Die Gartenlaube (1884)/Heft 12

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[189]

No. 12.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Frühlingslied zum 22. März.

Neue Säfte drängen mächtig
Nach des Baumes jungem Holz,
Wettertrotzend, kronenprächtig
Trägt er seiner Jahre Stolz.
Märzenschnee in leichten Flocken
Deckt im Feld des Pfluges Spur,
Morgen wieder sonnig trocken
Dampft die Scholle auf der Flur.

Auf ein kühnverjüngtes Werden
Spannt sich neu die deutsche Kraft,
Unter Mühen und Beschwerden
Treibt der unverlorne Saft.
Scharfgeriss’ne Furchen bergen
Keime schwellend reicher Saat,
In zersprengten morschen Särgen
Rührt sich junge Lebensthat.

Und der Kaiser überm Volke
Denkt vergang’ner Siege leis,
Durch der Zukunft Schleierwolke
Schaut der ungebeugte Greis:
Milde Friedensstrahlen glänzen
Statt der Kriege düstrem Roth
Und in schwertbeschützten Grenzen
Steht der Arbeit Aufgebot.

Schnell ist eine Schlacht geschlagen,
Langsam wächst des Friedens Bau –
Hoffnungsreichen Frühlingstagen
Trübt sich leicht das reine Blau;
Aber wer in Sturm und Grauen
Seiner Schlachten ruhig stand,
Legt mit ruhigem Vertrauen
Wieder an den Pflug die Hand.

Und der Greis, dem seiner Tage
Sonne langsam tiefer sinkt,
Lächelt letzter Sorg und Plage,
Ob auch fern die Ernte winkt,
Zieht noch Furchen, streut noch Samen,
Der für Andre reifen soll,
Grüßt in seines Gottes Namen
Frühlingstage, zukunftsvoll.

 Karl Weitbrecht.




Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

„Beste Frau von Ratenow“ sagte der Bennewitzer, als Else den Gartensalon so plötzlich verlassen hatte, „ist meine Braut krank? Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, diese stumme Verzweiflung macht mich ängstlich – sollte es wirklich die Erschütterung über den plötzlichen Todesfall allein sein, die sie so völlig verändert hat?“

Die alte Dame schüttelte sorglos das Haupt.

„Mein lieber Hegebach! Die Mädchen von heutzutage sind anders als zu unserer Zeit; da war noch frisches kerniges Leben, heute gehört eine Portion Weltschmerz zum guten Tone. Und im Uebrigen – denken Sie, es ist der Begräbnißtag, und sie hat trotz Allem und Allem schier lächerlich zärtlich an dem Vater gehangen.“

„Meinen Sie, gnädigste Frau?“ fragte er langsam und setzte sich etwas bequemer in das Polster des tiefen Lehnstuhles, als er sich vorher erlaubt hatte in Gegenwart des jungen Mädchens. „Ich weiß es nicht; sie kam mir noch vor Kurzem wie ein Kind vor; es war wohl der Ausdruck der Augen, der es hauptsächlich machte. Als ich heute hinaufkam zu ihr, um sie abzuholen, da traf mich ein Blick – ja, Sie werden mich sentimental schelten, gnädige Frau, aber ich kann diesen Blick nicht wieder bannen, es lag so etwas Vorwurfsvolles, Fragendes darin. Ich habe schon einmal ein Paar Augen mich so anschauen sehen, ich hab’s nie vergessen können. In Rußland war es, ein junges Zigeunerweib stand am Wege und bettelte. Mein Kutscher, ein roher Gesell, hieb ihr mit der Peitsche über den Kopf; sie zuckte nicht mit der [190] Wimper, aber ihre großen dunklen Augen wandten sich zu mir, eine Welt voll Weh lag in diesem Blicke. Und diese Augen über dem schmerzverzogenen Munde, diese fragenden vorwurfsvollen – Else hatte sie, als ich heute eintrat bei ihr. Und ich – ich kann nicht anders, ich muß es aussprechen, es ist mehr darin, als die Trauer um den verlorenen Vater.“

„Hegebach!“ klang es im Tone des tiefsten Vorwurfes. Es war ein unglaublich unheimliches Gefühl, das die stattliche Frau bei seinen Worten überkam. Sie schüttelte den Kopf und sah ihr vis-à-vis wie prüfend an, aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie nahm in ihrer Verlegenheit die Kaffeekanne und schenkte ihre Tasse voll bis zum Rande; sie stand auf, präsentirte ihrem Gaste eine Cigarre, und dabei fragte sie: „Wo kann sie sein, die Else? – Wollen wir einen Gang machen durch den Garten?“

Sie wanderten in den Wegen umher, aber Else erblickten sie nicht. Frieda und Lili kamen mit den Kindern vom Spazierenfahren zurück; sie sahen es über die Mauer hinweg, und sie sahen auch Moritz fortreiten; er grüßte zu ihnen hinüber und rief, daß er nach den Saatäckern wolle.

„Ich begreife nicht, wo Else sein mag; sie ist ein wunderliches Mädchen.“ Und „Else! Else!“ scholl die kräftige Frauenstimme über den Garten hin.

Es blieb still.

„Ich bitte, liebste Frau von Ratenow, lassen Sie meine Braut; sie wird nicht aufgelegt sein zum Sprechen, ich kann es ihr nachfühlen.“

Sie gingen schweigend weiter. Hier und da blieb er stehen und sah auf die knospenden Sträucher und nannte die botanischen Namen. Die erregte Frau an seiner Seite antwortete nicht darauf.

„Ich möchte mich heute frühzeitig verabschieden.“ Der Bennewitzer war stehen geblieben und zog die Uhr. „Ich bitte, grüßen Sie Else herzlich von mir.“

„Ich werde sie suchen lassen, lieber Hegebach.“

„Nein, ich muß sehr bitten – vielleicht weint sie sich aus; stören Sie sie nicht, gnädige Frau, ich komme morgen wieder, nie soll man eine Stimmung erzwingen wollen.“

Er beauftragte den Gärtnerburschen, der vorüberging, das Anspannen seines Wagens zu bestellen, rauchte ruhig weiter und fragte nach ein paar weitab liegenden Sachen.

„Apropos, lieber Hegebach!“ unterbrach die alte Dame, „was sagten Sie doch, wie heißt der Goldschmied in Berlin, bei dem Sie die Verlobungsringe bestellten?“

„Haller und Compagnie,“ erwiderte er, „sie werden vor acht Tagen nicht fertig sein.“

„Natürlich nicht,“ erklärte sie, „weil in solchen Geschäften sich Alles häuft. Der Thomas hier am Markte hätte sie auch geliefert, und ebenso gut und rascher. Aber darin sind Sie wie alle Anderen, Hegebach.“

Er lächelte, aber er antwortete nicht.

„Ich glaube, der Wagen fuhr schon vor,“ sagte er dann, „gestatten Sie, daß ich mich empfehle; auf Wiedersehen morgen, gnädige Frau, und grüßen Sie meine kleine traurige Else.“

Er küßte ihr die Hand, stieg elastisch die Stufen zur Terrasse empor und verschwand im Innern des Hauses. Nach einer Weile rollte sein Wagen eilig über den gepflasterten Hof.

„Natürlich! Er hat es übel genommen,“ sagte Frau von Ratenow, die noch immer am Fuße der Verandatreppe stand; „es ist ja aber auch ein unverantwortliches Benehmen von dem Kinde. Herr Gott, was hat man für Aerger mit dem jungen Volk – sie sollte meines Vaters Tochter gewesen sein!“ Und sie wandte wieder um und ging mit sehr erregten Mienen und großen Schritten in den Gartenwegen umher. Gut – heute wollte sie nichts mehr sagen, aber morgen – es war ja doch unerhört unschicklich, so davon zu laufen, und es war sogar gefährlich.

„Und was sollte zum Beispiel das heißen von dem Bennewitzer, diese Geschichte von den Augen? Daß er in seinem Alter dem Kinde noch in die Augen gafft wie ein Fähnrich, das hätte er auch just nicht nöthig; es stand ihm verzweifelt schlecht, dieses Weichherzige, Schmachtende, er war früher nicht so.“ Und sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stand nach ein paar Minuten plötzlich wie ein düsteres Gespenst im Milchkeller, so daß die Mamsell fast in die Kniee sank vor Schreck; sie hatte überall die Gnädige vermuthet, nur nicht hier just, sie trank doch da oben mit den Brautleuten Kaffee?

„Na, fallen Sie lieber gar in Ohnmacht,“ sagte sie mit ihrer lauten Stimme, „’s ist Mode jetzt.“ Und sie ging von Schüssel zu Schüssel und guckte in alle Butterfässer. Sie war ganz schlechter Laune geworden, die Gnädige. Sie konnte nicht einmal stricken, wie sonst; sie sah immer das blasse Gesicht des Mädchens und hörte den Bennewitzer von ihren Augen faseln. Es ging auch nicht anders, sie mußte es ihr sagen, in aller Güte. Aber sagen mußte sie es!

