Die Gartenlaube (1879)/Heft 14

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 14. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.


1.

„Der Schillingshof“ hieß es, das herrliche, alte Haus, nahe der Benediktinerkirche; im Volksmund aber war und blieb es „das Säulenhaus“, ob auch die Neuzeit ganze Straßenfronten mit Säulen und Säulchen schmückte und so eigentlich die Auszeichnung aufhob. Ein Benediktinermönch hatte das Haus gebaut.

In jenen Zeiten, wo die Beherbergung von Reisenden noch kein städtisches Gewerbe war, nahmen sich die Klöster und Ritterburgen der durchziehenden Fremden an. Mancher Klosterorden errichtete zu diesem Zweck ein Hospiz auf seinem Grund und Boden – so war das Säulenhaus entstanden. – Das Kloster war ein sehr reiches, und Bruder Ambrosius, der Baumeister und Bildhauer, war schönheitstrunken von Italien heraufgekommen; zudem galt es, ein standeswürdiges Logement zu schaffen für gefürstete Häupter und hochgräfliche Herren, die mit Ehegemahl und Gefolge oft des Weges daherzogen und gern an das Klosterthor klopften. Dies Alles machte, daß sich neben dem plumpen Giebelbau des Bruderhauses jene köstliche Façade erhob, die auf einem hallenartigen, weitgeschwungenen Säulengang ein Obergeschoß mit halbrundbogigen Fenstern trug und in jeder Bogenfüllung, auf Consolen und Friesen und auf den Pfosten der mächtigen Rundbogenthür, innerhalb der offenen Halle, den bewunderungswürdigen Schmuck einer ganzen steinernen Vegetation zeigte.... Während der Oberbau zu beiden Seiten zurücktrat, lief das Erdgeschoß mit seinem Säulengang um je drei Fenster flügelartig weiter; so stieß nur dieses untere Stockwerk hart an die südliche Klosterwand und bildete, durch Steinbalustraden gekrönt, zwei luftige Seitenterrassen, auf welche verschiedene Thüren des Obergeschosses mündeten.

Was dieser Fremdling auf deutschem Boden in jenen versunkenen Zeiten erlebt und gesehen, davon wußte das neunzehnte Jahrhundert nur wenig. Damals hatte das Benediktinerkloster außerhalb der Stadt, im freien Felde gelegen; nur einige Lehmhütten hatten sich wie versprengt am gegenüberliegenden Saume der Heerstraße in das Strauchwerk geduckt und kaum die Holzladen ihrer Fensterlöcher gelüftet, wenn Abends Pferdegetrappel und herrische Stimmen vor der gewaltigen, die Klostergebäude umschließenden Mauer laut geworden waren.

Der grell auftauchende Flammenschein der Pechfackeln im Hofraume, der infernalische Lärm, den die tobenden Klosterhunde und die Reisigen mit ihren wiehernden und stampfenden Rossen verursachten, erlosch nach kurzem wie ein toller Spuk, und die Hüttenbewohner krochen neidisch in ihre Höhlen zurück; denn so viel wußten sie, daß das Kloster einen herrlichen Wein schenkte und seine Schlöte Tag und Nacht dampften.... Drin aber, hinter den teppichverhangenen Fenstern der weiten Säle flimmerte das Licht dicker Wachskerzen von den eisernen Reifen der Deckenleuchter, und die hochgeborenen Herren und Frauen, der beengenden und verhüllenden Reitertracht ledig, sammelten sich um die langen, mit dem fürstlich reichen Silbergeschirr des Abtes beladenen Eichentische. Da kreisten die Becher oft bis weit über Mitternacht; die Würfel klirrten, und die fahrenden Spielleute, denen drüben im Bruderhause zur nächtlichen Rast Stroh auf die Steinfließen geschüttet worden, sie durften kommen und aufspielen, so lange die müden Finger und Kehlen aushielten.

Sie kamen oft, von verschiedenen Seiten her, die großen und mächtigen Herren, um in dem durch Klosterschutz gefeiten Säulenhause geheime Vereinbarungen zu treffen; manche wichtige Urkunde aus jenen Zeiten bezeichnet das Benediktinerkloster als den Ort ihres Ursprunges. Und die Herren Benediktiner hatten sich nicht schlecht dabei gestanden. Sie waren stets, ohne im Säulenhaus gegenwärtig zu sein, lediglich vermöge ihres Scharfsinnes, ihrer feinen Combinationsgabe, den geheimen Verhandlungen ihrer Gäste gefolgt, und dieses oft an das Wunder grenzende Wissen hatte ihnen einen unberechenbaren Einfluß ist die Hände gespielt.

Später, zu Ende der Reformation, wanderten die Klosterbrüder aus. Das Säulenhaus und den größeren Theil von Wald, Wiesen und Feld brachte das Geschlecht Derer von Schilling an sich, die kleinere Hälfte aber und das Kloster selbst mit seinen Wirtschaftsgebäuden kam in die Hände des Tuchwebers Wolfram. Die von Schilling brachen die hohe Mauer weg, die das Säulenhaus von der Heerstraße trennte, und verlegten sie, so hoch sie war, zwischen ihr Grundstück und das des Tuchwebers, denn dazumal war eine freundnachbarliche Gemeinschaft undenkbar.... Die Lehmhütten verschwanden; der betriebsame Geist der Stadt sprengte die enggewordenen Stadtmauern; er schob neue Straßen wie Fangarme in das Feld hinaus, und nach Verlauf kaum eines Jahrhunderts lag das Säulenhaus inmitten eines stattlichen, volksbelebten Stadtviertels, wie ein wunderseltenes Goldkäferlein, verstrickt in die Netzfäden einer fleißigen Spinne.

Und die Herren von Schilling waren mit diesem neuen Geist gegangen. Ein Nürnberger Meister hatte ihnen an Stelle der niedergerissenen Mauer die Straße entlang ein kunstreiches Eisengitter, klar und durchsichtig wie ein Brabanter Spitzenmuster, aufgestellt; den ehemaligen grünen Anger dahinter durchkreuzten schmale, mit farbigem Sand bestreute Gänge und theilten ihn in einzelne Rasenstücke und Blumenbeete voll Rosen, Salbei und bunter Nelken; vor der Säulenhalle sprangen Brunnen aus einem [226] hochgethürmten, schönen, schneeweißen Steingebild, und seitwärts schatteten seltene Zierbäume. Die Tuchweber nebenan aber waren viel conservativer, als die Ritterlichen im Schillingshof. Sie rissen nicht nieder und bauten nicht; sie stützten nur, und wo ein Stein wankte, da wurde er mit ängstlicher Sorgfalt wieder eingekittet; deshalb zeigte das „Klostergut“, wie sie ihr Besitzthum fort und fort benannten, nach fast drei Jahrhunderten noch vollkommen die Physiognomie, die ihm die Mönche gegeben. Altersdunkel, dazu in der gewaltigen Balkenlage ein wenig verschoben und scheinbar tiefer in die Erde gesunken, hob sich der Giebelbau ungeschlacht und finster wie immer hinter der Straßenmauer. Und diese Mauer war eitel Flickwerk, wie das eichene Bohlengefüge in ihrem hochgewölbten Thorbogen, wie das Pförtchen zur Seite der großen Einfahrt, an welchem einst die müden Fußgänger um Einlaß geläutet, und das heute noch wie damals in denselben Lauten rasselte und schnarrte, wenn um sechs Uhr Abends die Leute aus allen Gassen und Straßen herbeikamen, um, ebenfalls wie seit alten, alten Zeiten, die Milch bei den ehemaligen Tuchwebern zu holen; denn die Wolframs hatten sehr bald den Webstuhl mit der Ackerwirtschaft vertauscht und emsig, wo sie irgend konnten, Grund und Boden und Triftgerechtigkeiten der Stadtflur käuflich an sich gezogen. Sie kargten und sparten, und zäh, hartköpfig und beständig von Charakter waren sie Alle, wie sie nach einander kamen. Die Männer scheuten sich nicht, hinter dem Pflug herzugehen, und die Hausfrauen, eine nach der anderen, standen zur Abendzeit pünktlich auf ihrem Posten am Milchschanktisch, auf daß kein Pfennig durch ungetreue Mägde in fremde Hand komme.

Und sie thaten recht daran, die Wolframs, wie es sich im Lauf der Zeiten auswies. Ihr Reichthum wuchs und mit ihm das Ansehen; sie wurden, fast ohne Ausnahme, in den Rath der Stadt gewählt, und endlich, nach abermals hundert Jahren kam auch die Stunde, wo die Herren von Schilling es für angezeigt hielten, zu bemerken, daß sie einen Nachbar hatten. Von da an entspann sich ein freundlicher Verkehr. Die hohe Mauer blieb zwar stehen – sie hatte sich inzwischen vom Schillingshofe her mit dem undurchdringlichen Geflecht einer köstlichen Weinrebensorte bedeckt, und drüben umklammerte sie dunkler Epheu mit zähen Armen – aber der Geist einer humaneren Zeit schlüpfte über sie weg; die von Schilling fanden es nicht mehr unter ihrer Würde, einen kleinen Wolfram über das Taufbecken zu halten, und wenn sie den nachbarlichen Senator zu Tische luden, so fiel es ihm nicht ein, besondere Ehre darin zu sehen. Ja, es trat die Macht des Wechsels allmählich, im Lauf des letzten Jahrhunderts, so hart an beide Geschlechter heran, daß, während die einst mißachteten Tuchweber mit Patriciernimbus vor ihren Truhen voll verbrieften, reichen Besitzthums standen, die Kästen Derer von Schilling sich in erschreckender Weise leerten. Sie hatten zu vornehm, in stolzer Ueppigkeit gehaust, und der letzte Senior der Familie, der Freiherr Krafft von Schilling, stand bereits voll zitternder Angst mit einem Fuße über dem Abgrund des selbstverschuldeten Unterganges, als der Vetter starb, dem sie Hab und Gut verpfändet hatten. Und das war die Rettung des sinkenden Geschlechtes – der einzige Sohn des Freiherrn heirathete die hinterlassene einzige Tochter des Verstorbenen und mit ihr alle Güter an das Schilling’sche Haus zurück. Das geschah Anno 1860.

In dieses rettende Jahr fiel aber auch ein Ereigniß, das im Nachbarhause mit einem wahren Jubel begrüßt wurde. Durch mehrere Generationen hindurch hatte die Familie Wolfram immer nur auf zwei Augen gestanden, seit fünfzig Jahren aber war kein männlicher Erbe auf dem Klostergute geboren worden. Der Letzte des Stammes, der Rath und Oberbürgermeister der Stadt, Franz Wolfram, war in Folge dessen zum finstern, wortkargen Eheherrn umgewandelt, dem der Groll sichtlich am Herzen nagte. Fünf Töchterlein hatten nach einander das Licht der Welt erblickt, alle so „unausstehlich“ flachshaarig wie die Mutter, alle mit der Neigung im kleinen, bangen Herzen, sich vor dem gestrengen Vater in dunkle Winkel zu verkriechen, bis sie nach kurzem Dasein die helllockigen Köpfchen erlöst und friedfertig auf das weiße Kissen des Todtenschreins betten durften.... Die Frau Räthin waltete befangen und schweigend, wie eine Schuldbewußte, neben dem erbitterten Eheherrn; nur sein näher kommender Schritt jagte ihr stets die Flamme heftigen Erschreckens über das blasse Gesicht; sonst glich sie einem wandelnden Steinbild mit ihrem stillen, freud- und klanglosen Wesen.

Und nun, sieben Jahre nach dem Tode ihres letzten Töchterleins, lag sie wieder droben in der Hinterstube, unter dem schneeweißen Betthimmel; draußen zogen schwere, dunkle Wolken vorüber, aber ein einzelner Sonnenblitz durchzuckte sie und spielte über der Stirn der blassen Dulderin.

„Ein Sohn!“ sagte feierlich die alte Wartfrau.

„Ein Wolfram!“ brach es wie ein Jubelschrei von den Lippen des Rathes. Er warf zwei Goldstücke in das Bad, das die braunen Glieder des Kindes benetzte, dann trat er an das Bett und küßte zum ersten Male nach zwanzigjähriger Ehe die Hand der Frau, die seinem Sohn das Leben gegeben.

Da kam ein Tag, wie ihn das Klostergut wohl noch nicht gesehen hatte.

Es war nicht die Art der Wolframs, mit Hab’ und Gut zu prunken; sie entzogen im Gegentheil ihre Silber- und Leinenschätze, das Familiengeschmeide, die alten kostbaren Weine in ihren Kellern sorgfältig der Oeffentlichkeit – ihnen genügte es, sich im Besitze zu wissen; in den Nachmittags- und Abendstunden jenes Tages indessen breitete sich in der sogenannten großen Stube, dem ehemaligen Refectorium der Mönche, der öffentlich verleugnete Glanz des Hauses in seinem ganzen Umfange aus. Auf der mächtigen, damastgedeckten Speisetafel funkelte das Jahrhunderte hindurch aufgespeicherte Silbergeräth, die Schalen und Schüsseln, Kannen und schlanken Becher, die riesigen Salzfässer, und rings auf den braunen holzgeschnitzten Wänden vielarmige Leuchter, Alles gediegen, in herrlich getriebener Arbeit. Und in der kleineren Stube nebenan stand der Tauftisch. Die Wolframs waren keine Blumenfreunde; nie hatte sich ein Blumentopf auf den Fenstersimsen breit machen dürfen, und im Obst- und Gemüsegarten hinter den Wirthschaftsgebäuden blühten kaum einige wilde Rosensträucher, die sich freiwillig angesiedelt, in den Ecken – heute aber umstand eine duftende, den Treibhäusern der Stadt entliehene Orangerie den weißbehangenen Tisch mit dem Taufgeräth; den Täufling umrauschte das alte Familienerbstück, eine Taufschleppe von dickem, apfelgrünem Atlas, und auf dem dunkelhaarigen Köpfchen saß die dazu gehörige altfränkische Mütze mit einer kaffeegelben Mechelner Spitzengarnitur und Stickereien von indischen Staubperlen.

Die alte Wartfrau saß derweil droben in der Wochenstube am Bett und erzählte der Frau Räthin von der Pracht drunten, von der stolzen Gevatterschaft in Sammt und Seide, von dem Wein, den man wie Gewürz durch das ganze Haus röche, und daß das „Rathssöhnchen“ wie ein Prinz unter Rosen- und Myrthenbäumen getauft worden sei.

Das vergrämte Gesicht der Wöchnerin lächelte in bitterer Wehmuth; ihren kleinen Mädchen hatte die Taufschleppe nicht gebührt – sie war von der Urahne nur für die männlichen Nachkommen gestiftet worden – es hatten auch keine Rosen und Myrthen um das Taufbecken gestanden, und der Silberschatz des Hauses war unter seinen schützenden Lederdecken verblieben. Auf den Wangen der blassen Frau begannen auch Rosen aufzublühen, dunkle Fieberrosen, und während drunten die Gläser klangen zum Wohl und Gedeihen des heißersehnten Stammhalters, theilten sich droben die weißen Bettvorhänge, und fünf Kinder schlüpften herein – sie waren alle da bei der Mutter, die kleinen Mädchen, und sie herzte sie heißinbrünstig und spielte mit ihnen Tag und Nacht in seliger Mutterlust, und die Aerzte standen rathtos um die unaufhörlich flüsternde Frau, bis sie mit müdem, seligem Lächeln den Kopf in das Kissen drückte und einschlief für immer. –

Ihr Heimgang hinterließ keine bemerkenswerthe Lücke. Der kleine Veit hatte eine Amme, und wenige Stunden nach dem letzten Athemzuge der Hausfrau kam die Schwester des Rathes, die schöne bitterernste Frau, aus ihrem Wohngelaß im oberen Stockwerke herab, um die Schlüssel und mit ihnen die Leitung des verwaisten Hauswesens zu übernehmen.

Sie war eine echte Wolfram in ihrem ganzen Thun und Wesen, wie in der äußeren Erscheinung, an welcher sechsundvierzig Lebensjahre fast spurlos vorübergeglitten. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie die Leidenschaft über die anerzogenen strengen Principien siegen lassen, und das war ihr „folgerichtig“ zum Unheil ausgeschlagen. Sie war neben dem Rath die einzige Miterbin des Wolfram’schen Besitzthums und dabei ein selten schönes [227] Mädchen gewesen. Im Schillingshofe hatte man das Nachbarkind wie eine eigene Tochter gehätschelt, und dort hatte sie auch den Major Lucian aus Königsberg kennen gelernt, mit welchem sie sich dann verheirathete, allen Ermahnungen des Bruders, ja, der eigenen inneren Warnstimme zum Trotz. Und sie hatten in der That zusammengepaßt, wie Wasser und Feuer, die herbe, in ihre Familientraditionen verbissene Wolfram’s-Natur und der elegante, leichtlebige Officier. Sie hatte darauf bestanden, ihn in ihre Lebensgewohnheiten zu zwingen, und er war dem „Spießbürgerthum“ mit scharfem Spott entschlüpft, wo er gekonnt. Das hatte zu bösen Conflicten geführt, und eines Abends war die Majorin, ihr fünfjähriges Söhnchen an der Hand, aus Königsberg zurückgekehrt – sie war heimlich abgereist, um fortan auf dem Klostergut zu bleiben.

Der kleine Felix hatte den Kopf ist ihren Reisemantel gedrückt, als sie ihn an jenem Abend durch ihr Vaterhaus geführt. Die Treppe, die in die verlassene Stille der oberen Stockwerke lief, mit ihrem fratzenhaft geschnitzten Geländer und ihren kreischenden Stufen voll ausgetretener Astknorren, die lagernde Dämmerung in den klaftertiefen Thürbogen, und in den Schiebefenstern die bleigefaßten, glanzlosen Scheiben, an denen aufgescheuchte Nachtmotten lautlos taumelten, und durch welche das Abendsonnenlicht gelb und träge wie Oel auf das zersprungene Estrich des Vorsaales floß – das war dem Knaben spukhaft erschienen, wie das Menschenfresserhaus im Wald. Und das schlanke, feingliederige Kind in seinem blassen Sammetröckchen, seinem glänzenden, goldgelben Gelock war auch wie verirrt gekommen – sie bringe ihm einen buntscheckigen Colibri in das alte Falkennest, hatte ihr Bruder, der Rath, finster mit scheelem Blick gesagt.

Fremden Blutes war und blieb der kleine Entführte auch. Die kühle Luft des Klostergutes blies ihm umsonst gegen die Idealgestalten in Kopf und Herzen – er war eine poetische, warmblütige Natur wie sein Vater. Der verlassene Mann in Königsberg hatte übrigens Alles aufgeboten, seinen Knaben wieder in die Hand zu bekommen; allein an der juristischen Meisterschaft des Herrn Rath Wolfram waren alle Versuche gescheitert – die geschiedene Frau war im Besitze des Kindes geblieben. In Folge dessen hatte Major Lucian seinen Abschied genommen; er war aus Königsberg verschwunden, und nie hatte man erfahren, wohin er sich gewendet.

Seitdem bewohnte die Majorin wieder, wie in ihren Mädchenjahren, das große, nach der Straße gelegene Giebelzimmer. Sie paßte mit Leib und Seele zwischen diese einfach gestrichenen Wände, vor deren tief eingelassenen Schränken breite, braungebeizte Flügelthüren lagen; sie saß wie vordem auf dem steiflehnigen Lederstuhl in der tiefen Fensterecke und schlief hinter dem dickfaltigen, härenen Thürvorhange der anstoßenden Kammer, zu welchem einst ihre Großmutter die groben Fäden eigenhändig gesponnen. Den Schillingshof aber hatte sie nie wieder betreten – sie floh jede Erinnerung an ihren geschiedenen Mann wie einen mörderischen Feind. Der kleine Felix dagegen war sehr bald heimisch drüben geworden; der einzige Sohn des Freiherrn Krafft von Schilling war sein Altersgenosse. Beide Knaben hatten sich vom ersten Augenblicke an zärtlich geliebt, und die Majorin war mit diesem Verkehre einverstanden gewesen, jedoch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ihr Kind nie mit einem Wort an seinen Vater erinnert werde.

