Die Gartenlaube (1882)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 18.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Regine schwieg einen Augenblick, mit ihrer inneren Erregung kämpfend.

„Man stellte mir vor,“ fuhr sie dann fort, „der Oheim bedürfe meiner; ich habe die Pflicht, mich meines nächsten Verwandten anzunehmen; ich könne auf Rechte verzichten, aber mich über ernste unabweisbare Pflichten nicht hinwegsetzen; ich habe gehorcht, Leonhard, gehorcht, weil Sie es waren, der mich rief, mich mahnte … ich bin hier … und nun macht Ihr den zweiten Zug im Spiel … nun erklärt der Oheim mich adoptiren zu wollen … nun soll sich Alles fügen, wie Ihr’s wünscht und verlangt … nun soll ich nicht als meiner Mutter Tochter, nicht als des Oheims rechtmäßige Erbin, sondern als ein adoptirtes Kind in diese verhaßte Adelssippschaft eintreten und die Herrin von Dortenbach werden, die Ihr nun einmal in mir sehen wollt und die ich nun einmal nicht sein will.“

„Regine,“ rief Leonhard aufspringend, „so deuten Sie die Sachen – so? Sie erblicken überlegte Schachzüge in dem, was geschehen – ein von mir eingeleitetes Spiel –?“

„Mein Gott, muß ich denn nicht? Bin ich denn blind? Der Baron will mich adoptiren, mich zu seiner Erbin machen, sagen Sie. Mich? Eine ihm Wildfremde? Die ihm noch nichts sein kann? Die er erst seit wenigen Tagen kennt? Die bürgerliche Person, die untergeordnete Krankenpflegerin? Aber ich bitte Sie, Sie werden mir doch nicht zumuthen, das für möglich zu halten, wenn Sie ihn nicht eingeweiht, ihm nicht mein Geheimniß verrathen, ihn nicht darauf gebracht und dazu vermocht hätten?“

„Regine,“ rief Leonhard mit Entrüstung, „Sie sind furchtbar in Ihrem Mißtrauen – Sie sind vielleicht gar im Stande, mir vorzuwerfen, ich spiele dieses ganze Spiel auch nur deshalb, um mit Ihrer Hand das von Ihnen verschmähte Dortenbach an mich zu bringen – bei Gott –!“

„Nun ja,“ sagte sie, ihm offen und kalt in’s Auge sehend, „ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube; Sie haben lange genug meinem Empfinden in dieser Angelegenheit widerstrebt, Beredsamkeit genug aufgewandt, meinen Entschluß zu bekämpfen – was muß ich mir Anderes sagen, als daß –“

„Als daß meine Liebe für Sie entstanden ist aus der Hoffnung und daß die Hoffnung sich stützt auf den goldenen Anker, welcher Dortenbach heißt,“ brauste er auf. „Regine, das ist zu viel; ich frevelte an mir selber, wenn ich darüber ein Wort weiter verlöre – widerrufen Sie das, widerrufen Sie es auf der Stelle oder –“

„Oder?“ fragte sie, herausfordernd; sie schloß kalt und fest die Lippen.

„Oder dieses Wort trennt uns auf ewig,“ sagte er, mit Gewalt den Ausbruch einer zornigen Leidenschaftlichkeit zurückhaltend.

Sie blickte zu ihm auf – sie blieb ungerührt – sie blieb in der That „unerbittlich wie die Parze“; sie wandte ihr Auge ab und schaute zum Fenster hinaus, zu den weißen ziehenden Wolken hinauf, aber mit Zügen, die so bleich waren, wie diese.

Leonhard’s Gesicht flammte – er zögerte noch einige Augenblicke, wie auf einen versöhnenden Laut harrend, aber als sie nicht sprach, wandte er sich: sie wollte eben ein beschwichtigendes Wort sprechen; sie wollte sich erheben, ihn zurückzuhalten, aber da ging er ja schon – im Trotz seines Schuldbewußtseins – – mochte er denn gehen!

Sie war so furchtbar empört. Sie war im Stande, ihn gehen zu lassen. Für immer, ja für immer! Und wenn ihr Herz darüber brechen, wenn es sie das Leben kosten sollte! Es war zu schlecht, was er gethan. Schon oft war leise, aber nur halb gedacht, nur wie eine kleine dunkle, bald wieder verwehte Wolke, die einen Schatten über den blauen Himmelsgrund wirft und dann fort und verschwunden ist – so war schon mehr als einmal ein Argwohn in ihr aufgestiegen, daß er ihren Entschluß, mit Allem, was Dortenbach hieß, mit Allem, was die Sippschaft im Schlosse anging, nie in die geringste Berührung kommen zu wollen, aus egoistischen Gründen bekämpfe. Der Argwohn lag ja freilich auch nahe genug. Sie war seine Braut geworden; er hatte ihr Jawort – wenn sie ihren Entschluß änderte, wenn sie ihr Recht geltend machte, so wurde er ein reicher, sehr reicher Mann. Mein Gott, es lag so nahe, daß er deshalb, auch nur deshalb um sie geworben. So schrecklich nahe – heute, wo alle jungen Männer nach Geld jagen! Aber sie, sie war so blind vertrauensvoll gewesen, so lächerlich idealistisch, so schwärmerisch gläubig. Und nun hatte er sich so plump, so mit Händen faßbar verrathen – er hatte mit dem alten Herrn einen Weg, sie zu umgarnen, ausgeklügelt und hatte dazu ihr Geheimniß preisgegeben. So heilig hatte er ihr geschworen, sie dem Oheim nicht zu verrathen – und nun – o, es war keine Treue und Glauben in ihm – es war furchtbar, es war um sich todt zu weinen!



[290]
9.

Der Tag, welcher für den alten Herrn so freundlich und verheißungsvoll begonnen, sollte für den armen Gebieter auf Dortenbach den unbefriedigendsten Verlauf nehmen.

Leonhard war zu ihm zurückgekehrt, aber mit einem ganz veränderten Gesicht, mit einem eigenthümlichen Flimmern und unstäten Funkeln der Augen.

„Fräulein Bertram will von Ihrem gütigen Vorschlage nichts hören, Herr Baron,“ sagte er mit ganz veränderter Stimme, „sie lehnt ihn so entschieden ab, daß ich –“

„Wie – sie will nicht –“

„Daß ich,“ fuhr Leonhard ohne sich unterbrechen zu lassen fort, „Sie bitten muß, kein Wort mehr bei ihr selbst darüber fallen zu lassen. Es würde nichts helfen, und Sie würden sich nur unnütz aufregen. Adio!“

„Adio? Wohin wollen Sie so rasch?“

„Wohin ich will? Nun ja, wohin ich will? In’s Freie, Baron – zu meinen Eltern – in den Wald – ich komme zurück.“

Und damit eilte er davon.

Der Baron klingelte.

„Andreas,“ sagte er, als dieser erschien, „bitte das Fräulein Bertram, zu mir herüberzukommen; sie soll mir sagen, ob diesem Klingholt etwas zugestoßen ist, ob er krank ist.“

Andreas ging.

Nach wenigen Minuten kam er mit der Meldung zurück:

„Das Fräulein läßt sich entschuldigen – sie leidet so stark an Migräne, daß sie bittet, sie auch für die Mittagstafel zu entschuldigen.“

„Ah“ – sagte der alte Herr überaus verdrossen – „das ist ärgerlich. Was haben denn diese beiden Menschen heute? Ich hatte ein so hübsches Thema zum Tischgespräch für den Doctor und sie. Weißt Du, Andreas, es geht mir nichts über ein gutes friedliches Tischgespräch. Er sollte mir erklären, wie es kommt, daß unsere Zeit, welche so entsetzlich viel Neues schafft, erdenkt, erfindet – so staunenswerthe große Dinge in’s Werk setzt –“

„Wird denn der Herr Doctor nicht zum Essen kommen?“ unterbrach ihn Andreas.

„Schwerlich, schwerlich – der Deserteur stand ihm im Gesichte geschrieben – es muß ihm etwas passirt sein – aber laß mich ausreden, Andreas: – woher es kommt, daß dieselbe Zeit eine solche Gier nach unnützem altem Plunder hat, nach alten Steinbrocken, Topfscherben und vor Allem nach alten Briefen, zum Beispiel von Gryphius an seine Waschfrau oder von Leisewitz an seinen Buchbinder –“

„Große Herren haben ihre Schrullen; vielleicht haben’s große Zeiten auch,“ meinte Andreas. „Soll ich jetzt den Herrn Sergius zu Tisch laden?“

Der alte Herr ergab sich mit einem leichten Seufzer in die Aussicht auf den Ersatz, den der Alles wissende Sergius bot, und dann sann er im Stillen darüber, wie es möglich, daß sein schöner Plan bei Reginen eine so wunderliche Aufnahme gefunden habe.

Ihre Migräne mußte übrigens der Art sein, daß sie ihr die frische, freie Luft draußen zum Bedürfniß machte; denn sie ging soeben, nur mit ihrem leichten grauen Sonnenschirm versehen, in die Anlagen hinaus.

In Reginens Innerem arbeitete es heftig; ein Gedanke nur beschäftigte sie, eine einzige zornige Frage, die Frage nämlich: wozu sie sich entschließen, was sie thun solle, ob sie jetzt ohne Aufschub Dortenbach verlassen solle oder nicht. War es jetzt noch ihre Pflicht, bei dem alten kranken Manne, der freilich nun einmal ihrer Mutter Bruder war, auszuhalten? War diese ganze Pflichtvorstellung nicht überhaupt nur eine vor ihren Augen heraufbeschworene, abscheuliche Vorspiegelung, ersonnen, um sie nach Dortenbach zu locken? Und war sie jetzt, wo der Oheim ihr Incognito durchschaute – das that er ja ganz ohne Zweifel – hier noch einen Augenblick sicher? Würde der Oheim sie nicht an Andreas, seinen vertrauten alten Andreas, verrathen und dieser nicht an die Verwandten? Oder, wenn er nicht, würden nicht Leonhard’s Eltern, die von diesem wohl auch eingeweiht waren, ihr Geheimniß an den Tag bringen? Und dann hatte sie mit der lieben Sippschaft, die ihr so unaussprechlich widerwärtig war, sich aus einander zu setzen – es blieb ihr in der That gar nichts Anderes übrig, als auf und davon zu gehen.

Und doch wurde der Entschluß ihr schwer – sie vermochte nicht, ihn rasch und mit freier Seele zu fassen – sie hatte für den alten Herrn, obwohl sie ihn verurtheilte, obwohl sie seine Schwäche verächtlich und hassenswürdig fand, doch ein Interesse gefaßt; ein Gefühl der Zusammengehörigkeit war in ihr entstanden; ein innerliches Band hielt sie an seiner Seite, so lange er ihrer bedurfte, wenigstens so lange sie ihm wohlthun konnte. Und die Räume, in welchen sie sich hier bewegte, diese Gärten und Parkpfade, auf welchen bei ihren einsamen Wanderungen wie ein unsichtbarer Schatten das Bild ihrer Mutter sie begleitete und lebhafter, deutlicher, greifbarer, als es je in der Stadt von ihrer Phantasie ihr vor die Seele gezaubert wurde, neben ihr dahinglitt – alles das hatte etwas Bindendes, Festhaltendes, was ihr den Gedanken der Trennung schmerzlich machen wollte. Und dann – das lag ja auch noch auf dem Grunde all ihrer empörten, verzweiflungsvollen Gedanken, das widerspruchsvolle stille Ahnen und Hoffen, daß es für Leonhard eine Schuldmilderung gebe, daß noch etwas Versöhnendes kommen und sie dann ihr zu hartes Wort bereuen lassen könne – und das mußte doch hier sich fügen, hier abgewartet werden.

Regine war lange Zeit, bald rasch, bald langsam schreitend und bei jedem Schritte die Spitze ihres Sonnenschirmes in den weichen Sand der Pfade stoßend, gedankenvoll umher gewandert, bis sie bei diesem planlosen Irren durch die Anlagen und den anstoßenden Theil des Waldes sich plötzlich einem alten Gemäuer gegenüber sah. Es war jene Capellenruine, an welche wir den Baron seine mythologischen Combinationen knüpfen hörten. Regine, welche das Gebäude nicht kannte, hielt es für eine künstliche Ruine, welche die Zeit zu einer richtigen umgewandelt; sie hatte sie wenigstens dicht mit Epheu umsponnen, dessen Gerank und Zweige das graue alte Gestein zusammenzuhalten schienen, und selbst die spitzbogige Eingangsthür wie mit einer grünen Portière überhingen.

Als Regine sich seitwärts näherte, vernahm sie Stimmen, die da drinnen lebhaft und rasch wechselten – betroffen blieb sie stehen, sie glaubte, die Stimme Leonhard’s zu erkennen – eine weibliche Stimme, weiche ihm antwortete, war offenbar die Dora’s. Sie schritt näher – das weiche Moos, welches rings den Boden bedeckte, machte sie völlig unhörbar – wie in aller Welt kam Leonhard dazu, sich hier in diesem versteckten Winkel des Waldes, den Regine gar nicht kannte, ein Rendezvous zu geben – mit einem Kinde wie Dora? Sie fragte sich das so lebhaft und stürmisch, daß sie unwillkürlich herantrat, wie gebannt vom Klange dieser Stimme. Als sie bis zu dem Gemäuer, zu dem kleinen, in der Seitenwand angebrachten Fenster, das seiner Scheiben längst beraubt, aber von Epheu dicht umsponnen war, gekommen, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte; durch die Zwischenräume der dichten Blätter und Ranken konnte sie das Innere überschauen, und nun nahm sie ein sehr hübsches Bild wahr, welches Reginen, wenn sie in anderer Stimmung gewesen, wohl ein Lächeln abgelockt hätte, jetzt aber nur Ueberraschung bei ihr hervorrief. Hoch oben auf dem verstaubten Altar der Capelle saß in ihrem weißen Kleidchen Dora; sie trug auf ihrem gelösten und lang über die Schultern hinfallenden blonden Haare eine große, kunstreich aus Kornblumen geflochtene Königskrone und bildete mit dem langen Farrnkrautstengel, den sie, wie eine Heilige ihre Palme, in der Hand hielt, eine sehr hübsche, aber auch sehr kindliche Tableaufigur, von der man nicht recht wußte, ob sie eine Madonna oder eine Ophelia vorstellen wollte.

Vor ihr auf den Stufen des Altars knieete Edwin; er betete zwar nicht zu der wunderlichen Göttin vor ihm, aber er war offenbar beschäftigt, ihr ein Opfer zu bringen; denn er ordnete und band aus einem Haufen vor ihm liegender Waldblumen einen dicken Strauß, so gut es bei der fortwährenden Störung eben anging – denn Dora senkte jeden Augenblick ihre Heiligenpalme, um ihn damit bald auf den Scheitel, bald am rechten, bald am linken Ohre zu treffen und zu kitzeln.

„Wenn Du mich nicht bald in Ruhe läßt, entreiße ich Dir Dein Scepter,“ sagte Edwin; „Du kindliche Regina Angelorum.“

„Dann thue ich ein Wunder und verwandele Dich.“

„In was?“

„In einen verwunschenen Prinzen.“

„Damit Du ihn mit einem Kusse wieder erlösen kannst? Nur zu!“

Das Farrnkraut flog ihm heftig an den Kopf. Dabei zerknickte der feine Stengel.

[291] „Nein, in den wilden Jäger,“ sagte Dora jetzt. „Dann mußt Du, statt eine reizende Oberförsterin im Spessart zu bekommen, auf einem klapperdürren Gaule hinter einer großen Eule her Nachts über die weiten dunklen Wälder da fahren und immer hoho! brüllen und mit der Peitsche knallen.“

„Wie schauerlich! Du könntest mir Angst machen vor Deiner Oberförsterei im Spessart.“

„In der bist Du sicher. In der ist es ganz reizend. – Tannen stehen umher, wie Ihr sie hier gar nicht kennt, so groß und schön, und ein prächtiger Wildbach kommt hinter dem Hause aus den Bergen geschäumt und füllt einen schönen und weiten Teich –“

„Mit dicken alten Karpfen darin, welche Deine Tante jeden Morgen füttert – ich weiß, Dora – ich kenne ja die ganze Oberförsterei auswendig – wenn ich nur das Schicksal, welches mich dort erwartet, ebenso gut auswendig kennte!“

Edwin sagte dies leiser, wie mit einer Anwandelung tieferen Ernstes.