Sie erhob sich schon, um hinaufzugehen, da kam Moritz und setzte sich so recht breit in den Stuhl seines seligen Vaters, ihrem Platze gegenüber, und er hatte allerhand Angelegenheiten, sie mußten erst abgesprochen werden. Seine Frage: „Ist Hegebach schon fort?“ beantwortete sie mit einem kurzen: „Wie Du siehst!“ und er sprach dann eilig weiter von Esparsette und anderen Futterkräutern – sie konnte ihm doch nicht sagen, wie sich das Mädchen benommen.

„Wo ist Else?“ fragte er wieder dazwischen.

„Vermuthlich oben. Aber wie kommst Du denn dazu, die Sultana von dem jungen Roßarzte behandeln zu lassen? Ich sah ihn da vorhin aus dem Stalle treten.“

„Ich wollte meinen Liebling nicht länger warten lassen, und der Kreisthierarzt ist krank.“

„So, so!“ sagte sie, aber sie dachte schon an etwas ganz Anderes. Und dann kamen die jungen Damen mit den Kindern; Lili war so lustig und die Kleinen waren so drollig; es war ein Lachen und Kichern und Jubeln in dem dämmerigen Zimmer. Als sie endlich „Gute Nacht!“ sagten, die Kleinen, war es schon spät, und auf den Dächern des Hofes lag blendend weiß der Mondenschein.

„Speisest Du mit drüben?“ fragte Moritz, „und kommt Else herunter?“

„Ich danke,“ erwiderte sie, „die Sophie mag für uns Beide hier serviren, die Else ist doch noch nicht in der Verfassung – weißt Du.“

„Dann gute Nacht, Mutter!“

Die alte Dame erhob sich eilig von ihrem Sitze, sie mußte mit Else reden. Rasch stieg sie die Treppen empor und klinkte die Thür zu des Mädchens Zimmer auf; es war ganz erfüllt mit blendend weißem Lichte, die Fenster standen weit geöffnet, und mit den Mondesstrahlen hatte sich der süße Veilchenduft hinein geschmeichelt. Es war still innen, nichts regte sich.

„Else?“ fragte sie leise und sah prüfend im Zimmer umher. Da lag das Mädchen auf dem Bette; die alte Dame schritt hinüber und beugte sich über sie. Wahrhaftig, sie schlief, sie schlief! Und in der Hand hielt sie einen kleinen verwelkten Veilchenstrauß fest an die Brust gedrückt. Am Fußende des Bettes aber stand geöffnet die alte Truhe, und halb herausgezogen hing da ein zerknittertes weißes Kleid mit rosa Schleifen.

Sie kannte das Kleid, und sie kannte den Veilchenstrauß, und sie sah das Mädchen vor sich, wie sie es an jenem Abende gesehen mit den seligen glücklichen Kinderaugen. Regungslos stand sie, es war ihr plötzlich wunderbar zu Muthe, der alten Dame; so wie sie es seit lange, lange nicht mehr gekannt; – machte es der Veilchenduft und die Nachtigall, die draußen sang in langgezogenen süßen Tönen? Wie auf Elfenschuhen schlich sie hinaus und den Corridor hinunter, und dann stand sie in ihrem finsteren Zimmer und hatte die Hand an die Stirn gelegt, eine lange Weile.

„Unsinn!“ sagte sie endlich leise und ging zu dem Tischchen, wo die Schwefelhölzer standen. Und „Unsinn!“ wiederholte sie noch einmal laut, und, risch! sprühte eine helle Flamme auf unter ihren Fingern. „Morgen früh sage ich ihr es aber, und das ordentlich!“




In aller Morgenfrühe war ein Regen gefallen und trübe Wolken verhüllten die aufgehende Sonne, aber grün war es darnach geworden, und wie grün!

Im Seitengebäude waren die Mägde schon wach, die Knechte des Hofes begannen zu futtern, im Herrenhause aber herrschte noch Todtenstille; nur den Corridor entlang kam ein leiser schwebender Schritt und die Treppen ging er hinunter; durch den [191] Flur und die Küche huschte er, und durch das Gesindezimmer in’s Freie.

Es war empfindlich kühl, und Else von Hegebach zog den Schleier vor das Gesicht und ging, quer über den Hof, zum Thore hinaus. Die Mamsell, die just in den Milchkeller wollte, sah ihr kopfschüttelnd nach.

„Ich glaube, sie will schon auf den Kirchhof,“ sagte sie zu dem Küchenmädchen.

„Sie hatte eine Reisetasche in der Hand,“ meinte die Andere. Und dann gingen sie hinunter.

In der Thür des Pferdestalles aber stand ein großer blonder Mann und sah ihr nach mit den ehrlichen blauen Augen und ernstem Gesichte. Er wußte, was sie wollte, und er rührte keinen Fuß, um ihr nachzueilen, um sie zu halten „Wohin aber?“ fragte er halblaut, und so stand er regungslos, bis die schwebende dunkle Gestalt am Ende der Allee verschwunden war. Dann betrachtete er noch einmal das kranke Pferd und klopfte ihm den glänzenden Hals, als es ihn ansah mit den klugen Augen, und als er nach einer halben Stunde langsam über den Hof in das Haus schritt, hörte er das grelle Pfeifen einer Locomotive von jenseits der Stadt.

„Fahre wohl, Else, meine alte Deern,“ sagte er leise. „Ob Du klug gethan? Ich weiß es nicht – aber daß Du recht thust, das weiß ich.“

Es war um die neunte Stunde, als Frau von Ratenow die Jungfer hinaufschickte und Fräulein von Hegebach bitten ließ, zu ihr zu kommen. Die alte Dame saß am Fenster, wie immer, und sah sehr ernst aus, auch ein bischen bleich. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt; beängstigende Träume mit allerlei bösen Ahnungen hatten sie gequält; das fatale weiße Kleid und der welke Veilchenstrauß, und das sonderbare Wesen des Mädchens gestern hatten eine große Rolle dabei gespielt. Und über sich selbst war die alte Dame heute am nüchternen Morgen in hellen Zorn gerathen – sie hätte das Mädchen gestern Abend wecken sollen, ihr zürnen müssen! Durfte sie an einen Andern denken, als Braut?

Und was war denn dieser Andere? Ein Bürschchen, wie sie zu Dutzenden umherlaufen, durch nichts ausgezeichnet, als durch ein bischen Talent auf der Geige. Es mußte ein Ende gemacht werden, in aller Güte – ja, aber ein Ende.

„Das gnädige Fräulein ist nicht in ihrem Zimmer,“ rapportirte das Mädchen.

„So such’ im Garten!“ war der Befehl.

„Ach Gott!“ Die Dienerin blieb stehen, „ich glaube nur, dort wird das Fräulein auch nicht sein, gnädige Frau. Die Mamsell sagt ja, Fräulein von Hegebach wäre vor Thau und Tag schon auf den Friedhof gegangen.“

„Unsinn!“ Die alte Dame erhob sich. „Wann soll das gewesen sein?“

„Gegen vier Uhr, gnädige Frau, sagt die Mamsell.“

„Und jetzt ist es Neun! Such’ im Garten.“

Das Mädchen ging. Die Zurückbleibende setzte sich ruhig wieder nieder und blickte über den Hof hinweg. Die Jungfer kam und kam nicht. Die alte Dame wollte sich nicht ängstigen; wo sollte sie auch sein, die Else? Sie würde schon kommen.

„Ich kann das gnädige Fräulein nicht finden,“ berichtete die Dienerin. „Dörte sagt auch, sie hätte eine Tasche in der Hand gehabt.“

„Es ist gut, sie wird schon kommen – das gnädige Fräulein.“

Das Mädchen verließ das Zimmer. Eine Weile verharrte die alte Dame noch still auf ihrem Platze, dann ging sie die Treppe hinauf und trat in die Stube der Vermißten. Alles wie sonst – nichts fehlte, als die kleine Briefmappe, das Crucifix über dem Bette und ihr Gebetbuch; aber das bemerkte sie noch nicht. Die Truhe war sorgfältig geschlossen, und als Frau von Ratenow den Deckel hob, lag das zerknitterte weiße Kleid darin, sorgfältig zusammengelegt. „Sie kommt schon wieder; – Gott weiß, was sie vorhat heute früh!“

Nun trat sie noch einmal zu dem kleinen Tische unter dem Bücherbrett; da lag ein Brief! „Ein Brief – versiegelt?“ Und es war so eine kritzlige neumodische Handschrift; die alte Dame mußte erst die Brille aus der Tasche holen. „An Frau von Ratenow,“ las sie.

Sie setzte sich hin und löste das Siegel, langsam und ohne Hast, aber sie war bleich geworden bis in die Lippen.

 „Liebe, liebe Tante!

Halte mich nicht für allzu undankbar, weil ich heimlich Dein Haus verlasse, in dem mir so unzählige Gutthaten zu Theil geworden sind während meines ganzen Lebens! Mir blieb keine Wahl. Ich stand waffenlos und müde Euch Allen gegenüber; nur soviel Kraft fand ich noch – um zu gehen. Ich kann nicht mit einer Lüge im Herzen leben. Die Wahrheit zu sagen – mündlich zu sagen, vermochte ich nicht; ich wollte es thun, als ich gestern mit Herrn von Hegebach an Papa’s Grabe stand – und ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst, Tante. Ich bitte den lieben Gott darum, Du wirst dann milder urtheilen über mich!