Später waren die jungen Leute auch Studiengenossen in Berlin gewesen. Sie hatten Beide Jura studirt. Arnold von Schilling hatte die Staatscarriere in Aussicht genommen, und Felix Lucian sollte, ganz in die Fußstapfen seines Onkels tretend, anfänglich ein städtisches Amt bekleiden und später das Klostergut übernehmen; denn seit auch die letzte der kleinen, flachshaarigen Cousinen gestorben, hatte ihn der Rath zu seinem Erben und Nachfolger bestimmt, vorausgesetzt, daß er seinem väterlichen Namen den Namen Wolfram anfüge. Da änderte, wie bereits erwähnt, das Jahr 1860 alle Familienverhältnisse im Schillingshofe und Klostergut – Arnold von Schilling kam heim, um auf die Bitten seines kränkelnden Vaters hin mit der Hand seiner Cousine die Schilling’schen Güter wieder zu übernehmen, und auf dem Klostergute blies der Spätling, der kleine Veit Wolfram, mit seinem schwachen Lebensathem die Erbansprüche seines Vetters Felix über den Haufen.




2.

Die Frau Räthin Wolfram war an einem schneestöbernden Aprilmorgen im Familienbegräbnisse beigesetzt worden. An jenem Tage hatte Felix Lucian nur auf wenige Stunden in die Heimath eilen können, um der verstorbenen Tante das letzte Geleit zu geben. Heute nun, nach zwei Monaten, wo der Syringenduft der ersten Junitage die Lüfte erfüllte und der abgeschüttelte Schnee der Baumblüthe weiß auf dem Rasen lag, kam er wieder auf das Klostergut zu einer mehrtägigen Erholungszeit, wie er seiner Mutter geschrieben hatte.

In derselben weiten Hausflur, die er Nachmittags betrat, hatte die todte Hausfrau die letzte Rast gehalten. Noch war es ihm, als müsse Weihrauchsduft das Deckengebälk bläulich verschleiern und der Geruch der Buchsbaumguirlanden, zwischen denen die schlank hingestreckte Frau mit dem schlichten Flachshaar an den Schläfen so friedsam gelegen, ihm durchdringend entgegenschlagen. Aber es waren heute nur wirbelnde Stäubchen, die in einem Lichtreflex an der Decke spielten; aus der offenen Küche quoll der Duft schmorenden Geflügels, und am Milchschanktische stand seine Mutter und zählte Eier in den Korb der Magd, die nach altem Brauche wöchentlich zweimal mit Eiern und frischgeschlagener Butter die Runde bei bevorzugten Stadtkunden machen mußte.

Einen Moment erstrahlten die Augen der Majorin wie unbewacht in nicht verhehltem Mutterstolze, als der schöne, hochgewachsene Jüngling auf sie zuschritt, aber sie hielt in jeder Hand fünf Eier, und so reichte sie ihm behutsam über die Schulter hinweg die Wange zum Kusse. „Gehe einstweilen hinauf, Felix!“ sagte sie hastig, in der Besorgniß, sich zu verzählen oder ein Ei zu zerbrechen.

Er zog schleunig die Arme zurück, die er um ihre Schultern geschlungen, und stieg die Treppe hinauf. Von der Wohnstube her klang ihm plötzliches Kindergeschrei nach – der neue Erbherr des Klostergutes schrie häßlich und boshaft auf wie eine junge Katze. Dazu krähten die Hähne im Hühnerhofe, und oben über den Vorsaal schlich der riesige, fette Hauskater. Er kam vom Kornspeicher, von der Mäusejagd, und rieb und drückte sich behaglich an der eleganten Fußbekleidung des Heraufsteigenden hin – der junge Mann schleuderte ihn weit von sich; er stampfte voll Abscheu mit den attakirten Füßen, als schüttele er Schnee ab.

Im Zimmer der Majorin standen die Fenster offen, und die weiche Frühlingsluft strömte herein, aber nicht sie trug den köstlichen Veilchenduft im Athem, der die ganze Stube erfüllte – er kam aus den offenen Flügelthüren eines Wandschrankes. Wie Silberschein flimmerte es in diesen tiefen Fächern; so glänzend thürmte sich das Leinenzeug auf einander, und zwischen diesen Packeten dorrten Tausende von Veilchenleichen. Nie hatte der kleine Knabe der Majorin ein Veilchensträußchen zu seiner Augenweide in ein Glas Wasser stellen dürfen – es stand ja nur im Wege und konnte umgeschüttet werden –, wohl aber mußten er die kleinen Kelche zur Verherrlichung der Leinenschätze von den Stielen zupfen. Diese weißen Lagen, mit denen die Mutter immer einen förmlichen Cultus getrieben, waren ihm deshalb stets verhaßt gewesen; er warf auch jetzt einen finsteren Blick nach dem Schranke.

Die Majorin war augenscheinlich beim Revidiren gestört worden; da, auf dem breitbeinigen Ahorntische im Fensterbogen, lag das Buch, in welches sie ihre Notizen zu machen pflegte. Felix kannte diese Hefte voll der verschiedenartigsten Rubriken sehr gut, aber die aufgeschlagene Blattseite hier war ihm neu in ihrer Bezeichnung. „Mitgabe an Hauswäsche für meinen Sohn Felix“ stand obenan. Sein eigener künftiger Hausstand! Er wurde roth wie ein Mädchen bei dieser Vorstellung. Diese Dutzende von Gedecken, Handtüchern, Bettbezügen reihten sich breit und wichtig an einander, als seien sie die erste Grundbedingung des künftigen Familienglückes. Und dieses ernsthafte, langweilige Register sollte in dem übermüthigsten, tollsten Lockenkopfe haften, der je auf weißen Mädchenschultern gesessen? „O Lucile, wie würdest Du lachen!“ flüsterte er, und lachte selbst in sich hinein.

Mechanisch ließ er die Blätter durch die Finger laufen. Hier, in dieser „Zinsen-Einnahme“, summirten sich Tausende und Tausende. Welcher Reichthum! Und dabei dieses unbeirrte Sammeln und Sparen, diese Angst, daß mit einem zerschlagenen Ei ein paar Pfennige verloren gehen könnten! Der junge Mann stieß das Heft wie im Ekel fort, und mit beiden Händen ungeduldig [228] durch das reiche Blondhaar fahrend, trat er an das Fenster. Mit seiner vornehmen Erscheinung, dem leisen Hauch feinsten Odeurs, der sie umschwebte, mit den ungesucht eleganten Manieren stand er auch heute so fremd zu dem „alten Falkennest“, wie die feinen Handschuhe, die er lässig abgestreift und hingeworfen, auf den plumpfüßigen, weißen Ahorntisch, die glänzenden Lackstiefel auf den groben, ausgetretenen Dielenboden paßten.

Er drückte die Stirn an das Fensterkreuz und sah hinaus. Wie ein Anachronismus steckte das Klosterhaus zwischen den geschmückten Neubauten. Jenseits der Straßenmauer lief jetzt die eleganteste, mit rothblühenden Kastanien besetzte Promenade der Stadt hin. Er schämte sich, daß die feine Welt täglich an dem geflickten Mauerwerk vorüber mußte; er fühlte sich gedemüthigt angesichts des gegenüberliegenden schloßartigen Hauses, von dessen bronzeumgitterten Balcons man den Hof übersehen konnte, der zwischen dem Klosterhaus und der Mauer lag. Wohl waren es vier herrliche, alte Lindenwipfel, die seine Mitte füllten – sie strotzten auch heuer wieder in maienhaftem Grün, von keinem dorrenden Aestlein entstellt – allein die altehrwürdigen Steinsitze zu ihren Füßen und der Porphyrtrog des Laufbrunnens, den sie beschatteten, waren garnirt mit dem frischgescheuerten Holzgeräth der Milchkammer. Dazu der Oekonomie-Lärm! Eben wurde frischer Klee eingefahren. Der Knecht fluchte über die enge Passage des Thorweges und hieb auf die Pferde ein; die barfüßige Stallmagd scheuchte zwei störrige Kälber, die sich in den Vorhof verlaufen, schimpfend aus dem Wege; Taubenschwärme flogen auf, und das andere Federvieh stob schreiend aus einander – „Bauernwirthschaft!“ murmelte Felix zwischen den Zähnen und wandte das beleidigte Auge zur Seite.

Dort breitete sich das schöne Parterre des Schillingshofes hin, und er athmete wie erlöst auf – dort war er ja immer heimischer gewesen, als auf dem Klostergute. Ueber die epheubewachsene Mauer hinweg sah er allerdings nur ein Stück des Rasenspiegels, in dessen Mitte die Wasser vor dem Säulenhause sprangen; er sah auch nur beim Hinausbiegen seitwärts einen Schein der Spiegelscheiben zwischen den Steinornamenten der Rundbogen blinken, aber dieser trennenden Mauer gegenüber schlossen drei Reihen prächtiger Platanen den Schillingshof von dem jenseitigen Nachbargrundstück ab. Sie konnte er vollkommen überblicken; sie liefen als Doppelallee vom Straßengitter aus neben der Südseite des Säulenhauses hin tief in den eigentlichen Garten hinein. Diese herrliche Baumhalle war einst der Haupttummelplatz für ihn und seinen kleinen Freund Arnold gewesen; sie behütete treulich die grüne Dämmerung, die frische Kühle drunten, und für den Freiherrn Krafft war sie an heißen Sommertagen eine Art Salon; er empfing da Besuche, hielt seine Siesta und trank den Nachmittagskaffee unter den Bäumen.

Auch jetzt stand die Kaffeemaschine auf dem Tische, aber nicht die wohlbekannte messingene – sie hatte einer silbernen Platz gemacht. Es gruppirte sich überhaupt viel Silbergeschirr dort; auch kleine, mit Liqueur gefüllte Krystallkaraffen funkelten dazwischen – so war der Kaffeetisch früher nie besetzt gewesen. Damals hatte man auch auf weißgestrichenen Gartenbänken von Holz gesessen; heute standen große Arrangements eleganter gußeiserner Möbel zwischen den Bäumen; Schlummerrollen und farbenglänzende Kissen lagen umher, und aufgestellte reichdecorirte Wandschirme bildeten behagliche, vor dem Zugwind geschützte Plauderwinkel.

Das Fremdartigste aber war die Dame, die in diesem Augenblicke neben dem Säulenhause hervor kam; sie ging, offenbar wartend, langsam auf und ab. Arnold’s Mutter war früh gestorben; eine Schwester hatte er nie gehabt, darum war das weibliche Element, so weit Felix zurückdenken konnte, immer nur durch die gute, dicke Wirthschaftsmamsell vertreten gewesen.... Nun schimmerte eine blauglitzernde Seidenschleppe durch den Alleeschatten, und Frauengeist und Frauenwille durften nach fast zwanzig Jahren wieder neben dem Regiment des alten Freiherrn ebenbürtig im Schillingshofe walten.

Als Felix vor zwei Monaten zur Beisetzung der Tante auf dem Klostergute gewesen war, da hatte zur selben Zeit auch Arnold’s Hochzeit in Coblenz stattgefunden – der Freund hatte vorher nur kurz und trocken angezeigt, daß er „das lange Mädchen“, die Coblenzer Cousine heirathe.... Das war sie nun, die junge Frau, die neue Herrin des Schillingshofes, eine überschlanke Gestalt mit schmalen Schultern, an Brust und Rücken flach und dürftig, vornüber geneigt, wie die meisten großen Leute, und doch vornehm, sichtlich eine Dame von Stande in jeder ihrer lässig schleppenden Bewegungen. Das Gesicht konnte er nicht voll erfassen; in scharfer Profilstellung erschienen ihm die Züge langgestreckt, von englischem Typus und blaß angehaucht, doch besaß die junge Frau einen herrlichen Schmuck in dem reichen, hellblonden Haar, das zwar elegant, aber so locker aufgesteckt war, als schmerze und beschwere diesen jungen Kopf peinlich jede Haarnadel.

Sie sah öfter mit leisen Zeichen der Ungeduld abwechselnd nach den Fenstern und der Thür unter der Säulenhalle und ordnete und rückte wiederholt an den Tassen und Kuchenkörben.

Dann kam eine junge Person in weißem Latzschürzchen, augenscheinlich die Kammerjungfer, aus dem Hause. Sie legte ihrer Gebieterin einen weichen Shawl um die Schultern und zog ihr Handschuhe an. Und die Dame stand da wie ein Automat; sie hielt die langen, schlanken Hände unbeweglich hingestreckt, bis jedes Knöpfchen geschlossen war; sie regte sich nicht, als das Mädchen vor ihr niederkniete und eine aufgesprungene Spange an dem farbigen Schuh wieder befestigte. Sie sprach auch nicht und zog nur schließlich, trotz der durchsonnten, köstlich warmen Juniluft, fröstelnd den Shawl über der Brust zusammen. „Verwöhnt und nervös!“ dachte Felix, während sie sich anmuthig in die mit rothen Kisten ausgepolsterte Ecke einer Bank sinken ließ.

Inzwischen war Adam, der langjährige Diener des alten Freiherrn Krafft, aus der Thür des Säulenhauses gekommen. Er wohnte im Schillingshofe, war Wittwer und hatte sein einziges Kind, ein zehnjähriges Mädchen, bei sich. Das führte er jetzt an der Hand.

Die Kammerjungfer ging mit einem schnippischen Achselzucken an ihm vorüber, und die Dame auf der Bank sah nicht, daß er grüßte. Felix hatte den stillen, ernsthaften Diener sehr gern, dessen äußere Ruhe und Gelassenheit im Schilling’schen Hause sprüchwörtlich waren. Deshalb befremdete ihn die aufgeregte Hast, mit welcher der Mann den Rasenplatz umschritt und den Schillingshof verließ, um nach wenigen Minuten in den Hof des Klostergutes einzutreten. Sein kleines Mädchen schrie ängstlich auf und klammerte sich an ihn fest – ein großer Puter lief zornig kollernd auf sie zu, als wolle er ihr das rothe Röckchen vom Leibe reißen. Der Mann scheuchte das erboste Thier fort und sprach beruhigend in das Kind hinein, aber das geschah in athemloser Aufregung, und die Wangen glühten ihm, als sei er betrunken.

Felix sah nur noch flüchtig, wie der alte Freiherr, auf den Arm seines Sohnes gestützt, in die Platanenallee trat und sich mit einer chevaleresken Handbewegung neben seiner Schwiegertochter niederließ – ein Gefühl inniger Theilnahme trieb ihn vom Fenster weg, in die Hausflur hinab. Auf der unteren Treppenwendung blieb er einen Augenblick stehen. Die Magd hatte mit Eierkorb und Buttergelte das Haus verlassen, und seine Mutter zog eben das Geflügel aus der Bratröhre.

„Mein Bruder ist nicht zu Hause, Adam,“ sagte sie zu dem Manne, der an der Küchenthür stand. Sie setzte die dampfende Pfanne auf den steinernen Spültisch und trat an die Schwelle. „Ich will doch nicht hoffen, daß Sie ihn noch einmal mit der dummen Geschichte incommodiren –“

„Ja, Frau Majorin,“ unterbrach er sie höflich, aber fest, „ich komme deswegen. Nur der Herr Rath kann mir noch helfen; er weiß am besten, daß ich unschuldig bin – er wird der Wahrheit die Ehre geben.“

„Sie sind nicht bei Sinnen, Mann,“ entgegnete die Majorin scharf und streng. „Soll der Herr Rath vielleicht beschwören, daß er mit der Dienerschaft des Herrn von Schilling niemals intim verkehrt hat?“

„Was ist denn das für eine Differenz zwischen hüben und drüben?“ fragte Felix erstaunt hinzutretend.

„Ach, Herr Referendar, die Differenz bringt mich um Brod und Ehre,“ sagte Adam mit brechender Stimme. Sonst hatte er den jungen Mann bei dessen Heimkunft immer freudestrahlend begrüßt – heute schien er gar nicht zu wissen, daß er ihn lange nicht gesehen. „Eben hat mich mein alter gnädiger Herr einen Duckmäuser, einen miserablen Spion genannt; er hat mir sein

[229]

Herzog Georg von Sachsen-Meiningen.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.



schönes Mundglas nachgeworfen, daß es in tausend Stücken auf dem Erdboden ’rumgeflogen ist –“

„Sind ja recht schöne, adlige Manieren,“ warf die Majorin trocken ein. Sie hatte währenddem einen Bratenteller aus dem Küchenschranke genommen und hielt ihn, seine Sauberkeit prüfend, gegen das Fensterlicht.

Ihren Sohn empörte diese unbeirrte Geschäftigkeit angesichts des tiefalterirten Mannes. Er reichte ihm herzlich die Hand. „Ich begreife nicht, was den alten Herrn dermaßen erbittern mag, daß er sich zu Tätlichkeiten hinreißen läßt,“ sagte er teilnehmend. „Noch dazu seinem treuen Adam gegenüber – er hat Sie ja immer vor allen Anderen hochgehalten –“

„Nicht wahr, Herr Lucian, das wissen Sie auch? – „Ach, du mein Gott, ja – und das ist nun Alles aus,“ rief der Mann, in Jammer ausbrechend, und Thränen füllten seine Augen. „Ich ein Spion - ich! – Ich soll gehorcht haben der Steinkohlengeschichte wegen, die mich auf der Gotteswelt nichts angeht.“

Felix sah seine Mutter verständnißlos und fragend an.

„Er meint das Kohlenlager im kleinen Thale,“ berichtigte die Majorin in ihrer wortkargen Weise. „Der Alte im Schillinghofe ist von jeher ein anmaßender Patron gewesen – er denkt, was er ausklügelt, das kann keinem Anderen einfallen.“

„Der gnädige Herr hat’s ja nicht selber ausgedacht, Frau Majorin –“ sagte Adam – „das ist’s ja eben.... Sehen Sie, Herr Referendar, er sagt immer, die Schillings und die Wolframs hätten seit Jahrhunderten die Klosteräcker am kleinen Thale gehabt, [230] und es wär’ bis auf den heutigen Tag Keinem eingefallen, von dem großem steinigen Grund nebenan, der den Gotters von alten Zeiten her gehört, eine Handbreit auch nur geschenkt zu nehmen, geschweige denn zu kaufen – es ist zu elender Boden; der alte Gotter hat ihn oft genug selber verwünscht; er hat’s so wenig gedacht, wie seine Nachbarsleute, die jahraus, jahrein daneben gepflügt und geackert haben, daß was Gescheidteres drunter stecken könnte. Da ist aber der fremde Ingenieur hierher versetzt worden, der hat gleich auf den ersten Blick gewußt, daß gerade unter dem Grunde ein großes Kohlenlager ist – die Kohlen lägen ja geradezu am Tage, hat er gesagt –“

„Ist auch so gewesen,“ fiel die Majorin vom Küchentische herüber ein. Sie entfaltete ein schneeweißes Tellertuch und rieb und wischte an der Bratenschüssel.

„Und weil er mit meinem gnädigen Herrn von früher her bekannt war,“ fuhr Adam fort, „so hat er ihm den Vorschlag gemacht, mit ihm in Compagnie den Grund zu kaufen und ein Kohlenbergwerk anzulegen. Mein Herr ist auch mit tausend Freuden drauf eingegangen, und sie haben Alles ganz im Geheimen abgemacht. Weil aber gerade zu der Zeit die Hochzeit in Coblenz sein sollte, so ist der Ankauf des Grundstücks bis nach der Reise an den Rhein verschoben worden. Es ist ihnen ja nicht im Traume eingefallen, daß ihnen ein Anderer zuvorkommen könnte – es hat ja keine Seele drum gewußt – so haben sie wenigstens gemeint – ja Prosit! – wie sie nachher zum alten Gotter gekommen sind, da hat der geflucht und gewettert: er hätte sich überrumpeln lassen; er hätte dem Herrn Rath Wolfram seinen Grund um ein Spottgeld verkauft – und nun seien ja Kohlen die schwere Menge drunter, und der Herr Rath habe schon bei der Behörde auf das Grundstück Muthung eingelegt – ist das nicht die reine Zauberei, Herr Lucian?“

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen auf alle Fälle!“ rief der junge Mann überrascht.