„Das Schicksal, welches Dich dort erwartet?“ versetzte Dora aus ihrer „Pose“ fallend und vorgebeugt das Kinn auf den aufgestemmten Arm stützend – „habe ich Dir denn das nicht auch gesagt?“

„Du hast mir Alles gesagt: der Oberförster, der Mann Deiner Tante, braucht einen Gehülfen, einen Vertreter, einen jüngeren Mann, der ihm die viele Arbeit tragen hilft – die freiherrlich Ramsfeld’schen Waldungen müssen eben sehr, sehr ausgedehnt sein –“

„Sagst Du das spöttisch? Sie sind auch ausgedehnt – ganz furchtbar. Leider gehört nur uns nichts mehr davon, sondern den Vettern Alles. Aber das thut nichts. Wir werden ja bald wieder reich genug sein. Wenn der alte Onkel hier stirbt, was ja nicht lange mehr währen kann, erben wir die Hälfte von Dortenbach, der Damian und ich; es wird gleich verkauft und dann …“

„Verkauft – zersplittert – die Wälder niedergehauen! Es ist eigentlich ein Jammer,“ unterbrach Edwin sie nachdenklich.

„Was willst Du – was könnten wir sonst damit beginnen? Und also – Du gehst, statt in die Stadt, wohin sie Dich senden wollen, das Examen zu machen, mit einem Briefe von mir zu meiner Tante. Du bleibst bei ihnen als Stellvertreter des Oberförsters – dazu brauchst Du das abscheuliche Examen nicht, durch das Du ja doch glänzend durchfallen würdest, Du dummer Edwin – und dann, wenn wir heimkommen, bin ich ganz schrecklich reich und wir heirathen uns.“

Edwin nickte dazu und wiederholte: „Ja, wir heirathen uns.“ Vielleicht that er es nicht mit einem Ton des Entzückens, der Dora befriedigte; denn diese beugte sich setzt ganz vor, faßte mit beiden Händen in sein dichtes dunkles, leicht sich kräuselndes Haar und zauste ihn ganz fürchterlich dabei.

Edwin wehrte sie ab und band dann ruhig seinen Strauß fest, während er nachdenklich sagte:

„Wenn ich nur am Ende nicht der Klügere bin mit meiner Sorge, daß die Tante und der Onkel Oberförster nicht damit einverstanden sind und nicht thun, was Du willst!“

„Oho,“ rief Dora, indem sie ihm den Strauß aus der Hand nahm, „die Tante ist meine Pathe; die Tante betrachtet mich wie ihr Kind; die Tante hat längst gewollt, die Mutter soll mich ganz zu ihr gehen lassen – der Umgang mit dem Damian verderbe mich nur, sagt die Tante, und was ich will, das thut sie, schon um die Mutter zu ärgern – denn die Mutter und die Tante, mußt Du wissen, Du dummer Edwin, haben einen recht herzlichen Haß wider einander …“

Regine hatte, halb widerwillig, soweit gehört; sie fand nicht nöthig, sich durch weiteres Lauschen in diese angenehmen Familienbeziehungen einweihen zu lassen – unhörbar trat sie zurück und schritt betroffen über das, was sie vernommen, in den Wald hinein. Sie kannte Edwin, den sie ein- oder zweimal im Laufe dieser Tage flüchtig gesehen, zu wenig, um anders als indirect an ihm, als dem Bruder Leonhard’s, Theil zu nehmen, aber Dora, welche ja zur „Sippe“ gehörte, forderte ihr strengstes Urtheil heraus, und dies lautete: Welch unerhörter Leichtsinn von dem ruchlosen jungen Mädchen, das doch kein Kind mehr ist, so den jungen Mann aus seiner Laufbahn heraus und in ein unsäglich einfältiges Abenteuer zu locken! Man wird ihn in der gepriesenen Oberförsterei natürlich heimsenden, und er wird verwildert, erbittert und weniger als je im Stande, seine Gedanken auf seine Studien zu richten, wieder im Vaterhause anlangen, nachdem er seinen Eltern Sorge, Kummer und Angst bereitet.

Hatte sie nicht die Pflicht, die Eltern zu warnen? Die Frau Försterin, welche sie ein paarmal besucht, war eine so würdige, gutmüthige Frau, die ihr mit warmem Wohlwollen, mit ihrer ganzen Herzensoffenheit entgegen gekommen – die arme Frau mußte vor dem Kummer bewahrt werden, welchen die Verschwörung der beiden jungen Leute über sie zu bringen drohte.

Regine schlug direct den Weg zur Försterei ein; sie that es mit einer eigenthümlichen Hast und etwas wie einer Herzenserleichterung bei dem Gedanken, daß es offenbar eine heilige Freundschaftspflicht sei, welche sie auf diesen Weg zwinge – an dessen Ende sie sicherlich Leonhard begegnen mußte. Sie mußte annehmen, daß er jetzt bei seinen Eltern sei, und dann – sie fühlte doch, daß sie zu scharf, zu leidenschaftlich, zu hart gegen ihn gewesen! Vielleicht auch zu rasch in ihrem Argwohn – es war ja möglich, daß er sich rechtfertigte, sie beschämte – und mit einem hoffenden Verlangen nach dieser Rechtfertigung, mit einem stillen sich Sehnen nach der eigenen Beschämung eilte sie durch die Waldalleen.

Als sie die Försterei erreichte, trat ihr die Försterin lächelnd und freundlich, aber auch mit einem besorgten Blick, in der Thür entgegen.

„Mein liebes Fräulein Bertram,“ sagte sie, „ich sah Sie so eilig dahergeschritten kommen – und Ihr schönes liebes Gesicht ist mit solcher Gluth übergossen – es hat sich doch nichts Schlimmes ereignet – kein Unglück?“

„Gottlob, nein – doch habe ich Ihnen etwas mitzutheilen – sind Sie allein, Frau Klingholt?“

„Ganz allein – der Vater ist zu Holz, und mein Sohn Edwin läßt sich wieder einmal seit Stunden nicht blicken – Leonhard ist mit seinen Büchern in’s Freie gegangen …“

Reginens rosige Gluth wechselte mit einer flüchtigen Blässe, als sie hörte, daß Leonhard nicht da sei. Sie folgte der Försterin in das Wohnzimmer mit den schneeweiß „geschrubbten“ Dielen, wo jene sie auf das Kanapee niederzog und sich neben sie setzte.

„Sie haben mir etwas mitzutheilen, Fräulein Bertram? Wen betrifft es, Leonhard oder unsern guten alten Herrn, dessen Schutzengel Sie geworden sind, Sie Liebe, Gute, der wir Alle so viel Dank schuldig –?“

Regine schnitt diese Reden ab, indem sie hastig sagte:

„Es betrifft Ihren Sohn Edwin, Frau Försterin – ich bin durch den Zufall und ganz ohne es zu wollen, in einen Plan eingeweiht worden, den Edwin und Dora von Ramsfeld zusammen entworfen haben.“

„Grundgütiger Gott – die unsinnigen Kinder!“ rief die Försterin erschrocken, „sie lassen also die dumme Liebesgeschichte nicht – mein Sohn Leonhard hat mich zuerst davon unterrichtet, und ich habe ein Strafgericht über meinen wilden, unbesonnenen Jungen gehalten –“

„Das doch nichts gefruchtet haben muß,“ fiel Regine ein, und dann erzählte sie der guten Frau Alles, was sie vernommen.

Die Försterin hörte ihr erschrocken zu.

„Das ist schrecklich,“ sagte sie tief erblaßt; „da muß etwas geschehen, etwas Energisches, Entscheidendes, das den leichtsinnigen Kindern solche Dinge austreibt … O mein Gott – soll hier auf Dortenbach denn noch einmal solch eine Tragödie spielen, wie damals, vor vielen Jahren, als sich ein ganz vermögensloser junger Arzt in das arme Fräulein Sabine verliebt hatte?! Es war solch ein bürgerlicher Mensch, der noch nichts besaß, ganz wie heute Edwin. Und sie, das Freifräulein! Der Himmel behüte uns davor, vor ähnlichen Dingen, wie sie dazumal geschehen sind – Sie haben sicherlich nie davon gehört, Fräulein Bertram – aber die Dortenbach’s sind immer leidenschaftliche Leute gewesen, und was sie wollen, das wollen sie, und der Vater, der ältere Bruder, die Mutter, die Schwester, das hat Alles sich wider die arme Sabine mit der Dortenbach’schen Leidenschaft ausgetobt –“

„Am Ende,“ sagte Regine, gepeinigt von dieser Erzählung, „am Ende hat doch Fräulein Sabinens Willen sich als ebenso – Dortenbachisch erwiesen –“

„Gewiß,“ fiel die Försterin ein, indem Regine sich erhob, „sie ist ihrem jungen Doctor – es war ja auch ein lieber guter [292] Mensch mit einem so sanften Gesicht und blauen Augen, ganz so klar blau, wie Sie sie haben, Fräulein Regine – sie ist ihm in die Welt gefolgt, und da sind sie auch ganz glücklich geworden; er hat sich in P. niedergelassen, und ist bald ein viel gesuchter Arzt geworden, wie man uns erzählt hat, und Medicinalrath und Chef des städtischen Krankenhauses noch dazu; er ist dann vor fünf oder sechs Jahren, denk’ ich, noch im besten Alter gestorben – ein Jahr nach seiner Frau, dem Fräulein Sabine; eine Tochter nur ist übrig geblieben, die jetzt noch, wie ich gehört, in P. bei einer Verwandten ihres Vaters lebt – eine wunderliche, verschrobene Person, wie es scheint –“

„Weshalb nennen Sie sie so?“ fiel ihr Regine in’s Wort.

„Nun, sehen Sie, dieses Fräulein ist doch die nächste Erbin zu Dortenbach; wenn auch ihre Mutter auf ihre Erbrechte hat verzichten müssen, ist sie doch die Nächste aus dem Blut, aber sie hat immer erklärt, sie wolle nie und nimmer etwas von Dortenbach hören noch sehen, und das ist doch der reine Unverstand! Ein Unverstand, der uns Alle hier tief unglücklich macht; denn wenn sie käme und die ganze reiche Erbschaft – solch ein Erbe! – an sich nähme, so bliebe Alles, wie es ist – und wir wären gerettet.“

„Woher wissen Sie das alles?“ fragte Regine.

„Woher? Ich weiß das alles durch Leonhard –“

„Der dieses ‚verschrobene‘ Fräulein kennt?“

„Der sie kennt. Er hat, denk’ ich, gesucht, in der Stadt ihre Bekanntschaft zu machen, sich ihr zu nähern, auch wohl einen Einfluß auf sie zu gewinnen, der ehrliche Mensch – – aber wie Sie mich bleich und geisterhaft ansehen, Fräulein Regine! Die rasche Bewegung in der Hitze draußen hat Ihnen nicht wohl gethan –“

„Und der rasche Wechsel mit der kühlen Luft hier im Zimmer; in der That,“ sagte Regine, sich fassend, „ich will gehen, draußen wird mir wohler werden. Adieu! Adieu!“

Sie hatte sich schon gewendet und ging; als die Försterin, die sich erhoben hatte, um sie zu geleiten, erst den Vorplatz erreicht hatte, war sie schon auf und davon.


(Fortsetzung folgt.)


Scylla.
Eine Studie von der süditalienischen Meeresküste von Woldemar Kaden.

„Rechts wohnt Scylla und links die unversöhnte Charybdis.“
Virgil.

Zwei Meere, das tyrrhenische und das ionische, umgürten das schroffe, trotzigwilde calabrische Gebirgsland; Hunderte von rauhen Thälern, Schluchten und Schlünden, welche Wasser und Erdbeben in das Gestein hineinwuschen und sprengten, durchsetzen es, und wie kühne Küstenhochwachten treten zahlreiche felsige Vorgebirge, von den Schiffern gefürchtet, in die brandenden Wogen hinein. Die Küsten sind nur schmal; die Flüsse haben keine Zeit, zur Ruhe zu kommen, und heftigen Laufes stürzen im Winter und Lenze die Wasser des Crati, Amato, Corace, Nieto, Lao und Metramo durch felsblockerfüllte, im Sommer trockene Rinnsale herab, um im nahen Meere ihren ungestümen Lauf zu enden.

An diesen Küsten blühte in der mächtigen schönen und viel umworbenen Magna Graecia (Insel Sicilien und südliches Italien) eine herrliche Cultur, begünstigt von einem freundlichen Himmel und einem dem Verkehr der Völker dienenden Meere. Dieser Himmel lacht ermunternd noch immer über dem Lande; noch bietet das Meer seinen Rücken; noch wie einst, da sie dem Apoll und der Venus geweiht waren, grünt und blüht hier Lorbeer und Myrthe an sonnigen Hängen, und Wein und Oel, im Verein mit vielen andern Gaben einer „reichhinstreuenden“ Natur, vermöchten, wie einst, dem Lande zu Reichthum, zu Blüthe und Freude zu verhelfen, und doch liegt sein Kranz verwelkt im Staube, und doch weint die Armuth in den Thälern und auf den Bergen oder zieht, verzweiflungsvoll entschlossen, auf den schweigenden Meerschiffen hinüber nach dem gepriesenen andern Welttheile.

Die hochherrlichen Städte, in deren Marmortempeln die Götter wohnten, um deren Gunst in jenen Tagen ein Alexander, ein Hannibal sich bewarben, die von einem Pindar und Demosthenes gepriesen wurden – sie sind dahin. Dahin auch wie ein Traum ist jene Zeit, und was sie schuf, wurde zerstäubt und verweht vom Sturmessausen der Jahrhunderte, kaum daß hier eine armselige Ruine, ein paar algenumsponnene Säulen im Meeresgrunde, etwas antikes Gemäuer im Sumpf, oder dort eine dürftige, halbchristianisirte Sage als Tradition noch Kunde giebt aus dem glorreichen Morgen der Magna Graecia.

Les dieux s’en vont… Die Götter haben sich davon gemacht; als armselige Bettler, ihre Lumpenbündel voll Poesie auf den Rücken, wanderten sie in’s Exil, und in ihren verödeten Zaubergärten pflanzte der kalte Verstand seinen Kohl. In unsern Kinderstuben haben die kleinen Hände längst schon an der uralten Heiligkeit des Knechtes Ruprecht gerüttelt, und die modernen Traumdeuter der Antike erklären, daß Polyphem, der ungastliche Einäugige, den kreisrunden, steinschleudernden Krater bedeute, Vulcan die wilden, durch Erdbeben sich bezeugenden Kräfte, die schöne Zauberin Kirke, welche die Gefährten des Odysseus in Säue verwandelt, den männerhinstreckenden Wein des circejischen Vorgebirgs u. dergl. m.

Und so darf es nicht Wunder nehmen, wenn die dem Knaben einst so furchtbare, gigantische Scylla, heut ihrer Schrecken entkleidet, zu einer mythischen Allegorie zusammenschrumpft, und auch von dem abergläubigsten Calabrienfischer nicht mehr respectirt wird.

„Scylla, Du bist nicht mehr so gewaltsam, wie Du zuvor warst,“ singt ihr Platen, da er eine Nacht in der Locanda zunächst ihres Felsens zugebracht, keck in’s Gesicht und dichtet der Aermsten an, zwar noch immer Reisende zu plagen, aber nur vermittelst eines Heeres jener auch „Herren und Frauen am Hofe“ plagenden schwärzlichen Springer.

Das war zu Homer’s Zeiten anders, und nach seiner Erzählung und alten Kupferstichen malte sich unsere kindliche Phantasie Person und Local der Scylla mit lebhaften Farben aus; drohend trat uns die angstvolle Flucht von der Scylla in die Charybdis entgegen, die uns als das ärgste „Aus dem Regen in die Traufe kommen“ erscheinen wollte.

Und der arme meerdurchirrende Odysseus gerieth in diese Traufe, die Homer mit der lebhaften Phantasie meeranwohnender Männer als einen mächtigen Felsen schildert, der sein spitzes Haupt bis zum Himmel reckt; dunkle Wolken umwallen ihn, und nie sieht man den Gipfel; auch erstiegen ward er nicht; denn seine Wände sind, an das deutsche Märchen vom Glasberg erinnernd, glatt wie Krystall. Das aber braucht den Wanderer nicht zu beirren; die Gefahr liegt ganz wo anders: der Felsen birgt die entsetzliche Höhle mitten im Gestein, dicht über den Meereswogen; denn hier haust sie, die Scylla, das bellende, durch zwölf breittatzige Füße und sechs Hände und ebenso viel Köpfe zum Schreckbild gestaltete Scheusal. Wie ein ungeheurer Krake steckt sie halbleibs in das Felsenloch eingezwängt, während die Freßwerkzeuge heraushängen und wühlend und tastend in dem schäumenden Wasser herumschnappen. Seehunde, Delphine und anderes Meergethier fallen der Bestie zur Beute, als Fettleckerbissen jedoch entrafft sie den vorübereilenden „schwarzgeschnäbelten Meerschiffen“ dann und wann einen Mann, auch sechs auf einmal, wie sie es dem Fahrzeug des Odysseus gethan. Aeneas wäre es gerade so gegangen, hätte ihn Helenus der Seher nicht gewarnt, welcher rieth:

„Besser ist’s, Du umfährst das trinakrische Haupt des Pachynus,
Als Du schauest im großen Geklüft die gräßliche Scylla
Einmal nur, und die Felsen, durchhallt von bläulichen Hunden.“

Und als er nun fern aus der Fluth Siciliens Aetna tauchen sieht, vernimmt er ein gewaltiges Tosen der Wogen am Felsen und gebrochenes Getön am Gestade, woran Vater Anchises die gefährliche Klippe erkennt, von der ihnen Helenus gesprochen; sie umgingen diese, indem der Steuermann Palinurus den krachenden Schiffsschnabel links in die Meerfluth drehte. Sonst gab es gegen diese Gefahr nur ein Mittel; es ist dasselbe, welches die Zauberin Kirke dem Odysseus anrieth: Kratäis, die Mutter des Scheusals, anzurufen und es durch diese bändigen zu lassen.