Von D. aus, wohin ich meine Schritte lenke, werde ich an Herrn von Hegebach schreiben. Ich weiß, er ist zu edeldenkend, um mir nicht gern ein Versprechen zurückzugeben, das in einem Moment gelähmten Willens und ohnmächtiger Angst mir entrissen wurde.

Lebe wohl, liebe Tante, ich bin und bleibe in steter inniger Dankbarkeit Deine Dich hochverehrende Nichte
Elisabeth von Hegebach. 

N. S. Ich kann in D. jederzeit die Stellung einer Hülfslehrerin antreten; ängstige Dich nicht wegen meiner Zukunft.“

Die zitternden Hände ließen das Briefblatt sinken. „Daß Gott – wie war es möglich!“

Noch einmal nahm sie das Schreiben vor die Augen, als habe sie nicht recht gelesen: dann sah sie nach der Uhr, und wie unter einer schweren Last erhob sie sich und suchte ihr Zimmer auf. Sie klingelte und befahl der Jungfer mit abgewandtem Gesichte:

„Ich lasse meinen Sohn bitten herüber zu kommen.“

„Der Herr Baron sind ausgeritten,“ war die Antwort.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und fing dort an zu räumen, ein Necessaire, Negligé und allerhand Nothwendiges zur Reise. Aber sie griff immer etwas Verkehrtes und konnte das Richtige nicht finden; dabei faßte sie sich öfter an die Stirn, und dann suchte sie das Coursbuch; um elf Uhr erst ging der Zug via Halle.

Sie klingelte noch einmal und bestellte den Wagen, und der Johann sollte sofort mit einem Billet nach Bennewitz.

„Herr von Hegebach ist in der Stadt, ich sah schon seine Equipage heute früh,“ bemerkte schüchtern das Mädchen.

War denn Alles verhext heute? „Es ist gut,“ sagte sie wieder, aber der Zorn begann sich mächtig in ihr zu regen. Das war der Dank für alle ihre Liebe! Sie lief davon, wie es in Romanen vorkommt, sie stieß in grenzenloser Unüberlegtheit Alles, Alles von sich, was ihr, der Heimathlosen, wie ein großes unverhofftes Glück in den Schooß gefallen; sie compromittirte sich und das Haus, in dem sie eine Heimath gefunden. Das sanfte Mädchen mit den stillen braunen Augen, wo hatte sie diese unselige Energie her? Aber man durfte nicht nachgeben, der Brief an den Bennewitzer mußte verhindert werden, um jeden Preis.

Sie ging an den Schreibtisch und warf ein Telegramm auf das Papier an die Vorsteherin des Institutes zu D., Else zu ersuchen: keine Zeile zu schreiben, ehe sie nicht Rücksprache mit ihr genommen; sie käme mit dem Nachtzuge und bäte um Logis. Sie schickte das Mädchen mit der verschlossenen Depesche fort und schrieb an den Bennewitzer; er mußte doch in aller Welt wo aufzufinden sein, im Hôtel, auf dem Rathhause oder im Landrathsamt; er durfte nicht herkommen, man mußte ihm irgend etwas vorspiegeln. Wie wurde doch dieser ehrlichen geraden Natur das Lügen so schwer; sie zerriß schon den dritten Bogen. Else hat Migräne, hatte sie zuerst schreiben wollen; aber, mein Gott, er erfuhr sicher, daß sie ausgegangen. Sie habe plötzlich eine kleine Reise unternehmen müssen – Pah! wo soll sie hinreisen? Er mußte ja merken, daß irgend Etwas nicht in Ordnung. – Nein, sie konnte nicht lügen, mochte kommen, was da wollte, sie sah keinen Ausweg.

„Wenn Moritz doch erst da wäre!“

„Eine Empfehlung von Herrn von Hegebach.“ Das Mädchen brachte ein Bouquet von Maiblumen in kostbarer Manschette an Fräulein von Hegebach und einen Brief an Frau von Ratenow.

„Trage den Strauß in das Zimmer des gnädigen Fräulein,“ befahl sie und dann erbrach sie das Couvert.

(Fortsetzung folgt.)




[192]

Chriemhild an Siegfried’s Bahre.0 Nach dem Oelgemälde von Professor Emil Lauffer.

[193] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[194]

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.

Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten. 

V.

Meine Großmutter väterlicherseits,[1] von welcher ich ebenfalls nur wenig zu sagen weiß, will ich jedoch nicht unerwähnt lassen. Sie war eine außerordentlich schöne Frau und einzige Tochter eines Banquiers zu Hamburg, der wegen seines Reichthums weit und breit berühmt war. Diese Umstände lassen mich vermuthen, daß der kleine Jude, der die schöne Person aus dem Hause ihrer hochbegüterten Eltern nach seinem Wohnorte Hannover heimführte, noch außer seinem großen Barte sehr rühmliche Eigenschaften besessen und sehr respektabel gewesen sein muß.

Er starb frühe, eine junge Witwe mit sechs Kindern, sämmtlich Knaben im zartesten Alter zurücklassend; sie kehrte nach Hamburg zurück und starb dort ebenfalls nicht sehr betagt.[2]

Im Schlafzimmer meines Oheims Salomon Heine zu Hamburg sah ich einst das Portrait der Großmutter. Der Maler, welcher in Rembrandtscher Manier nach Licht- und Schatteneffekten haschte, hatte dem Bilde eine schwarze klösterliche Kopfbedeckung, eine fast eben so strenge dunkle Robe und den pechdunkelsten Hintergrund ertheilt, so daß das vollwangigte, mit einem Doppelkinn versehene Gesicht wie ein Vollmond aus nächtlichem Gewölk hervorschimmerte.

Ihre Züge trugen noch die Spuren großer Schönheit, sie waren zugleich milde und ernsthaft und besonders die Morbidezza[3] der Hautfarbe gab dem ganzen Gesicht einen Ausdruck von Vornehmheit eigenthümlicher Art; hätte der Maler der Dame ein großes Kreuz von Diamanten vor die Brust gemalt, so hätte man sicher geglaubt, das Portrait irgend einer gefürsteten Aebtissin eines protestantischen adlichen Stiftes zu sehen.

Von den Kindern meiner Großmutter haben, so viel ich weiß, nur zwey ihre außerordentliche Schönheit geerbt, nemlich mein Vater und mein Oheim Salomon Heine, der verstorbene Chef des hamburgischen Banquierhauses dieses Namens.

Die Schönheit meines Vaters hatte etwas überweiches, charakterloses, fast weibliches. Sein Bruder besaß vielmehr eine männliche Schönheit und er war überhaupt ein Mann, dessen Charakterstärke sich auch in seinen edelgemessenen, regelmäßigen Zügen imposant, ja manchmal sogar verblüffend offenbarte.

Seine Kinder waren alle, ohne Ausnahme, zur entzückendsten Schönheit emporgeblüht, doch der Tod raffte sie dahin in ihrer Blüthe und von diesem schönen Menschenblumenstrauß leben jetzt nur zwei, der jetzige Chef des Banquierhauses und seine Schwester, eine seltene Erscheinung mit – – –[4]

Ich hatte alle diese Kinder so lieb, und ich liebte auch ihre Mutter, die ebenfalls so schön war und früh dahinschied, und alle haben mir viele Thränen gekostet. Ich habe wahrhaftig in diesem Augenblicke nöthig, meine Schellenkappe zu schütteln, um die weinerlichen Gedanken zu überklingeln.

Ich habe eben gesagt, daß die Schönheit meines Vaters etwas Weibliches hatte. Es sollte das keine unziemliche Äußerung sein; im Sinne hatte ich nur die Formen seiner körperlichen Erscheinung, und da wollte ich nur andeuten, daß dieselben nicht straff und drall und seine Gesichtszüge nicht streng gemessen waren, sondern vielmehr weich und zärtlich geründet waren;[WS 1] den Conturen seiner Züge fehlte das Markirte und sie verschwammen ins Unbestimmte. In seinen späteren Jahren ward er wohlbeleibt, aber auch in seiner Jugend scheint er nicht eben mager gewesen zu seyn.

In dieser Vermuthung bestätigt mich ein Portrait, welches aus seiner ersten Jugendzeit datiert und das seitdem in einer Feuersbrunst bei meiner Mutter verloren ging[5]. Mein Vater wird hier dargestellt als ein junger Mensch von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren in rother Uniform[6], das Haupt kreideweiß gepudert und versehen mit einem höchst anmuthigen Haarbeutel.