„Das sage ich auch; es ist eben Glück dabei gewesen, und der Onkel kann nicht dafür, wenn es andere Schlafmützen verpassen,“ setzte seine Mutter hinzu. „Uebrigens lügt der alte Gotter, wenn er von Ueberrumpeln und von einem Spottgeld spricht; er hat sich zu Anfang in’s Fäustchen gelacht, weil er seinen sauren Wiesengrund so vorteilhaft losgeworden ist.“

Das klang so kühl und nüchtern, so fertig und abgeschlossen im Urtheil. Dabei war diese Frau doch, trotz ihres schlicht bürgerlichen Gebahrens, eine vornehme Erscheinung. Sie war noch schlank und hatte über dem schönen Gesicht nußbraunes Haar, so voll und kräftig wie das eines jungen Mädchens, und die ehemalige Officiersfrau vergaß bei allem Bienenfleiß ihre Stellung nicht; sie war sorgfältig frisirt und sehr gut gekleidet, wenn auch der schöne Fuß im festen Lederstiefel steckte und eine breite, blauleinene Küchenschürze augenblicklich das elegant sitzende Kleid umhüllte.

„Da iß, Kind!“ sagte sie und reichte dem kleinen Mädchen des Dieners ein Stück Kuchen aus dem Fliegenschranke. Die Kleine wandte mit finsteren Augen den Kopf weg und wehrte die Gabe ab.

„Die nimmt nichts, Frau Majorin,“ sagte ihr Vater weich. „Sie hat heute noch keinen Bissen gegessen; sie kann’s nicht sehen, wenn die Leute nicht gut mit mir sind, und heute hat ja das Quälen und Zanken den ganzen Tag nicht aufgehört. … Herr Lucian, ich hab’ viel ertragen in der letzten Zeit. Der gnädige Herr bleibt dabei, die Sache sei nicht mit rechten Dingen zugegangen; er habe irgend einen ‚falschen Christen’ in seinem Hause, der gehorcht und geklatscht hätte, und weil ich, wie die Herren beisammen saßen, ein paar Mal mit Wein ab- und zugegangen bin, da fällt nun auf mich armen Kerl der Verdacht. Das ewige Sticheln hab’ ich geduldig verbissen, ich wollte ja mein Brod nicht verlieren, Hannchens wegen“ – er strich mit der Linken zärtlich über die dicken Haarflechten des Kindes – „aber seit gestern, wo die Leute von nichts Anderem sprechen, als von dem großen Glück, das der Herr Rath mit seinem Unternehmen hat – es sollen ja Kohlen sein, so gut wie die besten englischen – da kennt sich der gnädige Herr nicht mehr vor Wuth und Aerger. Ich wollte nun den Herrn Rath noch einmal ganz gehorsamst bitten, daß er’s meinem Herrn begreiflich macht –“

„Das geht nicht, Adam; so viel sollten Sie sich selbst sagen,“ unterbrach ihn die Majorin kurz. „Mein Bruder wird sich schwerlich herbeilassen, den Leuten auch noch gütlich zuzusprechen, die ihn heimlich anfeinden, weil er ebenso gescheidt gewesen ist, wie sie; das schlagen Sie sich aus dem Sinn und sehen Sie zu, wie Sie sich selbst heraushelfen!“

Der Mann biß die Zähne zusammen; er kämpfte schwer mit seiner Erbitterung. „Hätt’ es freilich wissen sollen!“ sagte er achselzuckend mit einem tiefen Seufzer; „zwischen zwei großen Herren fällt so eine armselige Bedienten-Ehre allemal auf den Boden. Da bleibt einem armen Teufel wie mir ja wirklich nichts Anderes mehr übrig, als – in’s Wasser zu gehen,“ fuhr es ihm verzweiflungsvoll heraus.

„Ach nein, das thust Du nicht, Vater. Gelt, das thust Du nicht?“ schrie das kleine Mädchen auf.

„Reden Sie doch nicht so gotteslästerlich, Mann!“ schalt die Majorin streng und entrüstet. Felix aber nahm den Kopf des Kindes, das in ein unaufhaltsames Weinen ausbrach, sanft zwischen seine Hände. „Sei still, Herzchen,“ beruhigte er, „das thut Dein Vater nicht; dazu ist er viel zu brav. Ich will in den Schillingshof gehen und mit dem alten Herrn sprechen, wenn Sie es wünschen, Adam.“

„Ach nein, ich danke Ihnen, Herr Referendar,“ versetzte der Mann; „ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, aber das macht Ihnen nur Ungelegenheiten und mir hilft es doch nichts.“ Er grüßte, schlang den Arm um sein kleines Mädchen und führte es nach der Hausthür. „Komm her, wir gehen zu Deiner Großmutter.“

„Ja, Vater,“ sagte das Kind, augenblicklich sein Schluchzen niederkämpfend; „aber Du bleibst auch dort, gelt? Du gehst nicht fort in der Nacht, Vater?“

„Nein, mein gutes Hannchen.“

Sie gingen durch den Hof, und der Puter lief wieder auf das Rothröckchen zu, aber die Kleine beachtete ihn nicht; ihre Füßchen suchten Schritt mit dem Vater zu halten, wobei sie weit vorgebogen ihm beweglich unter das Gesicht sah – sie traute seiner mechanisch gesprochenen Versicherung nicht. „Ich schlafe die ganze Nacht nicht – paß’ auf!“ drohte sie mit ihrem angstbebenden Stimmchen. „Ich sehe es, wenn Du fortgehst.“ Und als die Hofthür schon hinter ihnen zugefallen war, da hörte man noch über die Mauer her die unsäglich angstvolle, kindliche Drohung: „Ich schlafe nicht; ich lauf’ Dir nach, wenn Du fortgehst, Vater.“

(Fortsetzung folgt.)




Zur Frage der Leichenbestattung.
Ein Vermittelungsvorschlag von Carl Vogt.

Die Frage der Leichenbestattung ist im recht eigentlichsten Sinne des Wortes eine brennende geworden, seitdem in Gotha Brenner und Halle erbaut und am 10. December vorigen Jahres eingeweiht wurden. (Vergl. Professor Reclam’s Bericht in Nr. 3 von diesem Jahre.)

Der erste Schritt zum Besseren wäre somit gethan! Nichts desto weniger wird es noch lange dauern, bevor diese Reform, sei es auch nur für die größeren Städte, durchdringt, denn eine Neuerung findet um so größeren Widerstand, je ausschließlicher sie sich an den Verstand der großen Menge wendet, namentlich wenn sie zugleich deren wirkliche oder vermeinte Gefühle beleidigt und gegen eine von uralt eingewurzelter Gewohnheit bedingte Trägheit anzukämpfen hat.

„Der Widerstand einer Eisenplatte ist nichts,“ sagte mir einmal mein Lehrer Liebig, „ich kann ihn mit einer Kanonenkugel brechen, die durchschlägt, aber den baumwollenen Widerstand durchzuschlagen, das ist eine Kunst! Jener giebt nach – aber dieses passive Nachgeben ermattet und lähmt schließlich die Kugel, [231] und wenn man den Schaden besieht, ist gar keiner da, kein Eindruck, noch weniger ein Loch, und die Baumwolle in ihrem früheren Zustande, als ob nichts vorgefallen wäre.“

So geht es auch mit der Feuerbestattung. Als vor einigen Jahren die Wellen der Bewegung hoch gingen und in Zürich sogar ein Journal gegründet wurde, das in Prosa und Versen nach allen Seiten hin Feuer gab, wie der Drehthurm eines Panzerschiffes, wurde auch in Genf eine Versammlung gehalten, in welcher ich das Wort ergriff und darauf aufmerksam machte, daß es uns, den Anhängern der Feuerbestattung, erst nach jahrelangem, unablässigem Ringen gegen confessionelle und juridische Bedenken gelingen werde, dahin zu kommen, wohin man in Gotha jetzt gelangt ist. Ich behielt Recht. Und doch brannte die Sache in Genf dem Publicum sehr empfindlich auf die Nägel.

Man erlaube mir ein Wort in der Sache, mit der ich mich praktisch zu beschäftigen Gelegenheit hatte. Seit Jahren schon sieht man den Zeitpunkt herannahen, wo man in Genf, auf dem jetzigen Friedhofe, nicht mehr wird beerdigen können; seit Jahren suchen die Stadtbehörden nach einem neuen zur Beerdigung geeigneten Platze in der Nähe der Stadt, ohne einen solchen finden zu können. Ich war selbst Mitglied einer Commission, die über ein Jahr lang in Thätigkeit war, die verschiedenen Plätze nach allen Seiten hin untersuchte und experimentell prüfte, indem sie Thierleichen einscharren ließ, welche nach Monaten wieder ausgegraben wurden und so einen praktischen Maßstab der Verwesung im Boden gaben. Ich gab nach allen diesen Untersuchungen in einem sehr ausführlichen Gutachten mein Urtheil dahin ab, „daß keiner der vorgeschlagenen neuen Friedhöfe einen wirklich passenden Boden besitze, gegen den keine Einwendungen gemacht werden könnten, und daß man deshalb auf künstliche Weise den Fehlern abhelfen müsse.

Das war ein vermittelnder Vorschlag, den ich machen mußte, weil ich mir wohl bewußt war, daß die zwangsweise Feuerbestattung nicht eingeführt werden (ihre begeistertsten Anhänger verzichten auf den Zwang) und daß die freiwillige, facultative Feuerbestattung dem Uebel, wie es sich in Genf und den meisten Städten zeigt, nicht abhelfen könne.

Da liegt der Haken.

Abgesehen von religiösen und juridischen Bedenken, über die ich noch später einige Worte sagen will, wird die obligatorische Feuerbestattung durch den Umstand unmöglich, daß, wie dies ja auch Professor Reclam sagt, sie in kleineren Orten nicht anwendbar ist, man also dort bei dem Begraben verharren wird – bei einem so tief in alle Verhältnisse einschneidenden Gegenstande aber, wie die Art und Weise der Leichenbestattung es ist, wird der Gesetzgeber sich wohl hüten müssen, einen Gegensatz zwischen Stadt und Land zu schaffen, der zu den ärgerlichsten Folgen führen könnte. Die facultative Leichenbestattung aber, die sich nur sehr langsam Bahn brechen kann, hilft der Ueberfüllung, auch der städtischen Friedhöfe, nicht ab, die durch Generationen hindurch stets dringender wird.

Nehmen wir ein Beispiel! Genf begräbt mit seinen beiden Vorstädten, Pleinpalais und Eaux-vives, welche besondere Gemeinden bilden und den jetzigen Friedhof noch mitbenutzen, jährlich etwa 1000 Todte. Vom Ende des Jahres 1880 an wird man mehr als die Hälfte dieser Todten nicht mehr auf dem jetzigen Kirchhofe begraben können, ohne Gräber aufzuwühlen, die erst seit 8 oder 6 Jahren besetzt, deren Leichen noch nicht vollständig verwest sind. Man errichtet eine Feuerhalle – nehmen wir das an. Wenn bis zum Ende des Jahres 1880 sich zehn Personen verbrennen lassen, so wird man im Lager der Feuerbestatter jubeln, und wenn im folgenden Jahre sich fünfzig verbrennen lassen (was kaum glaublich), so wird man entzückt sein über den Erfolg. Mit vollem Rechte. Was fängt aber die Stadt Genf mit den 450 Leichen an, die nicht verbrannt werden dürfen und die sie doch nicht beerdigen kann?

Das Uebel liegt in dem zunehmenden Wachsthum der Städte. Die jetzigen Friedhöfe, welche früher außerhalb des Weichbildes lagen, werden nach und nach von Stadtvierteln umschlossen; ihre Vergrößerung wird durch den Preis des Bodens in der Umgebung, der zu Bauplätzen verwerthet wird, unerschwinglich; die Liegenschaften in der Nähe der Stadt steigen ebenfalls mehr und mehr im Preise oder müssen stundenweit entfernt gesucht werden. Alle Städte ohne Ausnahme sind jetzt schon gezwungen, die sogenannte Rotation eintreten zu lassen, das heißt die Gräber nach einer gewissen Zeit (10 bis höchstens 20 Jahre) zu eröffnen und neu zu besetzen. Schließlich sättigt sich der Boden in solcher Art, daß auch eine solche Rotation nicht mehr möglich ist. Die kürzere oder längere Frist, innerhalb welcher sie stattfinden kann, hängt von der Beschaffenheit des Bodens ab; er darf weder zu durchlässig für Luft und Wasser sein, noch diese beiden Elemente der Verwesung allzusehr in ihrer Circulation hindern. Solcher Boden ist höchst selten. Was nun?

Es bleibt nur das Eine übrig, daß man der Bestattung ihren bisherigen Gebrauch, so viel es thunlich, läßt, aber solche Methoden ausfindig macht, welche so wenig Platz als möglich beanspruchen, eine schnelle Rotation ermöglichen und somit Zeit, Geld und Mühe sparen. Ehe ich auf einen Vorschlag in dieser Richtung eingehe, möchte ich mir noch einige Worte über die Feuerbestattung selbst erlauben.

Professor Reclam hat ganz Recht, wenn er in dem erwähnten Aufsatze sagt, „daß Feuerbestattung Vortheile bietet für die Gesundheitspflege, für die Pietät gegen die Todten und für die Gemeindeverwaltung in den Städten“, wenn er aber hinzufügt, die Einsichtigen hätten erkannt, „daß weder juristische noch religiöse Bedenken gegen dieselbe bestehen“, so kann ich diesen Worten nicht unbedingt beipflichten. Einsichtige können für sich selbst keine religiösen Bedenken haben, aber nichts desto weniger erkennen, daß dieselbe bei Anderen bestehen; und daß dies bei der großen Masse der Fall ist, kann keinem Zweifel unterliegen, namentlich bei den Anhängern derjenigen Kirchen, welche die Tradition höher halten, als die Protestanten. Im Anfange wurde das Begräbniß, die Beisetzung in Höhlen, Katakomben etc. als das wahre christliche Begräbniß betrachtet, dem die heidnische Verbrennung, wider welche die Kirchenväter donnerten, gegenüber stand; der Glaube an die Auferstehung der Todten und ihre Erscheinung beim letzten Gerichte war dem materiellen Begräbniß ein mächtiger Rückhalt. Wir Einsichtigen wissen recht gut, daß die Verbrennung nur eine gewaltsame Beschleunigung des in der Erde vor sich gehenden langsamen Prozesses ist, daß beide Prozesse genau dasselbe Endresultat haben – aber die Einsichtigen bilden nur die Minorität gegenüber den großen Massen, die sich nur schwer von Vorstellungen lostrennen können, welche auf mehr oder minder handgreiflichem Grunde beruhen. Ich sprach einmal mit einem bibelgläubigen Protestanten über die Leichenverbrennung. „Ganz gut, Herr,“ sagte er mir, „wie hätte aber Christus am dritten Tage wieder auferstehen können, wenn er am zweiten nach seinem Tode verbrannt worden wäre? Ich will begraben werden, wie unser Herr Christus.“

Es ist also Unrecht zu sagen, die Einsichtigen hätten erkannt, daß der Leichenverbrennung keine religiösen Bedenken entgegenstehen; die Einsichtigen müssen im Gegentheil erkennen, daß dieselben bestehen in allen Lagern der religiös Gesinnten, am stärksten bei den Katholiken und Griechen, wo die Tradition der Kirche eine wesentliche Rolle spielt und der Cultus der Todten weit allgemeiner und inniger ist, als bei den Protestanten. Wer den 2. November, den Tag der Todten in romanischen Ländern verlebt hat, wird mir zustimmen müssen.

Hinsichtlich der juridischen Bedenken aber bin ich der Meinung, daß sie bei den Einsichtigen gerade schwer in das Gewicht fallen. Ohne Zweifel sind schon Giftmorde durch Ausgrabung der Leichen entdeckt oder bestätigt worden. Die meisten Giftmorde werden durch Arsenik begangen, der gerade die Leichen conservirt und nach Jahren noch mit vollständiger Sicherheit sich nachweisen läßt. Bei der Verbrennung verflüchtigt sich der Arsenik und mit ihm der materielle Nachweis des Giftes. Die Chancen des Entschlüpfens vor der Strafe, die ohnehin schon bei dem Giftmorde größer sind, als bei anderen Verbrechen ähnlicher Art, werden also durch die Feuerbestattung vermehrt. Auch diese Erwägung wird die Leichenverbrennung der Sympathie der großen Masse gewiß nicht näher bringen.

So wird also diese neue Form der Bestattung nur höchst langsam sich Bahn brechen, vielleicht erst in Jahrhunderten so allgemein werden, daß man sie obligatorisch machen kann, und bis dahin muß Rath geschaffen werden. Der Tod wartet nicht auf die Beseitigung von Vorurtheilen und Bedenken.

Hier setzt nun der Vorschlag eines meiner Bekannten, des Architekten Schaeck-Jacquet in Genf, eines geborenen Oesterreichers, ein. Derselbe beruht auf dem Studium der Nekropolen, wie sie [232] in Italien und Spanien und überhaupt im nördlichen Umkreise des Mittelmeeres üblich sind. Pläne und Modelle dieser Einrichtungen waren in der letzten großen Ausstellung von Paris zu sehen.

Aus gutem Portlandcement werden große, länglich viereckige Kasten aufgebaut, welche Nischen enthalten, groß genug um einen Sarg aufnehmen zu können. Ein solcher Kasten enthält zum Beispiel zehn Nischen in einer Flucht, deren Oeffnungen auf beiden Langseiten sich befinden. Man kann drei, ja fünf solcher Stockwerke über einander aufstellen, ohne den Dienst zu erschweren, und somit Kasten bauen, welche hundert Nischen enthalten. Es wird durchaus kein anderes Material verwendet, als Cement, sodaß der Kasten gewissermaßen einen Felsen vorstellt, der wie eine Wabe auf beiden Langseiten von Nischen eingenommen ist.

Die Nischen stoßen mit ihren Hinterwänden im Inneren nicht zusammen, sondern die letzteren sind durch einen leeren Zwischenraum von zwanzig bis dreißig Centimeter Breite getrennt. In der Hinterwand jeder Nische finden sich zwei kleine Oeffnungen, eine beim Boden, die andere bei der Decke der Nische, welche in den leeren Zwischenraum führen und durch Klappen mittelst eines einfachen Mechanismns geöffnet werden können. Der Zwischenraum, in welchen alle diese Oeffnungen führen, ist oben zugewölbt und auf den Schmalseiten geschlossen, sodaß weder Gase noch Flüssigkeiten nach außen dringen können. Auf dem Kasten wird Dammerde angehäuft, und, je nach der Dicke der Schicht, werden darin entweder Blumenbeete oder selbst Sträucher und Bäume cultivirt.

Der Boden, auf welchem die Kasten aufgebaut werden sollen, wird, je nach Bedürfniß, ausgehoben und mit einer undurchdringlichen Schicht von Béton bedeckt. Auf dieser Schicht ruhen die Kasten mit flachen Gewölben, welche eine unterirdische Canalisation bilden, die mit Einlaßöffnungen für die Luft versehen ist. Die unterirdischen Canäle stehen sämmtlich mit einander in Verbindung und führen zu einem Centralkamin, in dem, je nach der Größe des Kirchhofes, Gas- oder Cokeflammen unterhalten werden, durch welche alle aus den Canälen, Zwischenräumen und Nischen aufgesaugten Gase verbrannt werden. Wie leicht einzusehen, läßt sich dieser Centralkamin auch so einrichten, daß er zum Verbrennen der Leichen dienen kann.

Der ausgehobene Grund und Boden wird dazu benutzt, um die Kasten zu decken und die Umfassungsmauer von außen wallartig zu schützen. In dieser Umfassungsmauer können ebenfalls Nischen angebracht werden. Sämmtliche Nischen werden von unten nach oben gefüllt – die unterste zuerst. Die Einrichtung der nöthigen Capellen, Leichenzimmer, Wohnungen etc. ist Sache der Architekten.

Der Dienst selbst ist äußerst einfach. Die Leiche wird mit dem Sarge in die ihr zugewiesene Nische eingeschoben und diese luftdicht verschlossen, mit einer Stein- oder Bronzeplatte, ja selbst, wenn man will, anfangs mit einer dicken Spiegelscheibe.

Daß jeder künstlerische Schmuck der einzelnen Nischen möglich ist, beweisen die Campi santi Italiens; nicht minder lassen sich alle Einrichtungen für Familiengräber, Concessionen auf dreißig Jahre oder mehr treffen, wie sie in einzelnen Ländern üblich sind.

