Dank dem unsterblichen Verdienst, das er einst [210] als hervorragender Kämpfer und Märtyrer für die Sache des unterdrückten Volksrechts um die freiere Entwickelung unserer vaterländischen Zustände sich erworben hat. Um das zu würdigen, muß man freilich alle heutigen, schon einer hohen Stufe des Fortschritts entsprossenen Streitpunkte zur Seite lassen und sich um vier Jahrzehnte zurückversetzen können in gänzlich andere Verhältnisse, von denen das inzwischen auf dem Boden der Freiheit erwachsene Geschlecht sich kaum eine deutliche Vorstellung zu bilden vermag. Es war eine harte und trostlos öde und doch eine in der Tiefe ihres Wesens vom wärmsten Leben beseelte Zeit, diese sogenannte vormärzliche Zeit der dreißiger und ersten vierziger Jahre. Aus dem gesammten Leben lag entwürdigend, herabdrückend und lähmend die schwere Hand des Absolutismus und seiner Polizei- und Beamtenherrschaft, aber aus dem Innersten der Seelen strahlte bereits wie Frühlingsschimmer und schwellendes Maiengrün ein schwung- und begeisterungsvoller Freiheitsdrang, der Gedanke an eine lichtere Zukunft, die im Schweiße des Angesichts erstritten werden müsse. Ein junger Geist rang aus Druck und Verkümmerung sich los und eröffnete mit kühnen Gedanken und aufrüttelnden Erweckungsrufen, in Versen und in Prosa, den Kampf gegen die engen Kerkerwände. Wer möchte leugnen, daß aus diesen Gluthen manche große Erkenntniß, manche zukunftsreiche Lichtsaat aufgestiegen ist? Dennoch aber war es im Ganzen ein Zustand unklarer und zusammenhangsloser Gährungen, die an sich selber nichts ausgerichtet, keinen Schritt breit der Wirklichkeit erobert hätten, wäre die Bewegung nicht so stark gewesen, aus ihrem Schooße Männer zu erzeugen, die mit scharfem Auge ihre wesentlichen Kernpunkte zu erfassen und dem wirr durcheinander wogenden, vielfach auf Nebensächliches gerichteten Streben die rechten Zielpunkte zu bezeichnen wußten. Auf dem religiösen Gebiete war das am Ende der dreißiger Jahre schon geschehen, aber auf dem Felde der politischen Meinungen herrschte noch ein buntes Durcheinander, das zur Erreichung eines wirklichen Befreiungszweckes nicht die geringste Aussicht bot.

So schwach stand es, trotz aller lebendigen Thätigkeit, mit der Bewegung gegen die bestehende unheilvolle Staatseinrichtung, als plötzlich im Jahre 1841, kurz nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten, in Mannheim eine Schrift erschien, die den einfachen Titel führte: „Vier Fragen. Beantwortet von einem Ostpreußen“. Ein unscheinbares Schriftchen, kaum drei Bogen stark, aber getragen von einem Geiste, erfüllt von einem Inhalte, deren gewichtvolle Kraft sofort dem Streben der Opposition die mangelnde Bestimmtheit der Richtung gab. Die Sprache war so einfach und gemeinverständlich, der Ton so ruhig und frei von aller revolutionären Stürmerei, die Haltung des Ganzen maßvoll und an das Bestehende anknüpfend. Hatte man aber diese scharf hingestellten Sätze gelesen, so mußte man sich sagen, daß sie den vernichtendsten Schlag ausmachten, der bisher gegen das absolutistische System geführt worden war. So durchschlagend und unwiderleglich war in dem Büchlein nicht blos die Unhaltbarkeit dieses hartnäckig festgehaltenen Systems, sondern auch die ihm mangelnde Existenzberechtigung nachgewiesen. Es waren damals noch nicht die Tage der Parlamente und Volksversammlungen, der Preß- und Redefreiheit, die dem Gedanken so viel von seiner Wirkung genommen haben. Rein stieg das Wort noch aus der Wärme der Geister auf und fand in weiten Kreisen noch eine reine und unermüdete Empfänglichkeit. Niemand fiel es ein, jene kleine Schrift nur wie ein literarisches Product zu betrachten. Von vornherein galt sie als ein Ereigniß, wurde sie als eine eingreifende That gefühlt, die zwei seit lange in wirrem Kampfe miteinander ringende Zeiten für immer auseinander schied: hier die Nacht und Erstarrung, dort der Morgen und ein neu verjüngtes Leben, von dem nunmehr der Nation gesagt wurde: du hast ein unveräußerliches Recht darauf, und ich zeige dir den geraden und ehrlichen, den ebenen und sonnnenhellen Weg, auf dem du es erreichen sollst.

Was die Schrift darlegte, das war ja im Grunde nicht neu, das wußten Viele, das lebte als ein ahnungsvoller, mehr oder weniger dunkler Drang in Unzähligen. Bündig und schlagend aber, mit siegesgewisser Zuversicht und unanfechtbaren Beweisen hatte sie zusammengefaßt und zu klarstem Ausdrucke gebracht, was alle Geweckten im Volke dachten und die Gewalthaber mit aller Macht zurückdrücken und zu offener Aeußerung nicht kommen lassen wollten. Darin lag das Geheimniß ihres Eindrucks. Wer war der Entzünder einer solchen Flamme? Niemand wußte es. Man rieth auf einen der mißliebig gewordenen freisinnigen Staatsmänner aus der Zeit der Befreiungskriege und man wunderte sich unter den damaligen Verhältnissen nicht, daß er die Vorsicht beobachtete, seinen Namen verborgen zu halten. In beiden Punkten jedoch irrte man sich. Der anonyme „Ostpreuße“ war ein hochintelligenter junger Arzt in Königsberg, gehörte also dem politisch für unzurechnungsfähig gehaltenen unbeamteten Unterthanenstande an. Und er war so wenig geneigt, der Verantwortung für seine freimüthige Aeußerung sich zu entziehen, daß er diese selber vertrauensvoll dem Könige zusandte mit voller Nennung seines Namens: Dr. Johann Jacoby. Auch das wurde bekannt und mit unbeschreiblicher Spannung erwartete man im Publicum die Folgen dieses offenen und mannhaften Schrittes.

Sie kamen aber anders, als die Vertrauensseligen es sich dachten. Jacoby wurde des Hochverraths angeklagt und in erster Instanz zu dritthalbjähriger Festungshaft verurtheilt. Es gab indeß noch ein Kammergericht in Berlin, auf dessen Rechtsprechung Gunst und Ungunst der Mächtigen keinen Einfluß hatte. Unter dem Vorsitze des streng königstreuen Grolmann sprach das Kammergericht den Verurtheilten vollständig frei. Wir erwähnen das, weil es eine der Glanz- und Ehrenthaten altpreußischer Justiz in den Tagen des unerschütterten Absolutismus war. Auch von den „Vier Fragen“ war damit der Bann genommen, und sie erfüllten nun ungehindert ihre Mission; nicht in den Regierungskreisen, die nach wie vor in ihrem Widerstande gegen die Regungen und Bedürfnisse des Volksgeistes verharrten, wohl aber in großen Schichten des Volkes, das endlich in den Märztagen 1848, den Mahnungen Jacoby’s zufolge, „als ein erwiesenes Recht in Anspruch nahm, was es früher als eine Gunst erbeten hatte.“ Das Volk ging dabei weit über die ersten mäßigen Forderungen Jacoby’s hinaus, aber die Richtung, den ersten wirksamen Anstoß, hatte er dem Kampfe gegeben und sein Name wird für alle Zeiten mit der Verfassungsgeschichte unseres deutschen Vaterlandes verknüpft bleiben. Denn was in Preußen geschah, das geschah für ganz Deutschland.

Jacoby war sechsunddreißig Jahre alt, als er seine „Vier Fragen“ in die Welt sandte, und vollauf erlebte er noch die Genugthuung, eine neue Welt jungen Freiheitslebens aus der morschen Staatsruine erblühen und seine Ueberzeugung bestätigt zu sehen, daß er nur ausgesprochen habe, was lange minder bewußt auf den Lippen des Zeitgeistes gelegen hatte. Diese seine vormärzliche That ist das Hauptverdienst seines Lebens geblieben. Nachher haben wir ihn stets noch mit schärfster Ausprägung als Stimmführer in den vordersten Reihen und in allen Phasen des Fortschrittskampfes gesehen, und man weiß ja unter Anderem, wie er einst in kritischem Momente dem von einer Deputation der Nationalversammlung sich abwendenden König das historisch gewordene Wort zugerufen: „Es ist eben das Unglück der Könige, daß sie die Stimme des Volkes nicht hören wollen.“ In den Annalen der Parlamente, auch in den Chroniken der Gerichte und Gefängnisse ist das fernere politische Leisten des Königsberger Arztes für immer verzeichnet; es war nicht arm an hervorragenden Momenten, aber eine eingreifende Wirkung seiner Stimme, oder ein Einfluß, wie ihn etwa große Redner und Schriftsteller auf ihre Zeit gewinnen, ist nicht wieder zu bemerken. Seine Bedeutung wurde eine andere: sie lag fortan in dem Gewicht und dem Beispiel seiner ganzen Persönlichkeit.

Jacoby ragt aus seiner Zeit hervor als ein Charaktergenie ersten Ranges, als ein selbstlos und unerschütterlich seiner Erkenntniß folgender Denker. Die Consequenzen seines Denkens hatten über sein ganzes Sein und Wesen eine solche Macht, daß er gegen mächtige Geschichtsverläufe sich auflehnte, wenn sie andere Wege als diejenigen gingen, die er für die rechten und wahren hielt. Wie ihn peinliche Verfolgungen und Kerkerleiden seinen Ueberzeugungen niemals untreu machen konnten, so auch nicht der wider ihn heraufziehende Sturm der Andersgesinnten, nicht das Loos der Vereinsamung und die Abwendung alter Genossen und Freunde. Mögen Unzähligen seine Schritte in den letzten Jahren unbegreiflich erschienen oder doch in besonderem Grade unsympathisch gewesen sein, so sprechen doch Freunde wie Gegner das Richtige aus, wenn sie jetzt sich in dem Urtheile vereinigen, daß mit ihm ein heldenmüthiger und hochverdienter Mann von großer Begabung, [211] von seltener Weisheit und Tugendstärke dahingegangen, ein liebevoller und liebenswürdiger Mensch mit ungewöhnlich werthreichen Eigenschaften des Geistes und Herzens. Auch da, wo das Verhalten des alternden Mannes nicht gebilligt wurde, auch da stand er in himmelweiter Ferne von allem Kleinen und Gemeinen, war einzig nur Hohes, Gutes und Edles das Ziel seines Strebens. Sein Andenken wird in Ehren bleiben, so lange in Deutschland der Glanz des Idealen nicht verblichen ist.




Weltschrift und Weltsprache.
Von Carus Sterne.
II.

Jene bei aller ihrer Umständlichkeit bewunderungswürdige Weltsprache der Seeleute zeigt nun den höchst empfindlichen Mangel, bei Nacht und Nebel durchaus unanwendbar zu sein. Ohne die für sie bestimmten Nachrichten empfangen oder andere absenden zu können, fahren die Schiffe Nachts bei den telegraphischen Stationen der Semaphoren vorüber; ohne sich zu erkennen, ohne die geographische Länge, den Compaßbericht austauschen, ja ohne eine Hülfsbitte aussprechen zu können, müssen die bestbefreundeten Capitaine stumm und unerkannt aneinander vorübersegeln. Das Einzige, was bisher erreicht wurde und dessen Unterlassung mit Strafen bedroht ist, besteht darin, daß die Schiffe, wie unsre Straßenfahrzeuge, verpflichtet sind, durch an bestimmten Stellen angebrachte Laternen einander mitzutheilen, ob Boot, Segelschiff oder Dampfer und zwar Passagier- oder Schleppdampfer, ob sie vor Anker liegen oder in Bewegung sind, und welche Richtung sie haben. Es ist dies unumgänglich erforderlich, um die Zusammenstöße der Schiffe, die ein Sechstel aller Seeunfälle ausmachen und deren Zahl so groß ist, daß auf jeden Tag im Jahre durchschnittlich fünf Zusammenstöße gerechnet werden können, möglichst zu vermindern.