Dieses Portrait war günstigerweise mit Pastellfarbe gemalt. Ich sage: günstigerweise, da diese Farbe weit besser als die Oelfarbe mit dem hinzukommenden Glanzleinenfirniß jenen Blüthenstaub wiedergeben kann, den wir auf den Gesichtern der Leute, welche Puder tragen, bemerken und die Unbestimmtheit der Züge sowie jene fatale rosige Fadheit der Oelbilder vortheilhaft verschleiert. Indem der Maler auf besagtem Portrait mit den kreideweiß gepuderten Haaren und der eben so weißen Halsbinde das rosigte Gesicht enkadrirte[7], verlieh er demselben durch den Kontrast ein stärkeres Kolorit und es tritt kräftiger hervor.

Auch die scharlachrothe Farbe des Rocks, die auf Oelgemälden so schauderhaft uns angrinst, macht hier im Gegentheil einen guten Effekt, indem dadurch die Rosenfarbe des Gesichtes angenehm gemildert wird.

Der Typus von Schönheit, der sich in den Zügen meines Vaters auf jenem Portrait aussprach, erinnerte weder an die streng keusche Idealität der griechischen Kunstwerke, noch an den spiritualistisch schwärmerischen, aber mit heidnischer Gesundheit gesättigten Stil der Renaissance; nein, besagtes Portrtät trug vielmehr ganz den Charakter einer Zeit, die eben keinen Charakter besaß, die minder die Schönheit als das Hübsche, das Niedliche, das kokett-Zierliche liebte; einer Zeit, die es in der Fadheit bis zur Poesie brachte, jener süßen, geschnörkelten Zeit des Rokoko, die man auch die Haarbeutelzeit nannte und die wirklich als Wahrzeichen, nicht an der Stirn, sondern am Hinterkopfe, einen Haarbeutel trug. Wäre das Bild meines Vaters auf besagtem Porträte etwas mehr Miniatur gewesen, so hätte man glauben können, der vortreffliche Watteau habe einen hübschen Schäfer gemalt, um mit phantastischen Arabesken von bunten Edelsteinen und Goldflittern umrahmt auf einem Fächer der Frau von Pompadour zu paradiren.

Bemerkenswerth ist vielleicht der Umstand, daß mein Vater auch in seinen späteren Jahren der altfränkischen Mode des Puderns treu blieb und bis an sein seliges Ende sich alle Tage pudern ließ, obgleich er das schönste Haar, das man sich denken kann, besaß. Es war blond, fast golden, und von einer Weichheit, wie ich sie nur bey chinesischer Flockseide gefunden. Den Haarbeutel hätte er gewiß ebenfalls gern beybehalten, jedoch die Ansprüche des fortschreitenden Zeitgeistes waren unerbittlich. In [195] dieser Bedrängniß fand mein Vater ein beschwichtigendes Auskunftsmittel. Er opferte nur die Form, das schwarze Säckchen, den Beutel; die langen Haarlocken jedoch selbst trug er seitdem wie ein breitgeflochtenes Chignon mit kleinen Kämmchen auf dem Haupte befestigt. Diese Haarflechte war bey der Weichheit der Haare und wegen des Puders fast gar nicht bemerkbar, und so war mein Vater doch im Grunde kein Abtrünniger des alten Haarbeutelthums, und er hatte nur, wie so mancher Krypto-Orthodoxe dem grausamen Zeitgeiste sich äußerlich gefügt.

Die rothe Uniform, worin mein Vater auf dem erwähnten Portrait abkonterfeyt ist, deutet auf hannöversche Dienstverhältnisse. Mein Vater trug sie etwa in seinem achtzehnten Jahr, als er sich im Gefolge des Prinzen Ernst von Cumberland befand zu Anfang der französischen Revolution und den Feldzug in Flandern und Brabant mitmachte, ich glaube in der Eigenschaft eines Proviantmeisters oder Kommissarius, oder wie es die Franzosen nennen: eines officier de bouche; die Preußen nennen es einen „Mehlwurm“.

Das eigentliche Amt des blutjungen Menschen war aber das eines Günstlings des Prinzen, eines Brummels[8] au petit pied und ohne gesteifte Cravatte, und er theilte auch am Ende das Schicksal solcher Spielzeuge der Fürstengunst. Mein Vater blieb zwar zeitlebens fest überzeugt, daß der Prinz, welcher später König von Hanover ward, ihn nie vergessen habe, doch wußte er sich nicht zu erklären, warum der Prinz niemals nach ihm schickte, niemals sich nach ihm erkundigen ließ, da er doch nicht wissen konnte, ob sein ehemaliger Günstling in Verhältnissen lebte, wo er etwa seiner vielleicht bedürftig seyn möchte.

Aus jener Feldzugsperiode stammen manche bedenkliche Liebhabereien meines Vaters, die ihm meine Mutter nur allmählig abgewöhnen konnte. Z. B. er ließ sich gern zu hohem Spiel verleiten, beschützte die dramatische Kunst oder vielmehr ihre Priesterinnen, und gar Pferde und Hunde waren seine Passion. Bey seiner Ankunft in Düsseldorf, wo er sich aus Liebe für meine Mutter als Kaufmann etablirte, hatte er zwölf der schönsten Gäule mitgebracht. Er entäußerte sich aber derselben auf ausdrücklichen Wunsche seiner jungen Gattin, die ihm vorstellte, daß dieses vierfüßige Capital zu viel Hafer fresse und gar nichts eintrage.

Schwerer ward es meiner Mutter, auch den Stallmeister zu entfernen, einen vierschrötigen Flegel, der beständig mit irgend einem aufgegabelten Lump im Stalle lag und Karten spielte. Er ging endlich von selbst in Begleitung einer goldenen Repetiruhr meines Vaters und einiger anderer Kleinodien von Werth.

Nachdem meine Mutter den Taugenichts los war, gab sie auch den Jagdhunden meines Vaters ihre Entlassung, mit Ausnahme eines einzigen, welcher Joly hieß, aber erzhäßlich war. Er fand Gnade in ihren Augen, weil er eben gar nichts von einem Jagdhund an sich hatte und ein bürgerlich treuer und tugendhafter Haushund werden konnte. Er bewohnte im leeren Stalle die alte Kalesche meines Vaters, und wenn dieser hier mit ihm zusammentraf, warfen sie sich wechselseitig bedeutende Blicke zu. Ja, Joly, seufzte dann mein Vater, und Joly wedelte wehmüthig mit dem Schwanze.

Ich glaube der Hund war ein Heuchler, und einst in übler Laune, als sein Liebling über einen Fußtritt allzu jämmerlich wimmerte, gestand mein Vater, daß die Kanaille sich verstellte. Am Ende ward Joly sehr räudig und da er eine wandelnde Kaserne von Flöhen geworden, mußte er ersäuft werden, was mein Vater ohne Einspruch geschehen ließ. – Die Menschen sakrifiziren ihre vierfüßigen Günstlinge mit derselben Indifferenz, wie die Fürsten die zweyfüßigen.

Aus der Feldlagerperiode meines Vaters stammte auch wohl seine grenzenlose Vorliebe für den Soldatenstand oder vielmehr für das Soldatenspiel, die Lust an jenem lustigen, müßigen Leben, wo Goldflitter und Scharlachlappen die innere Leere verhüllen und die berauschte Eitelkeit sich als Muth gebehrden kann.

In seiner junkerlichen Umgebung gab es weder militärischen Ernst noch wahre Ruhmsucht; von Heroismus konnte gar nicht die Rede sein. Als die Hauptsache erschien ihm die Wachtparade, das klirrende Wehrgehenke, die straffanliegende Uniform, so kleidsam für schöne Männer.

Wie glücklich war daher mein Vater als zu Düsseldorf die Bürgergarden errichtet wurden und er als Offizir derselben die schöne dunkelblaue mit himmelblauen Sammetaufschlägen versehene Uniform tragen und an der Spitze seiner Colonnen unserem Hause vorbeydefiliren konnte. Vor meiner Mutter, welche erröthend am Fenster stand, salutirte er dann mit allerliebster Courtoisie; der Federbusch auf seinem dreyeckigen Hute flatterte da so stolz und im Sonnenlicht blitzten freudig die Epauletten.

Noch glücklicher war mein Vater in jener Zeit, wenn die Reihe an ihn kam, als kommandirender Offizier die Hauptwache zu beziehen und für die Sicherheit der Stadt zu sorgen. An solchen Tagen floß auf der Hauptwache eitel Rüdesheimer und Aßmannshäuser von den vortrefflichsten Jahrgängen, alles auf Rechnung des kommandirenden Offiziers, dessen Freygebigkeit seine Bürgergardisten, seine Creti und Pleti, nicht genug zu rühmen wußten.

Auch genoß mein Vater unter ihnen eine Popularität, die gewiß so groß war, wie die Begeisterung, womit die alte Garde den Kaiser Napoleon umjubelte. Dieser freylich verstand seine Leute in anderer Weise zu berauschen. Den Garden meines Vaters fehlte es nicht an einer gewissen Tapferkeit, zumal wo es galt, eine Batterie von Weinflaschen, deren Schlünde vom größten Caliber, zu erstürmen. Aber ihr Heldenmuth war doch von einer anderen Sorte als die, welche wir bey der alten Kaisergarde fanden. Letztere starb und übergab sich nicht, während die Gardisten meines Vaters immer am Leben blieben und sich oft übergaben.