Herr Schaeck-Jacquet berechnet die Kosten eines solchen, mit 10,000 Grabnischen ausgestatteten Friedhofes, der einen Flächenraum von 6000 Quadratmetern einnimmt, auf 200,000 Franken. Er glaubt, nach den jetzt in Genf herrschenden Preisen für Familiengräber, Einzelgräber auf ewige Zeiten und Gräber für dreißig Jahre, annehmen zu können, daß der Verkauf solcher Plätze die Anlagekosten in geringer Zeit decken würde, obgleich dieselben immer nur einen kleinen Bruchtheil (füns bis zehn Prozent) der Gräber ausmachen. Die meisten fallen der Rotation anheim. Wie lange kann diese dauern?

Ich habe Versuche verfolgt, die in einem kleinen Modell unter Leichen von Ratten und Kaninchen angestellt wurden. Der Centralkamin war durch ein Tag und Nacht brennendes Gasflämmchen ersetzt. In wenigen Monaten waren nicht nur die Weichtheile, sondern auch die Knochen in Staub zerfallen. Nicht der mindeste Geruch ließ sich spüren. Man darf dreist rechnen, daß in einer nach der angegebenen Weise gebauten Nekropole ein menschlicher Körper in dreieinhalb Jahren bis auf die erdigen Theile gänzlich zersetzt sein wird, sodaß man die Nische neu besetzen kann. Nehmen wir an, um ganz sicher zu gehen, daß man für die Nischen der Nekropolen als Maximum fünf Jahre setzte, so würde hieraus, da unter zehn Jahren auch in dem besten Boden die Rotation nicht stattfinden kann, eine Ersparniß der Hälfte Zeit hervorgehen. Hierzu kommt, daß man bei fünfstöckigen Kasten für fünf Leichen nicht mehr Bodenraum braucht als für eine. Man würde also innerhalb einer gegebenen Zeit zehn Leichen auf derselben Bodenfläche begraben können, auf der man heute eine einzige begräbt. Was das für unsere Städte sagen will, mag Jeder sich nach dem hier Gegebenen berechnen.

Die Nekropolen können auf jedem Boden angelegt werden, möge er eine Beschaffenheit haben, welche er wolle; sie bieten, wenn sie von gutem Material und tadellos hergestellt werden, dieselbe absolute Sicherheit gegen Infection des Bodens und der Luft, wie die Verbrennung; sie erhalten die Leiche lange genug; auch laufen sie gar keinen religiösen Bedenken zuwider, denn Erzväter und Apostel, Katholiken und Protestanten gingen und gehen in der nämlichen Art, wie die Leichen in diesen Nekropolen, der Auflösung entgegen.

Ich kann begreiflicher Weise hier nicht auf die Einzelnheiten eingehen, die Herr Schaeck-Jacquet in einer mit Zeichnungen und Plänen versehenen, in Genf erschienenen Broschüre aus einander gesetzt hat. Ebensowenig möchte ich behaupten, daß die Art der Bestattung in Nekropolen unbedingte Vorzüge bietet, wenn man sie von allen Gesichtspunkten aus betrachtet. Aber sie löst eine praktische Nothlage, welche die theoretisch vorzüglichere Feuerbestattung nicht lösen kann. Bei dem geringen Umfange des Flächenraumes, den sie beanspruchen, lassen sich die Nekropolen um so eher in der Nähe der Städte anlegen, als bei vorsichtiger Bereitung des Bodens und sorgfältiger Herstellung des Gemäuers jede Vergiftung von Luft und Boden von vornherein ausgeschlossen ist.

Es giebt nichts Neues unter der Sonne. Auch diese Neuerung ist nur eine zeitgemäße Modification einer sehr alten Bestattungsweise. Die Juden bedienten sich natürlicher Grotten oder künstlich ausgehauener Felsengräber, und der Gebrauch der Grotten läßt sich bis in die älteste Steinzeit zurück verfolgen. Die Nekropolen der alten Etrusker haben mehr Licht über dieses merkwürdige Volk verbreitet, als alle übrigen Quellen der Forschung zusammen. Das bedürfen wir heute nicht mehr, unsere Culturgeschichte wird den späten Nachkommen auf anderen Wegen vermittelt. Aber die lebenden Generationen verlangen Raum, um sich ausbreiten zu können, und für den raschen Zuwachs der Bevölkerung ist der Raum, welchen der Todte bei der gegenwärtigen Art der Bestattung auf eine Reihe von Jahren hinaus verlangt, zu groß, zu umfangreich. Den jetzigen Bedürfnissen werden die Nekropolen genügen, und dies in einer Weise, gegen welche auch der nicht Einsichtige kein Bedenken erheben kann.




Der wahre Glaube.
Skizzenblatt von Ernst Eckstein.

Fern im Osten, wo sich Völkerstämme und Religionssysteme in so wunderbarer Mischung durchkreuzen, lebt ein frommer katholischer Priester, der, wie seiner Zeit Harun al Raschid, die Gewohnheit übt, nach Sonnenuntergang verkleidet durch die Straßen der Stadt zu schweifen, um seine Gemeinde, die hier zerstreut unter Bekennern der griechisch-katholischen Kirche, des Judenthums und des Islam wohnt, gründlicher kennen zu lernen und sonstige Welt- und Menschenerfahrung zu sammeln. Es wäre Unrecht, wenn der Leser bei diesen allerdings ungewöhnlichen Verkleidungen eines katholischen Priesters an etwas Schlimmes oder Unziemliches denken wollte. Emanuel – so heißt der getreue Diener des Herrn – hegt in der That die besten und lautersten Absichten. Wohlwollend gegen Jedermann, emsig bestrebt, das Gute zu fördern und das Leid seiner Mitmenschen zu verringern, vergreift er sich hier vielleicht in der Wahl seiner Mittel, aber seine Zwecke sind durchaus ehrlich und lobenswerth.

[233] Es war im Jahre 1877, als Emanuel bei hereinbrechender Dunkelheit wiederum durch die Gassen schritt, so recht mitten durch das farbenbunte Gewühl, das nach des Tages Hitze in verdoppeltem Wogenschlag brandete. Der Priester war heute nachdenklicher als je. Die katholischen Zeitungen, die er eifrig zu lesen pflegte, hatten grauenvolle Berichte über die hoffnungslose Situation der Kirche im deutschen Reiche gebracht; Berichte, die unsern guten Priester weit mehr berührten, als die gleichzeitig eingetroffene Kunde vom unaufhaltsamen Vordringen der russischen Heere. Kaiser Wilhelm und sein blutdürstiger Reichskanzler schienen die Zeiten des Diocletian in Permanenz erklären zu wollen. Es war himmelschreiend. Bischöfe, geweihte, heilige Bischöfe wurden von den Schreckenstribunalen des Ketzerreichs in den Kerker oder in’s Elend geschickt. Unschuldige Priester wurden ihrer Habe beraubt und mit Schmach und Schande beladen. Der heilige Vater selbst schien in den Verließen seines vaticanischen Bagno’s kaum mehr sicher vor den gierigen Griffen des preußischen Adlers, dem ein alleszerfleischender Falk nicht minder gierig zur Seite flatterte. Kurz, der gute Priester war äußerst betrübt.

Ganz in die schwarzen Bilder seiner Seele vertieft, schritt er so durch das lärmende Volk, bis er das Thor der Stadt erreichte.

Der Mond schien hell. Durch die hoch aufragenden Wipfel der ernsten Cypressen spielte der Abendwind und trug vom benachbarten Hügel die Klänge einer sanften Musik herüber.

Emanuel fühlte sich von der wunderbaren Friedsamkeit dieser Mondnachtstimmung freundlich erquickt. Instinctiv schritt er fürbaß, immer weiter hinaus in das wuchernde Grün, immer weiter hinweg von dem lärmenden Volksgewühl, das ihn heute wenig zu fesseln schien. Nach einer Weile kam er vor einen schönen, baumreichen Park, dessen Thore weit offen standen. Er trat ein. Irrte er nicht, so gehörte dieser Park zu der Villa eines reichen christlichen Kaufherrn, der sich erst vor Kurzem hier angesiedelt. Emanuel kannte dieses neue Mitglied seiner Gemeinde zwar nicht persönlich, aber als Priester stand er ja mit jedem einzelnen Bekenner des katholischen Glaubens in Beziehungen, die viel enger waren, als die des geselligen Umganges. Er that daher ganz, als ob er in dem prächtigen Parke zu Hause sei, schritt über den breiten Vorplatz in die Schlingwege eines allerliebsten Bosquets, bewunderte die üppig duftenden Rosenbeete und stand eben im Begriff, auf eine Fontaine zuzugehen, deren Strahl vom Mondesglanz versilbert über das Buschwerk ragte, als er links in einer Ausbeugung des Weges einen jungen Mann in häuslicher Tracht erblickte, der, auf einer steinernen Bank sitzend, durch das Herannahen des Priesters augenscheinlich überrascht und erschreckt, aus tiefen Träumereien empor fuhr.

„Verzeihung,“ sagte Emanuel, indem er sich grüßend verneigte, „ich fand das Thor offen und verlor mich bewunderungsvoll in dieses herrliche Labyrinth. Ihr seid der Besitzer all dieser Kostbarkeiten?“

„Ja, Herr; und Ihr?“

„O,“ sagte Emanuel, der es für zweckmäßig hielt, sein Incognito zu bewahren, „ich bin ein wandernder Philosoph, der über die Geheimnisse des Glaubens nachdachte und sich vor die Stadt verirrte.“

„Des Glaubens!“ wiederholte der junge Mann leise aufseufzend. „Wahrlich, Herr, in solcher Zeit thut es mehr noth als jemals, diesen Geheimnissen mit voller Seelengluth nachzuhängen, um sich nicht irre machen zu lassen in der Zuversicht auf den Sieg unserer gerechten Sache.“

„Wie?“ sagte Emanuel, einen Schritt näher tretend, „ich finde hier einen Gesinnungsgenossen, einen Mitkämpfer? Wißt, auch mein Gemüth leidet qualvoll unter dem Druck dieser schreckensreichen Epoche. Auch meine Seele fleht tagtäglich in heißem Gebet um den Triumph des Glaubens über die dräuende Rotte der Ungläubigen. Ach, Herr, dieser nordische Cäsar, der kein Gebot kennt als den eisernen Zwang seines Staatsinteresses – ich fürchte, er wird uns noch manche Wunde schlagen, eh’ es gelingt, seiner grausamen Uebermacht Einhalt zu thun. Hand in Hand mit seinem schlauen Rathgeber, dem welterfahrenen Kanzler, wird er Alles aufbieten, um seine glaubensfeindlichen Pläne bis an die Grenze der Möglichkeit zu verwirklichen. Da geziemt es sich wohl, daß Männer unseres Schlages, denkende, gläubige Männer, die Sachlage in Erwägung ziehen und ihr Herzblut daran setzen, eine glückliche Lösung zu finden.“

Der junge Mann stützte jetzt wieder wie traumverloren den Kopf in die Hand und sah starren Blicks nach dem Boden, wo ein vereinzelter Mondstrahl auf dem Kies spielte.

„Würdiger Greis,“ begann er nach einer Weile, „ich betrachte es als göttliche Fügung, daß Ihr mir gerade zu dieser Stunde begegnen mußtet. Vielleicht gelingt es mir, an Eurer Weisheit meine gesunkenen Hoffnungen wieder aufzurichten. Daß ich’s nur frei bekenne: seit einiger Zeit quälen mich die furchtbarsten Zweifel. Ich habe mannigfache Schriften gelesen von Gelehrten und Priestern des Morgen- und Abendlandes. Da ist mir denn so der Gedanke gekommen: Wie nun, wenn dein Glaube, so fest gegründet er scheint, so heilig und tief er im Boden des Herzens wurzelt, ein Wahn wäre? Glauben nicht Millionen von Menschen ganz mit der gleichen Gluth eine Lehre, die du für Irrthum hältst? Erscheint nicht diesen hinwiederum dein Glaube als ein thörichtes Hirngespinnst? Wo liegt hier die Wahrheit? Seht, guter Herr, dieser Gedanke hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Die beklemmende Wirkung der Zeitereignisse mag hinzugekommen sein; kurz, ich befinde mich in einem Zustande großer Trübsal und Haltlosigkeit, in einer schmerzlichen Wirrniß, die ich mit aller Kraft meines Geistes nicht zu lösen vermag. Aber Ihr, guter Herr! Aus Eurer Stimme spricht eine so edle Unerschütterlichkeit, eine so klare Vollgewalt heiliger Ueberzeugung; Euch gelingt es vielleicht, mit zwei beruhigenden Worten das Gleichgewicht meiner Seele wieder herzustellen: denn die Kraft des Gläubigen theilt sich ebenso mit, wie die Schwäche des Zweiflers.“

„Im Ernste?“ fragte Emanuel, des Jünglings Hand ergreifend. „Ihr konntet auch nur für Augenblicke die Pfade des Heils verlieren? Und die Zeitverhältnisse habe bei dieser Anwandlung mitgewirkt? Ei, ei, mein Freund, wo bleiben da die Weisheitslehren der Weltgeschichte? Habt Ihr vergessen, daß unsere Sache weit schlimmere Katastrophen siegreich und zu ihrem größeren Ruhm überstanden hat? Gar manches Mal ward es ausgesprochen, aber Euch sei es hier wiederholt, denn gerade aus dieser handgreiflichen Thatsache könnt Ihr am ehesten die Fülle des unmittelbaren Vertrauens schöpfen: verlaßt Euch darauf, ein Glaube, dessen Bekenner den Tod nicht scheuten, wenn es galt, mit dem eigenen Blut für die ewige Wahrheit zu zeugen, ein solcher Glaube trägt die Gewähr seiner Göttlichkeit in sich selbst, eine solche Religion liefert durch ihre bloße Existenz den Beweis für die Unantastbarkeit ihrer Lehren.“

Emanuel schwieg. In den Augen des Jünglings flammte es hell auf.

„Wie soll ich Euch danken!“ rief er mit freudebebender Stimme. „Eure wundersame Beredsamkeit giebt mir wie durch einen Zauberschlag alle Gluth der Ueberzeugung zurück. Ja, ein Glaube, der zu solchen Thaten begeistert; ein Glaube, der seine Bekenner im Tode noch lächeln, der sie unter Qualen noch jauchzen läßt, ein Glaube, den keine feindliche Macht der Erde vernichten konnte; ein solcher Glaube kann nur der unmittelbare Ausfluß der göttlichen Wahrheit sein. So wird denn auch diese Prüfung nur dazu beitragen, des Propheten Ruhm zu vermehren und die Feinde Allahs und seiner Herrlichkeit zu Schanden zu machen.“

„Was hör’ ich?“ rief Emanuel, einen Schritt zurücktretend. „Wer seid Ihr?“

„Ich bin Abderrahman, der Sohn des ehrwürdigen Assad. Ihr scheint überrascht, guter Herr? Was befremdet Euch?“

„O nichts, nichts!“ versetzte der Priester stotternd. „Verzeiht nur, daß ich dieses Gespräch nicht fortsetze. Es ist spät geworden!“

„Allah sei mit Euch!“ sagte der Jüngling, indem er das Haupt neigte. „Ihr habt mir den größten Dienst erwiesen, den ein Sterblicher dem Andern erweisen kann. Von jetzt ab wird mein Glaube an die Wahrheit des Islam unerschütterlich sein, wie die Felsenwände des Bosporus. Ich zage nicht, und stünden die Legionen des russischen Kaisers mitten im heiligen Stambul. Ich weiß jetzt: der Sieg ist unser.“

Der gute Priester entfernte sich mit hastigen Schritten; sein Haupt glühte; seine Pulse fieberten. Wie ein Sünder huschte er an der Parkmauer entlang, gefolgt von seinem eigentümlich verzerrten [234] Schatten, den der Mond in scharfen Umrissen auf die hellschimmernde Fläche abzeichnete. Der Klang jener überzeugungskräftigen Abschiedsworte schwirrte ihm durch die Seele, bald wie höhnisches Kichern bald wie frommes Glockengeläute.

Und wie er jetzt seitwärts vom Wege bog, um schneller das heimische Thor zu erreichen, da erblickte er in der Ferne, sanft an den Hügel gelehnt, die mondbeschimmerte Stadt, traumhaft, märchengleich, wie er sie niemals zuvor geschaut. Hochauf ragten die versilberten Zinnen und Kuppeln; hochauf ragten die beiden schönsten Bauwerke dieser phantastischen Silhouette, das Minaret der großen Moschee und der Glockenthurm des katholischen Domes, beide bestrahlt von demselben himmlischen Lichte, beide umfluthet von demselben dämmernden Blau der herrlichen Sommernacht.

Da ward es licht und warm in dem Herzen des guten Priesters. Noch unklar in seinen Gefühlen; aber doch versöhnt mit dem, was geschehen, stand er still und entblößte unwillkürlich das Haupt.

Eine Weile blickte er so wie in stummer Verzückung nach dem fernen Häusergewirre, dessen lärmende Unrast hier im Frieden der Natur gleichsam unterzugehen schien. Dann sog er in tiefen Athemzügen die köstliche Luft ein und schritt gedankenvoll heimwärts …




Das deutsche Theater und die „Meininger“.


„Die Schauspielkunst vollendet sich nur in der
Harmonie ihrer Totalwirkungen.“

Eduard Devrient,
„Geschichte der deutschen Schauspielkunst“.


Glänzende Erscheinungen werfen grelle Lichter. Auch das intensive Licht, welches das helle Gestirn der Meininger Hofbühne um sich verbreitet, beleuchtete gelegentlich zahlreicher Gastspiele dieser Mustertruppe künstlerische Mängel und Uebelstände einzelner Bühnen auf das Grellste. Es erweckte recht ernste Gedanken nicht nur über die bei dieser Gelegenheit dem Publicum zum Bewußtsein gelangenden Schattenseiten der einzelnen Institute, sondern auch über den allgemeinen Verfall der deutschen Bühnenkunst. Unserm Theater sind die höheren Tendenzen und Principien immer mehr abhanden gekommen, weil die Vertreter der wirksamsten aller Künste meist nur noch auf kleine Wirkungen für ihre Persönlichkeit, nicht aber auf die Hebung der Kunst im Großen und Ganzen ihren Ehrgeiz richten. Wie aber ein ernstes Streben nach schöner Totalwirkung sogar einem Theaterpublicum von heute Bewunderung abzuringen vermag, das haben die Meininger Gastspiele bewiesen. Ueberall, wo die Kunstjünger aus der Werra-Stadt ihren Thespiskarren aufschlugen, zeigte sich jene begeisterte, pietätvolle Theilnahme für wahre und nach harmonischen Wirkungen strebende Bühnenkunst, welche derselben einstmals in Hamburg unter Schröder’s Leitung, in Berlin zur Zeit Iffland’s, in Weimar während der Glanzperiode unter Goethe’s Leitung und im Wiener Burgtheater noch während der Regiethätigkeit Laube’s entgegengebracht wurde und diesen in ihrer Art mustergültigen Bühnen den Aufschwung zu ihrer großen Bedeutung ermöglichte.