[293]

Scilla. Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von F. Stoltenberg.

[294] Dies bringt uns auf die Abstammung der Scylla, und über diese erzählten die griechischen Kinderfrauen und Schiffer den lauschenden Kleinen gar mancherlei Märchen. Da hieß es: Es war einmal eine schöne Königin; die hieß Scylla, und diese Scylla liebte der Vater der Götter über alle Maßen. Hera, in Eifersucht entbrannt, zürnte der Beglückten und sann auf Rache. Sie beraubte sie ihrer Kinder. Die unglückliche Mutter suchte diese voller Verzweiflung, und wie sie nicht zu finden waren, ging sie grollend in die Einsamkeit, bezog eine dunkle Höhle, und aus Haß und Neid gegen glückliche Mütter fing sie an Kinder zu rauben und zu fressen.

Andere erzählten, Scylla sei die Tochter des Königs von Megara gewesen, die ihren Vater aus Liebe zu dem schönen kretischen Seekönige Minos, durch Ausreißen eines purpurfarbenen Haares, das der Alte auf seinem Scheitel trug, verrathen hatte, von dem Jüngling aber, der von der Liebe einer Verrätherin nichts wissen wollte, verleugnet, zur Strafe an sein Ruder gebunden und durch die Meere geschleift wurde, bis sie sich in jenes Ungeheuer verwandelte. Ihre Eltern, erzählen die Einen, sollten Phorkys und die schon genannte Hekate Kratäis gewesen sein, während sie Andere als Tochter des Triton, des Poseidon erscheinen lassen; der Vater also auch hier auf jeden Fall „ein dunkler Ehrenmann“.

Am schönsten gestaltet sich die Sage bei Ovid; da war Scylla, „so Dichtermund nicht lügt“, dereinst eine schöne, vielumworbene Jungfrau, der aber Liebe das Herz nicht rühren wollte. Kalt und gleichgültig ging sie zu den Nymphen des Meeres, denen sie als Gesellschafterin sehr willkommen war. Gewandlos – es war im Hochsommer – wandelt sie heimwärts, im trockenen Sande des Ufers hin und erfrischt hier und da die brennenden Glieder in lauschigen Buchten. Hier erblickt sie der schillernde Glaukos, einst ein schöner Fischerknabe, der, nachdem er von dem Wunderkraute gegessen, in der Fluth zum weissagenden Gotte geworden war; begierig, seinen zahlreichen Liebesabenteuern, ein echter Don Juan des Mittelmeeres, ein neues zu gesellen, stellt er der auf eine Klippe fliehenden Scylla nach. Aus den Wellen heraus stammelt er ihr seine Liebe, von der die Spröde durchaus nichts wissen will. Zornig schwimmt er – nicht kühlt die Fluth seine Gluthen – zum Zauberpalast der Kirke, sie um ein Liebeselixir für Scylla bittend. Kirke jedoch möchte Glaukos für sich selbst gewinnen, und als dieser davon nichts wissen will, beschließt sie, die Nebenbuhlerin zu verderben. Sie mischt abscheuliche Säfte und macht sich auf nach dem „winzigen Golfe, gekrümmt in geschweifetem Bogen“, in dessen Nähe Scylla ihre Mittagsruhe zu halten und in dessen Fluth sie ihr Bad zu nehmen pflegte. Sie vergiftet das Wasser, und als Scylla in die Wellen steigt, geht die plötzliche Verwandlung vor sich: als menschenfeindliches Scheusal bleibt sie am Orte und rächt sich ihrerseits später an Kirke durch Lockung der Genossen des Odysseus, welchen Kirke liebt.

Ein Landsmann der Scylla, der ihr einst gegenüberwohnende sicilianische Dialektdichter des vorigen Jahrhunderts, der rüstige Giovanni Meli, scheint die Scylla gesehen zu haben, ehe die grausame Metamorphose vor sich gegangen (oder hatte sie später eine Entzauberung erfahren?); er beschreibt sie in seinem humoristischen Epos „La fata galanti“ folgendermaßen:

„Die Zöpfe schienen wie mit Gold durchzogen;
Ein Rundgesichtchen trug der Hals, der feine,
Die Stirne hoch, die Nase sanft gebogen,
Das Mündchen wie ein Ring mit Purpurscheine;
Das Antlitz frei, von Anmuth überflogen,
Die Augen leuchtend wie zwei Edelsteine:
Die Scylla war’s, so schön beim ersten Schauen,
Und schöner immer – mögt mir wohl vertrauen.

So sah ich morgens sie auf einem Steine
Am Meeresstrand, das Fischnetz in den Händen,
Den Korb zur Seite ihr mit Brod und Weine,
’nen andern für die Fische. Abzuwenden
Von ihrem zarten Antlitz, das im Scheine
Der Sonn’ erglänzte, die mit heißen Bränden
Sie traf, die Strahlen, trug sie, unverletzet,
Von Stroh ein Hütchen, zierlich schräg gesetzet.“

Dergestalt vermöchte sie wohl einen modernen Glaukos zu verführen, als Scheusal jedoch schreckt sie, wie gesagt, Niemand mehr, und diese Ohnmacht hatte denn auch schon das spätere Alterthum, das die Dinge römisch-objectiv anschaute, erkannt. Seneca gesteht, daß der Scyllafels dem Reisenden durchaus nicht gefährlich sei, und den Bewohnern Scillas ist sogar alle und jede Erinnerung an die alten grausigen Fabeln verloren gegangen. Wir sehen heute ihre Barken schaarenweis um den großen und kleinen Scyllafelsen hergelagert; der kleine ist wie eine Art Wellenbrecher vor dem großen zu denken. Wir fahren auf schwacher Barke zu ihm hinan; leise athmend hebt sich das durchsichtige Meer an dem Gesteine empor, und nur aus der Grotte tönt es hohl und dumpf wie Schluchzen und Seufzen. Daß sich diese Laute bei Sturm und tosender Brandung in Brausen und Heulen verwandeln, ist wohl einzusehen; daß diese Brandung aber hier nicht schlimmer wirkt, als an jeder andern ausgebrochenen Küste, wie an jedem andern Cap, darf man getrost behaupten. Wer bei Sciroccosturm die ebenfalls felsige und unnahbare Küste Amalfis entlang fuhr, wird sich des abscheulichen Gebrülls erinnern, das in der Grotte dell’ Orso, der nach jenen Lauten benannten Bärengrotte, verübt wird.

Die Scylla mit ihrem Felsen würde also längst der Vergessenheit anheimgefallen sein, wenn nicht die Stadt dahinter für Erhaltung des Namens gesorgt hätte. Die Lage dieser ist in zwei Worten geschildert: Im Rücken derselben, wie an der gesammten Küste Calabriens hin läuft das Hauptgebirge, hier eine nur schmale Ebene zwischen sich und dem Meere freilassend. Diese Ebene wird von einem vom Hauptgebirge stracks gegen das Meer, wo er in einem Cap endigt, laufenden Hügelrücken in zwei Hälften getheilt, in zwei sogenannte Marinen, welche, vor Zeiten vom Meer aufgebaut, dieses nur wenig überragen; auf diesen Ebenen sowie an den Hängen des Hügelrückens und der dahinterliegenden, von reicher Vegetation bedeckten Berge hat sich das Städtchen „Scilla“ angesiedelt.

Es existirte schon im Alterthum, und auf dem großen Felsen stand damals ein Minerva-Tempel, nach welchem dieses Cap, wie jenes bei Sorrent, den Namen Cap der Minerva erhielt. Nach Strabo, der bekanntlich kurz vor Christi Geburt schrieb, legte dort schon Anaxilaus, der Tyrann von Rhegion, dem nahen Reggio, etwa um 480 v. Chr. einen Wachtthurm gegen die Piraten an, und das jetzt verfallene Castell aus den Zeiten der Normannen hat später gleichem Zwecke gedient.

Die Stadt von heute ist noch nicht hundert Jahre alt; Alterthümer und etwaige Merkwürdigkeiten enthält sie nicht. Sie stellt sich, wie so viele ihrer süditalienischen Schwesterstädte, welche von Fischern, Winzern und Ackerbauern gegründet wurden, aus der Ferne sehr nett, im Innern aber unwohnlich und ziemlich unsauber dar, so harmlos ihre Bewohner uns auch entgegenkommen. Es mögen deren ungefähr achttausend sein, und mit redlichem Fleiße suchen sie der Erde an Wein und Oel und dem Meere an Fischen das abzugewinnen, was sie zur Fristung eines fast bedürfnißlosen Daseins brauchen. Der Fischfang und besonders der Fang des Thunfisches ist aber gleichzeitig ihre Lieblingsbeschäftigung, und man kann dreist behaupten, daß jeder Scillaner ein geborener Fischer ist. Gilt es, den Thunfisch mit festliegenden Netzen, den sogenannten Tonnaren zu berücken, so erheischt der Fang des Schwertfisches dieselbe Kraft und Gewandtheit des Mannes, wie sie in den Alpen bei der Jagd auf Gemsen erforderlich ist. Das Merkwürdigste dabei aber ist, daß er noch heute fast genau so ausgeführt wird, wie ihn schon Strabo beschreibt.

Vom Maste einer größeren Kundschafterbarke aus werden die zwei kleineren nachfolgenden Barken benachrichtigt, sobald ein Fisch in Sicht war. Eine derselben macht sich in der bezeichneten Richtung auf und spießt die Beute mit einem spitzen, an langem Stabe befestigten Eisen an, das, wenn es festsitzt, mit der Barke durch ein langes sich abrollendes Seil in Verbindung bleibt; wird der Fisch schwach, so rudert die zweite, die Todesbarke an ihn heran und holt ihn ein. Oft sitzen die Kundschafter auch auf dem großen Felsen und geben ihre Signale von da aus – selten entgeht so ein unglücklicher Fisch-Odysseus ihren Späherblicken.

Die Scillaner kennen jede Fischart und deren Lebensweise; alle Listen haben sie studirt, um die Stummen da drunten zu berücken; in der übrigen Freiheit pflegen sie ihr Stückchen Wein- und Oelland, pflücken sie die hier so üppig gedeihenden „indischen Feigen“, während die Frauen der Seidenzucht obliegen.

Es ist ein Leben des Friedens, was hier längs der Südküste Calabriens bis Reggio hinunter geführt wird; nur einmal wurde dieses – vor fast hundert Jahren – auf so entsetzliche Weise unterbrochen: Ein schreckliches Erdbeben, wie die Geschichte [295] ein ähnliches kaum verzeichnet, hatte am 5. Februar 1783 die Westküste Calabriens erschüttert; Städte und Dörfer lagen in Trümmern und unter diesen gegen 30,000 Menschen begraben. Scilla theilte das Loos der Nachbarorte, was aber von seinen Einwohnern noch am Leben geblieben, flüchtete auf die niedere Marine am Meer, diesem jetzt mehr vertrauend als dem Lande. Unter freiem Himmel, zwischen den Barken und sonstigem Fischergeräth drängte sich Alt und Jung zusammen und harrte in Bangen der Nacht entgegen. Kurz nach Mitternacht erbebte die Erde auf’s Neue, und unter fürchterlichem Gepolter löste sich ein Felsen vom Berge Iaci und stürzte in’s Meer. Gleich darauf erbebte auch dieses, hob sich unter wildem Rauschen, hob sich wie eine Mauer über zwölf Meter hoch gegen das Land hin und spülte das unglückliche Volk vom Lande hinweg, in die grause Tiefe hinein, und wieder kam es zurück, zu neuem Streiche ausholend, zu rauben, was ihm vorher entgangen war: Hütten, Barken und Menschen. 1431 Scillaner wurden eine Beute der empörten Fluth – unter ihnen befand sich der alte Fürst von Scilla.

Beim ersten Erdstoße hatte er sich auf seinem Castell auf der Höhe des Scyllafelsens befunden; vom Schrecken überwältigt soll er sich betend und weinend vor dem Kreuze niedergeworfen haben, und erst spät hatte man ihn überreden können, zu seinen Unterthanen an’s Ufer des Meeres hinabzusteigen. In eine Fischerbarke geduckt, von seinen Dienern umgeben, blieb er dort, bis die Wellen auch ihn hinabrissen. Das Meer, von den Resten Erschlagener besäet, glich einem Schlachtfelde, und zu ganzen Haufen wurden Menschen- und Thierleichen noch lange von den Wellen an das Land getrieben.

Das ist nun längst vergessen, und seliges Vergessen auch lächelt dieser Himmel, diese Erde, und wie die Küste der Seligen glänzt Siciliens Ufer herüber; denn Scilla liegt an der Straße, wo die kürzeste Verbindung des ionischen mit dem tyrrhenischen Meer stattfindet, und die Küsten dieser Meere scheinen noch heute, wenn man sie, mit ansehnlichen Ortschaften dicht bebaut und in reicher landschaftlicher Schöne strahlend, vor sich erblickt, nicht aller Segnungen der alten Götter bar.

Wer von Castor redet, muß auch von Pollux erzählen: die Scylla verlangt ein Wort über die Charybdis, die das Loos der Entgötterung mit ihrer Schwester theilt. Zwar schreibt unser Schinkel noch 1803 über die Charybdis:

„Die Nacht brach ein; gewitterhaft umwölkte sich der Himmel, und Sturm erhob sich in der Enge. Viermal trieb das Schiff zurück in die sprudelnde Fluth der Charybdis; der Hauptmann hatte seine ganze Gegenwart nöthig, der Brandung zu entgehen.“

Die Sache ist aber nicht so schlimm. Die „Unversöhnliche“, die „Verwickelte“, die „nie ruhende Charybdis“, von deren „Geheul“ noch Schiller im „Taucher“ singt, ist nicht mehr vorhanden, und die heutige Carilla oder Rema, Calofaro oder Garofalo, wie sie die Anwohner nennen, ist ein unschuldiges Wesen, dessen Name „Garofalo“, die Nelke – wegen ihrer leicht gekräuselten Ränder – schon ihre Ungefährlichkeit andeutet; selbst leichte Fischerböte fürchten sie nicht mehr.

Freilich, wenn ein Nord- oder Südsturm sich auf die Meerenge stürzt, kann auch sie nicht ruhig bleiben, und dann mag das Bild zutreffen, das uns Virgil von ihr entwirft:

„Diese verschluckt dreimal in des Abgrunds untersten Strudel
Jähabschießende Wasser der Fluth und speiet sie wieder
Wechselweis in die Luft und peitscht mit den Wogen die Sterne.“




Was man vom Kukuk sagt.

Eine Frühlingsgabe.

Neben der Schwalbe, ja noch mehr als diese, welche nicht immer die untrügliche Vorbotin des wiederkehrenden Sommers ist, gilt seit alten Zeiten der Kukuk dem deutschen Volke als Verkünder des nahenden Lenzes. Zwar ist er keineswegs der erste unter den Vögeln, welche uns das Kommen des Frühlings anzeigen, aber der Kukuk thut uns sein Dasein vernehmlicher und verständlicher kund, als irgend ein anderer Vogel. Er ist es vor Allen, der die Natur gleichsam aus ihrem Winterschlafe weckt mit seinem allerorts erschallenden Rufe, den er oft mehr als hundert Mal und so laut wiederholt, daß er auch in weiterer Entfernung zu hören ist. Daher nennt Uhland den „frühschreierischen Gucku“ mit Recht den berufsmäßigen Stimmführer und Herold des nahenden Sommers. Als solcher erscheint er auch in Schiller’s „Tell“, im Gesange des Hirten:

„Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder,
Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder.“

Bezeichnet doch in alten Rechtsformeln die Bestimmung: „bis zu Sanct Walpurge, daß der Gouch guchzet“ geradezu den Frühlingsanfang, und noch heute sagen wir: „er wird den Kukuk nicht wieder rufen hören“ von einem Kranken, der das Frühjahr nicht erleben wird.