Diese einfache internationale Sicherheitssprache zur See besteht nun darin, daß jedes ruhende Schiff ein weißes, fünf Seemeilen weit sichtbares Licht an bestimmter Stelle zeigen, jedes in Bewegung befindliche aber an seiner linken Flanke (Backbord) ein rothes, an seiner rechten Seite (Steuerbord) ein grünes Licht, beide zwei Seemeilen weit sichtbar, führen soll. Das Dampfschiff unterscheidet sich von dem Segelschiffe noch dadurch, daß es außer diesen beiden farbigen Laternen ein weißes weitersichtbares Licht am Vordermaste zu führen hat. Die Unterlassung dieser Vorschriften ist nicht nur an sich strafbar, sondern führt dazu, daß bei vorgekommenem Zusammenstoß zweier Schiffe der in dieser Hinsicht nachlässige Schiffsführer als der schuldige Theil unnachsichtlich zum Schadenersatz verurtheilt wird.

Die beiden farbigen Lichter, so angebracht, daß ihr Schein sich nicht vermischen kann, machen die Durchführung der auch auf der See geltenden Vorschrift „Rechts ausweichen!“ des Nachts allein durchführbar. Es gilt dabei als Hauptregel, daß, wenn man von der grünen oder der rothen Seite blos gleichfarbiges Licht gewahrt, keine Gefahr zu besorgen steht, wohl aber, wenn bei gerade entgegenkommenden Schiffen beide Laternen sichtbar sind, oder bei sich kreuzenden ungleichartige Farben einander gegenüber erscheinen. Thomas Gray, der Secretär des englischen Handelsamtes, hat diese Steuerregeln zur bessern Einprägung in das Gedächtniß angehender Seeleute in Schulverse gebracht, wie die Grammatiker die lateinischen Genus-Regeln, und sein Sprüchlein für zwei kreuzweise laufende Dampfer lautet zum Beispiel:

Wird Roth am Steuerbord geseh’n,
So heißt es: Aus dem Wege geh’n!
Wie du wirst manöv’riren müssen,
Hast du als Seemann selbst zu wissen.

Siehst du jedoch am Backbord Grün,
Brauchst du dich weiter nicht zu müh’n.
In diesem Fall muß Grün sich klaren
Und hat dir aus dem Weg zu fahren.

Die Anwendung farbiger Signallaternen, die für Eisenbahnen so schweren Bedenken unterliegt, da das Vermögen, die Farben zu unterscheiden, so häufig mangelt, hat zur See weniger Bedenken, da die Richtigkeit der Lichterstellung und der daraus sich ergebenden Manöver stets von vielen Augen überwacht wird und nicht blos von zweien, wie im Eisenbahnbetriebe.

Bei dichtem Nebel lassen auch die Laternen im Stiche und es gilt dann die Vorschrift, langsam zu fahren und durch in kurzen Pausen wiederholte Töne sich mittelst Dampfpfeife oder Nebelhorn als Dampf- oder Segelschiff zu erkennen zu geben. Vor Anker liegende Schiffe jeder Gattung haben in ebenso kurzen Pausen die Schiffsglocke zu läuten. Die vor einigen Jahren (1873) angestellten Versuche des englischen Physikers Tyndall haben glücklicher Weise ergeben, daß der Schall, im Gegensatze zu älteren Ansichten, bei nebeliger Luft in der Regel viel weiter, in einzelnen Fällen dreimal so weit hörbar ist, als bei klarer Luft im Sonnenscheine, weil bei Nebelwetter die Luft gleichartiger gemischt ist.

Alle diese Mittel aber entsprechen nur dem einfachsten und dringendsten Bedürfnisse der Schiffe, sich einander bemerklich zu machen und den Weg zu sichern. Zu den wichtigsten Problemen der Schifffahrt zählt daher immer noch dasjenige, die Weltzeichensprache des Signalbuchs auch über Nacht und Nebel triumphiren zu sehen. An Vorschlägen in dieser Richtung hat es bei der ungeheuren Bedeutung des Gegenstandes natürlich nicht gefehlt. Da das Signalbuch die Grundlage alles weitern Vorgehens bleiben mußte, so kam es natürlich darauf an, die Buchstabengruppen durch Laternen oder Töne auszudrücken. So hat der englische Capitain Bolton die Consonanten durch Stellung einiger Laternen in verschiedenen Linien, Dreiecken etc. ausdrücken wollen, sein Landsmann Mitchell die Consonanten B bis H durch einen bis sechs Lichtblicke in weißem Licht, J bis P ebenso in rothem und Q bis W in grünem Licht darzustellen vorgeschlagen. Obwohl man für solche Blickfeuer besondere Laternen hergestellt hat, konnten diese Methoden sich nicht den Beifall der maßgebenden Autoritäten erwerben.

Sehr bemerkenswerth erschien nun in dieser Beziehung der in dem Artikel „Allerlei Lichter im Botendienst“ (Gartenlaube 1876, Nr. 12) näher behandelte Vorschlag von Bolton und Colomb, die Buchstaben des Signalbuchs in Morse-Schrift zu geben, indem man die Punkte derselben durch einen kurzen Lichtblick, die Striche durch eine länger dauernde Lichterscheinung ausdrücken wollte, und dieser Gedanke ist so einleuchtend, daß die Erfinder sogar vorschlagen, auch bei Tage statt der Nah- und Fernsignale einen Apparat anzuwenden, der, am Maste aufgezogen, nur in schneller Aufeinanderfolge Striche und Punkte darstellen und dadurch die Buchstaben des Signalbuchs bezeichnen sollte. Das Beachtenswertheste an dem Vorschlage ist, daß sich, wie W. H. Baily in Manchester gezeigt hat, die Morse-Sprache sehr wohl in die Töne der Dampfpfeife oder des Nebelhorns übersetzen läßt, indem man durch kurze, schrille Töne die Punkte und durch langgezogene die Striche bezeichnet. Er hat eine kleine Dampfpfeife construirt, die bei dem dicken Nebel, der die Schallsignale erforderlich macht, fünf Kilometer weit hörbar ist, und durch die es möglich sein würde, alle Zeichen des Signalbuchs in die ungewisse Ferne zu senden. Uebrigens dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß der berühmte Physiker Tyndall obigen Vorschlag in neuester Zeit dahin abgeändert hat, an Stelle des kurzen und längern Lichts, kurze und längere Lichtunterbrechung, das heißt Dunkelheit zu empfehlen, sodaß ein andauerndes Licht als Ausgangszustand angenommen wird.

Bei solchen in schneller Aufeinanderfolge gegebenen Zeichen besteht indessen ein großer Uebelstand darin, daß sie eben nicht der aufmerksamen Betrachtung Stand halten und leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben können. Bei den früher beschriebenen Flaggen und Fernsignalen gilt die Regel, daß das gegebene Zeichen nicht eher eingezogen werden darf, als bis der angeredete Schiffsführer seinerseits das Zeichen: „Ich habe verstanden“ gegeben hat. Ein solches Warten auf das Verständniß ist nun bei den Lichtblicken und kurz abgerissenen Tönen nicht möglich, ohne ihnen ihren Charakter zu nehmen. Der französische Schiffsfähndrich Moritz hat daher für die ähnliche Darstellungsweise [212] der Morsezeichen durch elektrisches Licht (vergleiche „Gartenlaube“ Nr. 12[WS 1]) einen Registrir-Apparat erfunden, der die in die Ferne entsendeten Lichtsignale bucht, damit man sie, namentlich bei Vermuthung von Mißverständnissen, zurückfordern und vergleichen kann, ein für diese Verständigungsmethode unumgängliches Controlmittel. So würde man auch nur dann mit der Dampfpfeife eine sichere Verständigung in Morsezeichen herbeiführen können, wenn das andere Schiff zunächst wie ein Echo die empfangenen Töne wiederholte.

Aus allen diesen Gründen erscheint eine andere Wiedergabe der Morseschriftzeichen, die an sich, als international vereinbart, für sehr geeignet gelten müssen, wünschenswerth. Ohne von den Versuchen der englischen Capitaine Kenntniß zu haben, war der deutsche Fabrikant Gustav Wiese aus Hannover auf demselben Wege zu zweifellos viel besseren Methoden gelangt. Nach mannigfachen anderen Versuchen, das Signalbuch auch bei Nacht brauchbar zu machen, erschien es nämlich auch ihm als das Beste, das Morsesystem anzuwenden, aber die Striche und Punkte, die zu einem Zeichen gehören, als wirkliche Striche und Punkte in dauernder Lichterscheinung nebeneinander zu stecken, so daß zur ruhigen Abnahme des Signals Zeit gegeben ist. Er benützte zur Darstellung der Punkte runde Laternen, für die Striche langgestreckte Glaskästen mit vielen Flammen, wobei er zur Erleuchtung ein leicht herstellbares Luftgas eigener Erfindung, von einer großen Leuchtkraft, benützte. Wiese stellte unter der Aegide des Nautischen Vereins in Hamburg vielfach, zuletzt am 19. und 20. Juli Versuche mit seinem Apparate an, die vollkommen gelangen und bei der Wichtigkeit der Sache die Aufmerksamkeit der Fachleute erregten.

Die kaiserliche Admiralität, an die sich Wiese mit seiner Erfindung gewandt hatte, forderte denselben auf, in Kiel vor einer besonders dazu ernannten Commission weitere Versuche mit seinen Nachtsignalen anzustellen. Im Verfolge derselben stellte sich nun heraus, daß die verschiedenen Laternenformen doch in gewissen Entfernungen und Lagen schwer zu unterscheiden sein möchten, weshalb Wiese ohne Zögern die Methode aufgab, um sofort eine noch bessere an ihre Stelle zu setzen. Die letztere besteht einfach in der Anwendung eines weißen Lichtes für den Punkt und eines rothen für den Strich. Mit Leichtigkeit kann jeder Buchstabe und somit jedes Zeichen des internationalen Signalbuches in dieser Lichtschrift hergestellt werden, und somit ist der Gebrauch der Weltsprache auch für die Nachtstunden durch ein einfaches, sicheres Verfahren ermöglicht worden.

Der einzige Einwurf, den man der Wiese’schen Methode machen konnte und gemacht hat, bestand darin, daß das rothe Licht der gewöhnlichen Schiffslaternen höchstens zwei Seemeilen weit sichtbar sei. Der Erfinder construirte nun Laternen, deren Licht vermittelst einer verbesserten Lampe und eines besondern Linsensystems weiter trägt, als man es irgend für die Signalsprachen nöthig hat – nämlich vier Meilen – Laternen, die man indessen zunächst als uneinführbar bezeichnet hat, weil sie mit Petroleum gespeist werden. Trotz der augenscheinlichen Wichtigkeit aller dieser Verbesserungen scheint doch bei den maßgebenden Behörden eine große Lauigkeit denselben gegenüber obzuwalten, und es mag sich dies zum Theile daraus erklären, daß man bei uns in Schifffahrtsangelegenheiten gewöhnt ist, den englischen Vorschlägen und Einführungen den Vortritt zu lassen. Der Erfinder hat für seine langen und theuren Versuche nichts als die Mühe und die Genugthuung erhalten, im Allgemeinen die Wichtigkeit seiner Verbesserungen anerkannt zu sehen, ohne aber durch Geld oder eine entsprechende Anstellung dafür entschädigt zu werden. Hoffen wir, daß es ihm nicht gehen möge, wie es W. Bauer mit seinen Erfindungen gegangen ist!