Was ist aber durch solchen vorübergehenden Enthusiamus für das Gute oder das Bessere gewonnen, wenn nach der Fluth die Ebbe eintritt und dann Alles wieder im alten Schlendrian fortgeht? Leider geht es zugleich abwärts. Je größere Ausdehnung die neugewonnene Theaterfreiheit dem Theaterbetrieb gewährte, desto allgemeiner freilich, aber auch desto gemeiner wurde die Theaterlust, desto mehr verlor die Bühne an Würde durch die Concession an die niedrigsten Bedürfnisse. Schiller nannte die Schaubühne eine „Schule der praktischen Weisheit“. Heute ist sie fast zu einer Schule der Thorheit und Unlauterkeit geworden. Schiller glaubte an eine bessere Zeit, wo das deutsche Volk eine wirkliche „Nationalbühne“ haben und wesentlich mit durch diese zu einer „Nation“ werden würde. Eine Nation sind wir denn endlich geworden, aber die „Nationalbühne“ sind sich die Deutschen stets schuldig geblieben. Schiller rühmte als leuchtendes Vorbild die Griechen und ihre geistige Einigung durch die begeisterte Pflege ihrer nationalen Bühne. „Was kettete Griechenland so fest an einander? Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? Nichts anderes als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische Geist, das große überwältigende Interesse des Staates, der bessern Menschheit, das in denselben athmete.“ Herrliche Worte, aber sie treffen leider nur für die Griechen, nicht für die Deutschen zu. Wohl lassen sich einige analoge Verhältnisse in der Geschichte des griechischen und der des deutschen Theaters herausfinden. Wie bei den Griechen sich das Theater aus dem religiösen Cultus, den Dionysos-Festen, entwickelte und in der Verherrlichung edler Menschlichkeit, in den Meisterdramem des Sophokles gipfelte, so ist auch das deutsche Theater aus religiösen Spielen (Mysterien) herausgewachsen und erreichte in den Werken Lessing’s, Schiller’s und Goethe’s seinen Höhepunkt. Niemals aber hat bei uns der Staat und das Volk dem Theater und seiner Entwickelung ein so hohes lebendiges Interesse zugewendet, wie bei den Griechen. Niemals hat bei uns der Staat dem Theater und seinen Interessen wesentliche organisatorische Beihülfe oder durch Staatsmittel in großartigem Style Unterstützung gewährt, wie damals der Staat von Athen welcher auf würdige Aufführungen der Meisterwerke des Sophokles größere Summen verwendete, als der ganze Peloponnesische Krieg kostete. Dagegen hat es bei uns an negativer Antheilnahme, z. B. Censurmaßregeln, selten gefehlt. Obwohl die erleuchtetsten Fürsten, Staatsmänner und Geistesheroen den Culturwerth der Bühne hochschätzten obwohl Kaiser Joseph der Zweite die Einwirkung der Bühne zur Verbreitung des guten Geschmackes und zur Veredelung der Sitten gerühmt hatte, dann auch vorübergehend in Preußen das Theater als einflußreich für die allgemeine Bildung und im Werthe den Akademien der Wissenschaften und Künste ebenbürtig geschätzt wurde, und obgleich ein Goethe dem Theater dreißig Jahre lang die größte Hingebung und rastloseste Sorgfalt gewidmet hatte, wurde doch immer wieder die Bühne in Deutschland nur als eine „öffentliche Anstalt zum Vergnügen“ neben anderen Gewerben betrachtet und behandelt und als solche sich selbst überlassen.

Um so höher ist der Heroismus Einzelner anzuschlagen, welche dem Gedeihen und der Verbesserung des deutschen Theaters ihre beste Kraft und sogar ihr Lebensglück opferten. Gedenken wir nur der vier Hervorragendsten darunter.

Mit welchem heiligen Eifer hatte Lessing seine scharfe Federlanze eingelegt gegen die Unnatur und das leere Prunkwesen der Franzosen, sowie gegen die zopfigen Producte ihrer deutschen Nachahmer, indem er der deutschen Schauspielkunst wieder den frischen volksthümlichen Geist, die natürliche Wahrheit und den nationalen Sinn einzuimpfen bestrebt war! Viel hat er gewirkt und viel erreicht, allein schließlich schlug in der deutschen Bühnenkunst die Natürlichkeit in Verwilderung, der Shakespeare-Cultus ist Sturm- und Drangwesen, die Befreiung aus steifen Formen in Formlosigkeit und Opposition gegen Sprach- und Sittengesetze um. So mußte denn unser edler Reformator am Ende seines Lebens noch den Schmerz erleben, sich in seiner Reform mißverstanden zu sehen.

Nicht besser erging es Schröder in Hamburg. Was Lessing als erstrebenswerth und segensreich empfahl und verteidigte, das hat Schröder auf der Bühne zur That gemacht und praktisch eingeführt. Er hat dem hohlen französischen Pathos und Effecthaschen den letzten Stoß versetzt, und, unter Zurückdrängung der überwuchernden Oper, durch wirksame Aufführungen der Tragödien Shakespeare’s und der Schiller’schen Dramen der deutschen Kunst die höchsten und trefflichsten Aufgaben geboten und gesichert. Seine höchst sorgfältige, von gesunden Prinzipien getragene Regieführung bot Alles auf, um das Hamburger Kunstinstitut, auch in äußeren und kleinen Dingen, zum vortrefflichsten in Deutschland zu machen, indem er auf die Harmonisirung aller Kräfte und Mittel den größten Werth legte; hat doch er schon es sich zum Gesetz gemacht, die von ihm eingeführte Zimmerdecoration, Zimmereinrichtung, Costüme und alle Requisiten mit dem Charakter und der Zeit der Handlung in Einklang zu bringen. Trotz seiner Anstrengungen, Mühen und hohen Verdienste war es ihm nicht vergönnt, mit frohem Bewußtsein von der Bühne zu scheiden, [235] vielmehr mußte er, abgesehen von seinen großen Opfern und Vermögensverlusten, auch den immer größeren Verfall seiner Musterbühne erleben, sodaß er völlig entmuthigt 1812 sich in ländliche Einsamkeit zurückzog.

In ähnlichem Sinne wie Schröder in Hamburg wirkte Iffland in Berlin. Der Adel seines Spiels, die Grazie seines Wesens, die Humanität und harmonische Abklärung seines Charakters und seine edlen Bemühungen als Bühnenleiter haben die deutsche Schauspielkunst und ihre Vertreter in der Achtung des Publicums auf eine Höhe gehoben, welche sie unter Schröder nicht erreicht hatte. Daß Iffland freilich das spätere Virtuosenthum durch sein Beispiel heraufbeschwor, kann nicht verhehlt werden. Endlich schied auch er, ermüdet und vielfach in seinen Bestrebungen enttäuscht, von der Bühne.

Weit übertroffen in der energischen Organisation und straffen Disciplin der Bühne wurde Iffland von Goethe. Die von unserem Dichterfürsten geleitete Bühne zu Weimar war etwas ganz Einzigartiges. Sie entstand durch den unvermittelten Uebergang aus dem verwilderten Naturalismus der Stürmer und Dränger zu einem weltentrückten Idealismus, welchen die Genien der Dichtkunst selbst in’s Leben riefen oder realisirten. Ein Theater-Souverain wie Goethe war noch nie dagewesen und wird schwerlich jemals wieder erstehen. Eine bis dahin unerhörte Verfeinerung und Veredlung des Bühnenwesens schlug die hergebrachten Vorurtheile gegen den Stand der Bühnenkünstler aus dem Felde, seit Goethe in so eingehender Weise sich des Theaters annahm, während gleichzeitig die feurige Antheilnahme Schiller’s viel zur Befestigung der kunstgeschichtlichen Bedeutung der Weimarischen Bühne und der Weimarischen Schule beitrug. Mochten sich auch die Professionisten der Bühne dagegen äußern, daß in Weimar die Poesie zu sehr dominire und die Bühnenkunst bevormunde, die Unparteiischen fühlten, daß es so sein müsse und so am besten sei. Leider hatte auch die Goethe’sche Glanzperiode ein klägliches, ein im eigentlichsten Sinne tragikomisches Ende. Die Geschichte ist bekannt: weil „Der Hund des Aubry“ durchaus Komödie spielen sollte, vergaß man den schuldigen Dank gegen den einzigen Goethe, der die Bühne zur wirklichen Kunststätte erhoben und ihr den edelsten Geschmack verliehen hatte, und dankte ihn ab.

Seit jener Zeit neigten sich fast überall die Leiter der Bühnen einer ökonomisch engherzigen und bureaukratischen Gleichgültigkeit zu, der ein Aufschwung zu neuen epochemachenden Organisationen unmöglich war. Auch das idealistische Gepräge der Weimarischen Schule verlor sich in einen aussichtslosen Formalismus, welcher der Bühnenkunst mehr Schaden als Nutzen brachte. Durch die virtuosen Nachahmer Iffland’s kam das leidige Gastspiel-Virtuosenthum immer mehr in Aufnahme, und dies zerstörte fast überall die guten Ueberlieferungen früherer Zeit, namentlich aber das einzig richtige Streben nach harmonischen Totalwirkungen und nach einem stilvollen Zusammenspiel. Außerdem beherrschte die schwung- und kraftlose Trivialität der Kotzebue’schen Stücke so sehr die Bühne, daß an eine Erhebung zu besserem Streben lange Jahrzehnte nicht zu denken war. Wohl ließe es sich einige treffliche Hoftheater angelegen sein, dem allgemeinen Verfall des Theaters entgegen zu wirken, aber auch sie mußten nach und nach von ihrer Höhe herabsteigen und dem Zeitgeiste huldigen, während der Ruhm ihrer Bühnen meist nur in dem Besitz einzelner virtuoser Kräfte bestand, nicht in dem Gedeihen des Ganzen oder in einem kraftvollen System.

An sehr ernsten und höchst einsichtsvollen reformatorischen Geistern fehlte es auch in der Neuzeit nicht, und ganz besonders machten sich zwei hervorragende Männer, Eduard Devrient und Heinrich Laube, durch ihre Bestrebungen, eine Besserung im Großen anzubahnen, hochverdient, fanden aber nur wenig Nacheiferung. Dennoch hat die neueste Zeit einen mit Erfolg gekrönten Versuch, durch einsichtsvolle Anknüpfung an die besten Ueberlieferungen der Vergangenheit einen Aufschwung zum Bessern herbeizuführen, aufzuweisen, und zwar in den Gesammtgastspielen der Meininger.

Die Meiningische Hofbühne hat in vielen Stücken die Saaten der Vergangenheit zur Reife gebracht. Wenn einst Schröder sein Theater in Hamburg von der Oper loslöste, aber nur auf kurze Zeit, so haben sich die Meininger ganz consequent und für immer von der Oper emancipirt, um desto ausgiebiger für das Schauspiel zu wirken. Auch die lebensvolle, vom Impuls der Dichtung getragene Darstellungsweise, die durch Schönheit verklärte Natürlichkeit und die hamonische Totalwirkung, welche die Meininger hervorbringen, lassen einen Vergleich mit der Hamburger Bühne unter Schröder zu; namentlich ist bei Beiden das Streben nach einem guten und stilvollen Ensemble ein gleiches. In dem Goethe’schen Bühnenregiment findet sich das Vorbild für die straffe Disciplin der Meininger, welche jedoch nicht so penibel gehandhabt wird, wie es einst in Weimar geschah. In einigen Punkten überbietet jedoch die Meiningische Hofbühne alle Vorgänger: in dem malerischen Reiz der Scene- und Gruppenbilder wie überhaupt in der künstlerisch schönen Ausstattung neben gewissenhaft treuer Wiedergabe der Dichtungen. Daß freilich die Verwendung von Ausstattungsreizen in manchen Dingen bei den Meiningern zu weit geht und dadurch die Aufführungen unnöthig vertheuert, kann nicht hinweggeleugnet werden. Sicherlich aber entstammt dieses Streben nach Vollständigkeit der äußeren Wirkungsmittel der ernsten Erwägung, daß nichts verabsäumt werden darf, die ernste Kunst auch gefällig und reizvoll wirken zu lassen, und nicht etwa einer Speculation auf die schaulustige Menge.

Ihre redlich erkämpfte Bedeutung verdankt die Meiningische Hofbühne hauptsächlich der Initiative und Beharrlichkeit des regierenden Herzogs Georg von Sachsen-Meiningen (vergl. „Blätter und Blüthen“ dieser Nummer), welcher dem Theaterwesen seit Jahren die eingehendsten Studien widmete und nach seinem Regierungsantritte (20. September 1866) dem schwunglosen Patriarchalismus der Hofbühne ein Ende machte. Zunächst bewirkte er durch Beschränkung oder Vereinfachung des Repertoires, durch den Ausschluß der Oper, der Operette und Gesangsposse eine wesentliche Hebung für das recitirende Drama. Außerdem wurden die französischen Löwen des Tages, die Sittendramen und Halbweltstücke, über Bord geworfen. Gegen letztere war der Herzog besonders eingenommen, nicht etwa nur, weit darin eine überfirnißte Sittenrohheit mit gleißenden Sophistereien sich auf die Bühne drängt, sondern auch besonders deshalb, weil sie eines tieferen dramatischen Gehaltes, einer schönen Gedankenwelt und der geistigen Höhe, welche niemals durch Virtuosität in theatralischen Effecten ersetzt werden können, durchaus ermangeln. Desto eifriger wurden die Werke Shakespeare’s, unserer Classiker und einige neuere werthvolle Dramen einstudirt und vorbereitet, wobei auf phantasie- und geschmackvolle Inscenirung gleich von vornherein Werth gelegt wurde.

Der Herzog war bemüht, bewährte Regiekräfte zu gewinnen; im Grunde hatte er freilich den geeignetsten Direktor und exactesten Regisseur – in sich selbst, denn in ihm vereinigte sich zum größten Vortheile des Ganzen ausgeprägter Kunstsinn des Directors mit persönlicher Autorität des verehrten Fürsten. Es war ein in der Theatergeschichte beispielloses, von allen Hoftraditionen abweichendes Curiosum, daß ein Fürst sein eigener Theaterdirector wurde. Früher pflegten sich die Serenissimi nach der Tafel die theatralischen Amusements nur serviren zu lassen, sich aber im Uebrigen nur um kleine persönliche Dinge oder auch um engherzige Ausführung der Censur zu kümmern. Der Herzog studirte nicht nur genau die aufzuführenden Dichtungen, sprach nicht nur manche Hauptrollen mit den Künstlern durch, sondern gab selbst Ideen für die Inscenirung an, skizzirte Zeichnungen für Decorationen und Costüme und verfolgte die Ausführung bis in’s Kleinste. Wie sehr er dabei als tatentvoller Zeichner und Maler sowie als Culturgeschichtsforscher über Kenntnisse und feinen Geschmack verfügte, bewiesen die Resultate. So viel emsige Fürsorge sollte dann auch die besten Früchte tragen. Hierbei darf übrigens die Mitwirkung der hochbegabten Gemahlin des Herzogs, der Freifrau von Heldburg (frühern Schauspielerin Fräulein Ellen Franz, Tochter eines Gelehrten, seit 1873 mit dem Herzog Georg vermählt), nicht unerwähnt bleiben, denn die liebevolle, sorgsame dramatische Vorbildung junger weiblicher Talente, die später Erfolge ernteten, war ihr Werk.

Die eigentliche Blütezeit der Meininger Hofbühne begann vor etwa sechs bis sieben Jahren, als die Regie einem sehr intelligenten Mitgliede der Bühne, Herrn Ludwig Chronegk, übertragen wurde. Diese Wahl war ein Treffer. Was der Herzog emsig plante, führte dieser mit der nötigen Macht ausgestattete Stellvertreter mit rastloser Energie aus. Erstaunlich ist es, wie schnell sich seitdem das Stamm-Repertoire der Meininger erweiterte. Jetzt erstreckt es sich bereits auf sämmtliche bühnenfähige

[236]

Die „Meininger“: Antonius an der Leiche des Cäsar (Shakespeare, Julius Cäsar, Act III, Scene 2).
Nach einer Skizze des Herzogs Georg ausgeführt von J. Kleinmichel.

[237] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


 [238] Dramen Shakespeare’s, Schiller’s, Goethe’s (ohne den „Faust“), Lessing’s, Kleist’s und einige Lustspiele Molière’s, ferner auf: „Erbförster“ von Ludwig, „Bluthochzeit“ von Lindner, „Sixtus“ von Minding, „Ahnfrau“ und „Esther“ von Grillparzer, außerdem auf einige Dramen von Ibsen und Björnson.

Eine der trefflichsten Leistungen der Meininger ist die Aufführung von Shakespeare’s „Julius Cäsar“. Wohl wenige haben, bevor sie die Meininger gesehen, eine so harmonische Totalwirkung dieses grandiosen Stückes, namentlich aber einen so überzeugenden Verlauf von Massenscenen für möglich gehalten, wie er uns hier vorgeführt wird. Wie lächerlich erschien sonst im „Julius Cäsar“ (und anderen mit Massen wirkenden Stücken) die schläfrige Betheiligung der Statisten, die als Pseudo-Römer ihr Phlegma bewahrten und gleich Landleuten bei Volksfesten sich über die Scene schoben! Wie automatisch schlugen sie bei Kampfscenen um sich! Ganz anders zeigt sich bei den Gehülfen der Meininger Leben und Bewegung. Man denke z. B. an die große Forumscene im dritten Acte des „Julius Cäsar“, in welcher Antonius seine rhetorischen Knalleffecte von der Tribüne schleudert und die Menge zur Wuth aufstachelt! Unzählige Hände strecken sich nach dem Testament des ermordeten Abgotts aus. Bei der Enthüllung der Leiche Cäsar’s erfüllt Jammergeheul und Wuthgeschrei das Haus. Die Einen starren von Schrecken gelähmt auf die Todeswunde; Andere stoßen Flüche und Verwünschungen aus; wieder Andere knieen und weinen – überall Stimmung und Leidenschaft, realistische Wahrheit und situationsgerechter Ausdruck! Das ist die auf unserem Bilde wiedergegebene Scene – einem Bilde, welches nach einer auf unsere Bitte uns freundlichst gewährten trefflichen Skizze von der Hand des Herzogs Georg durch unsere Künstler fesselnd und sauber ausgeführt wurde. Alles ist getreu nach dem lebenden Bilde auf der Bühne festgehalten, sowohl die Gruppirung wie auch der landschaftliche Reiz des Hintergrundes und der Architektonik.

Verdient „Julius Cäsar“ als das eigentliche Prachtstück der Meininger bezeichnet und bewundert zu werden, so trägt unter den weiteren Tragödienaufführungen besonders die der „Räuber“ den Stempel der Originalität und künstlerischer Selbstständigkeit. Da ist nur wenig von der traditionellen Text- und Geistesverstümmelung geblieben, und das sensationelle Stück erscheint gleichsam wie neugeboren. So erst hören wir den jugendlich stürmischen Dichter in seiner Eigenart und werden durch die Uebereinstimmung aller szenischen Mittel in die richtige Zeit, in die gährende Zeit der Vorrevolution versetzt. Seit Schiller’s Tagen waren die Meininger die Ersten, welche das Drama im möglichst unverkürzten Text des Dichters und im zeitgemäßen Colorit, auch in der richtigen Tracht des achtzehnten Jahrhunderts vorführten.

Ebenso haben es die Meininger verstanden, „Ein Wintermärchen“, „Fiesco“, „Tell“ und „Esther“ zu vollster und schönster Wirkung zu bringen, und wie sie den Lustspielton in der Gewalt haben, zeigten „Was Ihr wollt“ und „Der eingebildete Kranke“ – wahre Cabinetsstücke drastischer Darstellung, wie sie mit solcher lachreizenden Lustigkeit wohl nirgends vorgeführt werden. Bei fast allen diesen Aufführungen schadet es dem Totaleindrucke nicht allzu viel, wenn hier und da das Bestreben, malerisch zu gestalten und zu wirken, etwas zu absichtlich und berechnet erscheint. Auch die Uebertreibungen, z. B. das zu anhaltend fiebernde Geberbenspiel in Volksscenen, und manche zu naturalistische Einzelheiten werden immer nur als nebensächliche Mängel gelten können.