Wie wir jedes Jahr neu aufathmen, wenn die Natur uns des einziehenden Frühlings gewiß macht durch das erste Leben, das sie entfaltet, so begrüßten auch unsere Vorfahren den Lenz und seine Boten freudigen, jauchzenden Herzens, und zwar um so mehr, als sie so in täglichem, trautestem Verkehr standen mit Allem, was im Freien sichtbar und regsam ist. So vernahm man denn mit lautem, überschwenglichem Jubel überall den ersten Ruf des Kukuks nach der langen bösen Winterzeit. „Der Kukuk mit sein Schreien macht fröhlich Jedermann“, singt das Volkslied; dem nun ist wirklich und thatsächlich die Herrschaft des Winters zu Ende; der Kampf, welchen nach der Vorstellung unserer Vorfahren der Frühling mit ihm zu bestehen hatte, endet mit dem Tage, an welchem der erste Kukukschrei den unterliegenden Winter „auslacht“.

Wie bei den Griechen derjenige „Botenlohn“ empfing, der zuerst die Einkehr des Storches auszusagen vermochte, so bekam im Westfälischen ein Ei, wer den ersten Kukuksruf anmelden konnte. An dem Tage, an welchem dieser gehört wurde, kommen nach einem lateinischen Gedichte des neunten Jahrhunderts die Hirten zusammen, um dem Kukuk zu lobsingen. Es entspinnt sich ein Streit zwischen Frühling und Winter, welche redend eingeführt werden, über das Lied des Kukuks, als dessen bitteren Feind sich der griesgrämige Winter erweist. Doch die Hirten bringen diesen zum Schweigen, indem sie dem Kukuk fröhliches, ja feierliches Heil zurufen als einem Allen willkommenen Gastfreunde.

Aehnliches findet sich in England. Durch die nahe Verwandtschaft des englisches Volkes mit dem deutschen erklärt es sich, wenn Shakespeare, sicherlich auf Volksgebräuche sich stützend, in seinem Lustspiel „Verlorene Liebesmüh“ Winter und Frühling einen Wettgesang anstellen läßt, wobei der Kukuk als Attribut des letzteren mit seinem lustigen Rufe den Vogel des ersteren, die Eule, verstummen macht. Ein Rest des feierlichen Empfanges, welchen unser Volk ehemals dem Kukuk zu Theil werden ließ, hat sich noch bis nach 1770 im Herzogthum Berg erhalten, wo der Küster den Ruf des Vogels auf der Orgel nachahmte. Und daß man den Ruf des Kukuks auch in den Schlaguhren und im Kinderspielzeug anbrachte, beweist ebenfalls, wie schön und erfreulich dieser Ruf dem Ohre klang.

Was aber diesem Vogel ein so bedeutendes Ansehen verschaffte, war nicht sowohl die Schönheit seines Rufes, als vielmehr ein uraltes, jetzt freilich verdunkeltes Verhältniß, in dem der Kukuk zu dem Gotte des Frühlings und des Wetters steht. Der feierliche Empfang galt weniger dem Vogel, als der Gottheit, die man sich hinter ihm stehend oder in ihm personificirt dachte.

Der Kukuk ist in der indischen Mythologie die thierische Verwandlung des Donnergottes Indra und in der griechischen die des Zeus, welcher die Hesiod unter seiner Gestalt in Sturm- und Regenschauern der Hera naht. Bei den Indern wie bei den Griechen verkündete der Kukuk, seinem Verhältnisse zu der Gottheit des Gewitters entsprechend, die Zeit des fallenden Saatregens, und als Regenvogel kennt ihn auch mannigfacher Glaube unseres Volkes. Allgemein erwartet man Regen oder Sturm, wenn er sich einer Ortschaft nähert, und nach preußischem Glauben naht ein nasser Sommer, wenn im Frühjahr viele Kukuke schreien. Als es einmal in einem Orte Oberfrankens unaufhörlich regnete, schrieb man dies dem Kukuk zu, verjagte ihn – und nun wurde schönes Wetter.

[296] Wenn ferner der germanische Frühlingsgott Donar in Folge seiner Herrschaft über das Wetter zu einer Lebens-, das heißt Leben spendenden Gottheit wurde, welche über Wachsthum und Fortpflanzung der Fauna und Flora waltete, so übertrug sich auch diese Seite des Wirkens der Gottheit auf den ihr beigelegten Vogel, den Kukuk. Von ihm hängt noch heute das Gedeihen oder Mißrathen des Getreides ab, wie aus mehreren Bauernregeln hervorgeht. In Schwaben zählt man seine Rufe, wenn er zum ersten Mal schreit; so viel Mal er ruft, so viel Gulden (ob er sich auf die neue Reichswährung versteht, darüber fehlen die Nachrichten) kostet der Scheffel Korn im Jahre. Theuerung tritt ein, und der Wein wird herbe, wenn der Vogel nach Johannis ruft. Mit der Saat kommt und geht der Vogel; er verstummt, sobald das Korn in die Aehren schießt. Dann bleiben ihm die Gerstengrannen im Halse stecken zum Verderben seiner Stimme, oder er ißt sich drei Mal an Kirschen satt, um dann sein Singen einzustellen.

Auch die häufige Benennung von Pflanzen nach dem Kukuk zeugt für seine schöpferische, göttliche Natur. Wir haben im Deutschen eine Kukuks- oder Gauchblume, ein Gauch- oder Kukuksbrod, einen blauen und einen großen Kukuk, einen Kukukskohl, einen Gauchlauch, Gauchhafer, Gauchwermuth, eine Kukuksorchis und Ackergauchheil. Aehnliche Namen finden sich auch in anderen Sprachen.

Ebenso greift der Kukuk in die Thierwelt ein. In Schweden gilt er als Butterausrufer, steht also in Beziehung zur Kuh, während er es in Westfalen – ländlich, sittlich – mit dem Schweine zu thun hat: die Hausfrau schneidet den frischen Speck nicht eher an, als bis der Kukuk ruft. In Nordheim richten die Kinder ihr Verlangen nach Speck direct an die Adresse des Kukuks in dem Kinderreim: „Kukuk, schnid Speck up.“

Dem Menschen gegenüber offenbart sich seine Macht in einer reichen Fülle mythischer Züge. Wie bei des Kukuks Kommen im Frühling frische Kraft durch alle Adern der Natur schießt, so erweckt er im Menschen fröhlichen Jugendmuth und Gesundheit.

Die frühere Heilkunde gab die Asche des verbrannten Kukuks als wirksames Mittel gegen die Sucht ein. Wachsthum, Schwungkraft und Frische des Leibes und Geistes gehen von ihm oder dem ihm innewohnenden Gott aus. Doch nicht blos dies: sogar das Leben des Menschen steht in seiner Macht, wenigstens besitzt er die Kenntniß seiner Dauer, eine Wissenschaft, die schließlich doch der Ausfluß der ihm zukommenden schöpferischen Kraft ist. Allgemein verbreitet ist die Sitte, den Kukuk, wenn man ihn im Frühling zum ersten Male hört, zu fragen: „Wie viel Jahre soll ich noch leben?“ Die Zahl seiner Rufe nach dieser Frage gilt als die der noch übrigen Lebensjahre. Auf dieser Annahme seiner Allwissenheit beruht denn auch die noch heute vielgebrauchte Redensart: „Das weiß der Kukuk.“

Auf des „heiligen Kukuks“ Orakel baute man namentlich in Heirathsfragen. In vielen Gegenden fragen ihn wohl noch heute die Dorfmädchen, wie lange sie noch „ledig“ sein werden, wie er denn noch bei Goethe einem Liebespaar nahende Hochzeit und Zahl der Kinder verkündet. Aus dem Glauben an seinen Einfluß auf Liebes- und Eheverhältnisse erklärt es sich denn auch, wenn man im Böhmerwalde beim Hochzeitszug auf den Ruf des Kukuks achtet, weil er bedeutsam sei für das Wohlergehen der Hochzeiter. Als Lebensspender ist der Kukuk auch im Stande, dem Körper Schönheit zu verleihen, wie er auch die Kraft hat, ihn zu verunzieren. Die Macht, die man dem Kukuk beilegt, läßt es begreiflich erscheinen, daß das Volkslied zugleich mit dem Dahinscheiden des Frühlings auch das Verstummen seines Vorboten beklagt:

„Kukuk hat sich zu Tod gefallen
Von einer hohlen Weiden;
Wer soll uns diesen Sommer lang
Die Zeit und Weil vertreiben?“

Ein Glück, daß wenigstens ein Ersatz vorhanden ist:

„Ei, das soll thun Frau Nachtigall,
Die sitzet auf grünem Zweige,
Sie singt, sie springt, ist allzeit froh,
Wenn andere Vögel schweigen.“

Welch ein gottbegnadeter Vogel muß der sein, dessen Gesang nur durch den der Nachtigall ersetzt wird, der so tief im Gemüthe des Volkes wurzelt, daß nur die größte Sängerin über seinen Verlust trösten kann! Aber Alles hat zwei Seiten; auch der Kukuk macht diese Fundamentalwahrheit nicht zu schanden.

Das Christenthum war es besonders, welches sich bestrebte, unsern Vogel als einen Vertreter des Bösen hinzustellen. Wie aber so manche einmal im Gemüthe des Volkes eingewurzelte Göttergestalt nicht völlig von der neuen Religion discreditirt werden konnte, so gelang es den Missionären auch nicht, den Gewittergott Donar und seinen Vogel, den Kukuk, gänzlich aus den Vorstellungen des Volkes zu verdrängen. Vielmehr leben beide noch heute fort.

Durch die christlichen Bekehrer wurde Donar zum Teufel par excellence gestempelt, und Alles, was in seinen Kreis gehörte, erhielt nun eine durchaus teuflische Natur. Die verderbliche Macht des Kukuks findet ihren vollen Ausdruck in dem Namen des brasilianischen Kukuks, der Ani, welche nach Buffon[WS 1] geradezu Teufelsvogel oder Savannenteufel genannt wird.

Wie in dieser Bezeichnung seine göttliche Natur in ihr Gegentheil verkehrt ist, wie bei den Mexicanern der Quapachtototl als ein Vogel von schlimmer Vorbedeutung gilt, so finden wir den Kukuk auch im germanischen Aberglauben als Verkörperung einer dämonischen Macht. Aus dem Vogel, welcher nach dem alten Mythus Leben und Segen spendete, ward nun, wenn nicht der Tod selbst, so doch sein Verkünder. Wer frühmorgens nüchtern ihn zuerst sah, hatte den Tod zu fürchten, dem die Letten nur dadurch ausweichen zu können meinen, daß sie Abends ein Stück Brod, „Kukuksmundvoll“ genannt, mit in’s Bett nehmen, um es beim Erwachen sogleich zu essen und so dem Bösen zuvorzukommen. Zum mindesten wird der, welcher ihn hört, ohne gefrühstückt zu haben, auf ein Jahr arbeitsuntüchtig oder taub.

Ihre Höhe erreicht die Furcht vor dem Kukuk mit dem sechszehnten Jahrhundert, wo er geradezu in die Functionen des Teufels eintritt; denn von jener Zeit an scheute man sich mehr und mehr, den Teufel bei seinem Namen zu nennen, und so machte sich, da er nun einmal nicht mehr zu entbehren war, das Bedürfniß geltend, ihn mehr auf verhüllende Weise zu bezeichnen.

So haben wir noch heute eine erkleckliche Anzahl von Redensarten, in welchen der Kukuk mit allen Machtbefugnissen des zum Teufel umgetauften Donar ausgerüstet auftritt. Der Kukuk soll ebenso gut „dreinschlagen“ wie „das heilige Donnerwetter“ oder der Höllenfürst selbst. Bei Christian Weise kommen einmal „Donarskinder“ in dem Sinne von „Teufelskindern“ vor, und wahrscheinlich hat man es mit einem derartigen Sprößling zu thun, wenn man von Einem sagt, „ihn habe der Kukuk geschaffen“. Solchen Leuten gegenüber erscheint es ganz gerechtfertigt, wenn man den frommen Wunsch nicht unterdrücken kann: „der Kukuk möge sie holen!“ oder wenn man sie kurz und bündig „zum Kukuk jagt“. Bei Brentano liest man von einer Pein, „um gleich des Kukuks zu sein“, und Benedix läßt einmal eine seiner Personen „in Kukuks Namen“ Ruhe gebieten. Wen „der Kukuk plagt“, etwas zu thun, der wird gewiß Unannehmlichkeiten davon haben und „in des Kukuks Küche kommen“; unwillkommen sind die, welche „der Kukuk herführt“. Unwahrscheinliches, Lügenhaftes weisen wir zurück mit den Worten: „Das glaube der Kukuk“, und „er ist ganz des Kukuks“ sagen wir mit Recht von Einem, der „wie vom Bösen besessen ist“. Wie schlimm es aber mit Einem steht, wenn „Alles zum Kukuk ist“, werden hoffentlich möglichst Wenige erfahren.

An den Gewittergott Donar erinnert es auch, wenn man zur Bezeichnung eines hohen Grades, z. B. von Schnelligkeit, sagt: „Er läuft wie der Kukuk“, „das ging wie der Kukuk“ (das heißt wie’s der Teufel oder Jemand mit seiner Hülfe kann), wo man ja auch spricht: „das ging wie der Blitz“.

Wenn dieses „wie der Kukuk“ so viel bedeutet wie „im höchsten Grade“, so steht dem scharf gegenüber eine Redensart wie: „dann weißt Du nicht den Kukuk“, wo „den Kukuk“ nicht ein Deut mehr ist als das kahle, unhöfliche und poesielose „Nichts“. In Gellert’s Briefen heißt es einmal: „Nehmen Sie mir’s nicht übel:“ – wie der höfliche Sachse zum Ueberfluß noch vorbaut – „von der Medicin verstehen Sie nicht den Kukuk“. Hieran schließt sich die Stelle bei Hebel: „Diesen Rechtshandel habe ich gut für Euch geführt – den Kukuk hat er.“

Diese der sonst üblichen so scharf gegenüberstehende Ver- wendung des Kukuks zum Ausdrucke des Allergeringsten läßt sich vielleicht auf folgende Weise erklären:

[297] Die Redensarten und Wendungen, in denen der Kukuk einfach verhüllender Ausdruck des Teufels ist, haben eben durch solche bildliche Ausdrucksweise eine bedeutende Abschwächung erlitten; die Schärfe und Rohheit, welche in der Mehrzahl derselben liegen würde, wenn sie den Bösen ungeschminkt mit seinem wirklichen Namen einführten, wird so gut wie nicht gefühlt, wenn der Kukuk an seiner Stelle auftritt.

So scheut sich sogar der fromme Claudius nicht, einmal zu sagen: „Die hole der Kukuk!“ ein Wunsch, zu dessen Ausführung er gewiß nicht den Teufel selbst citirt haben würde. Die Flüche „zum Teufel“ etc. sind zu bloßen Ausrufen der Ungeduld abgeschwächt in: „zum, beim, potz Kukuk!“ (verdorben aus Gotts-Kukuk). Tieck sagt einmal: „Potz Kukuk ist so ein hergebrachter Ausruf, wenn wir nicht gerade fluchen wollen.“ Noch abschwächender ist hier eine abermalige Verhüllung in dem elsässischen „potz güxel“, „hol di der Guxel!“ etc.

Der Kukuk.
Originalzeichnung von F. Specht.

Dieser fast harmlose Gebrauch der sonst stärksten Redensarten und Flüche mag neben Anderem dazu beigetragen haben, den Teufel seines bösartigen Charakters zu berauben. Mehr und mehr sank er aus seiner Machtstellung herab bis zum „dummen Teufel“, der als solcher Gegenstand des Mitleids, aber auch des Spottes und Hohnes wurde. Und so konnte es wohl geschehen, daß der zu seiner Umschreibung dienende Kukuk seinen Namen gleichfalls hergeben mußte zur Bezeichnung des Allergeringsten. Uebertrug sich doch der Spott, welcher auf den erwähnten „dummen Teufel“ gehäuft wurde und wird, auch auf den Kukuk.

Er, der „fromme Kukuk“, als welcher er „sonst“ gefeiert wurde, für dessen Schreien man sich sogar den Aufwand des Wortes „Gesang“ gestattet hatte, wird nach seiner Glanzperiode fast nur erwähnt, um wegen seiner häßlichen, eintönigen Stimme gescholten und verspottet zu werden.