Was die Sicherheit der Stadt Düsseldorf betrifft, so mag es sehr bedenklich damit ausgesehen haben in den Nächten, wo mein Vater auf der Hauptwache kommandirte. Er trug zwar Sorge, Patrouillen auszuschicken, die singend und klirrend in verschiedenen Richtungen die Stadt durchstreiften. Es geschah einst, daß zwey solcher Patrouillen sich begegneten und in der Dunkelheit die Einen die Andern als Trunkenbolde und Ruhestörer arretiren wollten. Zum Glück sind meine Landsleute ein harmlos fröhliches Völkchen, sie sind im Rausche gutmüthig, „ils ont le vin bon“ und es geschah ihnen kein Malheur; sie übergaben sich wechselseitig.

Eine grenzenlose Lebenslust war ein Hauptzug im Charakter meines Vaters, er war genußsüchtig, frohsinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüthe war beständig Kirmeß, und wenn auch manchmal die Tanzmusik nicht sehr rauschend, so wurden doch immer die Violinen gestimmt. Immer himmelblaue Heiterkeit und Fanfaren des Leichtsinns. Eine Sorglosigkeit, die des vorigen Tages vergaß und nie an den kommenden Morgen denken wollte.

Dieses Naturell stand im wunderlichsten Widerspruch mit der Gravität, die über sein strengruhiges Antlitz verbreitet war und sich in der Haltung und jeder Bewegung des Körpers kundgab. Wer ihn nicht kannte und zum ersten mahle diese ernsthafte, gepuderte Gestalt und diese wichtige Miene sah, hätte [196] gewiß glauben können, einen von den sieben Weisen Griechenlands zu erblicken. Aber bey näherer Bekanntschaft merkte man wohl, daß er weder ein Thales noch ein Lampsakus[9] war, der über kosmogonische Probleme nachgrüble. Jene Gravität war zwar nicht erborgt, aber sie erinnerte doch an jene antiken Basreliefs, wo ein heiteres Kind sich eine große tragische Maske vor das Antlitz hält.

Er war wirklich ein großes Kind mit einer kindlichen Naivetät, die bey platten Verstandsvirtuosen sehr leicht für Einfalt gelten konnte, aber manchmal durch irgend einen tiefsinnigen Ausspruch das bedeutendste Anschauungsvermögen (Intuition) verrieth.

Er witterte mit seinen geistigen Fühlhörnern, was die Klugen erst langsam durch die Reflekzion begriffen. Er dachte weniger mit dem Kopfe als mit dem Herzen und hatte das liebenswürdigste Herz, das man sich denken kann. Das Lächeln, das manchmal um seine Lippen spielte und mit der oberwähnten Gravität gar drollig anmuthig kontrastirte, war der süße Wiederschein seiner Seelengüte.

Auch seine Stimme, obgleich männlich klangvoll, hatte etwas Kindliches, ich möchte fast sagen etwas, das an Waldtöne, etwa an Rothkehlchenlaute erinnerte; wenn er sprach, so drang seine Stimme so direkt zum Herzen, als habe sie gar nicht nöthig gehabt, den Weg durch die Ohren zu nehmen.

Er redete den Dialekt Hannovers, wo, wie auch in der südlichen Nachbarschaft dieser Stadt, das Deutsche am besten ausgesprochen wird. Das war ein großer Vortheil für mich, daß solchermaßen schon in der Kindheit durch meinen Vater mein Ohr an eine gute Aussprache des Deutschen gewöhnt wurde, während in unserer Stadt selbst jenes fatale Kauderwelsch des Niederrheins gesprochen wird, das zu Düsseldorf noch einigermaßen erträglich, aber in dem nachbarlichen Köln wahrhaft ekelhaft wird. Köln ist das Toskana einer klassisch schlechten Aussprache des Deutschen und Kobes klängelt mit Marizzebill[10] in einer Mundart die wie faule Eyer klingt, fast riecht.

In der Sprache der Düsseldorfer merkt man schon einen Uebergang in das Froschgequäke der holländischen Sümpfe. Ich will der holländischen Sprache bei Leibe nicht ihre eigenthümlichen Schönheiten absprechen, nur gestehe ich, daß ich kein Ohr dafür habe. Es mag sogar wahr seyn, daß unsre eigne deutsche Sprache, wie patriotische Linguisten in den Niederlanden behauptet haben, nur ein verdorbenes Holländisch sey. Es ist möglich.

Dieses[11] erinnert mich an die Behauptung eines kosmopolitischen Zoologen, welcher den Affen für den Ahnherrn des Menschengeschlechts erklärt; die Menschen sind nach seiner Meinung nur ausgebildete, ja überbildete Affen. Wenn die Affen sprechen könnten, sie würden wahrscheinlich behaupten, daß die Menschen nur ausgeartete Affen seyen, daß die Menschheit ein verdorbenes Affenthum, wie nach der Meinung der Holländer die deutsche Sprache ein verdorbenes Holländisch ist.[12]

Ich sage: wenn die Affen sprechen könnten, obgleich ich von solchem Unvermögen des Sprechens nicht überzeugt bin. Die Neger am Senegal versichern steif und fest, die Affen seyen Menschen ganz wie wir, jedoch klüger, indem sie sich des Sprechens enthalten, um nicht als Menschen anerkannt und zum Arbeiten gezwungen zu werden; ihre scurrilen Affenspäße seyen lauter Pfiffigkeit, wodurch sie bei den Machthabern der Erde für untauglich erscheinen möchten, wie wir andre ausgebeutet zu werden.††

Solche Entäußerung aller Eitelkeit würde mir von diesen Menschen, die ein stummes Inkognito beybehalten und sich vielleicht über unsere Einfalt lustig machen, eine sehr hohe Idee einflößen. Sie bleiben frey in ihren Wäldern, dem Naturzustand nie entsagend. Sie könnten wahrlich mit Recht behaupten, daß der Mensch ein ausgearteter Affe sey.

Vielleicht haben unsere Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert dergleichen schon geahnt, und indem sie instinktmäßig fühlten, wie unsre glatte Ueberzivilisazion nur eine gefirnißte Fäulniß ist, und wie es nöthig sey, zur Natur zurückzukehren, suchten sie sich unserem Urtypus, dem natürlichen Affenthume, wieder zu nähern, sie thaten das Mögliche, und als ihnen endlich, um ganz Affe zu seyn, nur noch der Schwanz fehlte, ersetzten sie diesen Mangel durch den Zopf. So ist die Zopfmode ein bedeutsames Symptom eines ernsten Bedürfnisses und nicht ein Spiel der Frivolität – – doch ich suche vergebens durch das Schellen meiner Kappe die Wehmuth zu überklingeln, die mich jedesmal ergreift, wenn ich an meinen verstorbenen Vater denke.

Er war von allen Menschen derjenige, den ich am meisten auf dieser Erde geliebt. Er ist jetzt todt seit länger als 25 Jahren.[13] Ich dachte nie daran, daß ich ihn einst verlieren würde, und selbst jetzt kann ich es kaum glauben, daß ich ihn wirklich verloren habe. Es ist so schwer, sich von dem Tod der Menschen zu überzeugen, die wir so innig liebten. Aber sie sind auch nicht todt, sie leben fort in uns und wohnen in unserer Seele.

Es verging seitdem keine Nacht, wo ich nicht an meinen seligen Vater denken mußte, und wenn ich des Morgens erwache, glaube ich oft noch den Klang seiner Stimme zu hören, wie das Echo eines Traumes. Alsdann ist mir zu Sinn, als müßt ich mich geschwind ankleiden und zu meinem Vater hinabeilen in die große Stube, wie ich als Knabe that.

Mein Vater pflegte immer sehr frühe aufzustehen und sich an seine Geschäfte zu begeben, im Winter wie im Sommer, und ich fand ihn gewöhnlich schon am Schreibtisch, wo er ohne aufzublicken mir die Hand hinreichte zum Kusse.

Eine schöne, feingeschnittene, vornehme Hand, die er immer mit Mandelkley wusch. Ich sehe sie noch vor mir, ich sehe noch jedes blaue Aederchen das diese blendend weiße Marmorhand durchrieselte. Mir ist als steige der Mandelduft prickelnd in meine Nase, und das Auge wird feucht.

Zuweilen blieb es nicht beym bloßen Handkuß, und mein Vater nahm mich zwischen seine Knie und küßte mich auf die Stirn.

Eines Morgens umarmte er mich mit ganz ungewöhnlicher Zärtlichkeit und sagte: „Ich habe diese Nacht etwas Schönes von Dir geträumt und bin sehr zufrieden mit Dir, mein lieber Harry.“ Während er diese naiven Worte sprach, zog ein Lächeln um seine Lippen, welches zu sagen schien: mag der Harry sich noch so unartig in der Wirklichkeit aufführen, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben, immer etwas Schönes von ihm träumen.

(Fortsetzung folgt.)

[197]

Sein Bild.
Nach dem Oelgemälde von Karl Becker. Photographie im Verlage von Franz Hanfstängl in München.