Siegreich haben die Meininger bei ihren Gastspielen das an manchen Orte verbreitete Tadelsvotum bekämpft, daß sie nur mit untergeordneten Talenten sich behelfen müßten und genialere Künstler gar nicht in ihre Rahmen paßten. Wohl würden manche Directionen sich beglückwünschen, wenn sie einzelne von den sogenannten „untergeordneten“ Talenten der Meininger für sich acquiriren könnten. Es brauchen nur die Leonore (im „Fiesco“) des Fräulein Pauli, die Toinette des Fräulein Habelmann, der Tell und der Antonius des Herrn Nesper, der Casca des Herrn Kober, der Stauffacher und der Junker Tobias des Herrn Hellmuth-Bräm, der Leontes des Herrn Nissen, der Autolykos des Herrn Teller hervorgehoben zu werden. Finden sich unter ihnen auch keine zweiten Devrients, Dawisons, Dessoirs oder Dörings, so und sie doch fast alle tüchtige denkende Künstler, die ihre Mittel so gut verwenden, wie manche größere Talente es selten thun. Wird das Publicum durch die Gelungenheit und Harmonie des Ensembles über das Können der Einzelnen getäuscht, so ist es eben ihr Verdienst, so gut täuschen zu können. Während bei anderen Bühnen oft auf glanzvolle Virtuosenleistungen zu viel Werth gelegt wird und diese Bravourspieler die Mängel der Nebenrollen und des Ganzen zu verdecken haben, müssen sich bei den Meiningen die begabteren Künstler dem Hauptzwecke unterordnen und dem trefflichen Ensemble eingliedern, dagegen werden die schwächeren Kräfte zu höherer Leistungsfähigkeit emporgehoben. Dadurch entsteht das, was man harmonische Totalwirkung nennt, und diese ist der wohlverdiente Triumph der Meiningischen Regie. Das Rollenmonopol ist abgeschafft, und so werden die Künstler durch die freie Concurrenz aller Begabten immer mehr gespornt und verfallen nicht der Einseitigkeit und Selbstgefälligkeit. Jeder Einzelne fühlt sich durch die Bedeutung und die Steigerung der Erfolge des ganzen Instituts gehoben, ähnlich den Mitgliedern einer Symphoniecapelle, der es nur auf einheitliche Wirkung ankommt und die deshalb kein Vordrängen der einzelnen Künstler duldet, aber doch von Jedem höchste Sorgfalt verlangt.

Was die Meininger an Ausstattungsreizen darbieten, – um noch einmal darauf zurückzukommen – erweckt überall Beifallsstürme. Früher sah man ähnliche Pracht nur in Feerien, Zauberpossen und sonstigen dramatisirten Panoramas, und man war daran gewöhnt, classische Stücke nur in dürftigem Gewande zu schauen. So herrliche Scenenbilder, wie z. B. der Garten am Hause des Brutus, Genua im Morgensonnenschimmer, das Zimmer Olivia’s („Was Ihr wollt“), der Königssaal in „Esther“, die Rütliscenerie mit Mondregenbogen, im „Wintermärchen“ die Gerichtsscene und die Belebung der Statue (Hermione) und andere, müssen Jedem unvergeßlich bleiben. Aber auch sie sind nur deshalb von so tiefem, nachhaltigem Eindruck, weil sie so stimmungsvoll mit der Totalwirkung der Darstellung und der Dichtungen verknüpft sind. Sie mögen luxuriös erscheinen, sind aber doch kein Luxus, weil sie Mittel zum großen Zwecke sind. Was Goethe (Wilhelm Meister) vom Schönen überhaupt sagt: „Das Schöne muß befördert werden, denn Wenige nur stellen’s dar und Viele bedürfen’s,“ das gilt auch für die Schönheitsbefriedigung im Einzelnen. Man muß über so wesentliche Fortschritte in der Ausstattungskunst froh sein und es willkommen heißen, daß ein so feiner Geschmack, so gediegene Studien über alle Bühnenrequisiten zum Besten großer Dichterwerke verwertet wurden. Werden doch auch für die mit allen Finessen ausgestatteten Musikdramen Wagner’s alle Vortheile und Hülfsmittel der Neuzeit ausgebeutet. Dort wäre so minutiöse und großartige Ausschmückung weniger nöthig, da ja die Musik an sich schon viel unmittelbarer und mächtiger wirkt, als im Drama das gesprochene Wort.

Ob die Meininger einen bedeutenden und epochemachenden Einfluß auf andere Bühnen ausüben, wie viel oder wie wenig sie zu einer Reform der deutschen Bühnenkunst beitragen werden, das läßt sich gewiß noch nicht absehen oder prophezeien. Jedenfalls haben sie sehr vielen Einsichtigen unserer Zeit genug gethan. Sie haben edlen Bühnenwerken zu lebensvollster Wirkung verholfen, Pietät gegen unsere großen Dichter bekundet, und somit auch die Poeten der Gegenwart lebhaft angeregt und ermuthigt; denn sie haben gezeigt, wie nachhaltig Bühnenstücke in guter Durchführung auf das Volk wirken. Sie haben dargethan, daß eine harmonische Totalwirkung das erstrebenswertheste Ziel der Bühnenkunst ist, haben in ihrer Disciplin, in ihrem Fleiß und besonders in einer rationellen Regie das beste Vorbild in neuester Zeit geliefert. Wollen also Andere gleiche oder noch größere Wirkungen erreichen, so mögen sie es ebenso ernst mit ihrer ernsten Aufgabe nehmen und mit solchen an sich unserer Ansicht nach berechtigten, jedenfalls zweckentsprechenden Mitteln das Interesse des kunstsinnigen Publicums erwecken, wie die Meininger!

B. S.
[239]
Die Senner.
Ein Bild aus dem Thierleben.


Nun strecke, mein Senner, nun strecke dich aus –
Nur dies Mal, ein einzig Mal halt nur noch aus
Und laß mich nicht werden zu Schanden!
Lang streckt der Senner sich aus und fleucht.
Den Nachtthau streicht
Die Sohle des Reiters vom Grase.
Der Stachel der Ferse, der Schrecken des Rufs
Verdoppeln den Donner-Galoppschlag des Hufs.
Verdoppeln die Stürme der Nase – –

Nicht um eine der ewigen Alpenschilderungen, bei denen Sennhirten, Kuhglocken und Alpenhörner eine Rolle spielen, handelt es sich hier; die Senner, von denen wir erzählen wollen, haben nichts, nicht einmal die Wortabstammung für diesen Namen mit den Alpenbewohnern gemein. Weitab von jenen gletschertragenden Gebirgen nach dem niederdeutschen Lande wolle uns der Leser begleiten, wo die letzten Vorposten des Hochlands, die Berge des Teutoburger Waldes, in die Haiden der norddeutschen Tiefebene hinabsteigen; am westlichen Fuße dieses Waldgebirges, in der sogenannten Senne, haben wir unsere Senner zu suchen, wilde Rosse, wie man sie wohl in der Pußta, nicht aber im Herzen des cultivirten Deutschlands, im stillen Ländchen an der Lippe suchen würde.

Das Sennergestüt ist eines der originellsten Producte auf diesem Gebiete. Ein kurzer Ueberblick mag es beweisen. Ist schon die ganze Scenerie – Gebirg und Haide – als Weideterrain eines ungewöhnlich edlen Thieres Stoff genug zu einer romantischen Schilderung, so tritt noch die imposante Geschichte dieses eigenthümlichen Thiergeschlechts hinzu, eine Geschichte von wohl siebenhundert Jahren, in welcher sich das Leben des Senners, alle seine Eigenthümlichkeiten, seine Heerdenbildung u. dergl. auf das Interessanteste entwickelt hat. Und doch ist dies noch immer nicht das Bemerkenswertheste; dies beruht vielmehr darin, daß das Gestüt im Kampf um’s Dasein eine höchst originelle Vereinigung von künstlicher und natürlicher Zuchtwahl darbietet.

Die Senne ist eine mächtige öde Haide, die sich von Süden gesehen bis zum Horizont erstreckt und dort, dem Meere gleich, im Aether verschwindet. Den Namen hat sie von Sand, der hier und dort in verwehten Dünen zu Tage tritt; in alten Urkunden Sinithi, Seneto (von Sant, Sente) genannt, gab sie zugleich unseren Rossen den Namen. Das Haidekraut bot diesen, namentlich im Winter, eine willkommene Nahrung; noch in unserem Jahrhundert wuchs das Kraut der Senne zu einer solchen Höhe, daß ein Hirsch sich bis zum Rücken darin verbergen konnte; erst als einzelne Niederlassungen an dem Rande der Senne entstanden, welche zur Erlangung von Dünger das sogenannte Plaggen des Haidebodens begannen, wurde diesem üppigen Wachsthum Einhalt gethan.

Wie die Dichtung vielfach den Senner als den Typus eines ausdauernden Pferdes verherrlicht, so hat sich auch die Sage seiner Geschichte, speciell seines Ursprungs bemächtigt, indem sie denselben mit jener großen welthistorischen Katastrophe, dem Untergange der Legionen im Teutoburger Walde, in Verbindung brachte: die Senner sollten, der Ueberlieferung zufolge, die Nachkommen der den Römern abgenommenen Pferde sein – eine Angabe, die natürlich den Charakter der Fabel an der Stirn trägt. Dagegen erscheint der Senner mit dem Jahre 1160 auf historisch beglaubigtem Boden. Um diese Zeit schenkte der Bischof Bernhard von Paderborn, aus lippischem Geschlecht, dem Abte zu Hardeshausen Ländereien mit wilden Stuten, auf dem Terrain, wo auch in der späteren Zeit die Senner weideten. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts werden die lippischen Herren als Eigenthümer des Gestüts in den Urkunden genannt. Entstanden war diese Pferdezucht so, daß man tragende Stuten durch Hirten in Wald und Haide hatte weiden lassen; nachdem sie mit ihrem Weidegrund mehr und mehr vertraut geworden, waren sie völlig frei gegeben worden, worauf man später die Hengstfüllen eingefangen und nur die besten auserlesenen wieder in Freiheit gesetzt hatte, ihnen die Fortpflanzung überlassend; später wurde die Züchtung eine methodische, wie wir noch schildern werden. Da man von dem jungen Nachwuchs keine Stuten, oder wenigstens nur selten eine solche einfing, vermehrte sich die Zahl der Thiere bedeutend, sodaß das Gestüt vor Beginn des dreißigjährigen Krieges gegen dreihundert Mutterstuten aufwies.

Leider wurden während dieser verheerenden Kriegszeit, welche von den prächtigen Thieren infolge wiederholter Plünderung nur wenig übrig ließ, alle Urkunden, die uns detaillirte Auskunft über die ältere Geschichte des Sennergestüts hätten geben können, vernichtet. Doch wissen wir aus indirecten Quellen, daß schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts der Ruhm des Senners ein weit verbreiteter und die Nachfrage eine große war; noch jetzt liegen Briefe von Fürsten und Grafen aus jener, sowie späterer Zeit zahlreich vor, in welchen diese um Ueberlassung eines edlen Thieres nachsuchen. Gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts schenkte Graf Simon der Sechste, der Oberst des niederrheinisch-westfälischen Kreises, dem Kaiser Rudolf dem Zweiten zwölf auserlesene Thiere für seine kaiserliche Hülfe bei Herstellung der Ordnung in der Grafschaft und speciell noch für die Sanction jenes Testamentes, welches die Quelle der noch heute dauernden Streitigkeiten mit der lippischen Regierung wurde.

Im Jahre 1655 begann der damals regierende Graf Hermann Adolf mit der Wiederherstellung des Gestüts; die in jener Zeit am Donkerteiche (jetzt Donoger Teiche) liegenden Gestütsgebäude wurden ausgebessert und weiter der Art für das Gestüt gesorgt, daß es sich um 1666 schon wieder bedeutend vermehrt hatte. 1680 wurden die Gestütsgebäude nach Lopshorn, mehr in die Mitte der Weidegründe an der Senne, heran verlegt; nur war hier der Wassermangel ein empfindlicher Nachtheil, wie überhaupt der unregelmäßige Wasserbestand des Waldes, der außer dem Donoger Teiche kein größeres Reservoir besitzt, dem Gestüte Schwierigkeiten bereitete. Es wurde deshalb hier ein Brunnen von 230 Fuß Tiefe in den Felsen gehauen; später wurden noch einige Cisternen angelegt, in welchen das Regenwasser gesammelt wird. Dies ist aber, obwohl man den berühmten Quellenfinder Abbé Richard consultirt hat, das einzige Wasser daselbst, und überdies ist dasselbe so hart, daß es, ehe es den Pferden gegeben werden darf, ein paar Tage an der Luft stehen muß.

Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts wurde fremdes Blut, namentlich orientalisches eingeführt, die Stuten jedoch stammen in ununterbrochener Reihenfolge von den ältesten des Gestütes ab. Die Zuführung fremder Hengste wurde bis auf unsere Zeit beibehalten. Als Curiosum sei hier hervorgehoben, wie die historischen Verhältnisse sich in den im Gestütsbuch sorgfältig verzeichneten Namen der Hengste widerspiegeln. Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte hatten sie deutsche Namen: „Rothschimmel“, „Alter Türke“, „Landgraf“ – dann kommen französische Namen: „l’Espérance“, „Resolu“, „Petit-maître“ – dann eine classische Zeit: „Apollo“, „Vulcan“, „Agamemnon“ – hierauf in der Zeit der nationalen Erhebung: „Wodan“, „Thor“, „Horst“ – endlich die englische Periode: „Darling“, „Lightning“, „Redriver“. Mit Anfang dieses Jahrhunderts ist vorzugsweise englisches Vollblut zugeführt worden.

In den letzten Jahrzehnten ist das Sennergestüt in Verfall gerathen, und gegenwärtig scheint das Schicksal desselben besiegelt zu sein – ein Grund mehr, das interessante Bild der Senner nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen.

Bei näherem Eingehen auf die Lebensweise der Senner tritt zunächst jene charakteristische Seite des Gestütes, die natürliche Zuchtwahl im Kampf um’s Dasein, in den Vordergrund – und zwar ein ganz ernstlich gemeinter Kampf um’s Dasein, wie ihn jedes andere wilde Thier sowohl in Bezug auf den Nahrungsspielraum, wie auf die klimatischen Verhältnisse auszufechten hat, ein Kampf, in welchen der Mensch nur in ganz geringem Maße ab und zu unterstützend eingriff, denn wir müssen uns immer gegenwärtig halten, daß wir es hier mit einem wilden Pferde zu thun haben, so wild wie die Thiere der Steppen und Prairien.

Die Senner zogen Sommer und Winter ihr Futter suchend in Wald und Haide herum; im Sommer wurde es ihnen zwischen den duftigen Waldkräutern gar wohl – wenn aber der Winter herankam und den Nahrungsspielraum immer mehr verengte, waren sie schließlich nur auf das Haidekraut der Senne angewiesen, von dem sie den Schnee mit den Hufen hinwegscharrten. [240] Fiel aber der Schnee in solchen Massen, daß der vollständige Untergang der Thiere durch Futtermangel herbeigeführt werden konnte, so wurden sie nach Lopshorn eingetrieben und dort gefüttert. Kam der Frühling, so labten sie sich an den frisch aufbrechende Knospen der Bäume, sie waren aber in dieser Zeit nach den überstandenen Winterstrapazen so bis auf die Knochen abgemagert, daß, wer sie nicht als Senner kannte, wie Prizelius sagt, sie nicht einmal hätte geschenkt haben mögen. Besonders schlimm war der Senner, wie oben schon gesagt, in Bezug auf das Wasser daran, das je nach der gefallenen Regenmenge in verschiedener Quantität im Gebirge vorhanden ist. Bei großer Trockenheit mußten die Thiere oft mehrere Meilen weit nach Wasser laufen, und indem sie dann erhitzt den Durst mit dem kalten Gebirgswasser löschten, das durchschnittlich nie mehr als sechs Grad hält, wurden die schwächeren lungenfaul; oder das Wasser stand, wie an vielen Orte des Waldes, wo es keinen Abfluß hat, in sumpfigen Lachen, war also faulig und ungesund.

Wie unter der Hitze, hatten die Thiere aber auch unter dem rauhen Klima von Herbst und Winter zu leiden; denn wenn am Fuße des Gebirges in Detmold Schlackenwetter herrscht, liegt eine halbe Stunde davon im Gebirge schon ein paar Zoll Schnee. Wie ernst aber dieser Kampf mit Klima und Nahrungsverhältnissen zu nehmen ist, und wie zerstörend er oft in den Bestand des Gestüts eingriff, dafür einige Beispiele! Noch im Mai 1773 kamen im Schnee drei Stuten und zwei Füllen um. Der Winter von 1740 räumte ganz besonders stark im Gestüte auf; ab und zu gelang es, ein schon halb erfrorenes Thier auf Schlitten nach Lopshorn zufahren und dort zu retten. Namentlich standen die Thiere bei starker Kälte in den Dickichten, wo sie dann schwer aufzufinden waren. Solche schlimme Jahre hatten natürlich auf die Abfohlung den nachtheiligsten Einfluß, sodaß z. B. 1748 von hundertelf Stuten, welche tragend sein sollten, nur achtundzwanzig es wirklich waren und außerdem sechsundzwanzig und mit ihnen alle Füllen bis auf zwölf starben. Endlich war auch eine Folge dieser Einflüsse die langsame Entwickelung des Senners; die Stute war oft unverhältnißmäßig lange über die normale Zeit tragend, und der Senner brauchte sechs bis sieben Jahre zu seiner völligen Entwickelung, ehe er in Dienst gestellt werden konnte. Die Vermehrung soll oft nicht mehr als 38 Procent betragen haben; Prizelius versichert freilich, daß er eine solche bis zu zwei Drittel erzielt habe. Wie dem nun auch in Bezug auf die Quantität sei – in Betreff der Qualität wirkte dieser ausgesprochene Kampf um’s Dasein vortrefflich – die schwachen Thiere gingen zu Grunde, und nur die starken, ausdauernden pflanzten sich fort.

Um dem Bestand größere Regelmäßigkeit zu verleihen, trieb man die Thiere seit der zweiten Hälfte des vorige Jahrhunderts die Wintermonate über nach Lopshorn, wie dies bis auf die neueste Zeit stattgefunden hat. Im Frühjahr wurden ihnen die Thore geöffnet, und sie stoben dann – ein prächtiger Anblick – zu Rudeln gesellt in wilder Jagd nach dem geliebten Walde zu auseinander.

Wie alle wilden Pferde lebten die Senner auch in Rudeln, und es zeigten sich in ihrer Lebensweise alle Erscheinungen der Heerdenbildung. Nur Senner hielt sich zu Senner; nur was als Saugfüllen mit der Sennerstute durch den Wald zog, wurde unter ihnen geduldet. Gerieth ein fremdes Pferd unter ein Rudel, so konnte es von Glück sagen, wenn es mit dem Verlust von einigen Fetzen Haut und Fleisch lebendig wieder herauskam, denn sofort fiel das Rudel mit Schlagen und Beißen darüber her – ein Grund zugleich, weshalb das Gestüt von fremden Stuten rein blieb. Mit den Hirschen dagegen vertrugen sich die Senner ausgezeichnet, und die Rudel der Pferde und Hirsche sah man immer bunt unter einander weiden. Jedes Rudel hatte seine bestimmten Wechsel, die es genau einhielt. Kein Thier trennte sich vom Rudel, und geschah dies beim Treiben einmal, so ruhte es nicht, bis es wieder bei den Seinigen angelangt war. Besonders interessant ist die Beobachtung, daß eine zum ersten Mal tragende Stute sich von den übrigen trennte und den bereits tragenden zugesellte, die sie auch willig in ihrer Mitte aufnahmen.

Dieselbe Anhänglichkeit, welche das einzelne Thier an sein Rudel bindet, macht sich auch dem heimischen Weidegend, dem Gebirge gegenüber, geltend. So kam es öfters vor, daß Senner, die in die angrenzenden Gegenden verkauft worden waren, nachdem sie sich ihres Reiters entledigt hatten, mit Zaum und Sattel in den Wald zurückkehrten und von Neuem eingetrieben werden mußten. Wie stark aber oft diese Sehnsucht nach den heimathlichen Bergen war, zeigt eine Thatsache, welche Zugleich jenen räthselhaften, gegenwärtig durch den Brieftaubensport wieder vielfach besprochenen Zug des Thierlebens zeigt, sich von den entferntesten Gegenden in die Heimath zurückzufinden. Man hatte einen Senner nach Frankreich verkauft, es waren aber kaum einige Woche vergangen, als er mit französischem Zaum und Sattel schaumbedeckt über die Senne daher seinem Walde zugejagt kam. Wie sich herausstellte, hatte er seinen französischen Reiter, der freilich nicht mit einem Senner umzugehen verstanden hatte, mit kurzem Ruck der französischen Erde übermittelt, war zum Rhein geeilt, hatte diesen durchschwommen und erschien so wieder in den heimischen Weidegründen.