Im siebenzehnten Jahrhundert stellt ihm ein gewisser Lehmann abfällig genug das Zeugniß aus: „Wann der Guckkug tausent Jahr alt würde, so lernt er doch nichts anders denn Guckkug.“[WS 2]

Wollte man aber den Gegensatz, in welchem sein Geschrei zum musikalischen Wohlklang steht, noch besonders scharf ausdrücken, so wurde der Kukuk der Nachtigall gegenüber gestellt – beide galten als die äußersten sich entgegengesetzten Enden der Kunst des Gesanges. Und ehemals war nur die Nachtigall im Stande, den Ruf des Kukuks zu ersetzen! So ändern sich die Ansichten. Auch hier geschah also der Schritt vom Erhaltenen zum Lächerlichen.

Doch der Kukuk hatte es sich wohl selbst zuzuschreiben, wenn sich das Blatt in dieser Weise wendete. Das Bewußtsein von seiner Göttlichkeit, die seinem Gesange gezollte Anerkennung war ihm wahrscheinlich in den Kopf gestiegen – er glaubte, es könne ihm gar nicht fehlen, und hatte sich sogar zu einem Wettgesange mit der Nachtigall verstiegen. Aber was früher als so herrlich gepriesen[WS 3] worden war, erntete nunmehr nur Spott bei dem wankelmüthigen Volke. Das Lied des sechszehnten Jahrhunderts, welches diesen Wettgesang feiert, charakterisirt die musikalische Befähigung des Kukuks noch durch den niederträchtigen Zug, daß es ihn den Esel zum Kampfrichter bestellen läßt, weil dieser sich mit seinen großen Ohren am besten zu einem solchen eigne. So behandelt auch noch Gellert in einer kunstsatirischen Fabel[WS 4] diesen Vorgang; bei ihm heißt es grob genug: „Der Kukuk schrie sein Lied.“

So wurde denn der Name Kukuk sehr bald gleichbedeutend mit: Narr; er wurde die Bezeichnung eines Menschen, der ebenso wenig werth ist, wie der Gesang des Kukuks. Die Pflanzennamen Gauchhafer und Gauchwermuth erklären sich ebenfalls dadurch, daß der erstere durch Unfruchtbarkeit und der letztere durch Geruchlosigkeit sich auszeichnet, wie der Kukuk durch seine geringe musikalische Begabung. Und wenn beim Kegelschieben „von Neunen nicht Einer fiel“, dann ruft der Kegeljunge höhnisch: „Kukuk!“ Es ist dieselbe geringe Meinung vom Kukuk, welcher wir in dem oben berührten adverbialen Gebrauch von „den Kukuk“ begegneten; sie spricht sich auch in Folgendem aus. Eine von Händel componirte Operette enthält die Verse:

Anmerkungen (Wikisource)

  1. w:Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), französischer Naturforscher
  2. Christoph Lehman(n) (ADB:Lehmann, Christoph): Florilegium politicum
  3. Vorlage: gepiesen
  4. Die Nachtigall und der Kukuk, Zeile 14
[298]

„Auweh muß hier das Bier zu Lützeroda heißen,
Wie man zu Wittenberg auch ‚Kukuk‘ findet.“

Diese beiden Verse erlauben Rückschlüsse auf die Qualität dieses Bieres, welche Tieck bestätigt, wenn er sagt: „Kukuk, das ist ein sehr fatales Bier, welches in Wittenberg gebraut wird“, ein Bier also, dem den Namen gegeben zu haben für den Kukuk nicht schmeichelhaft sein kann.

Die nichtige, eitle Thorheit des Kukuks sah man hauptsächlich darin, daß er den Leuten immer nur seinen eigenen Namen in’s Ohr ruft, gleichsam immer auf seine werthe Person aufmerksam macht. So singt Hagedorn ihn an:

„Du nennest immer deinen Namen;
Dein Ausruf handelt nur von dir.
In dieser Sorgfalt scheinst du mir
Beredten Männern nachzuahmen;
Gleichst du dem großen Balbus nicht,
Der immer von sich selber spricht?“

So wurde der Kukuk ein Typus für den immer nur sich selbst rühmenden Egoismus, und sprüchwörtlich sagt man „der Kukuk ruft seinen eigenen Namen“ von einem selbstgefälligen eiteln Menschen. Diese Redensart wird jedoch auch noch in einem andern Sinne angewandt, nämlich von Einem, der an Anderen seine eigenen Fehler tadelt, seine eigene Schande verkündet, sich selbst verräth. Dies trägt dem Kukuk sogar Anerkennung ein von Seiten Luther’s, wenn er sagt: „Dank hab du, lieber Kukuk, daß du so frisch deinen eigenen Namen ausschreiest und rühmest, daß du wollest der Widerchrist sein.“ An einer andern Stelle heißt es: „Papisten schreien sich selbst aus, wie der Kukuk“ und: „der Guckguck muß ihm selbst sein Ohrgicht(-beichte) ausrufen.“

Nicht zu übersehen bei der Erklärung des Mißcredits, in welchen der ehemals so verehrte Vogel beim Volke gerieth, sind auch die Gepflogenheiten, durch welche er sich in seiner Lebensweise von den andern Vögeln unterscheidet. Dem mehr und mehr nach wissenschaftlicher Erkenntniß, namentlich auf naturwissenschaftlichem Gebiete, strebenden Sinne des Volkes stellen sich bei der Beobachtung des Kukuks in seinem Privatleben böse Dinge heraus. „Die Ehe eines Vogelpaares,“ sagt Brehm, „ist die treueste aller Ehen; denn sie scheidet blos der Tod. Nur der Kukuk ist von allen kleinen Vögeln verachtet und gehaßt, weil weder Männchen noch Weibchen besonders viel auf eheliche Treue halten.“ Diese vom Volke schon früh erkannte Thatsache ist in unseren Volksliedern vielfach Gegenstand spöttischer Behandlung.

Der Kukuk galt geradezu als Thier der Wollust, und aus seinem Leben nahm man Bilder für allerlei Störungen der Ehe unter den Menschen. „Ein Kukuk“ bezeichnet noch heute einen wortbrüchigen Bräutigam.

Nur irrt der Volksinstinct insofern, als nicht allein das Männchen so haarsträubende Dinge sich zu Schulden kommen läßt und sich, gelinde gesagt, der Vielweiberei hingiebt, sondern auch das Weibchen, und dies vielleicht in noch schlimmerer Weise, die eheliche Treue bricht und durch ihre Vielmännerei die Eifersucht des Männchens hervorruft. Zwar ist, wie Brehm sagt, die Eifersucht allen Vögeln eigen, der Kukuk aber zeigt sie in einem so ganz besonders hohen Grade, er geberdet sich so toll und wüthend bei Sichtbarwerden eines anderen Männchens in seinem Gebiete, daß man wohl mit Recht auch auf einen ganz besonderen Grund schließen darf, welchen das Kukuksweib dem Gauch durch ihr Verhalten bietet. Es erklärt sich dann auch die im Mittelalter sehr übliche Anwendung des Namens Kukuk auf einen betrogenen Ehemann ganz in dem Sinne von Hahnrei.

„Die Ungebundenheit und Unstetigkeit, um nicht zu sagen Liederlichkeit des Kukuksweibchens,“ sagt Büchner in seinem Buche über das Liebesleben der Thiere, „mag wohl mit zu der eigenthümlichen Gewohnheit Anlaß gegeben haben, daß der Kukuk seine Eier nicht selbst ausbrütet, sondern dieses Geschäft anderen Vögeln überläßt. Ein solches tolles Liebesleben verträgt sich bekanntlich schlecht mit Familiensorgen.“

Und dies war denn der größte Stein des Anstoßes, welchen das Volk an dem Kukuk nahm. Man war einstimmig in der Verdammung eines Vogels, der allein unter allen seinen deutschen Genossen, aller Liebe zu seiner Brut bar, seine Eier regelmäßig der Pflege und Wartung anderer Vögel anvertraut und seine Sprößlinge der öffentlichen Barmherzigkeit überläßt, während er selbst lustig umherstreift, sich auf seine Weise vergnügt, neue Brut in die Welt setzt und diese wieder der Wohlthätigkeit überläßt. Darin, daß die schlechte Mutter ihre Eier auf hinterlistige, diebische Weise in das Haus der schon lange vorher von ihr erkorenen Pflege-Eltern bringt, erblickte das Volk etwas Gespenstisches, einen weiteren Beweis für das dem Kukuk innewohnende teuflische Wesen. Es thut sich nämlich eine neue, bisher noch nicht berührte Verwandtschaft des Kukuks mit den Elfen auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese, die Zwerge und Kobolde, die ihrerseits Donar’s, des nachmaligen Teufels, Sippschaft bilden, nach dem Glauben des Volkes Menschenkinder zu stehlen und sie mit ihren „Wechselbälgen“ zu vertauschen trachten. Wenn Luther sagt: „Der Kukuk hat die Natur und Art, daß er der Grasmücke ihre Eier aussäuft und legt seine Eier dagegen in’s Nest,“ so ist diese vom ganzen Volke getheilte Meinung dadurch veranlaßt worden, daß beim Einschieben des Kukukseies oft ein rechtes schon im Neste vorhandenes Ei zerbrochen wird, diente aber bei der Nichtkenntniß dieses Umstandes nur dazu, den Kukuk den Kinder raubenden Kobolden um so ähnlicher erscheinen zu lassen.

Die Annahme, daß der Kukuk einen solchen Kobold in sich berge, konnte sich übrigens auch noch auf einen andern Zug stützen, welchen er mit diesen kleinen Wesen gemein hat. Wie die Kobolde nach dem Volksglauben einen tückischen Charakter haben und Menschen, welche ihnen mißfallen, auf jede Weise zu necken und zu äffen suchen, so hat auch der Kukuk seine Freude an neckischen Streichen. Es mag für Manchen etwas Unheimliches haben, wenn er im stillen Walde plötzlich die laute Stimme des Kukuks in seiner Nähe rufen hört, und schon aus diesem Grunde ist es erklärlich, wenn man dem Kukuk die Absicht beilegte, die Leute zu erschrecken und sie schadenfroh seine dämonische Macht fühlen zu lassen. Sein Ruf scheint zum Folgen aufzufordern, aber ohne dem Suchenden sichtbar zu werden, leitet er diesen, von Baum zu Baum hüpfend, irre, und foppt und höhnt den auf ihn Achtenden durch sein fortwährendes „Kukuk“. Daher rührt ja auch das bekannte Versteckspiel der Kinder, bei welchem diese auch durch den Ruf „Kukuk!“ zum Suchen auffordern. Dieses Spiel wurde im siebenzehnten Jahrhundert lateinisch cuculus genannt.

Daß die Nachkommenschaft des Kukuks, wenn sie kaum herangewachsen ist, schon den bösen Geist der Eltern verräth, daß „die junge Zucht dem edlen Vater gleich ist“, wie Voß sagt, ist erklärlich. Durch seine ihm ähnliche Brut setzt der Böse sein Treiben fort:

„Kann der Kukuk nicht mehr schrein,
Pfeift er’s seinen Jungen ein.“

Brehm sagt von dem jungen Kukuk: „Nicht genug, daß der niemals satte Fresser unglaublich viel Nahrung braucht und beide Eltern kaum im Stande sind, seinen Hunger zu befriedigen, macht er sich auch bald in pöbelhaft undankbarer Weise groß und breit im Neste. Er wächst schneller, als die rechten Kinder des Nestes und nimmt bald den besten Platz desselben ein. Damit ist er aber noch nicht zufrieden. Bei seinem ewigen Dehnen und Recken gelingt es ihm bald, eines seiner Pflegegeschwister nach dem andern auf seinen breiten Rücken zu schaufeln und über Bord zu werfen, das heißt über den Rand des Nestes hinaus zu schleudern. Endlich brüstet er sich allein in der fremden Wiege, in welche seine wahren Eltern ihn legten, und reißt nun den weiten gelben Rachen noch weiter auf, als früher, schreit gieriger nach Nahrung, als erst. – Seit alten Zeiten ist die Behauptung aufgekommen, daß der junge Kukuk seine eigenen Pflege-Eltern verzehre. Dies ist selbstverständlich unwahr, allein es ist sehr natürlich, daß die Beobachter, wenn sie den ungeheuer aufgerissenen Rachen gesehen haben, zu solcher Meinung gekommen sind.“

Wie anspruchsvoll der junge Kukuk noch dazu bei diesen seinen Eigenschaften und Leistungen ist, zeigt, daß er beim Wegzuge sogar zu faul ist, selbst zu fliegen, wie ein Schriftsteller des siebenzehnten Jahrhunderts sagt: „Weil er faul ist und nit wol fliegen kan, so setzt er sich auf die Schultern des weiers.“[WS 1]

Doch nimmt der Kukuk auch noch die Dienste eines anderen Vogels in Anspruch, wenigstens nach dem Sprachgebrauch, nämlich die des Wiedehopfs, welcher als „Kukuksknecht“ oder „Kukukslakai“, am häufigsten wohl als „des Kukuks Küster“ bezeichnet wird und dessen hier auch noch mit einigen Worten gedacht sein möge. Veranlassung zu dieser Bezeichnung mag wohl der Umstand gegeben haben, daß der Kukuk immer einfällt, sobald der Wiedehopf sein dem Kukuksrufe ähnliches „hupp hupp“ hören läßt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Aegidius Albertinus: Der Welt Tummel- vnd Schawplatz, Seite 510

[299] Er selbst singt in dem bekannten Liede:

„Ich bin des Kukuks Küster,
Ich bin der Vogel Wiedehopf
Mit buntem Zopf auf meinem Kopf.“

Auf den Wiedehopf kann man das Sprüchwort anwenden: „Mit gefangen, mit gehangen!“ Er, der Knecht, entspricht durchaus dem Wesen seines Herrn. Bei Claudius „tanzen der Kukuk und sein Küster“ auf dem Blocksberg, womit der Wiedehopf deutlich genug als zur Sippschaft des Kukuks gehörig gekennzeichnet ist. Und wenn es in Zschokke’s Novellen einmal heißt: „das heilige Reich ist zum Kukuk und zum Küster gegangen“, so gemahnt das in verblümter Weise an den „Teufel und seine Großmutter“.

Karl Müller-Fraureuth.


Henry Wadsworth Longfellow.[1]

Von Ein Ehrenkranz auf das Grab des Dichters.

Als die Kunde von dem am 24. März in New-York erfolgten Tode Longfellow’s nach Europa zu uns herüberklang, war es wohl jedem feiner empfindenden Deutschen, als hätte er Einen der Seinen verloren, als hätte sich das Grab geschlossen über einen theueren Bluts- und Geistesverwandten. Und in der That – war Longfellow nicht unser? War seine Bildung nicht eine überwiegend deutsche? Finden sich in seinen Dichtungen nicht vornehmlich deutsche Elemente? Bewahrte er nicht deutscher Art und Sitte eine innige Zuneigung bis an sein Lebensende? War er nicht der Herold der deutschen Literatur in Amerika? Ja, er war unser durch Geistesbildung und Gemüthsrichtung, durch jenen idealistischen Zug seines Denkens, der von jeher ein echtes Merkmal germanischen Blutes gewesen ist, und so ist es nichts anderes als ein Act schuldiger Pietät, wenn wir heute an seinem frischen[WS 1] Grabe des edlen Sängers von „Hiawatha“ ehrend gedenken, uns seines Lebens und Dichtens dankbar erinnern und bemüht sind, uns seinen literarischen Charakter zu vergegenwärtigen.