[198]

Die Muse der dritten französischen Republik.

Von Schmidt-Weißenfels.

Es ist Mittwoch Abend. Die eleganten Straßen von Paris sind längst erlenchtest Vor einem der großen Häuser des Boulevard Poissonnière, nahe der Montmartrestraße, halten von Zeit zu Zeit Equipagen oder Fiacres, deren Insassen in gewählter Kleidung ihr Vorhaben des Besuchs einer feinen Abendgesellschaft den Blicken der Neugierigen genügend verrathen. Es kommen Damen in rauschenden Schleppen, Herren in militärischen Uniformen hohen Rangzeichens außer der Mehrzahl, die in gewöhnlicher Besuchstoilette erscheint. Je später es wird, desto zahlreicher die vorfahrenden Wagen. Noch die elfte Stunde hält die Freunde des Hauses nicht ab, sich an diesem herkömmlichen Empfangsabend einzufinden. Sie steigen die hell erleuchteten Treppen auf den eingespannten Teppichen hinauf – zwei, drei, oder sind es gar vier Treppen, bis wo die Salons sich öffnen, in welche der Diener sich verbeugend sie eintreten läßt! Eine südliche Flora in üppiger Fülle versetzt sie wie in einen Wintergarten. Ein feiner Wohlgeruch von lebenden Blumen und von sich verflüchtenden Essenzen zieht durch die eleganten, gastlichen Räume, deren künstlerischer Ausschmuck von Geschmack wie Reichthum zeugt. Der Hauptsalon vereinigt die Mehrzahl der Besucher; die Damen bilden auf den Polstersesseln einen Halbcirkel, hinter dem sich die Herren bewegen oder wo sie stehen. In den aus Ampeln matt erleuchteten Nebengemächern haben sie sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden und plaudern, debattiren vielmehr. Da ist einer der Minister, da der Präfect Soundso; hier ein französischer General und dort ein italienischer, ein spanischer Gesandtschaftsattaché, ein paar russische Diplomaten und Officiere, ein paar Senatoren, ein paar Deputirte, berühmte Maler und von der Mode umschmeichelte Schriftsteller; Einer von den vierzig Unsterblichen mit seiner Gemahlin, die sich mit einer der verehrtesten Künstlerinnen vom Théâtre française unterhält; von der hohen Finanz und der großen Presse, von der Opera und vom Buchhandel, also aus den einflußreichsten und verschiedensten Kreisen der Gesellschaft, die Aristokratie des Faubourg St. Germain ausgenommen, begrüßen sich hier die Vertreter mit hervorragenden oder doch interessanten Fremden und huldigen der Dame des Hauses, der Frau Adam, die bald hier, bald da ihre Gäste auszuzeichnen weiß.

Eine graziöse Erscheinung, diese Frau Adam! Man vergißt ihr gegenüber, daß sie schon zwei Männer gehabt, zweimal und längst zum zweiten Mal Wittwe ist, als Großmutter schon nach einem Jahrzehnt zählt. Mit ihren Vierzigern an Sommern entfaltet sie noch alle die Reize, wie sie Balzac, der Kenner, der Frau von dreißig Jahren beigelegt hat. Von zierlicher Figur, trägt sie über vollen Schultern auf einem feinen Halse ein allerliebstes Köpfchen. Sage man ein Musenköpfchen, mit hellen, sprechenden, seelischen Augen, freier Stirn mit dunkelblondem Haar, das in leichtem Gelock über den Nackeu fällt, mit frischen, weichen Lippen und beinahe noch Kindlichkeit in den Zügen, die sich mit anmuthiger weiblicher Koketterie mischt. Dazu echter Pariser Chic und lebhafter Geist, was Alles in Verbindung mit einem anständigen Geldreichthum diese Wittwe in den Augen heirathslustiger Männer recht begehrenswerth erscheinen lassen muß.

Sie weiß sich überdem durch das feine Haus, das sie in Paris hält, durch vortreffliche Diners, durch ihren literarischen und ihren politischen Ehrgeiz interessant zu machen, um so mehr, als sie als Frau ihre Erfahrungen hinter sich hat. Blutjung wurde sie, Juliette Lamber, an einen Arzt ohne Praxis, Doctor La Messine, verheirathet. Das erwachende Herz der hübschen jungen Frau fand nur bitterste Enttäuschungen in dem Manne, mit dem sie für das Leben verbunden worden war. Ihre feine und poetische Natur empörte sich gegen die selbstsüchtige Brutalität, die ihr in der Ehe erwiesen wurde. Es war ein weibliches Martyrium, welches glücklicher Weise nicht allzu lange dauerte. La Messine verdarb und starb, und Juliette, die sich schon vorher von ihm getrennt hatte, wurde wieder völlig frei, noch in der Blüthe ihrer Weiblichkeit. Sie heirathete nun den sehr braven und sehr wohlhabenden Generalsecretär des Comptoir d’escompte Edmond Adam, der zwar schon ein Graubart, aber ein imposanter und sympathischer Mann war, mit dem sie als seine Eva glücklich und zufrieden noch ein Jahrzehnt lang lebte.

Frau Edmond Adam konnte sich für Alles entschädigen, was sie als Frau La Messine hatte leiden und entbehren müssen. Ihr zweiter Mann that seiner schönen jungen Frau Alles zu Gefallen. Er gab Gesellschaften, wo die jungen republikanischen Feuerköpfe, Leute wie Gambetta und Rochefort, den Hof um seine Gattin bildeten, die sich jetzt als glühende Republikanerin aufspielte und eine Lust daran bezeigte, in ihrem Hause die radicalsten Feinde des Kaiserreichs zu versammeln. Es war in den letzten Jahren der Louis Napoleon’schen Herrlichkeit, deren Sonne niederging und auf deren Ende die Republikaner mit wachsender Ueberzeugung hofften. Rochefort begann sich durch seine „Lanterne“ dem Kaiserreich furchtbar zu machen; Gambetta wurde durch eine Advocatenrede für die Republik ein gefeierter Volkstribun.

Man kann sich denken, wie vergnügt man im Salon Adam’s war, als am 4. September 1870 das Kaiserreich wirklich und wie ein Kartenhaus zusammenbrach und die lieben Hausfreunde nun die neu errichtete Republik regierten. Lauter Perikles, denen Frau Adam eine Aspasia war. Auf eine Bitte, auf ein Wort von ihr wurden ihre Schützlinge, wenn sie wollten, in gute Beamtenstellen gebracht. Sie überraschte sogar eines Tages ihren Mann mit seiner Ernennung zum Polizeipräfecten von Paris – eine sorgenvolle Stellung, die der wenig ehrgeizige und Ruhe liebende Herr so bald als möglich wieder abgab. Aber Juliette wollte doch ihren Alten unter den politischen Größen der dritten Republik sehen. So verschaffte sie ihm denn nach der Gründung des Senats einen Polsterstuhl in dieser hohen Versammlung. Als Senator starb Adam in der Mitte der siebenziger Jahre und in dem Geruche eines patriotischen Republikaners ehrlich-harmlosen Charakters.

Da Juliette – oder, wie sie sich fortnannte, Frau Edmond Adam – die Seele ihres Salous seit jeher gewesen war, so änderte sich durch den Tod ihres Mannes gar nichts daran. Sie hielt in der alten Weise weiter Haus und gewann nun als Wittwe sogar mit einem erhöhten Interesse auch eine höhere Bedeutung in der politischen Welt von Paris. Es gab unter den neuen Matadoren genug, die sich gern dazu verstanden hätten, der dritte Mann für die reizende und reiche Frau zu werden, und der mächtig aufsteigende Gambetta galt für Denjenigen, um dessen willen die neue Aspasia ihren Wittwenschleier abermals wieder ablegen würde. Mindestens spielte sie vor den Augen der Welt die Rolle einer zärtlichen Vertrauten Gambetta’s, und je mehr der Stern dieses Ehrgeizigen stieg, desto mehr befestigte sich auch ihre politische Stellung. Sein Ministerium, das Alle enttäuschen sollte, war ihr Höhepunkt, der allgemein anerkannt wurde. Ihrem Einflusse auf die zur Macht im Lande gekommene Partei war es zuzuschreiben, daß sich „tout Paris“, die Elite der politischen und literarischen Gesellschaft, zu ihren Abendunterhaltungen drängte, und gewiß hat sie thatsächlich in jener Zeit auch mehr Bewerbern zu Präfecturen und Unterpräfecturen verholfen, als die meisten der französischen Damen, welche von jeher an der Aemterbesetzung unter der Monarchie wie unter der Republik ihren Antheil gehabt haben. Unzweifelhaft war und ist ihr Salon im Paris der dritten Republik der bedeutendste und sie unter den Frauen derselben die in der politischen Gesellschaft hervorragendste. Freilich verdankt sie diese Auszeichnung nicht so sehr einer Ueberlegenheit an Intelligenz und Bildung, als vielmehr wesentlich der Camaraderie mit den politisch emporgekommenen republikanischen Mittelmäßigkeiten und dabei dem merkenswerthen Umstande, als eine feine und geistvolle Frau mit ihrem radicalen Republikanerthume eine ihren Gesinnungsgenossen hochwillkommene Ausnahme zu bilden. Denn gewiß ist, daß die Pariserinnen keine schwärmerischen Verehrerinnen der ihnen viel zu spießbürgerlichen dritten Republik sind, und, je mehr sie Damen von Welt sind, desto weniger fühlen sie sich einem Idealismus zugeneigt, wie er unter der ersten Republik zu Ende des vorigen Jahrhunderts so viele schöne und geistvolle Frauen, eine Roland, eine Taillie, eine Desmoulins, eine Beauharnais, begeisterte. Frau Edmond Adam aber gefällt sich darin, und ihre Schmeichler haben sie um deswillen auch die „Muse der Republik“ von heute genannt. Seien wir so galant, ihr diese Schmeichelei zu gönnen.