Die Aufsicht über den Bestand des Gestütes, speciell der einzelnen Rudel, lag dem Gestütswärter ob – wie man denken kann, kein leichtes Amt, das übrigens in der Familie forterbte. Wie der Forstmann die Wechsel des Wildes, so kannte der Gestütswächter mit seinen Untergebenen die Wechsel der Sener. In früher Morgendämmerung, wenn der Thau noch auf dem Boden lag, saß er auf und folgte den im thaufeuchten Grase noch deutlich erkennbare Spuren der Pferde. Unsere Illustration zeigt ein Rudel in der Morgenfrühe, welches soeben das Herannahen des Gestütswächters wittert. Wurde ein krankes, lahmes oder sonstwie beschädigtes Thier angetroffen, so mußte es allein oder mit seinem Rudel eingetrieben werden. Bekam man ein Rudel in Sicht, so wurde genau notirt, welche Thiere man gesehen; Abends wurde dann ein Rapport in’s Gestütsbuch eingetragen; ergab sich daraus übereinstimmend, daß ein bestimmtes Stück mehrere Tage hinter einander nicht beobachtet wurde, so war die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß es „ausgetreten“ sei. Dieses Austreten bestand darin, daß ein Thier das Gebirge und die Senne verließ und sich in’s Preußische oder nach Waldeck etc. begab, ja sie liefen oft bis nach dem Rhein in’s Sauerland hinein, da sie, wild und scheu wie sie waren, nicht leicht von den Bewohnern eingefangen werden konnten. Der Gestütswächter mußte dann von Ort zu Ort in den angrenzenden Landschaften Umfrage halten, ob ein Senner beobachtet worden sei; wurde er gefunden, so wurde ihm ein Lasso über den Hals geworfen und er vorsichtig zurücktransportirt.

Eine andere Art des Austretens oder vielmehr Uebertretens der Pferde war das Einbrechen in die Felder der Bauern. Zwar waren dieselben durch Hecken und Gatter geschützt, welche bei Strafe in gutem Stande und verschlossen gehalten werden mußten, aber die Thiere fanden ab und zu doch ihren Weg in die Aecker, wobei gewöhnlich ein altes erfahrenes Thier die anderen auf den verbotenen Weg führte. Es geschah dies in doppelter Weise, durch Bohren oder Springen. Im ersteren Falle suchte das Leitthier eine lockere Stelle in der Hecke, wo es mit der Nase durchdringen konnte; dann legte es sich mit aller Gewalt hinein und brach so lange, bis der Durchgang fertig war und nun das ganze Rudel folgte. Im anderen Falle gelangten sie mit einem Sprunge über alle Hindernisse in das Feld, und man erzählt sich in den Dörfern des Waldes von manchem mächtigen Sennersprung. Im Herbst und Frühjahr zogen sich die Senner oft bis an die Vorgärten Detmolds heran. Früher war nur ein Theil des umliegenden Landes durch dergleichen Hecken und Gatter geschützt; im Jahre 1864 ist ein großer Theil des Gebirges und der Haide, 30,000 Morgen, durch ein Drahtgitter abgegrenzt worden.

Zu den Obliegenheiten des Gestütswächters gehörte ferner das Eintreiben der Thiere, sei es, daß der Fürst einmal das Gestüt zusammensehen wollte, sei es zum Einfangen der in Dienst zu stellenden Thiere oder endlich alljährlich zu Züchtungszwecken. Daß dies keine leichte Arbeit war, beweist schon der Umstand, daß, sollte das ganze Gestüt vereinigt sein, das Treiben acht Tage vor dem festgesetzten Termin beginnen mußte. Abgesehen davon, daß die Thiere oft in den Dickichten nicht oder sehr schwer aufzufinden waren, hatten die Treiber, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Querschnitte des Terrains sowie der gewohnten Wechsel, darauf zu sehen, daß die Pferde die Köpfe in der Richtung nach Lopshorn vorzeigten, wenn es nicht geschehen sollte, daß das mit dem Gebirge vertraute Rudel plötzlich zur Seite ausbrach, meilenweit zurücklief und das Treiben dann von Neuem beginnen mußte.

[241]

Senner-Pferde im Lippeschen.
Nach der Natur gezeichnet von Ferdinand Lindner.

[242] Diese Schwierigkeit des Treibens hat aber dem treuen Gestütswächter mehr als einmal zum Mittel gedient, das Gestüt vor Verlusten zu bewahren, ja dasselbe in seinem Bestande zu retten, wenn, wie oben schon gesagt, Freund oder Feind ihm die besten Thiere zu entführen gedachte. So kamen z. B. eines Tages feindliche deutsche Officiere in der Zeit des napoleonischen Krieges und verlangten die vorhandenen Pferde. „Gabt hen un halt se!“ war die in solchen Fällen übliche Antwort des Gestütswächters. Mit dem „Halen“ hatte es bei der Unkenntniß des Terrains natürlich seinen Haken. Zum Eintreiben gezwungen, ging er nach Norden, wo das Gebirge den buntesten Wechsel von Schluchten und Bergen aufweist; nachdem man tief in das Gebirge vorgedrungen, entdeckte man ein Rudel Senner, welches arglos weidete – vom Anblick der edeln Thiere entzückt, sprengten die Fremden darauf los; das Klirren der Säbelscheiden scheuchte die Senner auf und, den Schwanz in die Höhe geworfen, ging es im Sturm den nächsten Abhang hinan, daß das herunterpolternde Steingeröll den Verfolgern um die Ohren sauste. Als es aber an der andern Seite den Berg hinunter in eine tiefe Schlucht, drüben wieder in die Höhe und wieder hinunter und dann immer so fort ging durch Dickichte und Unterholz, das mit seinen Aesten förmlich nach den fremden Eindringlingen schlug und ihnen die Uniform zerfetzte, als endlich Senner um Senner, wie von Federn geschnellt, in halsbrechendem Sprunge über eine breite tiefe Wasserrinne setzte, da wurden die Herren kleinlaut, hielten es für das Beste, wieder umzukehren und waren froh, als der Gestütswächter sie aus den vermaledeiten Schluchten glücklich wieder herausführte. Der aber lachte in sich hinein, als er vor ihnen hertrabte; hatte er ihnen doch gezeigt, was es heiße, Senner einfangen zu wollen.

In dieses im Vorstehenden geschilderte Thierleben griff der Mensch nun insofern ein, als er neben der natürlichen Zuchtwahl, wie schon angegeben, die künstliche einführte. Zu diesem Zwecke wurden die Thiere Ende April nach Lopshorn getrieben; es geschah dies erst so spät, damit die Füllen nicht im zeitigen Frühjahr geworfen wurden, weil dann erstens die Mutterstute wegen der erbärmlichen Winternahrung nicht genügende Nahrung für das Füllen hatte, und ferner weil dieses in den morastigen Wegen der Mutter nicht folgen konnte und in den rauhen Wetter sehr leicht umkam. Welche Kraft solch ein Füllen mit sich auf die Welt bringt, zeigt die erstaunliche Thatsache, daß es unmittelbar nach seinem Eintritt in dieses Dasein neben der Mutter ein bis zwei Meilen weit einherläuft. Später, als die Thiere in den Wintermonaten eingestellt wurden, fiel diese Rücksicht weg. Keine Sennstute wurde vor dem vierten Jahre zur Zucht herangezogen, sie konnte aber dann auch noch im dreißigsten Jahre tragend werden; wie denn der Senner auch zum Dienst zwar erst mit dem sechsten oder siebenten Jahre tauglich wurde, dafür aber auch noch bis zum dreißigsten, ja weit über dieses Jahr hinaus brauchbar blieb. Eine eigenthümliche Beobachtung, die freilich nicht ausnahmslos galt, war auch die, daß der Senner vor dem fünften Jahre oft häßlich und ungestalt ist, dann aber sich schnell zu außerordentlicher Schönheit entwickelt; um nun diesen Entwickelungsproceß im Voraus einigermaßen beurtheilen zu können, beobachtete man die Beschaffenheit des Füllens, wenn es sechs Wochen alt geworden; war es in diesem Alter schön, so wurde es auch nach dem fünften Jahre schön.

Nach Ablauf des ersten Jahres erhielt das Füllen auf der linken Lende den altberühmten Sennergestüts- oder Kronensennerbrand, die lippische Rose mit der Krone und dem Namenszuge des jedesmal regierenden Fürsten darüber.

Früher fand jährlich im Sommer zu Lopshorn (später im Frühjahr in Detmold) eine Versteigerung von Sennern unter Bedingungen statt, auf die jetzt wohl schwerlich noch Jemand einginge. Nachdem aus dem Gestütsbuche ein Protokoll über das jedesmal an die Reihe kommende Pferd, über besondere Eigenschaften oder Fehler desselben verlesen war, wurde das Thier in den Hof gelassen, den es mit ein paar wilden Sprüngen betrat; dann aber blieb es im ersten Schrecken vor so viel Menschen scheu stehen. Der Käufer mußte den Preis in Gold bezahlen; unter Trompetenschall wurde ihm dann der Senner zugesprochen und diesem ein Lasso über den Hals geworfen, wobei es sich manchmal ereignete, daß das wilde Thier, das noch keines Menschen Hand berührt hatte, vor Entsetzen über die fremde Umgebung und den plötzlichen Zwang sich rücklings überschlug und auf der Stelle todt war; den Schaden aber mußte der Käufer tragen. Während der Auction spielte die fürstliche Capelle, und nach Schluß derselben fand in dem mit dem Gestüt verbundenen Jagdschlosse Hoftafel statt.

Es läßt sich denken, daß eine solche Verbindung natürlicher und künstlicher Zuchtwahl, wie die geschilderte, ungewöhnlich edle Thiere hervorbringen mußte, und in der That ist der Senner als das Ideal eines Campagnepferdes weithin berühmt gewesen. Gewöhnt, jedes Wetter, den Wechsel der Jahreszeiten und die damit verbundenen Entbehrungen zu ertragen, war er von der zähesten Ausdauer. General von Loßberg erzählt, daß er seine Rettung beim Rückzuge der napoleonischen Armee aus Rußland lediglich der Ausdauer seines Senners verdankte, der alle winterlichen Strapazen dieses trostlosen Feldzuges siegreich überwand. Ebenso groß war die Sicherheit des Senners, selbst auf dem coupirtesten Terrain; mit dem Hirsche um die Wette lief er auf dem schmalsten Gebirgspfad, erkletterte die steilsten Berge und strich unverletzt durch den dichtesten Wald. Als Zugpferd zwei bis drei Meilen in einem Trabe zurückzulegen, und zwar in einem Zeitraum von ein paar Stunden, war für den Senner nichts Besonderes.

Seine Gestalt ist von großer Schönheit und den edelsten Formen, der Kopf fein und orientalisches Blut verrathend, der Hals lang und schön, der Rücken gerade, Croupe und Brust vortrefflich; die Schenkel sind wahre Modelle, stark, trocken; die Sehne liegt fast frei. Besonders charakteristisch für den Senner ist der breite Halsansatz, der prächtige Schweif und die ebenso prächtige Mähne, welch letztere, vielfach gelockt, bis auf die Sprunggelenke herabwallt. Die schwächste Partie des Senners sind die Schultern, welche nicht die Stärke besitzen, um ihn auch durch Schnelligkeit sich auszeichnen zu lassen – sein Sprung dagegen ist unübertrefflich. Den edlen Eigenschaften seines Baues entsprach auch sein Charakter; er ward fromm, lenksam und den Menschen treu. Für die Lenksamkeit des Thieres spricht schon bezeichnend die Thatsache, daß der Fürst stets mit sechs Hengsten fuhr, überhaupt nur solche in Dienst stellte. Nur durfte von vornherein keine falsche Behandlung angewandt werden; das Thier wurde als völlig wildes eingefangen und in den Stall gebracht, wo ihm Alles, selbst der Wassereimer, Entsetzen erregte. Mit Geduld und Güte mußte es erst gewöhnt und mit der Gewöhnung auch fortgefahren werden, wenn es in Thätigkeit trat. Mit Güte erreichte man Alles beim Senner; mit einer einzigen Strafe dagegen konnte man ihn auf Monate, ja bei wiederholt schlechter Behandlung für immer verderben. Denn einmal verdorben, zeigte das Thier seine ganze Wildheit; Schlagen, Beißen, Steigen, sich Ueberschlagen und auf dem Boden wälzen – Alles wandte der Senner dann an und womöglich toller als andere Pferde, ja er wurde sogar lebensgefährlich, denn, wild geworden rückte er nicht selten mit offenem Maul, funkelnden Augen, auf den Hinterbeinen gegen den Menschen los. Es verging auch selten ein Jahr, daß nicht beim Einfangen der Hengste, wenn diese den Lasso spürten, einer der Betheiligten zu Schaden gekommen wäre, ja manchmal, um mit Prizelius zu reden, „wurde ein Kerl so zugerichtet, daß er vor tod nach Hause gebracht wurde.“

Wir schließen hier unsere Darstellung, welche, wenn sie kein anderes Verdienst hat, zum Mindesten den Zweck erfüllt haben dürfte, dem großen Publicum eine ebenso unbekannte wie eigenartige Erscheinung auf dem Gebiete der deutschen Pferdezüchtung nahe gebracht zu haben.

F. Lindner.




Palmsonntag in Corfu.

Nach dem Kalender der griechischen Kirche war es Palmsonntag, als ich in Corfu landete, auf der „Phäakeninsel“ Homer’s, deren Inneres, von gewaltigen Höhenzügen gegen jeden rauhen Luftstrom geschützt, wie ein großer Garten hinüberlacht zu dem festländischen Epirus. Drüben hat die Stunde der Befreiung von der Fremdherrschaft noch nicht geschlagen, während Corfu mit den anderen ionischen Inseln, welche einst unter englischem Protectorate gestanden haben, bekanntlich die Morgengabe bildete, mit welcher König Georgios die ihm angetraute Graecia erfreute.

Hier wiederholen sich dem Nordländer die Wunder Siciliens, die Orangenhaine, Olivenwälder, die überall wuchernden Reben und eine blendende, das Auge verwirrende Farbenpracht von Blumen aller Art.

[243] Dazu das Meer mit Hunderten von Buchten, die sich so tief in’s Land hinein erstrecken, daß sie es landseeartig schmücken, die Ufer, mit Bäumen und Sträuchern geziert, deren überhängende Zweige auf der stillen Fluth im sanften Windeshauche sich wiegen und schaukeln. Und – ein seltener Fall im schönen Hellas – hier, auf Corfu, braucht man das „der Mensch lebt nicht vom Sehen allein“ noch nicht in den Gegensatz zu verkehren, daß man „nur vom Sehen allein“ zu leben habe. Wie die Engländer in Italien die Pioniere einer erträglichen Wirthshausexistenz gewesen sind, so hat auch in Corfu ihre langjährige Herrschaft sehr veredelnd auf die culinarischen Sitten eingewirkt; dafür rufe ich als Zeugen alle Gäste auf, die jemals in „La Bella Venezia“ zu Corfu gespeist haben, an jener internationalen Table d’hôte, wo Türken und Aegypter, Engländer, Russen, Italiener, Franzosen und Deutsche durch einander reden. Die letztgenannten Nationen lernen dabei zum ersten Mal kennen, was eigentlich Kaffee ist – nämlich nicht ein mehr oder minder schwarzgefärbtes heißes Wasser, sondern eine stark aromatische Crême in noch flüssigem Zustande. So feindselig auch Türken und Griechen in allem Uebrigen sich gegenüber stehen, in der Bereitung und dem Geschmack ihres Kaffees sind sie einig und einzig.

Daß ich aber meiner Schilderung des Palmsonntags in Corfu einige Bemerkungen über Essen und Trinken vorausschicke, hat einen besondern Grund in dem Umstande, daß an diesem Tage die eingeborene Bevölkerung der Insel nach langen schweren Fasten sich zum ersten Male wieder des Genusses von Speise und Trank erfreut, und zwar ist der Palmsonntag gewissermaßen nur eine Oase in der wirklich dürren Wüste der griechischen Fastenzeit, deren schlimmste Leidenstage während der Charwoche noch bevorstehen. Die Fastengebote der römischen Kirche sind bei weitem nicht so strenge, wie die der griechischen, welche nicht nur das eigentliche Fleisch, sondern gleich den Vegetarianern der strengen Observanz auch alle von Thieren stammenden Stoffe, Eier, Milch, Butter etc. verbietet. Unter diesen Umständen kann man sich denken, mit welchem Appetite und welcher Genußfähigkeit die Bewohner der Insel in der Hauptstadt, dem Stapelplatze so vieler schöner, schmerzlich entbehrter Dinge, zusammenströmen; die Einen zu Schiffe, die Anderen zu Wagen und stolz zu Roß, oder bescheiden zu Fuß, aber Alle nach Kräften geschmückt und im höchsten Feiertagsputze wegen der Theilnahme an der großen Procession zu Ehren des heiligen Spiridion, der, um sich noch mehr zu ehren, an dieser Procession in höchst-, oder richtiger heiligst-eigener Person theilnimmt – natürlich mit seinem irdischen Theil, das heißt mit seiner wohlerhaltenen und wohlsichtbaren Mumie, die … Doch ich muß zu Nutz und Frommen der mit den „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ der Insel weniger Vertrauten zuerst Näheres über diesen Heiligen sagen.

Daß der heilige Spiridion der Schutzheilige der Insel Corfu sei, setze ich als bekannt voraus; weniger bekannt dürfte sein, daß der Heilige selbst, oder richtiger die Reliquie desselben, die heiligen Gebeine, weder im Allgemeinbesitz der Insel, noch der Kirche, in welcher die Gebeine verwahrt werden, sondern im Privatbesitze einer corsiotischen Familie Namens Bulgaris sich befindet, die ihrerseits den Heiligen dadurch erworben hat, daß vor langer Zeit ein Bulgaris mit einem jungen Mädchen sich verheirathete, welches die heiligen Gebeine als Aussteuer empfing.

Wer einigermaßen mit der Geschichte der Reliquien vertraut ist, wird den Werth dieser Aussteuer zu schätzen wissen, denn es ist ja bekannt, daß derartige Reliquien oft mit geradezu fabelhaften Summen ge- und verkauft worden sind. Für die Familie Bulgaris aber ist der Besitz der Reliquie zu einer dauernden, sehr bedeutenden Einnahmequelle geworden; freilich hat sie der Familie auch die dauernde Verpflichtung auferlegt, daß stets ein Bulgaris Priester sein muß, um gegen Gebühren die Wohlthaten zu vermitteln, welche der Heilige in allen möglichen Unglücks- und Krankheitsfällen spendet. Zu den Einnahmen, welche in dieser Weise gewonnen werden, trägt unter Anderm wesentlich das Privileg bei, allein die zahllosen Kerzen zu liefern, die dem Heiligen dargebracht werden, sowie die schwarzen Kleider, welche während eines ganzen Jahres die durch Hülfe der Reliquie genesenen Kinder zu tragen haben.

Die große Procession hat sich allmählich geordnet; die Frauen und Mädchen erscheinen meist in der bunten, kostbaren Nationaltracht: der Rock, wenn auch von dunklem Stoffe, doch mit leuchtenden, oft schreienden Farben besetzt, eine gleichartige Jacke, ein reich gesticktes Mieder, mit Schnüren von Perlen und goldenen und silbernen Nesteln zusammengehalten, unter welchem das weiße Hemd in weiten Falten hervorquillt. Um den Kopf winden sich turbanartig die durch allerlei künstliche Mittel stark vermehrten, von rothen Bändern umwundenen Haarmassen, über welche ein bald gelb-, bald weißfarbiger Schleier fällt. Das sind gewissermaßen die Grundlagen der corsiotischen Frauenkleidung, die nun aber nach Vermögen und Geschmack der Schönen sehr willkürlich theils verändert, theils ergänzt werden durch allerlei Zuthaten, die hier anderen Nationaltrachten, dort der französischen Mode von heute, gestern oder vorgestern entnommen sind. Ein ganzes Vermögen steckt häufig in dem edlen Metall, mit welchem das Mieder verziert wird; im Uebrigen sieht man goldgestickte Jacken voll Sammt, Röcke von farbiger Seide und Schärpen von allerlei Farben. Wie die Frauen am Mieder, so entfalten die Männer den Hauptluxus am Leibgurt mit den unvermeidlichen, oft kostbar ausgelegten Pistolen und Dolchen. Außerdem legen die Reicheren Werth auf die Stickereien der Jacken; der übrige Theil der Nationaltracht – Fez (vielfach auch von der weiblichen Jugend getragen), Fustanella und weite Hosen von dunkler Farbe – ist bekannt.