Die Richtigkeit des Gesichtspunktes, von welchem Wiese, statt des kurzen und langen Lichtscheines, weißes und farbiges Licht anwendete, ist soeben auch durch einen Vorschlag eines englischen Physikers, Sir William Thomson, anerkannt worden, sofern derselbe, statt der kurzen und langgezogenen Tönen der Nebelsignale, die Anwendung verschieden hoher Töne vorschlägt, die man vermittelst einer schneller oder langsamer gedrehten Sirene geben könnte. Statt der Sirene, die aus einer schnellgedrehten, am Umfange mit vielen Löchern versehenen Radscheibe besteht, deren Oeffnungen ein Dampfrohr beständig öffnen und schließen und daher je nach der Schnelligkeit der Aufeinanderfolge höhere und tiefere Töne von großer Durchdringungsfähigkeit ergeben, hat ein französischer Physiker, Montenat, kürzlich eine von ihm erfundene Abart der sogenannten chemischen Harmonika vorgeschlagen, ein kupfernes Rohr, in welches an einem Drahte ein Körbchen mit glühenden Kohlen hinabgelassen wird und das dadurch, je nach der verschiedenen Weite des Rohres, tiefe und höhere Töne von großer Intensivität hervorbringt. Da alle diese Vorschläge erst einige Monate oder höchstens zwei bis drei Jahre alt sind, so läßt die lebhafte Inangriffnahme der hochwichtigen Aufgabe ihre baldige Lösung mit Sicherheit erhoffen.


Ich streue Blumen auf dein stilles Grab.


 Ich streue Blumen auf dein stilles Grab,
Und meine Thränen fallen brennend nieder
Und sagen dir und sagen immer wieder,
Wie gar so innig ich geliebt dich hab’.

Ich streue Blumen auf dein stilles Grab.
Weil sie mir treue Liebesboten waren
In jenen blüthenreichen, sonn’gen Jahren,
Als sich dein Herz in Liebe mir ergab.

Ich streue Blumen auf dein stilles Grab,
Damit sie heute dir wie damals sagen:
Ich will dein Bild in meinem Herzen tragen.
Bis ich auch sinke einst zu dir hinab.

Ich streue Blumen auf dein stilles Grab –
Mit dir versank mein blumenreiches Leben;
Oed’ liegt mein Haus; es klagt der Quell daneben,
Und meine Hand umfaßt den Wanderstab. –

So will ich einsam wandern auf und ab,
Doch kehr’ im letzten Abendroth ich wieder,
Dann knie’ ich betend hier noch einmal nieder
Und streue Blumen auf dein stilles Grab. –

Otto Brandstädter.

Slavische Osterfeier.

Vor mehr als zwanzig Jahren reiste ich in der serbischen Woiwodschaft als „Grundbüchler“, das ist als kaiserl. königl. Beamter, zur Regelung und Comattirung der arg zerfahrenen Grundverhältnisse nach jenen Provinzen entsandt, um an Ort und Stelle die Erhebungen zu pflegen und Abänderungen zu treffen.

Eisenbahnen gab es noch nicht; ich reiste mit Wagen und zwar mit „Vorspann“, die mir kraft meines Amtes auf Regierungsbefehl von Station zu Station (eine Station je zwei deutsche Meilen) unentgeltlich beigestellt wurde. Das Fuhrwerk war elend, die Straßen noch elender, am elendesten aber die Gasthöfe. Mit Ausnahme der größeren Städte überall schwarzgeräucherte Spelunken, der Aufenthalt von Zigeunern, betrunkenen Hirten, Bauern und Räubern. An ein Uebernachten darin war, abgesehen von dem Schmutze und dem Mangel an jeder Bequemlichkeit, nur mit Schaudern und geladener Pistole zu denken. Sie waren auch gar nicht auf Reisende eingerichtet; die Bevölkerung übte nach Landessitte die weitgehendste Gastfreundschaft, und hatte man nur einen Bekannten und ein Empfehlungsschreiben an eine vornehmere Familie auf der ersten Station, so wurde man von dem edlen Gastfreunde an seine Vettern oder Freunde im nächsten Orte gewiesen und konnte überall der zuvorkommendsten Aufnahme gewiß sein. Den Werth klingender Münze für die Bewirthung vertraten entsprechende Werthgegenstände in Form von Geschenken an Frau, Töchter oder den Hausherrn selbst.

Meinen nächsten Aufenthalt sollte ich bei einem griechischen Popen in der Comitatsstadt Zombor nehmen. Der Abend senkte sich schon herab; die scharfe Aprilluft und das Rütteln des hochrädrigen Leiterwagens hatte mich todtmüde und hungrig gemacht; endlich nach achtstündiger Fahrt über Löcher und Schollen, – Wege konnte man die tiefspurigen Geleise, deren Richtung wir [213] in dem klebrigen Lehmboden folgten, kaum nennen – nahten wir unserm Ziele. Einzelne Lichter tauchten am äußersten Horizonte der Steppe wie Sterne auf; die kleinen Pußtapferde witterten die Nähe der Stadt und somit Streu und Hafer, setzten sich in kurzen Trab, und bald hielten sie wiehernd vor der Residenz des Popen.

Es war ein ebenerdiges, gelblichgetünchtes Häuschen, mit blanken Fenstern und einem Vorgärtchen, das ein niedriges, grünes Holzgitter umzäunte. Der wachsame Wolfshund an dicker Kette meldete durch lautes Bellen die Ankommenden, und gleich darauf erschien ein stattlicher Herr in geistlicher Kleidung, der Pope selbst, und führte mich in das Haus.

Der saubere Kiesweg führte in eine Säulenhalle, wie sie in jenen Gegenden jedes Bauernhaus nach dem Hofe zu umgiebt. Die Säulen, die das Schindel- oder Strohdach stützen, sind zwar nur aus Backsteinen oder Lehmerde gebildet, mit Kalk übertüncht und von einfachster dorischer Form; der Boden ist mit Backsteinen belegt, und die Festons, die sich bunt von Capitäl zu Capitäl ziehen, sind blos Hanfseile mit Maiskolben, rothem Paprika und Flaschenkürbissen behangen. Aber auch die armselig plumpen Gebilde mahnen an ihre edle Abkunft von der classischen Baukunst des griechischen Alterthums.

Von dem Gange führte, nur durch eine Stufe erhöht, eine offene Thür in die Küche; an der Schwelle derselben stand eine freundliche ältere Frau und ein hochgewachsenes schlankes junges Mädchen, Frau und Tochter des Popen; sie bewillkommneten mich mit großer Herzlichkeit, zu groß, um wahr zu sein. Griechen, Serben und die meisten übrigen Slaven werden von den andern Nationalitäten der Heuchelei geziehen. Doch liegt in allen Höflichkeitsformen der Gesellschaft etwas Lüge und Uebertreibung, der man Berechtigung zugesteht, und beim Empfange wirkte diese conventionelle Höflichkeit viel angenehmer, als die ungeschminkte Rohheit, der ich bei den übrigen Stämmen in den „interessanten Ländern“ zu begegnen pflegte. Wir traten in die Küche, einen weiten, hohen Raum, dessen rückwärtige, durch zwei vorspringende Pilaster alkovenartig abgetrennte Hälfte von einem riesigen offenen Feuerherde eingenommen wurde, während die vordere Abtheilung das Wohnzimmer der Familie bildete. Rechts und links führten Thüren zu den Fremden- und Schlafzimmern. Wohlthuende Wärme durchströmte das weite Gemach, dessen ganze Breite von einem langen Eichentische und gleichen Bänken darum eingenommen wurde. Eine Anzahl Wachskerzen, die dem Haushalte des Popen reichlich von Begräbnissen und andern Feierlichkeiten zufließen, spendeten angenehmes Licht. Um den Tisch saßen eine Menge Leute, meist in geistlichen Gewändern, die Collegen und Schüler des Hausherrn. Bald war er mit ihnen in lärmendem Gespräche über die Ereignisse des Tages; Gelehrsamkeit ist nicht die Sache der niedern griechischen Geistlichkeit. Die Frauen waren wieder an ihre häusliche Arbeit gegangen, und ich lehnte still in einer Ecke, von dem Uebergange aus der Kälte in die Wärme etwas betäubt und Speise und Schlaf ersehnend, doch Beides gewährten mir die neidischen Götter in jener Nacht nur in sehr geringem Maße.

Zwar lag ein blendend weißes, an den Rändern buntgesticktes Tischtuch ausgebreitet, zwar wurden mächtige, sonnenförmige Aschkuchen aus der dunkeln Höhlung des Backofens gezogen, zwar schauten Schinkenknochen verrätherisch aus den rußigen Töpfen, so oft der Dampf mit brodelndem Gezisch die blanken Blechdeckel secundenlang emporhob, auch dampfte in einem Winkel der Küche aus einem großen Kupferkessel ein verlockend duftender Brei, aber meine freudige Erwartung wurde bald enttäuscht. Es war Charsamstag; alle diese Herrlichkeiten wurden für das morgige Fest bereitet; heute gab es auch im Hause des Popen, wie seit vierzig Tagen in der ganzen Gegend nur Brod, Bohnen und Slivovic (Zwetschkenbranntwein), welch letzterem meine Tischgenossen unermüdlich zusprachen.

Lieber Leser! Wenn es schon unmöglich ist, „toujours perdrix“ zu essen, so versichere ich dich, daß es noch viel unmöglicher ist, toujours Bohnen, Zwiebeln und Branntwein, nicht allein zu essen, sondern nur zu riechen, zu sehen – schließlich kehrte sich mein gebildeter Magen schon bei dem Gedanken daran um und hatte allen Appetit verloren; ich erhob mich, der schönen Tochter des Hauses,die mit riesiger Kelle in dem Kessel rührte, Gesellschaft zu leisten.

Eben hatte eine handfeste Bauernmagd den Inhalt in schöngeformte Thongefäße gefüllt; eine andere warf neue Buchenklötze in den Feuerraum, die halbverlöschte Gluth neu anfachend; dann hoben sie den geleerten Kessel wieder in die Höhlung, gossen einige Henkelkrüge Milch hinein und einen Scheffel reinen Weizen dazu. Während die „kuhäugige“ Lexa wieder zu rühren begann, brachte die Popadia (Frau des Popen) je eine Schüssel geschälte Mandeln und Rosinen, auch einige Gläser weißen Honig und mengte sie in den Weizenbrei.

„Um Himmelswillen, Gospodicna?“ fragte ich, erstaunt ob der Menge und Seltsamkeit des Gerichtes, „mästen Sie kleine Kinder oder Schweinchen mit dem süßen Zeuge, oder für wen sonst bereiten Sie das?“

„Für die fromme Heerde meines Vaters,“ lachte das junge Mädchen übermüthig. „Diese Gefäße werden morgen früh, sammt den Kuchen, die Sie dort sehen, in die Kirche gebracht und geweiht; nach dem Gottesdienste nimmt jeder Kirchenbesucher ein Löffelchen voll Brei, dann wird seine Ernte das nächste Jahr ergiebig.“

„Wieder ein Atom lebendiger Culturgeschichte, ein übriggebliebenes Stückchen Adoniscultus,“ dachte ich bei mir und wollte, da ich nun einmal aus die Wohlthat des Essens verzichten mußte, wenigstens die des Schlafens genießen. Ich wandte mich wieder zu dem Tische und ersuchte meinen geistlichen Gastgeber, der sich an der Branntweinflasche merklich begeistert hatte, mir eine Ruhestätte anzuweisen.

„Lexa! Leuchte unserm Gaste voran!“ lallte er mit sonderbar funkelnden Augen und begann mit den Uebrigen einen Kirchengesang anzustimmen. Es war schon fast Mitternacht; ich staunte, daß die Leute so lange wach blieben, und frug meine Führerin, wann man in Z. eigentlich zu Bette ginge?“

„Gewöhnlich mit den Hühnern um die Wette, Gospodinu! Aber heute gar nicht, denn nach zwei Uhr beginnt die Auferstehungsfeier; da müßten wir um ein Uhr schon wieder aufstehen, und ziehen es daher vor, gleich wach zu bleiben. Erschrecken Sie nicht,“ wandte sie sich in der Thür nochmals um, „wenn Sie geweckt werden sollten. Der Beginn der Ceremonie wird mit Böllerschüssen verkündet.“

„Bei Nacht also,“ dachte ich, „Adonis aus dem Reiche der Finsterniß, dem Reiche der Proserpina kommend.“ Es gelüstete mich, die prickelnden Schauer der Erwartung, wie sie in den uralten Adonis-Gesängen ausgedrückt, einmal selbst zu empfinden. „Wollen Sie die Güte haben an meine Thür zu klopfen, wenn Sie sich in die Kirche begeben und mich dahin mitnehmen?“ fragte ich die Tochter des Popen. Sie sagte zu und verließ das Zimmer. Ich löschte das Licht aus, warf mich angekleidet auf das hochgethürmte Federbett und fiel sogleich in tiefen Schlaf.