[199] Wie wir Deutsche dieselbe richtig zu verstehen haben, wollen wir bei der Zeichnung des Portraits dieser Auserkorenen aber denn doch in breiten Strichen angeben.

Um poetischen oder durch geistige Bedeutung in der Gesellschaft sich auszeichnenden Damen eine Huldigung zu erweisen, hat man schon öfter deren zu Musen gekrönt. Delphine Gay, die dann die Frau Emil von Girardin’s wurde, feierte die galante literarische Pariser Welt in den dreißiger Jahren als die „zehnte Muse“, oder einfach als die „Muse Frankreichs“, und die liebenswürdige Frau, deren freisinnige, talentreiche Schriften und Theaterstücke noch heute in Ehren stehen, hat ihre Versetzung unter die Pieriden[14] mit der ihr eigenen Anmuth aufgenommen. Niemand hat sich dabei auch etwas Böses gedacht, während die beliebte neueste Musenkrönung der Frau Adam zwar auch nichts als eine literarische Spielerei ist, indessen eine nichts weniger als harmlose und poetische Deutung haben soll.

Frau Adam hat, wie erwähnt, ihren literarischen Ehrgeiz, und sie ist nicht die einflußreiche Salondame geworden, ohne ihre schriftstellerische Thätigkeit in das nöthige Licht zu setzen. Sie suchte schon als junge Frau La Messine über ihr eheliches Unglück Trost in Abfassung novellistischer und sogar sociale Fragen berührender Schriften, die sie unter ihrem Mädchennamen Juliette Lamber veröffentlichte.

Furore hat sie damit nicht weiter erregt; doch sind ihre Reiseschilderungen und ihre Novellen die Zeugnisse eines artigen Talents und einer geistvollen Frau. Am meisten lenkte unter diesen Büchern das ihrer „Anti-Proudhon’schen Ideen“ die Aufmerksamkeit der Pariser Lesewelt auf sich. Die unglückliche und beleidigte Frau ließ sich hier über die Rechte vernehmen, auf welche ihr Geschlecht in der Ehe Anspruch zu erheben habe.

Eigentlichen und größeren Erfolg trug ihr dann das „Tagebuch einer Pariserin“ ein, welches ihre Beobachtungen und Empfindungen während der Belagerung von Paris durch die deutschen Armeen ausspricht. Die patriotischen Töne, die sie hier anschlug, die leidenschaftliche Erbitterung über die siegrechen Feinde entsprachen viel zu sehr einem Herzensbedürfniß der Pariser, als daß sie der Verfasserin dafür nicht mit einer gewissen Popularität gedankt hätten. Zudem war sie damals Notre Dame du 4. Septembre, die vielbedeutende Freundin der herrschenden Partei und Staatsmänner, welche ihrerseits es nicht fehlen ließen, der Schriftstellerin Juliette Lamber den Ruhmeskranz als Patriotin zu reichen.

Sie schwärmte ja für Gambetta, für seine Kriegführung bis auf’s Messer gegen die Preußen, und für den Rachekrieg, den das verrathene Frankreich sobald als möglich nach Gambetta’s Sinn gegen das neu erstandene deutsche Kaiserreich führen würde. In diesem patriotischen Haß war sie ihren Verehrern die Muse der Republik, eine Muse mit heißem, gallischem Blut – uns Deutschen eine Medusa, für die wir unsere Perseusschwerter lose in der Scheide halten.

Diese hübsche, graziöse Frau Adam sieht also mit ihrem Musengesicht sehr gefährlich aus, und diese ursprünglich so harmlose Schriftstellerin Juliette Lamber hat seit dem Krieg von 1870 etwas von einem heroischen Zug bekommen. Sie ist die weibliche Verkörperung der Sehnsucht französischer Kriegsrevanche an Deutschland, wie Gambetta deren männliche gewesen. Diese Sehnsucht, diese Hoffnung, dieser Glaube an gründliche Revanche ist ja in’s gesammte moderne Franzosenthum übergegangen und der Ausdruck seines Patriotismus. Von Zeit zu Zeit tönt’s von drüben her wie Ruf zum Losbruch, und es geht dann wohl wie ein leises Klirren durch das neue deutsche Reich, als versicherten sich seine Männer, daß ihre Waffen bereit liegen. Der Franzmann war ja niemals unser guter Nachbar, und da er uns jetzt so bitter haßt, weil wir uraltes Muttervolk Europas unsere nationalberechtigte Machtstellung endlich aus französischem Uebermuth herausgeschlagen haben, so nehmen wir es mit der Gelassenheit des Erstarkten hin und hoffen unsererseits, daß unsere Feinde jenseits des Wasgau sich mehr und mehr der Einsicht fügen werden, es sei mit ihrem Gloirespiel auf Kosten anderer Völker vorbei.

Wenn es freilich nach dem Köpfchen und dem Herzen der Frau Adam gegangen wäre, hätte der furchtbare Ringkampf auch bereits stattgefunden, als dessen Ergebniß sich die Franzosen den Wiedergewinn ihrer alten Oberherrschaft durch die Niederlage und Zertrümmerung des deutschen Reiches versprechen, was sie ja eigentlich mit dem Jammer- und Racheruf um das ihnen wieder abgenommene altdeutsche Land und Volk von Elsaß-Lothringen ausdrücken wollen. Aber Frau Adam kann die französische Armee nicht mobil machen, und ihre Freunde können ihr zu Liebe den großen Krieg auch nicht anfangen. Selbst der grimmige Gambetta, als er Minister geworden und Lenker der Geschicke seines Vaterlandes, mußte entmuthigt einsehen, daß ein böses Haar in der Revanchepolitik sei, und die Heißsporne davon abhalten. Bei ihrem Fanatismus war Frau Juliette über diese Weisheit ihres Musterpatrioten äußerst verstimmt und wollte sich wegen des großen Rachezuges bei Leibe nicht noch weiter auf die Zukunft und die zu erwartende Gerechtigkeit des Schicksals vertrösten lassen. Kurz entschlossen, suchte sie vielmehr nun in eigener Politik zu machen, um gewissermaßen Gambetta vor Thatsachen zu stellen, die ihn zur Action treiben sollten. Eine Allianz mit Rußland – wenn man ihm die auf dem Präsentirteller brachte, konnte er da noch widerstehen, sie zu dem einzig schönen Zweck der Vertilgung deutscher Macht und Herrlichkeit anzunehmen? Und sie faßte diese Idee in weiblicher Leidenschaftlichkeit und Kurzsichtigkeit so ernst auf, daß sie sich wirklich selbst auf die Reise nach Petersburg machte, um wie eine außerordentliche Bevollmächtigte Frankreichs mit der russischen Staatskunst sich über die Umgestaltung der Karte, wenigstens Preußens, zu benehmen.

Diese Mission der „Muse der Republik“ in Gestalt der Frau Adam, die sie sich selbst im Januar 1882 gegeben, erweckte bei den Russen mehr Neugier als Entgegenkommen. Die panslavistischen Deutschenfresser à la Skobeleff waren zwar sogleich bereit, für eine Allianz Rußlands mit Frankreich nach der Absicht der politisch Vertrauten Gambetta’s in die Steigbügel zu treten; aber bei maßgebenden Personen in Petersburg, und gar bei Hofe, klopfte sie vergebens an. Ihr Fiasco war da so elegant als möglich, und wenn auch Gambetta nicht so rasch, und während sie noch für ihn die Agentin spielte, auf die Ministerpräsidentschaft hätte verzichten müssen, so würde ihr eitles Unternehmen doch ohne jede ernsthafte Folge geblieben sein.

Alle krampfhaften Koketterien Frankreichs mit den Völkern und Staaten, welche an dem aufgestiegenen glänzenden Gestirn Deutschlands ihren Aerger haben, brachten ihm keinen praktischen Nutzen ein. Es schlug Niemand in die lockend hingehaltene Hand der wabernden gallischen Muse ein, und fest stand und treu die Wacht am Rhein, mitleidig auf das jämmerliche Gebahren und widrige Lästern schauend, in dem das patriotische Pöbelfranzosenthum in Paris aus „Revanche“ gegen die Prussiens zu wüthen sich gefiel. Die „große Nation“ machte sich selbst immer kleiner; alle Welt konnte mehr und mehr erkennen, was für eine klägliche Tragik aus ihrem Schmerze sprach, mit dem Abenteuer von 1870 sich so sehr verrechnet zu haben, und wie sie so leicht die angenommene Würde verlor, nun sie der glänzende Firniß von selbst nicht mehr deckte und steifte. Machte sie doch aus dem Behagen kein Hehl, mit Russen, Czechen und Magyaren die Orgien deutschfeindlichen Fanatismus zu feiern.