Longfellow’s Leben verlief einfach und bietet nur wenige außerordentliche Momente dar. Mit kurzen Worten ist es erzählt. Am 27. Februar 1807 zu Portland in Maine geboren, widmete er sich am Bowdoin-College in Brunswick juristischen Studien, wandte sich aber alsbald der Erforschung alter und moderner Sprachen und Literaturen zu, und zwar mit solchem Eifer und Erfolge, daß ihm schon im Jahre 1826 ein Lehrstuhl am Bowdoin-College angetragen wurde, ein Ruf, dem er indessen erst einige Jahre später Folge leistete. Vorerst besuchte er, einem lebhaften Wissensdrange folgend, Europa, speciell Deutschland, Holland, die Schweiz, Frankreich, Italien und Spanien, und erwarb sich auf dieser drei Jahre in Anspruch nehmenden Reise eine eingehende Kenntniß der Sprachen und Literaturen der alten Welt. Von dem Gedanken einer Weltliteratur mächtig erfaßt, kehrte er in seine transatlantische Heimath zurück. Im Jahre 1835 wurde ihm eine Professur für moderne Sprachen am Harvard-College in Cambridge, der ältesten und angesehensten anglo-amerikanischen Hochschule, übertragen. Wieder schnürte er, bevor er sein Amt antrat, das Reisebündel, um abermals Europa zu besuchen, und nun geschah es, daß das Schicksal hart und herbe an ihn herantrat: er hatte den Schmerz zu erdulden, seine innig geliebte Frau in Deutschland begraben zu müssen. In späteren Jahren besuchte er unsern Erdtheil noch zwei Mal, und während seines dritten Aufenthaltes in Deutschland traf er am Rhein mit Freiligrath zusammen, an den ihn bald das Band herzlicher Freundschaft kettete. Im Jahre 1854 legte er seine Stelle als Docent an der Universität zu Cambridge, welche er durch volle achtzehn Jahre ehrenvoll bekleidet hatte, nieder und lebte fortan ausschließlich seinem poetischen Berufe. Aber noch einmal sollte ihn, wie damals, als er, fern von der Heimath, sein theures Weib sterben sehen mußte – noch einmal sollte ihn ein schweres Leid treffen: in Folge eines unglücklichen Zufalls wurde seine zweite Gemahlin ein Opfer der Flammen. Um zerstörender Melancholie zu entrinnen, flüchtete er zum vierten Mal nach Europa, und diesmal brachte er längere Zeit in Wien und Italien zu, wo er Dante’s „Göttliche Komödie“ in’s Englische übertrug. Den Rest seiner Tage verlebte er unter andauerndem poetischem Schaffen in seiner amerikanischen Heimath.

Das ist Longfellow’s Leben.

Das innere Leben unseres Dichters zeigt eine edle und schöne Harmonie, die in seinen Dichtungen ihre reinsten Blüthen trieb. Er war keine excentrische Natur; in ihm hauste nicht der Dämon einer verzehrenden Leidenschaft wie in seinem genialeren Landsmanne Poe; Longfellow’s hochgestimmte Seele, die sich von der schroffen Realität der heutigen Welt scheu ab- und dem Schattenbilde der Vergangenheit begeisterungsvoll zuwandte, war nicht frei von einer gewissen Melancholie – darum verweilten seine Gedanken denn auch gern bei mittelalterlichen Ruinen, felsenumgürteten Ritterburgen, verwitterten Klöstern und geborstenen Säulen, bei den ehernen Denkmälern entschwundener Epochen, welche die Wehmuth heraufbeschwören und ihr Nahrung gewähren. Ein Idealist von reinstem Wasser, entnahm er seine Stoffe mit Vorliebe jenen Zeiten, die, weil vom Glanz der Vergangenheit verklärt, Alles in dem von der Sonne des Ideals vergoldeten Lichte erscheinen lassen. Aber seine innige Naturliebe, sein tiefes Verständniß für die landschaftliche Schönheit zog ihn von Europas historischen Stätten doch immer wieder zurück zur heimathlichen Atlantis, deren urwaldüppige, farbige Herrlichkeit seine lebhafte Phantasie stets auf’s Neue anregte.

Alle die hier angedeuteten Charaktermerkmale Longfellow’s finden sich wieder in seinen Poesien. Als Dichter war er Romantiker von echtem Schrot und Korn, und als solcher schaute er meistens nicht vorwärts; er schaute mit Vorliebe rückwärts in die Zeiten der Romantik; das wirkliche Leben stieß ihn ab, und wenn er es doch einmal darstellte, so idealisirte er es und lieh ihm die Farben der Schönheit, von denen seine eigene Seele so voll war. Mitten hinein in das lärmende Getriebe seiner vom Hader der Parteien wiederhallenden, von politischen und socialen Fragen völlig beherrschten Zeit griff er eigentlich nur einmal – in seinen „Poems on Slavery“.

Ueber Longfellow’s Dichtungen scheint bisweilen ein mystisch-christlicher Schimmer zu lagern, aber es wäre ein großer Irrthum, den Dichter, wie es thatsächlich geschehen ist, darum katholisch-frömmelnder Tendenzen zu zeihen. Solche lagen ihm, dem Protestanten, völlig fern, wenn aber das eine oder das andere seiner Gedichte eine Tendenz aufweist, so ist sie lediglich moralisirender Natur, und wo aus seinen Schöpfungen eine solche Moral zu uns spricht, drängt sie sich nie mit verletzender Absichtlichkeit vor; dies ist ja eben eine der vorzüglichsten Eigenschaften der Longfellow’schen Dichtungen, daß sie Kunstwerke sind im besten Sinne des Wortes; sie erfreuen durch den vollen Einklang zwischen Inhalt und Form, durch ihre schöne ebenmäßige Sprache und die plastische Ausprägung der ihnen innewohnenden Idee. Sie gleichen einem in allen seinen Theilen harmonisch gegliederten Gebäude, um dessen festgefügte Grundmauern sich hier und da phantastisches Schmuckwerk anmuthig windet. Das ist ein Moment, welches ihn von den deutschen Romantikern unterscheidet, mit welchen er sonst so manche Aehnlichkeit hat.

Freilich manche Eigenthümlichkeit der deutschen Romantiker ging ihm ab, wie ihre Leidenschaft und ihr dämonischer Gestaltungstrieb, welcher bald grotesk-komische, bald schauerlich-fratzenhafte, bald traumhaft-süße Gebilde zu Tage förderte. Gemein mit ihnen hat er dagegen außer seinem Hang für das Entfernte, Versunkene, außer seiner Vorliebe für mittelalterliche, mystisch-religiöse Stoffe, außer seiner Neigung zur poetischen Bearbeitung alter Sagen und Legenden und seinem intensiven Naturgefühl den großen kosmopolitischen Zug. Longfellow, der meisten europäischen Sprachen kundig, ist für Amerika etwa das, was Herder für Deutschland ist – der Begründer einer Weltliteratur. Zahlreich übertrug er Gedichte aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen, Schwedischen, vornehmlich aber aus dem Deutschen mit vollendeter Meisterschaft in sein geliebtes Englisch. Er hat – um nur deutsche Beispiele zu nennen – seine Landsleute unter Anderem vertraut gemacht

  1. Wir wollen mit obigem Artikel nur so eilig, wie es uns möglich, die Theilnahme an der Trauer aussprechen, mit welcher des Dichters Tod seine Nation erfüllte, und werden nicht verfehlen, dem erhabenen Sänger des „Hiawatha“ später einen ausführlicheren Artikel mit beigefügtem Portrait zu widmen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: frischem

[300] mit der Poesie Goethe’s, Heine’s, W. Müller’s, Platen’s, Mosen’s und des ihm in seinem Wesen so nahe verwandten Uhland.

Longfellow war von keinem eigentlichen schöpferischen Genius beseelt; er war nicht wie das trutzige Genie darauf erpicht, völlig Neues zu schaffen; er setzte keinen Stolz darein, einsam und allein ausschließlich eigene Wege zu wandeln; er verfügte über keine originelle Erfindungskraft, aber die Gabe, sich an bereits Vorhandenes anzulehnen, war ihm in vollem Maße eigen; seine Dichtungen reißen nicht hin mit phänomenaler Urgewalt, aber sie erwärmen und ziehen an; sie fesseln durch ihre Innigkeit und ihren Schwung, durch den frischen Natursinn, der aus ihnen spricht, und die sanft geklärte Wehmuth, welche sie athmen.

Charakteristisch für Longfellow, den Idealisten, ist der Umstand, daß er gern rein ideale Gestalten, Christusmenschen, zu Helden seiner Dichtungen machte. Sein Bestes hat er wohl auf dem Gebiete der Lyrik geleistet, aber auch einzelne seiner Balladen und episch-dramatischen Dichtungen werden nicht vergessen werden.

Wie jedem bedeutenderen Poeten war auch Longfellow die Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen allezeit geläufig, und er verlieh ihr bisweilen einen originellen und charakteristischen Ausdruck, so in dem eigenthümlichen, stimmungsvollen Gedichte „Die alte Uhr im Treppenhaus“[WS 1] mit dem einförmig-melancholischen, das Ticken der Uhr andeutenden Refrain:

„Immer – nimmer!
Nimmer – immer!“

Als eine Perle unter den Longfellow’schen Gedichten möchten wir aber den „Regentag“[WS 2] bezeichnen, ein tief empfundenes Lied, Welches in der Spielhagen’schen Uebersetzung folgendermaßen lautet:

„Der Tag ist kalt und trüb und traurig;
Es regnet, und der Wind weht schaurig;
Die Rebe hängt noch an der modernden Wand,
Doch die Blätter rascheln in’s weite Land,

5
Und der Tag ist trüb und traurig.


Mein Leben ist kalt und trüb und traurig;
Es regnet, und der Wind weht schaurig;
Mein Herz hängt noch an der modernden Zeit,
Die hinter mir liegt, so weit, so weit –

10
Und die Tage sind trüb und traurig.


Sei still, mein Herz, laß ab vom Klagen!
Die Sonne scheint, ob die Wolken auch jagen;
Dein Loos – es ist das Loos von Allen:
In jedes Leben muß Regen fallen,

15
Mancher Tag sein trüb und traurig.“

Zu Longfellow’s mystisch-religiösen Dichtungen gehören die dramatischen Rhapsodien: „Die goldene Legende“, welche die Geschichte vom armen Heinrich behandelt und kürzlich von Elise von Hohenhausen trefflich übersetzt wurde, „Die Tragödien Neu-Englands“ und „Die göttliche Tragödie“, deren Held Christus ist. Einen mehr idyllischen Charakter hat dagegen die Erzählung „Kavanagh“ und das in Hexametern verfaßte Gedicht „Evangeline“, welches einen amerikanischen Stoff behandelt. Aber sein populärstes Werk ist ohne Zweifel der vielgerühmte „Sang von Hiawatha“, den Freiligrath der deutschen Literatur einverleibt hat. Der Erfolg dieser Dichtung erhellt deutlich aus der Thatsache, daß die Bostoner Originalausgabe derselben binnen einem halben Jahre dreißig Auflagen, jede tausend Exemplare stark, erlebte.

Der „Sang von Hiawatha“ behandelt auf Grund mehrerer, den Werken des gelehrten Schoolcraft’s entnommenen indianischen Sagen die Geschichte eines Messias der Rothhäute und darf mit einigem Rechte die „indianische Edda“ genannt werden; ohne Frage ist „Der Sang von Hiawatha“ das Originellste, was Longfellow geschaffen, und es läßt sich wohl begreifen, daß die Anglo-Amerikaner ihm begeistert entgegenjubelten. Für uns Deutsche jedoch hat die exotische Phantastik dieser Dichtung etwas Kaltes; der Reiz, den sie auf uns ausübt, ist lediglich der des Fremdartigen, und kein unbefangener Beurtheiler wird sich der Wahrheit verschließen können, daß unsere Romantiker uns mit rein phantastischen Dichtungen beschenkt haben, welche bei viel geringerer Popularität jene an Tiefe und Genialität weit übertreffen.

Longfellow ist neben William Cullen Bryant (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1878, S. 541), dem ihm im Tode um einige Jahre vorangegangenen Lyriker und Journalisten, der Hauptvertreter der Kunstpoesie des englisch-amerikanischen Volkes, und als er neulich von seinen Landsleuten zu Grabe getragen wurde, haben sie auf’s Neue dargethan, daß Amerika seine geistigen Führer zu lieben und zu ehren weiß.

Fritz Lemmermayer.


Zwischen Vater und Sohn.

Eine Skizze aus dem orientalischen Leben.
Von C. del Negro.

Ein heißer ägyptischer Sommertag war endlich vorüber. Mit dem Untergang der Sonne hatte sich ein leiser Wind erhoben, der nun sanft, gleichsam liebkosend über die Wipfel der Palmen hinstrich. Säuselnd bewegten sie ihre Zweige und neigten ihre Kronen gegen einander, als hätten sie sich Geheimnisse, süße, zart gewobene Geheimnisse anzuvertrauen.

Unter diesen hohen Palmen, welche das reizende, von üppigen Gartenanlagen eingeschlossene Landhaus Ibrahim Bey’s, unweit Kairos, umgaben, lustwandelte eine Schaar unverschleierter, in weiße, duftige Gewänder gekleideter Sclavinnen, die soeben in’s Freie getreten waren, um sich in der kühlen Abendluft von der erschlaffenden Hitze des Tages zu erholen.

Auch sie – so schien es – trugen Geheimnisse, denn so oft ihre drei Herrinnen, die greise, erhabene Mutter, die wohlbeleibte Gattin und die elfenartig schöne junge Nichte Ibrahim Bey’s, welche in ihren edelsteingeschmückten weißen Battistgewändern etwas abseits auf und nieder gingen, ihren Sclavinnen den Rücken wandten – ebenso oft neigten diese ihre Köpfe gegen einander und flüsterten sich heimliche Reden zu. Sobald aber die Herrinnen ihr Gesicht den Frauen wieder zukehrten, richteten sich diese flugs in die Höhe und standen vorschriftsmäßig in gerader Haltung mit verschränkten Händen regungslos da. Aber es war wie ein Zauber: ihre Augen ruhten immer und immer mit unverkennbarer Bewunderung, wenn auch sehr vorschriftswidrig auf der Gestalt ihrer jüngsten Herrin. Die Schönheit ist eben eine Macht, der niemand widersteht. Wie die Blumen zum leuchtenden Tagesgestirn, so richten sich alle Augen auf sie, wo sie immer erscheint.

„Wie anmuthig ist die Bewegung, mit der Nefiseh-Hanem die langen schwarzen Flechten über die Schultern zurückwirft!“ raunte eine junge Sclavin ihrer Nachbarin in’s Ohr.

„Ibrahim Bey hat Recht, wenn er sagt, sie sei so schön, wie die verführerische Rhodopis,[1] welche, auf der Pyramidenspitze thronend, den Wüstenwanderer in’s Verderben lockt,“ sagte eine andere Sclavin.

„Weißt Du, man sieht es ihr nicht an, daß sie die Gattin eines Greises gewesen,“ meinte wieder eine Andere.

„O, er sah ihre Pantöffelchen öfter als ihre kleinen Füße,“ flüsterte erröthend die Leibsclavin Nefiseh’s.

„Das glaube ich Dir nicht,“ erwiderte ein geschwätziger Mund, „der alte Herr soll sie gar sehr gequält haben.“

„Jawohl,“ flüsterte die Andere zurück. „Dafür hat sie ihm aber den Einlaß verwehrt, indem sie ihre hübschen Schuhe vor die Thür stellte.“

Alle verstummten; denn die Herrinnen näherten sich ihnen von Neuem. Sobald diese sich jedoch wieder gewendet, wurde die Conversation in gedämpftem Tone fortgeführt:

„Was für schöne Augen sie hat!“

„Ob es wohl ihre Augen sind, welche Abd-er-Raschid allnächtlich lobpreist?“

„Unser junger Geliebter singt jetzt oft zur Laute.“

„Ja, ich höre es fast allabendlich.“

„Ich auch.“

„Und ebenso ich.“

Das Geflüster wurde durch einen Neger-Eunuchen unterbrochen, der so plötzlich zwischen die Frauen trat, daß sie kreischend aus einander stoben. Er brummte nach Art der Haremswächter unverständliche Worte vor sich hin und trat dann ehrfurchtsvoll zu seinen Herrinnen. Die Hand am den rothen Tarbusch führend, meldete der Schwarze mit breitem Grinsen, daß der junge Bey

  1. Aegyptische Lorelei.

Anmerkungen (Wikisource)

[301]

„Im Wonnemond“.
Originalzeichnung von J. R. Wehle.

[302] der Großmutter und der Mutter seine Aufwartung zu machen wünsche.

„Holt Eure Schleier!“ befahl die greise Frau den Sclavinnen.

Die Mädchen huschten in’s Haus und erschienen nach einigen Secunden verschleiert wieder.

Unterdessen hatte auch Nefiseh-Hanem eine blauseidene Hülle umgeworfen und sowohl den unteren Theil ihres schönen Antlitzes wie Haar und Stirn mit einem duftigen Schleier verhüllt, was ihren großen braunen Augen einen unsagbaren Zauber verlieh.

Nur Abd-er-Raschid’s Großmutter und seine Mutter blieben unverschleiert; denn der Muslime darf das Antlitz nur derjenigen Frauen sehen, welche er nicht heimführen darf oder die er bereits heimgeführt hat.

Da war er schon, der schöne Abd-er-Raschid. Wie stolz und männlich er einherschritt! Der Säbel klirrte an seiner Seite, und Kraft und Selbstbewußtsein strahlte aus seinen Augen. In der That, man sah ihm an, daß er edlem Geschlechte entstammte; das heiße Blut der Beduinenfürsten, das Blut seiner wüstenbeherrschenden Vorfahren, rollte in seinen Adern und lieh ihm ein königliches Ansehen.