Im Traume stand ich eben vor einem glänzenden Venustempel und sah Aphrodite in göttlicher Schönheit um den zerrissenen Leichnam Adonis' klagend – da – plötzlich stürzte der Tempel mit Donnergepolter zusammen, und aus den zerbröckelnden Trümmern flog der lichtschimmernde Genius der Liebe zu den Sternen empor. Ich war erwacht, riß mühsam die Augen auf und schaute schlaftrunken im Dämmerlichte umher. „Bum!“ machte es noch einmal – dann klopfte es an meine Thür; Lichter huschten am Fenster vorüber; Stimmen klangen wirr durcheinander, und „bum!“ donnerte es zum dritten Male. Ich sprang aus dem Bett und trat hinaus. In der Küche stand die Popadia, Alexandra und noch eine Menge Leute, Alle in dunklen Ueberwürfen, blühende Weidenzweige und brennende Wachsstöcke in den Händen. Wir machten uns auf den Weg. Es war eine laue, aber stockfinstere Nacht – in allen Richtungen zuckten Irrwische auf, die sich, näher kommend, als fromme Nachtwandler gleich uns erwiesen und sich unserm Zuge anschlossen.

Ich bat meine Führerin ihr den Arm reichen zu dürfen, um in Nacht und Gedränge nicht von ihrer Seite gerissen zu werden und, fremd im Orte und in den Gebräuchen, das Beste zu versäumen. Am Ausgange der Straße entrollte sich ein überraschend prächtiges, flammendurchglühtes Bild vor unsern Augen.

Auf einem großen freien Platze erhob sich in mysteriös flackerndem Helldunkel die Kirche, umgeben vom Kirchhofe, dessen Parkanlagen, schon in vollem Blätter- und Blüthenschmucke, berauschenden Duft ausströmten. Der Marktplatz war dick mit Gras bestreut, die Häuserreihen, die ihn umgaben, mit grünem Laubwerke geziert. Unzählige Flämmchen in bunten Gläsern [214] wanden sich wie vielfarbige Blumenguirlanden um die Bogengänge der Gebäude, die Wände entlang bis zu den spitzen Giebeln, leuchteten aus allen Fenstern, schimmerten aus dem Grün der Bäume und Sträucher und zeichneten mit Feuerlinien die byzantinische Kuppelform der Basilika bis zu den goldglänzenden Kreuzen vom nächtlichen Hintergründe ab.

Marktplatz und Kirchhof waren von dichtgedrängten, wogenden Menschenmassen erfüllt, der städtische Theil der Bevölkerung, wie meine Begleiterinnen, in dunklen Ueberwürfen, der bäuerliche in buntschillernden Trachten, Alle mit brennenden Wachskerzen in den Händen. Das war ein Lachen und Flüstern, Verlöschen und Wiederanzünden der Flämmchen, die ein boshafter Windstoß oder ein neckischer Hauch ausgeblasen hatte, ein Sich-suchen-und-meiden, Finden-und-wieder-Verlieren – ein Stück bacchantisches Heidenthum in dem fröhlich geheimnißvollen Treiben.

Wir durchschritten würdevoll die Reihen, die sich vor uns respectvoll öffneten, höchstens Grüße empfangend oder erwidernd, und traten in die Kirche. Auch da herrschte stimmungsvolles Halbdunkel. Alles Licht hatte sich, wie in einem Brennpunkte, am Altare gesammelt. Dort befanden sich außer der großen Osterkerze noch ganze Feuergarben von Lichtern, die von dem gold- und spiegelglänzenden Hintergrunde vervielfacht zurückstrahlten und den zahllosen darauf befindlichen Heiligen eine wahrhafte Strahlenglorie verliehen. In dem Meere von Licht und Glanz stand der Protopope mit seinem geistlichen Stabe, darunter mein Hauswirth, in goldstrotzenden Ornaten, alte Folianten vor sich, aus denen sie abwechselnd Gebete hersagten. In den Pausen sang ein Knaben-Sängerchor Psalmen und andere heilige Gesänge. Endlich war der Gottesdienst zu Ende. Diakonen ergriffen die an goldenen Stäben befestigten Bildertäfelchen der Heiligen und bewegten sich in Procession nach dem Ausgange der Kirche; ihnen folgten die geistlichen und weltlichen Würdenträger, die singenden Chorknaben und endlich das Volk. Der Zug bewegte sich um die Kirche herum, und als er zum Ausgangspunkte zurückgelangt war, donnerte wieder eine Böllersalve; die Geistlichen verschwanden durch das Portal des Gotteshauses, die Uebrigen aber fielen sich plötzlich in die Arme und gaben sich gegenseitig unter dem Jubelrufe: „Christ ist erstanden“ den Osterkuß, den Kuß der Versöhnung, der Gleichheit und des Friedens, den echten Kuß der Erlösung.

In diesem Augenblicke entzückter Begeisterung sind alle Unterschiede von Stand und Geschlecht aufgehoben. Ich beugte mich nieder und küßte meine schöne Begleiterin. Ich glaube gerade nicht, daß das Sünde war.

Die Ceremonie hatte mehrere Stunden gedauert; jetzt brachen die ersten blutrothen Sonnenstrahlen aus dem Osten hervor; die jubelnde Menge zerstreute sich. Der Pope gesellte sich wieder zu den Seinen; wir gingen nach Hause, mit uns eine zahlreiche Gesellschaft geistlicher und weltlicher Personen. Wir tafelten und zechten bis zum Morgen.

Den nächsten Vormittag ging ich wieder in die Kirche. Sie war gepfropft voll. Jede Bäuerin trug einen schüsselgroßen, sonnenförmigen Napfkuchen im Arme. Das ist der bei dem Adonis-Feste übliche Opferkuchen, der ursprünglich, da er aus dem Volksbrauche nicht auszurotten war, wenigstens die christliche Weihe bekam, um den heidnischen Teufel darin zu bannen. Die eigentliche Bedeutung ist dem Volksgeiste geschwunden, nur der mechanische Brauch ist geblieben. Jährlich backen sie ihren Kuchen und lassen ihn weihen, ebenso die rothen Ostereier. Beides ist theilweise zum Todtenopfer bestimmt. Jetzt sprach der Pope die Formel über Kuchen, Eier und Weizenbrod und sprengte Weihwasser darüber. Dann traten sie einzeln zu den Thongefäßen, nahmen einen Löffel Brei, bekreuzten sich und verließen die Kirche.

Die Auferstehungsnacht ist Gott geweiht. Der Ostersonntag mit üppigen Gelagen gehört den Lebenden; der Montag ist den Todten geheiligt. Mein Gastfreund führte mich daher am zweiten Ostertage auf die Begräbnißstätte. Der mehrere Joch umspannende Todtenacker wär mit Menschen überfüllt. Alle Gräber waren geschmückt, die Ruhestätten der Reichen mit kunstvollen Marmordenkmälern, kostbaren Grablaternen und Treibhauspflanzen, die der Aermeren mit einfachen Kreuzen und den Blumen der Jahreszeit, doch selbst dem geringsten Hügel fehlten einige grüne Zweige und bunte Lämpchen nicht, ebenso wenig die Speiseopfer, Kuchen und rothe Eier. Die Vornehmeren begingen fast lautlos, vor sich hin weinend und betend, ihre Todtenfeier. Das Volk aber stürzte sich mit ausgebreiteten Armen, laut aufkreischend, über die Grabhügel und erfüllte die Luft mit schauerlichen, markerschütternden Todtenklagen und Wehgeheul.

Nach geraumer Zeit schien die Verpflichtung gegen die Verstorbenen erfüllt. Die Trauernden erhoben sich wieder, ordneten die Haare, trockneten die Augen und zogen in vollem Feststaate haufenweise umher. Gewiß sind Manche, von tiefem, echtem Schmerze um einen theuren Heimgegangenen erfüllt, am Grabe sitzen oder mit gebrochenem Herzen gar daheim geblieben, den Meisten war die Todtenklage eine religiöse Ceremonie wie jede andere, die man fromm begeht, um dann nicht weiter daran zu denken. Bald schien die Grabstätte nur ein Lustgarten. Ueberall begegneten wir schäkernden und lachenden Gruppen von Burschen und Mädchen, die sich des Festes und des Frühlings freuten und ihre rothen Ostereier, die Symbole der erwachenden Naturkraft, des Werdens und Keimens, aneinanderstießen, bis sie zerbrachen.

Bevor sie den Friedhof verließen, legten sie die zerschlagenen Eier zu den geweihten Kuchen auf die Gräber nieder.

Als ich einige Tage später die Stätte wieder betrat, waren alle die Liebesgaben verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie der Todtengräber fortgenommen, oder eindringende Thiere hatten sie verzehrt. Die Bauern, die ich darum befragte, waren einstimmig überzeugt, daß die Seelen oder Geister der Verstorbenen um Mitternacht erschienen waren, um sich von den Tantalusqualen der Unterwelt wenigstens einmal im Jahre zu erholen, und freudig gingen sie wieder an ihre harte Arbeit, im süßen Bewußtsein ihrer erneuerten Versöhnung mit Gott und der Welt, den Lebenden und Todten.

Ich blieb noch monatelang, durch meinen Beruf gefesselt, in der Mitte des fröhlichen, gutmüthigen Völkchens der Serben. Ich war von Amtswegen gezwungen, in die innersten Familienverhältnisse einzudringen, und fand überall patriarchalisch-friedliche Sitten. Sie nahmen den Fremden brüderlich auf und labten ihn mit dem Besten, was sie selbst besaßen, und als ich von ihnen schied, gaben sie mir schaarenweise noch meilenweit das Geleit und sagten mir endlich unter Thränen Lebewohl.

„Ist es möglich,“ dachte ich bei mir, „daß diese harmlosen Menschen bei Gelegenheit ihren Feinden Nasen und Ohren abschneiden und andere kannibalische Grausamkeiten begehen?“ Die Erfahrung sagt – Ja!

Scheinbar unbegreifliches Räthsel der Menschenseele, das sich in der Weltströmung unseres Jahrhunderts wohl am krassesten wiederspiegelt: die Civilisation und der Krieg – der Aufbau und die Zerstörung werden gleichmäßig mit dem Aufgebote aller Kräfte gefördert.




Belladonna?
Aus den Papieren eines Arztes.
(Fortsetzung.)


„Was hat sie nur?“ fragte beklommen der Oberst. „Wie unnatürlich äußert sich ihre Besorgniß um den Mann, für den sie höchstens kindliche Anhänglichkeit empfinden könnte! Ich erkenne in diesem exaltirten, gleichsam aus allen Fugen gerissenen Charakter meine kleine, sanfte, maßvolle Blanche gar nicht wieder. – Vergebung, Professor! Wir haben über diese traurigen Familienereignisse ganz Ihr Wohlbehagen vergessen. Wollten Sie auf Ihrem Zimmer ausruhen, oder was kann man sonst für Sie thun? Bitte, befehlen Sie ungenirt!“

„Zum Ruhen werden wir morgen Zeit haben,“ meinte ich mit einem dunklen Vorgefühl des Kommenden. „Ich will mich ein wenig säubern, und dann würde ich Ihnen dankbar sein, wenn sie mir ein Glas Wein und irgend etwas Genießbares hierher bringen ließen.“

[215] Ein dämmender Sommerabend war hereingebrochen, als wir unser hastiges Souper beendet hatten. Ich ging noch einmal zu meinem Kranken und trat dann hinaus auf die Veranda mit dem Bemerken: daß ich noch eine Cigarre im Freien zu rauchen wünsche, wenn der Oberst eine Viertelstunde die Wache im Arbeitszimmer übernehmen wolle.