Um Mittag verläßt die Procession die Kirche; Fahnen eröffnen den Zug; lange Reihen von Geistlichen folgen in prächtig-goldgestickten schwerseidenen Gewändern, ferner zahlreiche Schüler verschiedener Institute, alle uniformirt, sodann Soldaten und wiederum Priester, geweihte Kerzen und Palmenzweige tragend. Ein dichter Knäuel von Priestern, in deren Mitte der Patriarch, die goldene Krone auf dem greisen Haupte, majestätisch einherschreitet, schließt sich an.

Ich habe es schon bei Gelegenheit eines hohen Kirchenfestes in Deutschland, welchem ein römischer Cardinal beiwohnte, nicht ohne eine gewisse Bewunderung wahrgenommen und später oft bestätigt gefunden: diese hohen Würdenträger der römischen und, wie ich nunmehr gesehen habe, auch der griechische Kirche wissen in den scheinbar so einfachen Act des Gehens, sage ich lieber des „Schreitens“, etwas Würdevolles, Majestätisches zu legen, das auf jedes einigermaßen für derartige Dinge empfängliche Gemüth einen großen Eindruck macht. Ich habe nie, auch bei den höchsten Staatsbeamten nicht, Aehnliches bemerkt, mochte auch die Wichtigkeit des Actes das Herauskehren von majestätischer Würde noch so dringend erheischen. Also dieser griechische Patriarch hatte ebenfalls die Kunst des „Schreitens“ gelernt und wußte sie anzuwenden.

Unmittelbar nach ihm folgt die eigentliche Hauptperson der Procession, nämlich der heilige Spiridion in einem von vier Priestern wie eine Portechaise getragenen Kasten. Der Kasten ist von durchbrochenem Golde, im Innern mit Purpur ausgeschlagen; sichtbar von der Reliquie sind unten die Füße und oben durch ein im Kasten angebrachtes Fenster der Kopf des Heiligen, welcher völlig dem einer gut erhaltenen Mumie gleicht. Dem Heiligen nach schreiten wieder Massen von Priestern und endlich die Menge des bunt geschmückten Volkes. Alles trägt Palmenzweige. Unter dem Donner der Geschütze, dem Schmettern der Militärmusik, die mit den eintönigen Litaneien der Priester abwechselt, bewegt sich die Procession durch die Stadt, kehrt in zahlreiche Kirchen ein und durchzieht stundenlang die Straßen.

Alles geht in größter Ruhe und Ordnung vor sich; nur um den Kasten mit der Reliquie drängt sich unaufhörlich das Volk. Hier hält eine Mutter mit bittender Geberde dem Heiligen ein kleines Kind entgegen, dem man ein brennendes Licht in die willenlosen Händchen gedrückt hat; dort betten mehrere Mütter kranke Kinder auf dem Erdboden, damit der Kasten mit seinem heiligen Inhalte über die armen Würmer gesundheitspendend hinwegschreite. Andere sammeln mit heiligem Eifer das Wachs, welches von den Lichtern abträufelt, die an dem heiligen Kasten selbst befestigt sind, und überall, wo dieser Mittelpunkt der Procession sich nähert, sinkt Alt und Jung, Mann und Weib andächtig das Kreuz schlagend in die Kniee.

Der Himmel aber gießt die Fülle seines blendenden südlichen Lichtes auf den buntschimmernden Zug, auf das bewegte Leben in den Straßen der Stadt, auf die ernste Citadelle, die seit Jahrhunderten auf einsamem Felsen über der Stadt thront, und auf das ewige Meer, das seine blaue Fluth heute so sanft zum lieblichen Ufer heranspielen läßt, wie vor Tausenden von Jahren, als der homerische Held Odysseus die Königstochter Nausikaa begrüßte. Welch eine lange, dem Menschen unendlich lang scheinende Zeit ist seit jenen Tagen vorübergegangen, welch’ gewaltigen Wechsel der Dinge hat der Wechsel der Zeiten mit sich gebracht! Eines nur ist geblieben: die ewige Schönheit, mit welcher die gütige Natur diese Perle unter den „glücklichen Inseln“ geschmückt, und welche der Genius des Dichters in den unsterblichen Versen seiner Odyssee gepriesen hat.

Und diese Schönheit, welche dem Wechsel der Zeiten widerstanden hat, mag uns eine Bürgschaft sein, daß einst ein noch hellerer Tag leuchten wird über den Inseln und dem Festlande des alten Hellas, der keinen Rauch mehr sehen wird von Kerzen, die am Tage brennen, wohl aber ein Volk, das durch ernste Arbeit des stolzen Namens sich würdig gemacht, der von den Vätern ihm überkommen ist, und gelernt hat, dem „heiligen Boden“ die reichen Schätze abzugewinnen, welche nur der Hand warten, die zu ihrer Hebung geschickt ist.

Fl. Korell.

Blätter und Blüthen.

Herzog Georg von Sachsen-Meiningen (mit Portrait S. 229) ist in der Geschichte seines Landes der zweite seines Namens. Der erste Herzog Georg war sein Großvater, einer jener Fürsten der „guten alten Zeit“, die durch ihr Wesen und Walten das Bild ihrer ungewöhnlichen Persönlichkeit dem Volke so tief eingeprägt haben, daß sie auch ohne die Hülfe der Geschichtsbücher im Gedächtniß desselben fortleben. Noch heute erzählt sich Bürger und Landmann vom „Herzog Jörg“, wie er nach fränkischer Dialektweise genannt wurde, und aus allen diesen Charakterzügen und Anekdoten leuchtet hervor, daß die Strenge und Derbheit, die ihm als Kind seiner Zeit anhingen, durch Herzensgüte und das ernste Pflichtgefühl für rücksichtslose Gerechtigkeit gemildert wurde. Unsere Leser besitzen ein treffliches Charakterbild dieses Fürsten aus der Feder des Meininger Dichters Ludwig Köhler († 1862) im Jahrgang 1861, Nr. 37 („Eine Abstimmung“). Eine Ergänzung zu diesem Bilde des Herzogs brachte Jahrgang 1866, Nr. 19. Auch er gehörte zu der dort besprochenen „Tafelrunde“, mit welcher „der letzte Ritter des Frankenlandes“, der Freiherr Christian von Truchseß, seiner Bettenburg einen unvergänglichen Namen erwarb. Der weimarische Musenhof stand nicht allein da in den Ernestinischen Landen; auch die Höfe von Gotha, Meiningen, Hildburghausen und Coburg zogen hervorragende Geister in ihre Kreise, wenn sie auch nicht mit Sternen wie Goethe und Schiller glänzen konnten. Herzog Georg’s liebster Umgang war Jean Paul, auch einer der Gäste der Bettenburg, wo der Herzog einst den ihn und die Lichtseite der patriarchalischen Zeit so trefflich bezeichnenden Spruch der Tafelrunde zurief: „Fürstenglück und Volksfreude gehören bei mir immer zusammen.“

Dieser Herzog Georg starb 1803. Fünf Jahre später kam ein [244] anderer Meininger Besuch auf die Bettenburg: Friedrich Mosengeil, Ernst Wagner und ein achtjähriger Knabe. Als der alte Freiherr mit ihnen durch den Park wandelte, traten sie auch in die Todtencapelle ein, an deren Wänden marmorne Tafeln die Namen aller hingeschiedenen Genossen der Tafelrunde in goldner Schrift nannten. Da blieb der Knabe plötzlich vor einer der Tafeln stehen, erfaßte sie mit beiden Händen, lehnte den Kopf an sie und weinte bitterlich. Der Knabe war der Erbprinz Bernhard Erich Freund von Meiningen; auf der Tafel stand der Name seines Vaters.

Bernhard Erich Freund ist jetzt ein ehrwürdiger Greis von bald neunundsiebenzig Jahren. In bundesfürstlich großdeutscher Gesinnung mit den staatspolitischen Zielen seiner Zeit zerfallen, entsagte er im Jahre des deutschen Kriegs 1866 der Regierung. Sein Sohn und Nachfolger ist der gegenwärtige Herzog Georg. – Es ist eine alte Familienerfahrung, daß nicht selten das geistige Gepräge der Großeltern in ihren Enkeln wieder hervortritt. Diese Erscheinung glauben wir auch hier in Großvater und Enkel zu erkennen, und deswegen mußten wir, wenn auch mit wenigen Strichen, ein Bild des ersten Herzogs Georg zeichnen, weil die hervorragendsten Eigenschaften desselben in Georg dem Zweiten sich widerspiegeln.

Am Mittwoch, dem 2. April, hat Herzog Georg seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Als Erbprinz beschritt er den jetzt allgemein üblichen Weg der Fürstenerziehung, studirte in Bonn und ging dann zum Kriegsdienst über. Im preußischen Garde-Kürassier-Regiment war er zum Major avancirt, als er, 1850, die Tochter des Prinzen Albrecht von Preußen, Charlotte, als Gemahlin heimführte. Er lebte von da an meist in Meiningen oder in der Villa „Carlotta“ am Comersee seiner Familie (am 1. April 1851 war ihm sein Sohn Bernhard geboren) und den schönen Künsten – in der Malerei strebte er aus dem Dilettantenthum hinaus und galt längst als Künstler von Auszeichnung, ehe er die Kunst veredelnder Gestaltung auf die Bühne übertrug. Der Tod trennte die glückliche Ehe schon nach fünf Jahren. Drei Jahre danach schloß Erbprinz Georg einen zweiten Ehebund mit Prinzessin Feodora von Hohenlohe-Langenburg, und als auch diese nach vierzehn Jahren ihm durch den Tod entrissen wurde, wählte er Freifrau Helene von Heldburg geb. Franz zur Gattin.

Seine erste Regentensorge, als er im Jahre 1866 die Regierung übernommen, war, den seit einem Menschenalter entbrannten und noch immer ungeschlichteten Streit des herzoglichen Hauses und des Landes über die Domänen beizulegen. Ehe ihm dies noch gelungen war, brach der französische Krieg aus. Er zog mit nach Frankreich, aber nicht als General der Infanterie der preußischen Armee, der er seit 1864 war, sich dem Hauptquartier anschließend, sondern er zog es vor, als Chef des 95. Regiments, bei welchem auch sein Sohn stand, alle die Schlachten und Gefechte mitzumachen, die sein Regiment in diesem Kriege zu bestehen hatte. Wenige Fürsten haben sich ihr eisernes Kreuz so redlich verdient, wie der tapfere Herzog Georg und sein Sohn, der Erbprinz Bernhard, gegenwärtig bekanntlich unsers Kaisers Wilhelm glücklicher Schwiegerenkel.

Nach dem Frieden des deutschen Reichs mit Frankreich schloß der Herzog daheim Frieden mit seinem Lande. Am 14. Juli 1871 wurde das auf Grund der Vorschläge eines in Dresden gewählten Schiedsgerichts vorgelegte Domänengesetz vom Landtage genehmigt. Es war gegenseitig erprobtes Vertrauen, welches die versöhnten Hände zusammenführte. Der Herzog hatte längst dem Volke gezeigt, daß auch in seinem Herzen Fürstenglück und Volksfreude immer zusammengehörten“. So weit die heutige Staatsmaschine dies verträgt, war er seit Jahren mit Geist und Hand dabei, wo es galt, das Wohl des Volks zu fördern. Dafür spricht seine Theilnahme an der Pflege aller Unterrichtsanstalten und besonders die Erweiterung derselben für praktische Zwecke, wie Malerei- und Modellirschulen in den Hauptbezirken der Porcellan- und Spielwaaren-Industrie Wallendorf-Lichte und Sonneberg; dafür spricht seine Freude am Volksleben, nicht blos in seiner Arbeit, sondern auch bei seinen Festen; dafür spricht endlich der heilige Ernst, mit welchem er über der Ausübung der hohen Kunst wacht, welche am unmittelbarsten auf Herz und Geist des Volkes einzuwirken vermag, ja einzuwirken berufen sein sollte: der Schauspielkunst in einem wahrhaft nationalen Theater. Herzog Georg’s Verdienste auf diesem Gebiete sind in dem Artikel „Das deutsche Theater und die Meininger“ gewürdigt worden. Es ist heutzutage nicht mehr so leicht, wie ehedem, ein „populärer Fürst“ zu sein. Demjenigen, welchem diese Zeilen gewidmet sind, ist dies gelungen, und die Behauptung der alten Meininger: „Es steht kein Herzog Jörg wieder auf“, wird bald nicht mehr geglaubt werden.

H. v. C.




Der Fink als Hausfreund. Es war im Monat April des Jahres 1817. Meine Großmutter und ihr verstorbener Bruder wohnten damals mit ihren Eltern in einem einstöckigen hölzernen Hause, nahe der Kreibitzbach, welches von einen von einer Hecke begrenzten Garten umgeben war, von wo aus man auf das freie Feld gelangte. In dem Garten befanden sich besonders viele Obstbäume, auf welchen die munteren Sänger sich gern aufhielten und durch ihre fröhlichen Lieder das Herz und die Sinne der Hausbewohner und Nachbarn erfreuten.

Auf einem großen Apfelbaume hatte ein lustiges Finkenpaar sein niedliches Nest aufgebaut, in welchem nach wenig Wochen einige junge Vögel sich befanden. Der Bruder meiner Großmutter, damals vierzehn Jahre alt, hatte seine größte Freude daran; er nahm das Nest, legte es in einen Käfig und stellte denselben geöffnet an die nämliche Stelle, damit die Alten nach wie vor den Jungen ihre Nahrung zubrächten. Er sah täglich nach, um die Fortschritte der jungen Vögel wahrzunehmen. Eines Tages, als er sich von dem Vorhandensein der jungen Schaar überzeugen wollte, bemerke er zu seiner Enttäuschung, daß das Nest bis auf ein Junges leer war. Er nahm dies nun mit dem Käfig in die Wohnung, da es von den Alten leicht verlassen werden konnte, und gewöhnte es hier an das gebräuchliche Futter. Bald wurde auch der junge Fink flügge. Man erkannte in ihm ein Weibchen und ließ dasselbe, da man es nicht sehr schätzte, im Zimmer herumfliegen. Endlich noch gleichgültiger, gab man dem Vogel die Freiheit. Die eingetretene Achtlosigkeit verwandelte sich jedoch bald in Freude, als der Vogel mit seinem zutraulichen Wesen aus dem Hausgärtchen in das Zimmer zurückkehrte. Man gewann ihn doppelt lieb und schenkte ihm mehr Aufmerksamkeit und volle Zuneigung. Das Fenster wurde nun, um es nicht täglich öffnen zu müssen, einige Zoll breit aufgelassen, sodaß der Fink ohne Mühe aus- und einfliegen konnte. Der Vater meines Großonkels suchte den Vogel auf die Probe zu stellen und nahm ihn in den Wald mit, woselbst er ihn fliegen ließ. Bevor er zu Hause anlangte, war der Vogel schon anwesend. Diese Versuche wurden mehrere Male mit demselben Erfolge wiederholt.

Nach und nach wurde das Finkenweibchen so zutraulich, daß es sich auf die Achsel des Hausherrn setzte und sich von demselben herumtragen ließ. Es sollte aber bald anders werden. Der Herbst rückte näher und die Zeit kam heran, wo die Vögel wärmere Landstriche aufsuchen; auch unser liebgewordener Gast verließ sein Heim und trat die Wanderung an – man glaubte auf Nimmerwiedersehen. – Der Schnee schmolz und das Frühjahr 1818 folgte; die ersten Frühlingsboten kündigten sich an, und zum allgemeinen Erstaunen stellte sich auch unser Fink ein. Letzterer umkreiste das Haus und kam an das bekannte Fenster. Durch Picken an dasselbe suchte er die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und wurde endlich eingelassen Bei Eintritt der Brutzeit hielt sich auch das Männchen in der Nähe des Hauses auf, und sie erkoren sich einen im Garten stehenden Baum zum Brutplatz. Der Hausvater nahm nach einiger Zeit das Nest in die Wohnung mit, worüber jedoch der Vogel schmollte, sodaß man gezwungen war, das Nest an seinen früheren Ort zu bringen. Es vergingen ungefähr acht Tage, nach welcher Zeit der Fink seinen ersten Besuch abstattete, welcher sich dann regelmäßig wiederholte. Wieder rückte der Herbst heran; der Vogel trat wieder seine Wanderung an. Der Winter kam und ging, und auch der Vogel kam wieder.

Es wiederholten sich die erwähnten Vorgänge, nur mit dem Unterschiede, daß das Nest an seinem Platze gelassen wurde. Als die Jungen flügge geworden, brachte das alte Buchfinkenweibchen diese selbst in die Wohnung, und da die Beschäftigung der Inwohner eine ruhige war, so lagerte sich die junge Gesellschaft reihenweise auf einer Ofenstange und wurde hier von dem Finkenweibchen gefüttert, in welcher Beschäftigung dies von dem Männchen geraume Zeit unterstützt wurde. Die Kunde von der Anhänglichkeit des Vogels verbreitete sich mehr und mehr, und Besucher, selbst aus der Ferne, erschienen, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Zur größten Freude der Nachbarn und Schuljugend wurde der Fink so zahm, daß er wie ein Huhn den Weg vor dem Hause entlang lief und die ihm hingestreuten Brosamen aufpickte; ja er lenkte selbst die Aufmerksamkeit der Stadtvertreter auf sich, welche streng verboten, den Vogel abzufangen oder mit dem Blaserohre zu tödten.

Als der Vogel ungefähr sieben Sommer gesehen und schon eine kleine Platte bekommen hatte, behielt ihn der Hausherr den Winter über in dem Zimmer. Eines Tages – es war im siebenten Winter – wurde die Aufmerksamkeit des Hausherrn auf einen Gegenstand am Bache gelenkt. Er öffnet das Fenster zur besseren Ansicht. Im Augenblick des Oeffnens flog der Vogel ihm auf die Achsel und von da zum Fenster hinaus. Ob Kälte und Frost ihm den Tod gebracht oder ob er abgefangen worden – wer weiß es! Er kam nie wieder. Die Wahrheit des Geschilderten aber kann von mehreren noch lebenden Personen bezeugt werden.

Kreibitz, 4. März , 1879.
Franz Ulbricht.


Zur Notiznahme. Im Einverständniß mit der Verfasserin haben wir für die Vereinigten Staaten von Nordamerika die alleinige Autorisation zur Übersetzung des Marlitt’schen Romans „Im Schillingshof in’s Englische Miß Annie B. Irish in Washington ertheilt, was wir auf Wunsch der Uebersetzerin hiermit zur Kenntniß bringen.
Die Verlagshandlung.




Kleiner Briefkasten.

Anonymus in Berlin. Wie oft sollen wir wiederholen, daß Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“ zu dem Lockungsmittel der Prämienzugabe irgend einer Art niemals gegriffen haben noch jemals greifen werden! Wenn aber Colportagehandlungen dieses Mittel für ihren Privatvertrieb der „Gartenlaube“ in Anwendung bringen, so sind wir nicht in der Lage, dies zu verhindern.

Consul Fr. E. in Rh. Besten Dank! „Der kleinste Späher“ wurde an Herrn B. gesandt.

O. A. in Guben. Sie schreiben uns mit Bezug auf den Passus unseres Pest-Artikels in Nr. 9 der „Gartenlaube“, daß es nicht nöthig sei, in die Weite (nach Rußland) zu schweifen, um Gegenden zu suchen, in welchen meilenweit kein Arzt vorhanden ist, und führen als Beispiel den Gubener Kreis an, in welchem heute noch der arme Bauer den Arzt oft aus so weiter Ferne zu holen hat, daß dieser berechtigt ist, sich den Besuch mit zwanzig Mark honoriren zu lassen. Sie mögen leider Recht haben, und dieser Nothstand bedarf dann ohne Zweifel der Abhülfe, aber die Thatsache kann doch keinen Vorwurf gegen den Verfasser unseres Artikeln begründen!

A. W., Abonnent in Ilmenau. Ihre Adresse? Die Auskunft, um die Sie uns bitten, ist so privater Natur, daß sie keinen Platz in der „Gartenlaube“ beanspruchen kann.