Mit strahlenden Augen betrat er den Palmenhain und sich tief verneigend, führte er die Hand an Lippen und Stirn. Die beiden älteren Damen umarmten ihn herzlich, während Nefiseh die langen geschweiften Wimpern senkte und den üblichen Gruß vernehmen ließ:

„Lelteksaid – Dein Abend sei glücklich!“

Es wehte ein eigenthümlicher Hauch unterdrückter Zärtlichkeit in diesem „Dein Abend sei glücklich!“

„Und auch der Deine!“ flüsterte Abd-er-Raschid, ohne seine liebliche Muhme anzublicken.

„Wir sind im Begriff zum Teiche zu gehen; Du magst uns begleiten,“ sagte die Mutter in jenem befehlenden Tone, welchen Eltern im Orient ihren Kindern gegenüber anzuschlagen pflegen.

Großmutter und Mutter, Nefiseh und Abd-er-Raschid schritten paarweise voraus, die Schaar der Sclavinnen aber folgte schweigsam in einiger Entfernung.

Es war ein anmuthiges Bild, wie sie so dahinschritten zwischen blühenden Orangenbäumen. Der Wind strich leise durch die Wipfel hoher Pinien und wehte den Luftwandelnden die berauschenden Düfte der Orangenblüthen zu.

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, doch goß der aufgegangene Vollmond, welcher gleich einer goldenen Riesenkugel über dem Horizonte stand, eine Fülle magischen Lichtes über die parkartigen Anlagen. Es war jenes eigenthümliche goldene Licht, das der Vollmond nur in Aegypten und nur in der Dämmerstunde ausstrahlt. Nichts regte sich rings umher, als die hin und wieder zusammenschauernden Bäume. Da hub plötzlich eine Nachtigall ihr verliebtes Klagelied an.

„Verstehst Du dieses Klagelied, Nefiseh?“ fragte der Jüngling, indem er seine schöne Begleiterin zärtlich ansah.

„Ja, ich verstehe es,“ hauchte sie leise, ohne aufzublicken.

„Und verstehst Du auch das meine?“ Er beugte sich zu ihr herab und senkte seinen Blick in den ihren. „Dringen die Töne meiner Laute bis zu Dir, wenn ich ihr Klänge der Klage entlocke, so wild oder auch so schmelzend weich, wie sie einst in den Melodien der Wüstengebieter erklangen, in den Melodien meiner beduinischen Vorfahren? O Nefiseh, diese Laute entströmen den tiefsten Tiefen meiner Seele.“

„Und sie ergießen sich in die meine,“ sagte sie mit bebender Stimme. „O Abd-er-Raschid, ich hatte einen so schönen Traum! Es trennten mich keine Haremsmauern, kein Schleier von Dir, doch man sagt, daß die Träume der Kummervollen und der Verliebten fruchtlos bleiben, wie ein dürrer Baum im Wüstensand.“

„Man erntet, was man säet,“ gab ihr der Jüngling mit Bitterkeit zurück. „Die Träume der Verliebten bleiben fruchtlos? Ach, Du wärest schon längst mein eigen, wenn Du mich liebtest, wenn Du nicht schwanktest zwischen ihm und mir, zwischen Vater und Sohn. O, es ist furchtbar für den Sohn, den Vater, den er ehren und lieben sollte –“

„Abd-er-Raschid,“ unterbrach sie ihn vorwurfsvoll, „ich ihn lieben? Ich darf ihn ja nicht lieben; denn der Koran – Du weißt es ja – verbietet dem Onkel seine Nichte zu freien – und ich lieb’ ihn auch nicht – wo denkst Du hin?“

Er lachte höhnisch.

„Als ob die Liebe nach Gesetz und Sitte fragte! Das Herz des Menschen folgt nicht unwandelbaren Gesetzen gleich den Sternen dort oben. Es wendet sich dorthin, wohin es sich gezogen fühlt. Mein Herz ist Dir zugeflogen, Nefiseh, das Deine aber flattert noch immer unstät umher.“

Sie schüttelte das liebliche Köpfchen.

„Er ist Dein Vater. Muß ich ihn nicht versöhnen?“

„Durch Betrug versöhnen, Nefiseh? Warum hast Du nicht den Muth, ihm, der, weil er Dein Onkel ist, ja doch nie Dein Gatte werden darf, das süße Wort zu sagen, das ich mit Entzücken so oft von Deinen Lippen vernahm, das Wort: ich liebe Abd-er-Raschid!? Ist’s nicht, weil Du weißt, daß dieses Wort sein Herz tödtlich verwunden würde? … und doch muß Einer von uns Beiden, der, den Du nicht liebst, diesen Todesstoß empfangen – er oder ich!“

In diesem Augenblicke fragte plötzlich eine rauhe Stimme vor ihnen: „Kommt Ihr endlich?“

Im Eifer der Rede hatte Abd-er-Raschid nicht bemerkt, daß sein Vater, der den Lustwandelnden schon lange auf Schleichwegen gefolgt war, ungesehen zu den beiden vorausgehenden Damen getreten war, und die Drei nun auf das langsam folgende Paar harrten.

„Kommt Ihr endlich?“ fragte der hohe stattliche Mann vor ihnen, indem er seinen schwarzen Schnurrbart strich, gedehnt und mit finster drohenden Brauen. Seine Falkenaugen schweiften forschend von seinem Sohne zu Nefiseh, von Nefiseh zu seinem Sohne, und die Hand auf seinen Säbelknauf stützend, trat der stolze Bey an Nefiseh’s linke Seite, während Abd-er-Raschid ihr zur Rechten blieb. Als so die Drei, schweigend und in sich gekehrt, die kurze Strecke bis zum Teiche zurücklegten, da war es, als schritte der lichte, rosige Mai zwischen dem blühenden Frühling, dem er von natur- und rechtswegen angehört, und dem kalten, neidischen Winter dahin, der so gern herrschen möchte, wo sein glücklicherer Nebenbuhler regiert.

„Befiehl dem Reitknecht, der beim unteren Gartenpförtchen meiner harrt, den Rappen in den Stall zu führen!“ herrschte der Vater den Sohn an, als sie am Teiche angelangt, und tiefsten Groll im Herzen, ging Abd-er-Raschid, den Auftrag des Vaters vollziehen.

Hohe marmorne Arcaden, deren Dach auf der inneren Seite von schlanken, gleichsam aus dem Wasser herauswachsenden Säulen getragen wurden, umschlossen in echt orientalischer Art den Teich im Garten Ibrahim’s, während die äußere Stütze aus einer dicken Mauer bestand, die sich an den vier Ecken ausbauchte, wodurch lauschige, nur von innen zugängliche, mit Oberlicht versehene Pavillons entstanden. Sowohl die Thüren, welche in diese mit morgenländischem Luxus ausgestatteten Räume führten, wie die Wandflächen und die Wölbung der den Teich umgebenden luftigen Arcaden, waren mit kunstvollen Arabesken ausgeschmückt. Marmorfliesen, spiegelglatt wie die Säulen, bekleideten den Boden, und an den vier Ecken des Prachtbaues streckten sich kleine Landzungen in anmuthig geschwungenen Linien in’s Wasser hinein, aus denen berauschend duftende Riesenblumen, von frischem Grün umgeben und sich in den lauen Lüften wiegend, dem azurnen Himmel entgegenwuchsen.

Neben einer dieser Halbinseln schaukelte sich ein zierlicher vergoldeter Kahn, der dazu bestimmt schien, die Frauen des Harems nach dem grünen Eiland hinüberzuführen, das sich dort, in der Mitte des Teiches, von einer einsamen Palme überragt, erhob. Dort, unter dem duftenden Jasmingebüsch, hat, wenn man der unter den Sclavinnen des Hauses lebenden Ueberlieferung Glauben schenken darf, vor Zeiten Ali Ibn Jussuf, der verweichlichte Sprosse eines berühmten Beduinenstammes, ein Ahne Ibrahim’s, auf schwellendem Pfühl sein Leben verträumt, während seine Odalisken ihm verlockende Tänze vorgaukelten oder in den klaren Fluthen ihre schönen Leiber badeten.

Dieses feenhaften Teiches und seiner verschwiegenen Pavillons mußte Abd-er-Raschid gedenken, als er sich im Auftrage seines Vaters auf dem Wege zum Gartenpförtchen befand – Nefiseh’s mußte er gedenken – seines Vaters – da flammte die Eifersucht heiß in ihm auf. Sein Haupt glühte; sein Puls fieberte – was sollte er beginnen? Ist die Pflicht kindlichen Gehorsams höher, heiliger als die süße Macht der Liebe, die er in allen Adern feurig schlagen fühlte? Noch hatte er das untere Gartenpförtchen [303] nicht erreicht – sollte er seinen Weg fortsetzen? Sollte er umkehren? „Ich kann es nicht!“ sagte er und wandte sich wieder gegen den Teich.

Nur eine kurze Weile, und er war am Ziele.

Noch war der Mond nicht so hoch gestiegen, daß der ganze Teich von seinem Lichte überfluthet gewesen wäre. Drei Seiten des Ufers waren in tiefes Dunkel gehüllt, während die vierte in bleichem Lichte erglänzte.

Da wandelten sie, lichtbeschienen, die Frauen Ibrahim’s, eine ausgenommen. … Diese eine aber war Nefiseh, und Abd-er-Raschid’s Augen, welche die Geliebte ängstlich suchten, fanden sie alsbald. Dort im Dunklen schritt sie neben seinem Vater mit gesenkter Wimper, ein Bild edler, keuscher Weiblichkeit.

Ohne zu säumen, eilte Abd-er-Raschid zu den Beiden.

„Ein schöner Abend,“ sagte er mit erkünstelter Ruhe. „Wie wär’s mit einer Fahrt auf dem Wasser?“

„Ein glücklicher Einfall!“ erwiderte Ibrahim mit heiserer Stimme. „Knabe, lös’ uns den Kahn!“

„Knabe?“ fragte Abd-er-Raschid zornig in sich hinein, und er folgte dem Befehle, wiewohl widerstrebend; o, er wußte nur zu gut, warum der Vater ihn in der letzten Zeit wie einen Unmündigen zu behandeln liebte. Ein Knabe, ein unreifer Knabe, sollte er sein – in den Augen der schönen Nefiseh.

Die Kette, welche den Kahn mit dem Festlande verband, war gelöst. Ibrahim Bey[WS 1] stieg in denselben und winkte Nefiseh, ihm zu folgen. Sie gehorchte schweigend, und schon erhob auch Abd-er-Raschid den Fuß, um das schaukelnde Fahrzeug zu betreten – da – er meinte, das Herz müßte ihm stille stehen vor Zorn und Unmuth – da schnellte Ibrahim, der das Ruder ergriffen hatte, durch einen raschen Stoß gegen die marmornen Stufen den Kahn weit hinaus, mitten auf die mondbeglänzte Fläche des Teiches. Abd-er-Raschid stand einen Augenblick mit krampfhaft geballten Händen; dann wandte er sich jählings und stürmte von dannen.

„Mein Roß!“ rief er vor der Gartenpforte dem Reitknechte zu. „Mein Roß, Ali, schnell mein Roß!“

Wenige Secunden später schwang er sich auf das feurige Thier, und er war kaum im Sattel, als es schnaubend davon stob. Hei, wie der Rappe ausholte! Durch die dunkle Schubra-Allee, über den Canal, in die mondhellen Sandflächen der Abbasijeh hinaus ging der wilde Ritt – an den Mamelukengräbern vorbei, die Mokattamhöhen hinauf.

Die einsamen Wächter der Grabmoscheen, die den verwegenen Reiter hatten vorübersausen sehen, hielten ihn für einen Ginn (bösen Geist) und sprachen leise ein Gebet.

Roß und Reiter hatten die Höhe erklommen; da stand das edle Thier, vom hastigen Ritte erschöpft, wie angewurzelt; seine dunkle Silhouette und über ihm die Abd-er-Raschid’s zeichneten sich scharf vom hellen Himmel ab und nahmen sich wie eine herrliche Reiterstatue aus.

Abd-er-Raschid’s Blick schweifte über die mondbeschienenen, sandigen Hügel und Ebenen zu seinen Füßen. Da überkam es ihn wie tiefe Wehmuth: solch ein Boden war es, auf dem einstmals die luftigen Zelte seiner Ahnen standen; über solche Sandebenen waren sie Jahrhunderte lang auf feurigen Rossen im Vollgenusse ihrer Freiheit dahingejagt – die edlen Söhne der Wüste. Ihr ganzes Leben, wie die Ueberlieferung es schilderte, stand plötzlich vor Abd-er-Raschid’s Seele: Auf heißem Boden im Schatten des vom Winde umbrausten Beduinenzeltes hatten sie das Licht der Welt erblickt; dort hatten sie gekämpft und gejagt, geliebt und gefreit, ein unabhängiges, stolzes Leben geführt, bis Hassan-Ibn-Ali von dem Stifter des jetzigen ägyptischen Herrscherhauses in die Gefangenschaft geführt wurde. Der edle Beduinenhäuptling ertrug sein Loos nur wenige Monate lang; er starb am Heimweh, an der Sehnsucht nach Freiheit. Seine Söhne aber gewannen in verächtlicher Verweichlichung ihre schimpflichen Fesseln lieb; eine fürstliche Apanage ersetzte ihnen bis auf den heutigen Tag die Freiheit und die Herrschaft über die stolze Wüste. Der Mensch vergißt so leicht sein Edelstes, verliert so schnell sein Bestes in den weichen Armen des Genußlebens.

O, es war eine lange Heerschaar verklagender und strafender Gedanken, die an Abd-er-Raschid’s Seele in der heiligen Stille der Wüste vorüberzog. Der Verfall seines Hauses, die Entnervung der Seinigen, von der er selbst nicht frei war, erfüllten sein Herz mit tiefem Groll. Es war ihm, als müßten die Leiber seiner Ahnen, die fern in Arabiens heißem Sande schliefen, im Schmerz über die entarteten Enkel auferstehen, waffenklirrend und zornblickend. Sie sahen ihn mit den ernsten bleichen Gesichtern strafend und drohend an – ha, und was war das? Liebliches gesellte sich in seiner Phantasie zu dem Schrecklichen: Nefiseh’s geliebte Augen tauchten plötzlich vor ihm auf. Sie blickte aus dem sie nur halb verhüllenden Schleier verlangend zu ihm auf; dann senkte das holde Geschöpf die langen Wimpern; verschämt stand sie da, als ab sie der Entschleierung harre. O, so würde sie vor ihm stehen am Hochzeitstage, in jener weihevollen Stunde, wo es dem Muslimen vergönnt ist, den Schleier, welcher das Antlitz seines Weibes verhüllt, endlich, endlich zu heben.

Abd-er-Raschid schloß die Augen, ganz versunken in die Vorahnung dieses seligen Augenblicks. Es ist ein tiefes, naturnothwendiges Bedürfniß des Menschenherzens: ein heiß ersehntes Glück, das uns unerreichbar und ewig verloren ist, wir müssen es uns erträumen, erdichten, um es, wenn auch nur auf Augenblicke, in süßer Täuschung zu genießen. Der Traum ist das Manna der Seele, die entsagen muß.

So träumte lange auch Abd-er-Raschid; die heiße Stirn in die weiche Mähne des edlen Rappen geschmiegt, ließ er seine Seele schweifen, schweifen zum verlorenen Paradiese seiner Sehnsucht. Wie einst die Alten, so fand auch er sein Manna in der Wüste. Um ihn lag schweigend die sandige Einöde. Kein Laut, kein Hauch! Nur dann und wann ertönte der Schrei eines einsamen Wüstenvogels oder der Athem des Nachtwindes küßte leise die glühende Wange des weltverlorenen Träumers.

Nun aber scholl aus dem Gestrüpp der Wüste das unheimlich melancholische Geheul eines Schakals an sein Ohr.

„Sei mir gegrüßt!“ rief er, „Du Stimme der Natur! Das Thier der Wüste schreit nach der Erfüllung des ihm angeborenen Rechts – was weiß ich: nach seinem Fraß, nach Wasser, nach Blut. Und ich? Bin ich ein so weichherziger Schwärmer, daß ich mir thatenlos rauben lasse, was mein ist von Rechts und Natur wegen, daß ich träume statt zu handeln?“

Stolz schüttelte er sein schwarzes Lockenhaar.

„Auf, mein Roß!“

Und von Neuem begann der wilde Ritt – der Heimritt.

Zu Hause angelangt, übergab Abd-er-Raschid die Zügel seines Rappen einem Reitknechte, einem altbewährten Eunuchen.