Was mich hinaustrieb, das war eine dunkle gegenstandlose Furcht für Blanche.

Ortsunkundig, wie ich war, wandelte ich hastig die sanfte Abdachung hinab und hielt dort kurze Umschau. So weit das Auge die Dämmerung durchdringen konnte, spannte ein wundervolles Landschaftsbild sich vor mir aus. Eine Hügelkette, die duftblau den Horizont begrenzte, schlang sich gleichsam im Kranze um das Plateau, auf dem die Schloßburg stand. Niederwärts stieg malerisches Rebengrün, unterbrochen von glührothem Bastardgeranke, und um mich her durchleuchtete es das Halbdunkel blutroth. Wir waren in voller Rosenzeit; die purpurne Napoleonsblume lag hie und da wie ein Blutfleck zwischen dem kurzgeschorenen Sammet des englischen Rasens. Die Fontaine sprühte ihre glitzernden Tropfen darüber aus, und die Nachtigall schluchzte sehnsuchtsvoll hinein in die duftberauschende Atmosphäre.

War das eine Nacht zum Sterben? Werden und Vollendung athmete die ganze Natur und – Genießen in vollen Zügen. Genießen raunte es geheimnißvoll durch Busch und Halm; der murmelnde Quell rauschte es, und der Leuchtkäfer im Grase flüsterte es den biegsamen Halmen zu. Da oben im düstern Gemach aber rang Einer zwischen Leben und Sterben.

Mich überlief es fröstelnd in der gluthathmenden Juninacht; tief bewegt schritt ich auf und ab.

Still! Was war das? Ein Schrei, ein matter Hülferuf?

Durch niedriges Rebengrün bahne ich mir, mitleidslos Alles niederstampfend, was mir entgegensteht, den Weg abwärts und eile den Weinberg hinab. Aber ein Anderer ist mir zuvorgekommen. Weiß, hoch, gespenstisch groß, hetzt es von jenseits in weiten Sätzen hinab, wie umflattert von weißer Wolke.

Die Sichel des ersten Mondviertels steht im Azur des blassen Sommerhimmels. Ich bin vor der Lichtung angekommen, die sich am Fuße der Berge hinbreitet. Aber nicht weit sieht das Auge; vor mir, von Buchen, weißleuchtenden Birken und Erlen umstanden, streckt sich in regungsloser Ruhe ein Weiher aus. Wasserlilien schaukeln zwischen saftschwerem Blätterkranze auf schlankem Stiele träumerisch auf und nieder; Schilf zittert empor bei jedem Windeshauche, und die Espe taucht, vom Ufer hinabgeneigt, ihr graciöses Hängegezweig in die Fluth. Noch habe ich den Steg nicht erreicht, der über die Tiefe führt; unter dem dichtesten Gewirr der Wasserpflanzen sehe ich es dahintreiben, wie das goldene Haar einer Frau. Aber auch zwei weiße Hände sehe ich, die aus dem Wasser hervorblicken und verzweiflungsvoll das morsche Holz des Steges umklammert halten. Noch ein schwacher Hülfeschrei, und die ermattenden Finger geben die Stütze frei – der Körper treibt, von unterseeischen Strudeln fortgerissen, in die Mitte des Wassers. Da hat die weiße Kolossalgestalt fliegenden Fußes die Mitte des schwankenden Brettes erreicht. Das Holz ächzt förmlich auf unter dem festen Tritt. Eine Viertelsecunde, und die Fluth zieht große Kreise um den schweren Körper, der sich hinabgestürzt; der Arm, der kräftig die Fluthen theilt, reißt die Wasserlilien herab, und als sie tropfenfunkelnd wieder emportauchen, hat sich der kühne Schwimmer schon um ein paar Fuß durch das Pflanzengeranke gekämpft, das sich polypenartig um Fuß und Gestalt schlingen will. Die Hand greift aus und zieht an den goldenen Haaren den Körper heran, der eben im Begriff ist unterzusinken, und nun stehe ich selber auf dem kippenden Stege und ziehe mit übermenschlicher Kraft die doppelte Last empor, und auf dem schmalen Brette, das unter der dreifachen Last knarrt und knackt, erreichen wir glücklich das sichere Ufer.

Die starkknochige Gestalt, an welche das weiße, durchtränkte Nachtkleid sich eng anlegt, stellt die Frau, die sich in wahnsinniger Angst an sie angeklammert hielt, mit zorniger Ungeduld auf die Füße.

„Bringen Sie sie nach Hause!“ sagte Sibylle verächtlich. „Ich muß zu ihm zurück. Tragen Sie keine Sorge! Sie hat an dem einen Versuch genug; sie fürchtet sich vor dem kalten Bade, sonst hätte sie nicht um Hülfe gerufen. Solche Menschen wissen nicht einmal würdig zu sterben.“ Sie wandte sich zornig noch einmal der zitternden Frau zu, die in rührender Zerschmetterung ihr die gefalteten Hände flehend zugestreckt hielt.

„Sie sind eine schlechte Frau. Versuchen Sie wenigstens Mutter zu sein!“ sagte sie brüsk.

Sie eilte phantomgleich fort, wie sie gekommen war, aber dann wandte sie sich noch ein Mal zu uns um und herrschte uns gebieterisch an:

„Gehen Sie durch den versteckten Eingang!“ sagte sie mit unsäglicher Bitterkeit, „Sie kennen ihn ja. – Achten Sie wenigstens seinen Willen und erhalten seinem Kinde einen unbetasteten Namen! Daß keiner der Diener Sie in diesem Aufzuge erblickt!“

Sie war wieder fort, und wir waren allein. Mit einem schluchzenden Aufschrei warf Blanche sich in das thaufeuchte Gras, aber ich zog sie sanft überredend wieder zu mir auf. Was sie auch verbrochen haben mochte – unsägliches Mitleid mit diesem geknickten, hülflosen Kinde überfluthete meine ganze Seele.

„Bedenken Sie, Blanche, daß Sie Mutter sind!“

Wie im Gebet schlangen sich ihre Hände leidenschaftlich zusammen, und es erhob sich ein Gesicht, in dem grenzenlose Verzweiflung stand, gen Himmel. Sie stöhnte leise. „Vater, erbarme Dich meiner!“

„Blanche, Ihr Kind!“ mahnte ich noch einmal leise, als sie wie irrsinnig immer nur empor sah, während es den zarten Körper unter den triefenden Kleidern schaudernd durchrieselte. Sie nickte geduldig. „Ich muß fortleben,“ hauchte sie müde; dann hing sie sich schwer an meinen Arm und schleppte sich mühsam die Berge hinauf. Als wir an dem Seitenflügel des Schlosses angelangt waren, hob sie, wie einen grünen Vorhang, eine bewegliche Wand von breitblättriger Aristolochia in die Höhe. Gebückt mußten wir darunter fortschlüpfen. Eine dadurch maskirte Thür, die in’s Souterrain führte, gab einem leisen Druck ihrer Hand nach, und wir standen auf der ersten Stufe einer schmalen steinernen Wendeltreppe. Sie ging dieselbe geräuschlos hinauf, und auf dem ersten Treppenabsatz zeigte sie stumm auf eine niedrige Pforte. Ich öffnete dieselbe und trat in das Gemach; die Thür klappte lautlos hinter mir zu, und ich stand allein im Treppenhause des Schlosses.

Den Oberst fand ich im Lehnstuhl eingenickt, meinen Kranken beinahe unverändert. Ich sah, daß es mit ihm zu Ende ging. In einen dunklen Ueberwurf gehüllt, saß Sibylle Unruh wieder in dem altmodischen Sessel und nahm nur durch kurzes Nicken von meiner Gegenwart Notiz. Ihr Gesicht sah in der dämmerigen Krankenstubenbeleuchtung noch strenger, noch verschlossener aus, und Abneigung und Sympathie gegen die seltsame Frau kämpften bei mir um die Herrschaft. Ich glaube, eine Art scheuer Achtung war das Resultat.

Nachdem ich leise meine Anordnungen gegeben, ging ich in’s Arbeitszimmer zurück. Der Oberst war erwacht; er ließ uns schwarzen Kaffee bringen, aber dies sonst so probate Belebungsmittel der Nerven versagte den erschöpfen Kräften diesmal seine Dienste. Die Natur forderte jetzt ungestüm ihre Rechte. Ich drohte vor Ermüdung umzusinken und warf mich, in eine Reisedecke gehüllt, der Länge nach, nahe der Thür auf eine chaise longue. Die früheren Stundenankündigungen muß ich im ersten festen Schlaf überhört haben. Der dröhnende Mitternachtsschlag der Thurmuhr schreckte mich auf. Der Oberst schnarchte energisch auf seinem Stuhle weiter. Ein wimmernder Laut, dann ein erschütternder Ton, wie er sich sonst nur aus verzweifelnder Männerbrust ringt, kam aus dem Krankenzimmer.

Ich ging leise durch die angelehnte Thür. Sibylle lag vor dem Lager auf den Knieen. Ihr Gesicht war nach vorn herüber gesunken; ihre Hände umklammerten die Kissen.

Was ihre Arme so inbrünstig umschlungen hielten, war eine Leiche.

Sie erhob sich, als ich näher kam. Ruhig und gefaßt berichtete sie mir über die letzten Augenblicke des Verstorbenen. Niemand, der ihr in’s thränenlose Auge blickte, hätte geahnt, welch’ einen wilden Schmerzenskampf die Frau da eben mit sich allein und mit Gott auszuringen gehabt.

Wie ich vorausgesehen, hatte ein Schlagfluß seinen Qualen ein Ende gemacht. Er war vor einer halben Stunde verhältnißmäßig sanft hinübergeschlummert.

„Kommen Sie!“ sagte sie darauf, und ohne eine Antwort [216] abzuwarten, öffnete sie eine Tapetenthür und schritt mir voran in ein mit raffinirtestem Luxus und üppiger Coquetterie ausgestattetes Ankleidezimmer, das die Verbindung der beiderseitigen Schlafgemächer des Ehepaares bildete. „Ihr Tabernakel!“ bemerkte sie geringschätzend. Wie ein stiller, allem Weltgetriebe entrückter Tempel lag in träumerischer Ruhe das rosenroth und spitzendurchwobene Zeltgemach da, in dem, einem riesigen Rubin gleich, die Ampel geheimnißvoll magisches Halblicht spendete. Auf dem Teppich, vom Schlummer wahrscheinlich übermannt, lag Blanche, sanft athmend. Die Arme hatte sie unter dem Kopfe verschlungen. Ein weites, weißes Morgenkleid umfloß sie. Sie schlief, schlief fest und friedlich wie ein Kind.

Finster, mit überkreuzten Armen, blickte Sibylle einen Moment auf dieses Bild holdesten Friedens herab. Ihr Fuß hob sich; er trat hart neben dem seidenen Haar vorbei, das sich auf dem Boden ausbreitete; ihr Saum streifte dicht an dem holden Gesichte vorüber.

„Sie schläft; sie kann schlafen,“ grollte sie, und empört wollte sie die Unglückliche emporreißen.

„Gönnen Sie der armen Frau die kurze Ruhe! Der Tag wird fürchterlich für sie anbrechen.“

„Ja,“ sagte sie lakonisch, und dann winkte sie mir, ihr in’s Schlafzimmer zu folgen, dessen Thür sie hinter sich leise einklinkte.

Sie kramte und suchte in fieberhafter Hast darin umher, während ich, an die innere Thür gelehnt, ihr befremdet zusah. Als sie jedoch in rücksichtslosem Vorgehen das Schloß eines Toilettschubfaches durch eine eingeklemmte Scheere zu sprengen versuchte, glaubte ich Einhalt gebieten zu müssen.

„Wie können Sie es wagen!“

Sie hielt meinen Blick standhaft aus.

„Ich will die Ehre meines Herrn retten. Das Gericht soll Nichts finden, was sie compromittiren würde,“ sagte sie, jedes Wort schwer und langsam betonend. „Lassen Sie mich vollenden! Es muß sich irgendwo Etwas finden. Mein Herr hatte keinen Feind, als –“

„Weib, der Haß bringt Sie von Sinnen,“ rief ich empört.

„Ihre Voreingenommenheit,“ erwiderte sie gelassen, „stempelt mich zu einer Feindin jenes schwachen, charakterlosen Geschöpfes, für das ich nur Mitleid empfinde. Herr Professor, Sie sehen natürlich nur, was man Ihnen zu zeigen beliebt, ich aber stand hinter den Coulissen. Wenn Ihnen die Ehre Ihres Freundes und seiner Familie so theuer ist, wie mir die meines verstorbenen Herrn, so lassen Sie mich vollenden!“

Ich zögerte noch, das Instrument, das ich ihren Händen entwunden, ihr zurückzugeben. Meine unschuldige, gute, kleine Blanche eine –. Es war purer Wahnsinn.

„Sie wissen,“ sprach sie weiter, „so genau wie ich, daß er keines natürlichen Todes starb. Fragen Sie sich, wer allein ein Interesse an seinem Ableben hatte! – Ich will Ihnen etwas anvertrauen, was außer mir wohl nur noch der Oberst weiß; denn daß es ihm nicht unbekannt, das hat mir sein angstbeklommenes Gesicht verrathen.“

Sie trat einen Schritt näher; ihr Mund berührte fast mein Ohr, als sie mir geheimnißvoll zuraunte:

„Wissen Sie etwas von Bruno Zukits?“

Ich dachte einen Augenblick nach, dann nickte ich. Der Oberst hatte mir den Namen heute in Verbindung mit Blanche genannt. Es war jener glänzende junge Officier, der schöne Taugenichts, den sie als halbes Kind geliebt hatte. Ich zitterte vor der kommenden Entdeckung.

„Er wurde damals versetzt,“ sagte Sibylle, „jetzt treibt er sich in einer Verkleidung hier umher. Warum tritt er nicht offen auf, wenn er nichts Böses im Schilde führt? Warum hat er Bart und Haar geschoren und nennt sich einen reisenden Maler, der sich hier im Weinberge einschleicht, um Abends“ – sie betonte das Wort ironisch – „Skizzen aufzunehmen? Und weshalb begeistert sie sich für Mondscheinpromenaden und kommt durch den versteckten Gang in ihr Schlafzimmer zurück? Glaubt sie, ich habe keine Augen, die über der Ehre meines Herrn Wache halten?“

„Sie hassen sie tödtlich, Sibylle Unruh?“

„Ich hasse sie nicht,“ sagte sie störrisch, „ich verachte sie.“ Und dann plötzlich brach es stürmisch mit einer Art wildem Enthusiasmus aus ihr hervor, wie ein Strom, der gewaltsam seine Fesseln sprengt: „Ich liebe ihn – ich liebe ihn, so lange ich denken kann, den Großen, Hohen, Edlen. Ich liebte ihn, als ich, ein kleines, niedriggeborenes Mädchen, zu Füßen des ruhmgekrönten Helden saß und athemlosen Mundes den Erzählungen seiner Waffenthaten lauschte. Ich war die Tochter seines Administrators, und wie zu den hohen fernen Sternen habe ich anbetend zu meinem Ideal männlicher Heldenkraft emporgeblickt. – Sie sagen, ich war schön. Was nützten mir diese flüchtigen Reize!? Männer von so hünenhafter Gestalt und eisenfestem Charakter lieben nicht Frauen, wie ich eine bin, die gleichberechtigt neben ihnen im Leben stehen, treue, starke Cameraden in Freud und Leid, die tausend Tode jubelnd für den Geliebten zu sterben bereit sind. Sie brauchen Frauen, die ihnen ein zierliches Spielzeug sind, zarte, schwache, hülflose Kinder, die sie in ihre starke Liebe wie in einen schirmenden Mantel einhüllen und die in ihrer thränenreichen Schwäche den Ahnungslosen zehnmal mehr zügeln und tyrannisiren als wir, die kräftig an ihrer Seite stehen und Demuth durch die höchste Liebe erkennen lassen. – Ich liebe ihn. Ich liebe ihn bis zum Selbstvergessen, bis zur Selbstverleugnung, und ich hätte das Weib gesegnet mit dankbarem Herzen, das ihn wirklich beglückt hätte. Seine erste Frau war eine exotische Pflanze, zart wie ein Hauch, die in unserem Klima dahinsiechte. Fragen Sie seinen alten Diener, ob ich ihr eine treue Pflegerin, eine opfermuthige Freundin gewesen während ihres kurzen Blumenlebens! Die zweite war ein deutsches Gedicht. Ein furchtbares Leiden, das Jeden von ihrem Schmerzenslager verscheuchte, habe ich ihr und ihm Jahre lang tragen helfen. Beide Frauen haben meinen edlen Herrn geliebt, ihm ganz angehört, wenn auch ohne das richtige Verständniß seines hohen vollen Werthes, in ihrer kindisch launenhaften Weise, die ihn nicht ganz beglücken konnte und seiner unwürdig war. Ich habe sie geachtet. Da, im Greisenalter, fällt sein Auge auf jene rosig-weiße Eva, vor der ich ihn mit scharf sehendem Blick vergeblich warnte. Ein Opferlamm, ward sie an den Altar geschleppt – ein Opferlamm, in innerster Seele ihm grollend, trat sie in sein Leben und hat es zerstört mit schwachen kindischen Händen. Noch weiß ich nicht wie – aber wir wollen suchen und werden finden, und dann kann mein Geliebter friedlich in seinem Grabe ruhen. Wie ich ihn an jenem Abend gewarnt, über seiner Ehre zu wachen, so werde ich Sorge tragen, daß sein Sohn den stolzen Namen unbefleckt weiterführen kann.“

Sibylle war erhaben anzuschauen. Ich beugte mich in Bewunderung vor diesem ehrenfesten, schroffen Charakter. Diese Frau war – ein ganzer Mann, möchte ich sagen, wenn es nicht gar zu paradox klänge.

„Und wenn er selbst…?“ wagte ich zögernd einzuwenden.

„Der nicht – nie und nimmermehr!“ sagte sie bestimmt.

Ruhig gab ich ihr die Scheere zurück. Sie arbeitete ein paar Augenblicke an der Schieblade herum, daß ihr der Schweiß vor Anstrengung auf die Stirn trat. Dann ein leises Knacken. Ihre ungestümen Hände rissen das Schubfach mit einem Ruck heraus; hastig wühlten sie darin herum und warfen den Inhalt auf die Lapislazuliplatte des runden Mitteltisches. Parfüms und Puder, Daunenquasten, Schwämme, Salben, Pinsel, Bürsten und was sonst noch zu dem kleinen Toilettenkasten einer eleganten Frau gehören mag, häufte sich hier auf Flaschen und Fläschchen. Die Schieblade schien geleert, und ich seufzte schon erleichtert auf; da tauchen die gierigen Hände noch einmal in die tiefsten Winkel und ziehen zwei sich beinahe gleiche Fläschchen heraus. Sibylle überreichte sie mir mit einem Laut, der beinahe einem Aechzen gleichkam.

Ich entkorke sie, prüfe sie durch den Geruchssinn und indem ich den befeuchteten Finger auf die Zunge lege, sage ich:

„Das nicht – es ist Morphium.“ Ich gebe es ihr zurück. Die andere Flasche zuckt in meinen Fingern.

„Und jene?“ fragt sie mit ahnungsschweren Augen.

„Belladonna!“

Hinter uns rauscht es leise auf. Auf der Schwelle mit schreckensweit geöffneten Augen steht Blanche. Sie sieht wie ein Geist aus.

Als ich aus meiner ersten Betäubung – so möchte ich mein erschrecktes Entsetzen nennen – zu mir kam, stand ich mit einem Sprunge an Blanche’s Seite und wollte, als ihr strenger Richter, sie vollends in’s Zimmer ziehen. Sie widersetzte sich aus Leibeskräften.

[217]

„Alterchen, schmeckt’s?“
Originalzeichnung von Eduard Grützner.

[218] Wie ein geängstigtes Kind klammerte sie sich mit Händen und Füßen an den Thürflügel an. Ich hätte Gewalt anwenden müssen, um sie zu entfernen, und in ihren Verhältnissen war Gewalt unmöglich.

„Wie kommen Sie zu dem Gifte? Sie hören, es ist Belladonna – der Inhalt dieser Flasche!“

„Stirbt man davon?“ – fragte sie mit einer Art naiven Entsetzens.

„Wie kommt es in Ihren Toilettentisch?“

Keine Antwort. Sie hielt ihre Lippen fest aufeinander gepreßt; ihre Augen blickten furchtsam, neugierig und unstät von Sibylle zu mir, von mir zu Sibylle, und plötzlich lösten sich die krampfhaft packenden Finger; ehe ich es hindern konnte, suchte sie ihr Heil in besinnungsloser Flucht. Ich eilte ihr nach, über Corridore, Hallen, Treppen, auf und nieder, bis sie mir plötzlich doch entschwunden war und ich auf einer Hintertreppe stand, die zu den Bedientenräumen gehören mußte und die ich langsam hinabstieg. Da huschte es im Dunkel leise an mir vorbei und meine umhertastende Hand erfaßte Frauenkleider. Ich zog die zitternde Gefangene bis an’s nahe Corridorfenster, durch welches das geisterbleiche Mondlicht fiel. Ich blickte in ein todtenbleiches, verstörtes Gesicht einer hübschen, etwa dreißigjährigen Frau, ein Gesicht, das in diesem Augenblicke wie das böse Gewissen selber aussah. Die eine Hand hielt das Weib, fest zur Faust geschlossen, scheu zurück. Ich schenkte diesem Umstande damals wenig Beachtung. Diese an sich so bedeutungslosen Dinge und mir erst später wieder eingefallen, als sie zur Klärung des fürchterlichen Geheimnisses mit unberechenbarer Tragweite in’s Gewicht fielen. O, wäre ich nicht achtlos daran vorübergegangen, welche entsetzlich martervollen Stunden und Tage hätte ich uns Allen erspart!

„Wer sind Sie?“ herrschte ich mein Gegenüber ungeduldig an.

„Ich bin Christine, die Köchin,“ gab die Geängstigte mit zitternder Stimme zurück. Ich hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

„Sie zittern ja an allen Gliedern, Frau! Wovor ängstigen Sie sich?“

„Herr – Professor – Sie haben mich – zu Tode erschreckt,“ stotterte sie.

Ich fragte, was sie nach Mitternacht da draußen gewollt habe, und sie entschuldigte sich damit, daß sie das Stubenmädchen habe wecken wollen, welches jenseits des Hofes schlafe, weil ihr ganz allein da unten im Souterrain so bange geworden sei. Ich gab sie natürlich frei, und mit einem tiefen Knixe wünschte sie mir „Gute Nacht!“ und ging ihrer Wege. Gleich darauf hörte ich die Thür nach dem Hofe knarren, während ich hastig die Treppe wieder hinaufstieg. Um Athem zu schöpfen, hielt ich einen Moment auf einem der Treppenabsätze an, und da ich gerade vor einem der Bogenfenster stand, blickte ich mechanisch hinaus und hinunter in den Küchengarten, der sich todtenstill da unten ausbreitete.

Wie eine scharfgeschnittene Silhouette hob sich eine menschliche Gestalt von dem Nachtdunkel ab. Sie jagte wie gehetzt dahin, und mir war es, als öffne sich plötzlich eine Hand und schleudere etwas von sich auf einen Kehricht- oder Schutthaufen, der seitwärts lag. Ich konnte mich aber auch geirrt haben. Eine optische Täuschung war bei dem unsichern Lichte nicht unwahrscheinlich.