„Geh’,“ wandte er sich an den ehrerbietig Grüßenden, „melde meinem Vater meinen Besuch, wenn er zu so später Stunde mir noch den Eintritt gestattet! Ich erwarte die Antwort in meinen Gemächern.“

Der alte Diener kehrte alsbald mit der Meldung zurück, daß Ibrahim seinen Sohn erwarte, dann aber trat er an den Divan heran, auf dem sein junger Gebieter ruhte.

„Auch ich will Dir ein Wörtlein sagen,“ begann er, „laß das Musiciren, Herr! Dem Gotte der Franken mag es willkommen sein, unserem Gotte Allah aber ist Musik nicht wohlgefällig. Wenn der Böse einem Muslimen zu einer Sünde verlocken will, so bedient er sich dazu der Musik, und musikalische Instrumente sind die Muezzin (Gebetrufer) des Teufels, mit denen er die Muslimen lockt und ruft, daß sie ihn anbeten.“

„Wer sagt das?“ lachte Add-er-Raschid.

Feierlich erwiderte der Alte:

„Mohammed sagt es selbst. Das solltest Du wissen, Herr! Und noch ein weises Wort unseres Propheten möchte ich zu Deinem Heile hinzufügen: wenn ein Muslim keine Jungfrau zum Weibe nimmt, so nehme er ja keine Wittwe, sondern eine geschiedene Frau! Denn gegen diese hat er eine mächtige Waffe in den Worten: ‚Sei demüthig! Du hast keinen Grund stolz zu sein, – sonst hätte Dich Dein erster Gatte nicht verstoßen.‘ Jene aber, die Wittwe, wird bei jedem Anlaß den Tod ihres Gemahls beklagen und behaupten, dieses oder jenes hätte der Verewigte nie und nimmer verbrochen.“

„Darauf erwidere ich,“ gab ihm der Jüngling zurück, „mit einem anderen Spruch, der wahrer ist als der Deine: Keine Ehe ist so dauerhaft, keine heiliger, als diejenige, welche Vetter und Muhmen schließen; denn sie tragen eine doppelte Liebe im Herzen, die angeborene, verwandtschaftliche und die eheliche. Und nun gehe!“

(Schluß folgt.)
[304]
Blätter und Blüthen.


Besuch bei einer dunklen Majestät.[1] Während in England das Schicksal Cetewayo’s[WS 2] philanthropische Gemüther erregt, während Regierung wie Zeitungen von Briefschreibern beiderlei Geschlechts bestürmt werden, die für die Begnadigung des Zulukönigs plaidiren, sitzt dieser selbst in scheinbarer Ruhe und Behaglichkeit in dem hübschen Häuschen, das ihm in der Nähe der Capstadt als Staatsgefängniß angewiesen worden ist. Er hat volle Freiheit, ein- und auszugehen, selbst die Capstadt zu besuchen, von welcher Freiheit er jedoch nur sehr selten Gebrauch macht.

Seine Ruhe und Behaglichkeit sind in der That nur scheinbar. Er trachtet in aufreibender Sehnsucht nach seiner Heimat zurück. Sein Körpergewicht ist während seiner Gefangenschaft von 220 auf 170 Pfund[WS 3] zurückgegangen; man darf also wohl von einem aufreibenden Gemüthszustande sprechen. Diesen Zustand verhehlt er auch den Besuchern keineswegs, die oftmals seine Ruhe beeinträchtigen und ihn bewegen, die äußerst primitive Bekleidung seines Körpers durch einen Ueberwurf zu ergänzen und sein Lieblingslager auf dem Erdboden mit einem Stuhle zu vertauschen.

Auch ich folgte der Aufforderung von Bekannten, dem Gefangenen von Oude Molen[WS 4] einen Besuch abzustatten. Wir entschuldigten unsere Neugierde gegen uns selbst mit der Annahme, daß Cetewayo sich durch Besuche gern anregen und erheitern läßt. Ich war begierig den Helden von Isandula[WS 5] zu sehen, dessen taktische Begabung und Tapferkeit eine englische Armee nicht nur lange in Schach gehalten, sondern mehr als einmal zurückgedrängt hatte, dessen Thaten eine zeitlang ganz England, ja die ganze civilisirte Welt beschäftigten, der indirect an der politischen Niederlage Disraeli’s[WS 6] und an dem Tode des jugendlichen Napoleon[WS 7] theilgenommen, und von dem man – wahrscheinlich stark übertrieben – erzählt, daß er mehr als 10,000 seiner Unterthanen habe tödten lassen.

Eine viertelstündige Eisenbahnfahrt brachte uns von der Capstadt nach Observatory Station,[WS 8] ein halbstündiger Marsch von dort nach Oude Molen. Da die Octobersonne schon sommerliche Kraft erlangt hatte, so kostete dieser Gang viele Schweißtropfen.

Das freistehende, weithin sichtbare Haus mit seinen weißen Nebengebäuden macht durchaus den Eindruck eines freundlichen Farmgehöftes; nur eine im Felde stehende Tafel mit der Aufschrift: „Reserved ground for state-prison“ erzählt von der politischen Bedeutung des Platzes. Nachdem wir unseren Besuch bei den beiden als Polizisten verkleideten Invaliden angemeldet und uns durch einen von der Regierung ausgestellten Erlaubnißschein legitimirt hatten, schrieben wir unsere Namen in das aufliegende[WS 9] „Visitenbuch“ ein, und es wurde uns dann bedeutet, daß Cetewayo von unserem Besuche benachrichtigt sei und sich „zurechtmache“, um uns zu empfangen.

Nach weiteren zehn Minuten führte man uns in das Empfangszimmer, welches kahle und ziemlich unsaubere Wände aufwies und nur mit einem Dutzend Holzstühlen ausmöblirt war. Cetewayo saß auf einem derselben. Ich war natürlich enttäuscht beim Anblick des Zuluhelden. Einbildung und Wirklichkeit gehen ja so selten Hand in Hand – die „wahrhaft königliche Würde", von der uns erzählt wurde, suchte ich vergebens. Ich fühlte mich nicht im Entferntesten gehoben durch den Anblick der plumpen, schwarzen Gestalt, der wir soeben die Hand geschüttelt hatten und die unbequem mit hochgezogenen Beinen auf einem Holzschemel saß, den Körper mit einem rothen Damenplaid togaartig behangen, eine gestickte Morgenmütze auf dem Kopfe. Cetewayo’s Gesicht hatte energische, finstere Züge, war jedoch nicht gerade unschön.

Die Unterhaltung wurde durch den Dolmetscher vermittelt und drehte sich vorwiegend um die Frage, ob Oude Molen das Elba oder das St. Helena des Zulukönigs sein wird.[WS 10] Die dunkle Majestät selbst neigte zu der letzteren Ansicht und sprach entmuthigt wiederholt die Befürchtung aus, in der Gefangenschaft sterben zu müssen. Cetewayo’s und seiner Freunde Gesuche um Freilassung sind sämmtlich abschlägig beantwortet worden. Er habe, sagte er, sich in der Haft über nichts zu beklagen, als über die Haft selbst. Man behandle ihn freundlich; er habe Freiheit, die Umgegend zu durchstreifen, Besuche anzunehmen oder abzulehnen, und sei Herr des Hauses, aber dennoch fühle er sich unsäglich unglücklich, weil fern von der Heimath. Gern möchte er nach England, um der Königin persönlich seine Bitte um endliche Befreiung vorzutragen, um persönlich die Regierung zu bewegen, ihn so zu behandeln, wie man andere Kriegsgefangene behandle. Der Krieg mit Zululand sei seit Jahr und Tag beendet und noch immer halte man ihn gefangen. Nichts habe er sich vorzuwerfen, als nur um seine und des Landes Unabhängigkeit gefochten zu haben, wobei er seines Wissens nicht einmal die modernen, ihm bisher unbekannten Kriegsgesetze verletzt hätte. Warum man seinem Versprechen, in der Zukunft ein Freund der Engländer zu sein, mißtraue, sei ihm unerklärlich; denn er habe keinerlei Veranlassung zum Mißtrauen gegeben. Seine Autorität im Zululande sei übrigens erschüttert; die von der britischen Regierung protegirten Häuptlinge seien ihm feindlich gesinnt. Dennoch würde er glücklich sein, in seiner Heimath leben und sterben zu können, wenn auch nur als einfacher Mann.

Es lag etwas Rührendes in den Heimwehklagen dieses starken, wilden Menschen. Nicht in flottem Redefluß sprach er. Abgebrochen, zwar nicht widerwillig, aber doch oft zögernd stand er Rede und Antwort.

Der Dolmetscher weigerte sich, einige unserer Fragen vorzutragen, weil er glaubte, daß sie dem Zulukönig peinlich sein würden. Dieser veränderte während unserer mehr als einstündigen Unterredung seine Stellung um nichts; nur den Kopf bewegte er gelegentlich beim Sprechen. Seine anfangs düstere Miene heiterte sich ein wenig auf, als wir von seinen Gefährten sprachen, die sein Exil theilen. Sie stehen unter seinem vollen Einfluß und sind ihm unbedingt ergeben. Ich konnte die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die von dem Zulukönig circulirenden Photographien dem Originale nur wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen. Cetewayo lächelte bei dieser Bemerkung zum ersten Male seit unserem Eintreten. Er ließ eine seiner Photographien aus dem Nebenzimmer holen, die, wie er sagte, erst vor wenigen Tagen aufgenommen sei und mit welcher er mir ein Geschenk machte.

Gern wollte ich mich für die empfangene Gabe erkenntlich zeigen und bot dem König als Gegengeschenk den Bambusstock an, den ich bei mir führte. Doch wurde derselbe von ihm mit der Bemerkung abgelehnt, daß ihm ein Taschenmesser mit vielen Klingen willkommener wäre. Und damit ich auch genau wüßte, welche Art von Messer er meine, ließ er einige derselben, frühere Geschenke, vom Dolmetscher holen und mir zeigen. Je mehr Klingen die Messer hatten, desto willkommener waren sie Seiner Majestät. Man sagte uns später, daß Cetewayo sich mit Vorliebe Taschenmesser schenken lasse, um diese wieder als Geschenke für seine Häuptlinge im Zululande zu verwenden, falls er einst seiner Gefangenschaft entlassen werden würde.

Ehe wir uns verabschiedeten, besuchten wir die vier Zulufrauen, die dem König in’s Exil gefolgt waren. Bei unserem Eintreten kauerten sie auf der Erde und hatten eine Anzahl Glasperlenschnüre, sowie von ihnen selbst gefertigte Strohlöffel vor sich ausgebreitet, uns zum Einkaufen ermunternd. Für jeden Strohlöffel und für jedes Schnürchen Glasperlen forderten sie 4 Schillinge (etwa 4 Mark), obgleich die Sachen kaum 1 Penny (10 Pfennig) werth waren. Doch wir kauften, schon aus Höflichkeit gegen die königlichen Damen. Diese, nachdem sie ihre Schillinge in Verwahrung gebracht hatten, erhoben sich vom Boden und unterwarfen uns einer näheren, ziemlich gründlichen Betrachtung. Uhren, Ringe, Ketten, ja Hemdenknöpfe wurden neugierig betastet. Insbesondere aber imponirte ihnen der lange, weiße Bart eines der anwesenden Herren, und sie wurden nicht müde, ihn zu streicheln.

Die Erscheinung dieser vier Zulufrauen war durchaus keine unangenehme. Trotz der etwas stark convexen Entwickelung verhalten sich bei ihnen die einzelnen Körperteile nicht so unharmonisch zu einander, wie dies z. B. bei den Hottentottenfrauen der Fall ist. Das Gesicht der größten und stärksten war entschieden schön zu nennen: nur die pyramidenartige Haartracht, die einem Weichselzopfe nicht unähnlich sah, wirkte störend.

Der Dolmetscher versicherte uns, daß diese schwarzen Schönheiten nicht eigentliche Frauen Cetewayo’s seien, sondern nur Dienerinnen einer seiner Lieblingsfrauen. Im Ganzen soll der Zulukönig dreiundvierzig Frauen, aber nur sieben Kinder haben.

Wir passirten bei unserem Fortgehen abermals das Zimmer, in welchem Cetewayo immer noch in unveränderter Stellung auf dem Stuhle saß. Und hierbei bemerkte ich, wie vorher bei der Taschenmesser-Affaire, daß der König auch ein „Auge für’s Geschäft“ zu haben scheint. Wir Alle hatten Löffel und Perlenschnur im Hinterzimmer erstanden; nur mein langbärtiger Freund kam mit leeren Händen heraus. Cetewayo fragte ihn sofort, warum er allein nichts gekauft habe, und fertigte die Antwort: „Meine Frau würde eifersüchtig werden,“ mit der Entgegnung ab: „Deine Frau würde sich über ein Geschenk gefreut haben.“

Ueberhaupt ist der Zulukönig gegen Aeußerlichkeiten nicht so unempfindlich, wie man behauptet hat. Besonders im Beginne seiner Gefangenschaft zeigte er ein lebhaftes Interesse für alles Neue, was ihm seine Umgebung bot. Er fing sogar an, Schreibunterricht zu nehmen, den er jedoch plötzlich aufgab, als er auf sein Gesuch um Freilassung von Lord Kimberley[WS 11] eine abschlägige Antwort erhielt. „Wenn ich im Exil sterben soll, hat die Kenntniß der Schriftsprache keinen Werth für mich,“ sagte er mit wunderlicher Logik. Dieser Ausspruch hindert ihn aber nicht, gelegentlich Briefe in seinem Namen aufsetzen zu lassen, die in charakteristisch kurzer Fassung hervorragenden Personen für empfangene Theilnahme Dank sagen, ihnen zu ihrer Reise nach England Glück wünschen, oder auch condoliren, falls sie ein Unglück betroffen hat.

Zuweilen besucht Cetewayo die Capstadt, meist einer Einladung des Gouverneurs folgend, um diese oder jene Merkwürdigkeit in Augenschein zu nehmen. Das letzte Mal sah ich ihn als Zuschauer bei den Fußwettrennen und gymnastischen Uebungen des in Wynberg[WS 12] stationirten englischen Regiments. Auf die Frage, wie ihm die Unterhaltung gefalle, antwortete er indirect mit den wohl unbeabsichtigt satirisch klingenden Worten: „In meinem Lande spielen die Männer nicht wie Kinder.“

Doch nehmen wir Abschied von unserm Thema und der dunklen Majestät! Daß die Freilassung Cetewayo’s ein Act der Gerechtigkeit wäre, wird allgemein anerkannt, ob sie aber auch ein Act der Klugheit sein würde, ist immerhin zu bezweifeln. Die Capcolonie liegt zwar zu weit vom Zululande entfernt, als daß deren Bewohner von den etwaigen Rachegelüsten des in seine Macht wieder eingesetzten Königs direct belästigt werden könnten. Anders aber verhält es sich mit den dem Zulureiche benachbarten Ländern, insbesondere mit Natal[WS 13] und Transvaal.[WS 14] Die Bewohner dieser Länder denken weniger sanguinisch über die friedfertigen Absichten des eventuell befreiten Löwen. Das Mißtrauen derselben wurde erst jüngst noch zum kraftvollen Ausdrucke gebracht durch folgende im Parlamente Natals einstimmig angenommene Resolution: Die englische Regierung zu ersuchen, Cetewayo nicht die Erlaubniß zu geben, nach dem Zululande zurückzukehren.

Graaf-Reinet, Südafrika, im December 1881.
Dr. Bruno Beheim-Schwarzbach.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. — Verlag von Ernst Keil in Leipzig. — Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In Anbetracht der bevorstehenden Reise Cetewayo's nach England darf der obenstehende uns vor Kurzem aus Südafrika eingesandte Artikel ein besonderes Interesse unserer Leser beanspruchen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ibrahim-Bey
  2. Cetshwayo, König von Zulu von 1872-1879
  3. von 100 auf 77 Kilogramm
  4. Oude Molen, eine Turmwindmühle in Kapstadt, wo Cetewayo während seiner Gefangenschaft lebte
  5. Cetewayo gewann die Schlacht bei Isandhlwana gegen die Briten
  6. Benjamin Disraeli, britischer Premierminister während Cetewayos Herrschaft
  7. Napoléon Eugène Louis Bonaparte, 1879 im Zulukrieg gestorben
  8. Observatory railway station
  9. „aufliegen 3): offen liegen“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=A06615, abgerufen am 20.02.2023.
  10. Anspielung an Napoleon, der zuerst auf die Insel Elba verbannt wurde, wieder an die Macht kam und anschließend nach St. Helena verbannt wurde, wo er starb. Gemeint ist, ob Cetewayo nochmals frei kommt oder hier sterben wird.
  11. John Wodehouse, britischer Kolonialminister, 1880-1882
  12. Wynberg, Stadtteil von Kapstadt
  13. Kolonie Natal, heutiges Südafrika
  14. Transvaal, heutiges Südafrika