Kopfschüttelnd ging ich weiter. Oben begegnete mir der alte Haushofmeister. Das alte Gesicht drückte tiefe Erschütterung aus; die treuen Augen standen voll Thränen. Er war in der Stimmung, die zur Mittheilung geneigt macht. Ich brachte ihn, den sonst aus lauter Respect so Schweigsamen, leicht zum Sprechen über Vergangenheit und Gegenwart.

Wie hatte er und die übrige Dienerschaft so schnell von dem Tode seines Gebieters erfahren?

Während wir in Blanche’s Schlafzimmer Nachforschungen hielten, mußte der Oberst erwacht sein und den einsamen Todten gefunden haben. Er hatte den wachhabenden Officier und die Ordonnanz heftig herbeigeklingelt und alle Diener alarmirt, um nach herbeiholen zu lassen.

In rührender Anhänglichkeit sprach der alte Diener (ein Diener, wie wir sie nur noch vom Hörensagen kennen) von dem Verstorbenen. Er war ein guter, gerechter, ein strenger und doch wieder milder Herr, ein Mensch in der schönsten Bedeutung des Wortes gewesen. Um Sibyllens Bild, die zu ihrer Vertheidigung mir so einfach von ihren langjährigen treuen Diensten im Falkenstein’schen Hause gesprochen, woben seine Worte voll warmer Begeisterung einen wahren Glorienschein. Sie war die beste Frau unter der Sonne. Herb im Wort und im Aeußern, trug sie das weichste Herz unter der rauhen Hülle. Unter der demüthigen Rolle der Dienerin hatte sie wie ein Fels in unerschütterlicher Treue, Redlichkeit und Kraft in all den dunklen Stunden seines Lebens helfend, rathend, stützend und nichts für sich beanspruchend, als ihm nützlich zu sein, an Falkenstein’s Seite gestanden. Seine geliebten Frauen, zarte, schöne Wachspuppen, hatte sie in unermüdlicher Selbstverleugnung mild und opfermuthig in ihren schweren Leiden gepflegt, zufrieden, daß sie ihm die Mühen abnahm, und der Lohn für all die unsägliche Opferfreudigkeit war feindseliges Verkennen ihrer redlichen Absichten. Ich sah, der Mann hätte mehr sagen können, als er wollte, da er plötzlich schwieg. All meine Anstrengungen, etwas über Blanche’s Leben und Treiben zu erfahren, scheiterten an seiner respectvollen Zurückhaltung.

Gewohnheitsgemäß stäubte und rieb er an meinem Reiseanzuge herum, der durch die Nachtwache wohl arg gelitten haben mochte, und mechanisch blickte ich auf etwas, das unter seiner glättenden Hand von meinem Aermelaufschlage herabfiel. Es war ein schmutziggrünes, sammetartiges, etwas klebriges Blättchen mit kurzen weißen Haaren, das ich gedankenlos vom Boden aufhob und wieder flattern ließ, ohne mir einen Augenblick Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise sich dasselbe an meine Kleider geheftet haben könne.

Ich dankte dem alten Manne, als er mir die Thür des Arbeitszimmers öffnete, und eintretend bat ich ihn, zu versuchen, ob er Fräulein Unruh auffinden könne; er möge sie ersuchen, zu mir zu kommen.

Die Rolljalousien waren aufgezogen; die fahle Sommerdämmerung kämpfte mit dem Kerzenglanz des vielarmigen Leuchters auf dem Tische. Mit auf dem Rücken gefalteten Händen ging der Oberst im Zimmer auf und nieder. Ich bereitete ihn auf eine sehr peinliche Mittheilung vor. Dann erzählte ich ihm haarklein alles Vorgefallene.

Er blieb stumm. Ich sah ihm die tiefe Erschütterung, das tödtliche Erschrecken an.

„So Fürchterliches hatte ich nicht erwartet,“ sagte er endlich. „Gegenstandslose Angst hat mich freilich gefoltert, als ich gestern Abend den – den – Schurken hier vom Fenster aus um’s Schloß schleichen sah. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. Mein armes, unglückliches Kind! Wie auch der Schein gegen Blanche sprechen mag, Sie dürfen, Sie können nicht glauben, daß sie eine verbrecherische Hand an jenes edle Leben gelegt. Der Mann hat sie geliebt; er hat sie auf Händen getragen. Die Menschlichkeit selbst empört sich gegen die grauenhafte That, und meine kleine Blanche“ – er wurde weich; Thränen zitterten in der männlichen Stimme – „sie, welche keiner Fliege etwas zu Leide thun konnte, die als Kind die Blumen unter die Blätter flüchtete, damit ein Wind sie nicht zerrisse; sie, welche die mutterlosen Sperlinge zärtlich an ihr kleines Herz nahm und auffütterte, sie sollte … O, es ist nicht auszudenken. Professor“ – er rüttelte mich an beiden Schultern – „stehen Sie nicht so steinern, so stumm da, sprechen Sie, lassen Sie mich nicht wahnsinnig werden! Denken Sie doch, wie ich jahrelang jene hochherzige Frau verkannt – der ich schweres Unrecht abzubitten habe. Können Sie sich nicht auch irren? Rufen Sie Sibylle herbei! Sie muß Blanche’s Leben besser kennen als wir; sie muß uns helfen können; sie muß wissen, daß mein Kind keines Verbrechens fähig ist.“

Sibylle mußte die Worte gehört haben. Still, mild und ernst – ernst wie das Gericht, stand sie vor dem verzweifelten Vater und streckte ihm eine Hand hin. Er griff mit beiden Händen ungestüm danach und blickte ihr voll Todesangst in die schwermüthigen Augen. Er war außer sich; er wollte sein Urtheil von diesem Antlitze ablesen. Sie ertrug diesen Blick gefolterter Seelenpein nicht; schwerathmend wandte sie den Kopf ab – stöhnend ließ er die Hände fahren.

„Es kann nicht sein; es kann nicht sein!“

„Es ist, Waldow – wenn nicht ein Wunder geschieht,“ sagte ich scheu.

„Laßt uns berathen, was nun zu thun ist!“ Die bescheidene Dienerin hatte sich mit ruhiger Selbstverständlichkeit zum Herrn der Situation gemacht. Ihre klare Besonnenheit beherrschte uns Alle; sie gab selbst dem unglücklichen Vater einen Rest der Fassung zurück.

(Fortsetzung folgt.)

[219]

Bismarck in Volkssprüchen und Volkspoesie.
Von Fedor von Köppen.


Es ist erklärlich, daß der Mann, welcher das Hoffen und Träumen der deutschen Nation verwirklicht hat, in der Volkspoesie viel gefeiert wird. Dichter aus den verschiedensten Gegenden des Reiches haben ihrer patriotischen Freude über die Wiedererhebung unsers großen gemeinsamen Vaterlandes in schwungvollen Strophen an den Neubegründer deutscher Macht und Einheit Ausdruck gegeben; wir nennen Rudolf Gottschall, den Verfasser der preisgekrönten Bismarck-Hymne, Emanuel Geibel, Wolfgang Müller von Königswinter, Oskar von Redwitz, Hans Köster, Gustav Schwetschke, den humoristischen Sänger der „Bismarckias“ und „Varzinias“, ferner Julius Sturm, Georg Hesekiel und Ludwig Eichrodt. Neben ihren Dichtungen, welche bereits größtentheils durch die Presse Verbreitung fanden, haben auch die Gelegenheitsgedichte und Festgrüße Solcher, die auf den Namen von Dichtern sonst keinen Anspruch erheben und sich nur von ihrer warmen Verehrung für den Kanzler zu poetischen Herzensergüssen fortreißen ließen, als Zeugnisse für die Stimmung im Volke Interesse und Werth.

Seit seinen ersten Erfolgen in der Staatskunst ist Bismarck der vielbesungene und vielgefeierte Mann des Volkes. Schon sein Name ward im Volksmunde auf mannigfache Weise gedeutet, denn „Bismarck“ – so erklärt man – ist der Mann von „Doppel-Marke“ (bis, zweimal, doppelt) „und folglich ist er auch der Doppelt-Starke“, er ist der Mann, der nicht eher ruht, als „bis Mark“ alle Aeste und Zweige unseres Volksthums durchdringt. Anderer Deutung unterliegt das Bismarck’sche Wappen, bekanntlich ein dreiblättriges rundes Kleeblatt, unter welchem in den drei Winkeln längliche Eichenblätter hervorschauen. Im Volke werden die runden Blätter öfters für Wegekraut, die langen zackigen für Nesseln angesehen. Auf diese Weise erklärt es sich, daß ein Ehrendegen Bismarck’s, die Gabe von Coblenzer Verehrern aus der Conflictzeit, auf einer Seite der Klinge die Inschrift zeigt:

„Das Wegekraut sollst stehen la’n –
Hüt’ Dich, Junge, sind Nesseln dran!“

Der Wappenspruch: „In trinitate robur“ (In der Dreieinheit Kraft) wird in sinniger Weise in Beziehung gebracht zu den drei Genossen Bismarck, Moltke und Roon, die im Feuer der Schlacht aus echtem Golde die Reifen der Kaiserkrone geschmiedet.

Bekannt ist das altmärkische Bauernsprüchwort: „Noch lange nicht genug! sagt Bismarck“; es findet eine treffliche Anwendung auf den Mann, der unermüdlich und rastlos von dem kaum erreichten Ziele zu dem nächsten, noch höhern vorwärts strebt.

Es erscheint als eine Ironie der Geschichte, daß in dem Geburtsjahre des Deutschen Bundes zugleich der Mann geboren wurde, der berufen war, ihm dereinst das Lebenslicht auszublasen, daß zu der nämlichen Zeit, als auf dem Wiener Congresse von den Diplomaten Europas eine Fülle „schätzbaren Materials“ in gewaltigen Actenstößen aufgespeichert wurde, in dem stillen Winkel der Altmark derjenige Staatsmann das Licht der Welt erblickte, der in der alten Rumpelkammer der Cabinetspolitik so gründlich aufräumen sollte. Sein Geburtstag gereicht jetzt allen Denen zum Troste, die es für eine böse Vorbedeutung ansahen, gleich ihm das Licht der Welt an dem Tage erblickt zu haben, an dem man nach altem Scherzgebrauche die Leute in den April zu schicken pflegt. Bismarck ließ sich nicht in den April schicken, wohl aber passirte dies Vielen, die sich nach seinem ersten öffentlichen Auftreten im Staatsleben so gründlich in ihm verrechneten und die in ihm, nachdem er bereits den Gesandtschaftsposten zu Frankfurt am Main, sowie diejenigen zu Petersburg und Paris bekleidet hatte, nur den brandenburgischen Junker zu erblicken glaubten. Recht artig klingt ein kleines Epigramm „an Deutschland zum 1. April“ (von C. v. H. U. in Stuttgart):

„Sei Deines Kanzlers froh,
Der heut’ die Welt erblickt,
Und werde stets nur so
In den April geschickt!“ –

Die Fluth der Geburtstagsgedichte, die an diesem Tage aus allen Theilen des Reiches, sowie auch aus dem Auslande – aus Rußland, Schweden, England und Italien – im Bureau des Reichskanzlers eingehen, ist von Jahr zu Jahr gestiegen und hat an seinem sechszigsten Geburtstage eine vollständige Ueberschwemmung hervorgerufen. Einige sind von solcher Länge, daß die Verfasser beim deutschen Reichskanzler einen großen Ueberfluß an Zeit vorauszusetzen scheinen, wenn sie erwarten, daß er sie lesen soll; andere sind aber auch klein und niedlich, sodaß wir nicht umhin können, von den letzteren einige Proben hier mitzutheilen.

Wir finden darunter auch solche von Aerzten, welche dem Kanzler in launigem Tone poetische Recepte verschreiben, so von Dr. S. aus Osterode am Harze:

„An Vagabunden, schlechten Musikanten,
An saurem Bier und todten Speculanten,
An Liebesunglück, bösen Schwiegermüttern,
An Frost und Dürre, tobenden Gewittern, –
An Allem ist nur schuld der einz’ge Mann,
Bismarck, der alles Böse will und kann.
– Also die Heuler! Doch wir Gratulanten
Beschauen uns den Herrn von allen Kanten
Und seh’n: das Schlechte an ihm ohne Zweifel
Ist nur sein Rhevma, – hole es der Teufel!“

Auch an politischen Rathschlägen sehr verschiedener Art fehlt es dem Kanzler nicht. In einem Briefe von zarter Damenhand (1866) wird er beschworen, „um Gottes willen das geliebte Herzogthum Nassau nicht zu vertilgen und den Thron des Herzogs Adolf bestehen zu lassen“, und ihm dafür der Segen Gottes und der Dank der Verfasserin verheißen. Ein „patriotischer Deutscher“ aus Moskau schlägt ihm dagegen vor, aus ganz Deutschland eine Republik zu machen und sich als Präsident an ihre Spitze zu stellen; „dann,“ so schließt der Verfasser, „wirst Du ewig ein großer Mann bleiben.“ Auch im „Uelzener Kreisblatt“ (17. Juli 1867) wird von einem plattdeutschen Dichter, Hartwig S., zu einer Radicalcur gerathen:

„Schaff Preußen af, striek Preußen ut,
Lösch Baiern, Schwaben, Franken,
Stell Dütschland her! – dann ward Di luut
De dütschen Völker danken.

De dütsche Kraft, brickt de mal los,
Lett de ’n Hurrah erschallen,
Un wi de Muren Jerichos
Ward jedes Bollwerk fallen.

Richt wedder up den Kaiserthron,
De swart-roth-goldnen Farben!
Dann warst Du, Dütschlands echter Sohn,
Den höchsten Ruhm erwarben.

Up Wilhelm’s Haupt de Kaiserkron,
De ward so swer nich drücken,
Denn mag Dick gern als Ehrenlohn
De Herzogsmantel schmücken etc.“

Bismarck’s eigenthümliche Haartracht ist durch die Gelehrten und Zeichner des „Kladderadatsch“ so populär geworden, daß die Nachricht, er wolle aus Gesundheitsrücksichten in Zukunft eine Haartour tragen, unter seinen Anhängern fast wehmüthige Gefühle erregte.

Dr. R. in Hettstädt sucht sich über die dem Kanzler verordnete Perrücke zu trösten:

„Wat, sei willn Di ne Paruck upstülpen?
Na, wenn sei man wull upstunns[2] ok hülpen
Un gegen dat sakresche Podagra nützen!
De Kopp bliww doch Bismarck’sch, ok unner de Mützen,
Denkt doch allepot wat Drihäriget ut
Gegen de swarze un rode un wälsche Brut.
Gott schenk Di Gesundheit, min leiwe Fürst,
Dat Du wedder de markige Bismarck wirst!“

Rührend klingt der Glückwunsch eines bairischen Citherschlägers aus Augsburg:

„Du hast uns Boarn net verlossen,
A oanzigs Deutschland aufgebaut.
Wer konnt’ als Boar Di jetzt hoffen,
Wo findt mer den, der Dir net traut? –
Nimm diese Landler as a Gabe
Von anem Cithernschlager an,
I gieb Dir Alles, was i habe
Und was i z’sammenstoppeln kann.
Bleib viele Jahr noch Deutschlands Zier
Mit Deinem Kaiser für und für!“

[220] Neben diesen schlichten Versen finden sich Gedichte in zierlichsten Kunstformen oder solche von „aufrichtigen Verehrerinnen“; sie sind von zarter Hand auf goldgerändertem Papier geschrieben und reden von „Dankbarkeit und Liebe, die jede Brust durchzieh'n, so lange Eichen rauschen und deutsche Herzen glüh'n“. Unter den ersteren ist besonders das Akrostichon vertreten; wir wählen das nachfolgende von A. S. in Oldenburg:

Bismarck! so tönet heute jubelnd wieder
Im deutschen Volk Dein Name hoch und hehr!
Sei laut gefeiert bei dem Klang der Lieder!
Mit Dir zum Siege!‘ schallt's vom Fels zum Meer.
Auf, preist den Helden, der uns heut’ geboren,
Rastlos das Höchste uns erringen will.
Canossa sei das Ziel der Rückschritts-Thoren!
Kein Bismarck führt das Reich in den April.“

Die „Getreuen im Jeverlande“ senden dem Kanzler alljährlich zum Geburtstage das herkömmliche Geschenk von einhundertundein Kiebitzeiern, und wenn dasselbe einmal verspätet eintrifft, wie dies z. B. im vorigen kalten Frühjahre der Fall war, so führen sie gewiß einen triftigen Grund als Entschuldigung an:

„De Kiwit kunn vor Koll nich leggen,
Dat wulln wi to us’ Entschuldigung seggen.“

Ihre Nachbarn im Ammerlande vervollständigen dieses Lieblingsgericht des Kanzlers durch eine Sendung ihrer „beröhmten Swiene-Schinken“ und pflegen dieselbe gleichfalls mit einem plattdeutschen Gruße zu begleiten, welchen der Verfasser „im Uptrag van väle Westerstäder un vör sick sülvst“ unterzeichnet, indem er die Nachschrift hinzufügt: „Un wenn He kien Ammerlandtsch Plattdütsch kann, dann wend He sick man an den Sternkieker Tietjen[WS 2]  ; dat is mien Landsmann.“

Hinter dem Jever- und Ammerlande steht das treue Ostfriesland nicht zurück. Da finden wir aus Bingum bei Leer das nachfolgende Gedicht, welches „de Hartensmeinung van de unnerschreewenen Bingummers“ ausdrückt:

„Sei sünd uns’ Mann; Hör mög’ wi lieden;
Up Hör sünd wi nich wenig stolt.
Sei sünd noch, as in olle Tieden
Een Mann uut faste Ekenholt;
Ut Isder un Stahl, een Kerl up’t Deck,
De ook geen Footbreit geit von d’Fleck.

Dat Dütschland is to Ehren kamen
Un weer up faste Footen steit,
Un det sück’t nich mehr hövt to schamen,
Dat is bi Gott geen Malligkeit.
Hör weet wi dat uns’ Levend lang
Nahst Gott in’n hogen Himmel Dank.

Nu heww wi weer uns’ Kaiser baven,
Uns’ goode Oll, wat moi[3] is dat;
Un de Franzosen, de olle Raven,
Hewwen heller wat up d’Jucken[4] had,
Un wat s’ uns stahlen, heww wi weer. –
Hoch Bismarck! Dusend Dank daför!

Un fang’n de Mullen[5] an to fröten
Un wöhlen in dat dütsche Land,
Un fang’n de Bullen an to stöten:
Sei heww’n de Plenter bi de Hand.
T’is würkelt Gotts een Mordspleseer,
Wenn Sei mit hör spöl’n Kröpelweer.

Och, mug de leive Gott doch geven,
Dat Sei noch mennig, mennig Jahr
Vört’t Vaterland noch muggen leven,
Dann hard’t geen Noth un geen Gefahr.
Völ Glück un Segen un goode Moot!
Bismarck sall leven. – Dann stah’n w’ uns good.




Blätter und Blüthen.


Der sprechende Telegraph. Von neuen musikalischen, schreibenden und zeichnenden Telegraphen haben wir unsern Lesern im Laufe des vorigen und des neuen Jahrgangs Mittheilungen gemacht. Auf der Philadelphia-Ausstellung stellte sich den Besuchern außerdem ein sprechender Telegraph von Graham Bell vor, zu dessen Verständniß wir Folgendes vorausschicken: Im Jahre 1861 erfand der deutsche Physiker Dr. Ph. Reis seinen Telephon (das ist Fernklang) genannten elektrischen Apparat, mit dessen Hülfe sich Gesang und Musik auf ziemliche Entfernungen telegraphisch versenden lassen. Dieser Apparat, der es ermöglicht, eine Serenade ebensogut in absentia zu absolviren, wie den bekannten Dr. phil., den der gesunde Volkswitz unsrer Tage Doctor der Menschenliebe (Dr. philadelphiae) nennt, dieser Apparat besteht aus einem Tonempfänger, in den man wie in die Muschel eines Sprachrohrs hineinsingt oder hineinflötet, um vermittelst einer darin straff wie ein Trommelfell gespannten Membrane die Tonschwingungen dem Telegraphendrahte als ebensoviele elektrische Ströme mitzutheilen. Auf dieser in Schwingungen versetzten Membrane ist nämlich ein Metallplättchen angebracht, welches durch Berührung einer metallenen Spitze bei jedem Hin- und Hergehen den Strom öffnet und schließt. Die durch den Draht übermittelten Schwingungen gelangen nun ebenso wie bei dem Stimmgabel-Telegraphen (Gartenlaube 1876, S. 107) unverändert nach der Empfangsstation und können dort vermittelst eines stricknadeldünnen, auf einem Resonanzboden befestigten und von den Strömen in Schraubenlinien umkreisten Eisenstabes hörbar gemacht werden, weil derselbe durch jede einzelne Strömung mit einer schwachen Lautäußerung zum Magneten wird. Je schneller sich die Ströme folgen, zu einem um so höheren Tone summiren sich die Magnetisirungs-Geräusche, die, wie es scheint, von einer Umlagerung der kleinsten Theilchen herrühren.

Bald nachdem dieser Apparat erfunden worden war, versuchte man auf deutschen und außerdeutschen Telegraphenstrecken ihn für die Praxis nutzbar zu machen, allein die Sache gedieh über eine amüsante Unterhaltung nicht hinaus. Man telegraphirte einander deutsche Volkslieder, auch wohl Clavierstücke, indem man den Absendungsapparat mit dem Resonanzboden des Instruments in Verbindung setzte, und es war gewiß sehr interessant, die Leistungen eines Sängers oder Virtuosen aus meilenweiter Entfernung mitgenießen zu können, aber leider wollten die Worte nicht die Melodie begleiten, und alle Lieder wurden auf diesem Wege „Lieder ohne Worte“. Das war sehr fatal, denn wenn z. B. die Tochter des Stationsvorstehers in X dem Telephon: „Ich, ich mag dich nicht leiden“ nach der Melodie: „Du, du liegst mir im Herzen“ in’s Kunstohr sang, so nahm der liebegirrende Aspirant der Nachbarstation diesen Hohn sicherlich für die beglückende Erhörung seiner aufrichtig gemeinten Serenaden. Den Bemühungen des Herrn Graham Bell soll es nun aber gelungen sein, diese Mängel zu überwinden und dem Telephon die Verständlichkeit her Menschenstimme zu geben. Sein Tonabsender ist nicht wesentlich von dem oben beschriebenen unterschieden, dagegen ist in dem Empfangsapparate der selbsttönende Elektromagnet durch eine kleine, kreisrunde Armatur ersetzt worden, welche, durch den Elektromagneten in Schwingungen versetzt, die Eigenthümlichkeiten der Menschenstimme so wiedergeben soll, daß man jedes Wort versteht, welches aus der andern Station dem Drahte anvertraut wird.



Kleine Mittheilungen.


Aufruf. Der Navglhr. Slck. wird flehentlich gebeten, Nachricht über sich zu geben. Dies bitten, der Verzweiflung nahe, seine Frau und seine alten Eltern.




Bitte. Mit einer größeren Arbeit über Moritz Graf Strachwitz beschäftigt, ersuche ich die Besitzer bezüglicher Briefe, Schriftstücke und biographischer Notizen, mir derartiges Material zur Benutzung gütigst zu überlassen.

Nordhausen, April 1877.
Albert Traeger.




Von einem Lehrerssohn aus Dankbarkeit gegen die „Gartenlaube“ sind mir dreihundert Mark zur Verwendung für nothleidende Lehrerfamilien übergeben worden. Indem ich für diese Liebesgabe hiermit öffentlich danke, muß ich zur Begegnung etwaiger Anfragen zugleich die Mittheilung machen, daß ein großer Theil des Betrages im Sinne des Gebers bereits verwendet wurde.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Vorlage: 'Cr'
  2. Auf die Stunde, sogleich.
  3. Wie schön!
  4. Rücken.
  5. Maulwürfe.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jahrgang 1876
  2. Vorlage: Tietzen