Madame Edmond Adam treibt ihre Faxenpolitik mit allerhand deutschfeindlichem Volke auch nach Gambetta’s Tode eifrig weiter. In ihrem Salon war der Prahlhans Skobeleff der gefeierte Mann der Zukunft, der mit Tataren und Baschkiren den Franzosen helfen würde, ihre Revanche zu nehmen. Dort wurde am liebsten im Mückenspiel verbissener Geister für Frankreichs nothwendige Wiedergeburt als Störenfried der Welt geschwärmt und allen Hetzern gegen die tudesken Unterdrücker freundlichste Aufnahme gewährt. Und erst vor Kurzem wurde dort ein Plan zu einer neuen abenteuerlichen Reise der Frau Adam ausgeheckt, welche diesmal über Wien nach Bukarest und Athen führen sollte. Die Zeitungen berichteten sogar von einer Einladung, welche die Königin von Rumänien – eine deutsche Fürstin! – an Frau Adam gerichtet hätte, aber von Bukarest aus depeschirte man sofort, daß die Gerüchte von der vermeintlichen Einladung aus der Luft gegriffen seien, und so mußte die Reise diesmal unterbleiben.

Seit dem Jahre 1879 hat sich Juliette Lamber, die Schriftstellerin, eine Monatsschrift gegründet, „La Nouvelle Revue“, um darin die Musenpolitik der Frau Edmond Adam zu unterstützen. In der Einleitung dieses publicistischen Unternehmens charakterisirt sie es als ein demokratisch-freigeistiges. Es soll gleichsam ein [200] Musenalmanach der dritten französischen Republik sein, im Sinne und Geiste der Partei, deren Führer Gambetta war. Revanchepolitik steht ja auf deren Fahne, wenn sie auch aus guten Gründen nicht offen entrollt wird. Aber man weist doch bei jeder Gelegenheit auf sie mit Vorliebe hin.

In der „Nouvelle Revue“ giebt sich Alles Stelldichein, was in derselben Politik macht, und fährt man da auch mit den Aeußerungen nicht so plump heraus, wie in der Presse der Patriotenliga, so nährt man doch mit Zuvorkommenheit alle die nationalen Bitterkeiten, die sich gegen Deutschland richten oder einmal richten lassen können. Die politische Weisheit der Juliette Lamber ist dieselbe der Madame Adam, die über die Vorstellung nicht hinauskommt, daß die Prussiens die Welt, die einst so schön unter Frankreichs Gloiresonne war, für alle braven Völker verdorben haben und diese alle vor den preußischen Spionen und Verräthern auf der Hut sein müssen, bis die Stunde der Rettung und Befreiung schlägt und Frankreichs neueste Muse kriegswüthig ihrem Gefolge zurufen kann: „A Berlin!“ Vorderhand begnügt sie sich, in ihrer Revue Schmähartikel über die „Berliner Gesellschaft“ zu publiciren, welche in letzter Zeit so viel ungerechtfertigtes Aufsehen erregt haben. Für uns hat das Bedürfniß der jungen Großmutter nach einer patriotischen Rolle modern-französischen Stils nur ein pathologisches Interesse. Im heiß erstrittenen Besitze unseres natürlichen Rechts als deutscher Nationalstaat kann seine Bedrohung aus Eifersucht uns nur eine Frivolität, seine Verunglimpfung aus Haß nur eine krankhafte Kraftleistung sein.




Das neue deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
II.[15]

Ein anderer jüngerer Tragödiendichter, welcher der kraftgenialen Schule allgehört und seinen Werken eine etwas grell pessimistische Färbung ertheilt, Richard Voß, der Verfasser der „Scherben“, die meistens aus zertrümmerten Idealen bestehen, hat ebenfalls dramatische Preise erhalten, nicht wie Wilbrandt den Schiller- und Grillparzer-Preis, aber diejenigen, welche die Frankfurter Intendanz und das Mannheimer Hoftheater ausgesetzt hatten. Die geistige Atmosphäre der Vossischen Dichtungen hat etwas Schweres, Trübes, Vulcanisches; man bewegt sich oft wie im Rauchgewölk, das von Blitzen zerrissen wird; unheimliches unterirdisches Tosen kündigt gewaltsame Katastrophen an. Als das beste der Dramen von Richard Voß erscheint uns das Trauerspiel „Savonarola“, in welchem die dramatische Haltung noch am meisten harmonisch und edel ist; doch das Stück ist nie zur Aufführung gekommen. Die in Frankfurt gekrönte „Patricierin“ dagegen ist auf einigen der ersten Bühnen gegeben worden. Die Heldin des Stückes ist des Prätors Crassus Gemahlin, des Brudermordes Furie, ein stolzes, wildes Weib, entbrannt für den Sclavenführer Spartacus in einer zwischen Haß und Liebe schwankenden Leidenschaft. Sie vergiftet ihre Sclavin Hero, welche Spartacus liebt. Die großen Scenen zwischen ihr und dem Geliebten haben einen oft hinreißenden leidenschaftlichen Zug und sind auch theatralisch geschickt inscenirt; namentlich gilt dies vom vierten Acte, in welchem viel dramatische Bewegung ist: Spartacus erscheint von Liebe entflammt; aber der Anblick der Leiche der gemordeten Hero wandelt die Liebe in wilden Haß. In diesen Scenen zeigt sich Richard Voß als Schüler Wilbrandt’s, der auch das Geheimniß effectvoller theatralischer Steigerung besitzt. „Die Patricierin“ ist wie „Savonarola“ in Versen geschrieben. Die beiden neueren Prosastücke von Voß, „Pater Modestus“ und „Luigia Sanfelice“ entbehren den Halt, welchen der Vers unleugbar giebt; sie sind daher zerfahrener und wüster; der Diction fehlt es nicht an jenen ausschweifenden Hyperbeln, welche der Schillerschen Jugenddichtung eigenthümlich sind. Beide Stücke spielen in Italien, das erste in der Campagna in neuester Zeit. Pater Modestus ist nicht nur eine Art Pater Lorenzo, welcher hinter dem Rücken der Eltern ein liebendes Paar traut; er hat selbst eine Tochter, die gegen seinen Willen in’s Kloster gebracht wird und die er zu befreien sucht, ehe sie auf immer gebunden ist; er greift zuletzt zu einem verzweifelten Mittel, indem er das Kloster mit Hülfe der Hirten in Brand steckt. Die feindlichen Principien des starren Kirchenthums und der weltmännischen Aufklärung sind durch die Fürstin Romanella und den Grafen della Rocca in markiger Zeichnung vertreten. Das ganze Stück athmet die Freigeisterei der Leidenschaft.

„Luigia Sanfelice“, in Mannheim mit dem Preise gekrönt, der aus Anlaß der Säcularfeier der „Räuber“ ausgesetzt wurde, spielt in Neapel zur Zeit der revolutionären Bewegungen um die Wende des Jahrhunderts; die Heldin verfällt dem Schaffot als ein Opfer jener Conflicte zwischen den wilden Republikanern und den noch wilderen Royalisten, deren Glaubensarmee mit fanatischer Wuth Tausende dem Moloch ihrer Rache schlachtet; sie rettet den Geliebten vor der Proscription und verräth dadurch die Pläne der Gegner. In der athemlos einherstürmenden Handlung mit ihren grellen Motiven und Contrasten fehlt es zu sehr an Ruhepunkten; auch die Diction hat etwas Tumultuarisches. Daß Luigia Sanfelice im Kerker eines Kindleins genas, machte ihr Loos doppelt bedauernswerth; doch besonders in der ersten Bearbeitung war es dem Dichter nicht gelungen, dies für Bühnenaufführungen stets gefährliche Kind seiner Eigenschaft als enfant terrible ganz zu entkleiden. Das an einigen Bühnen gegebene Schauspiel: „Der Mohr des Czaren“ enthält eine barocke Mischung von Motiven des Intriguenlustspiels und der dichterischen Tragödie; es ist interessant, macht aber durchaus keinen harmonischen Eindruck. Voß ist der begabte Stürmer und Dränger unter den neuern Poeten; ihm ist künstlerische Klärung wünschenswerth, die er merkwürdiger Weise in seinen ersten Stücken mehr erreicht hat als in seinen letzten.

Wir können dem vereinzelten Aufleuchten jüngerer tragischer Talente, deren Stücke hier und dort an dieser oder jener Bühne gegeben werden, hier nicht näher folgen; nur erwähnen wollen wir noch, daß auch einzelne ältere Dramatiker sich mit sehr sporadischen Aufführungen ihrer neuen Stücke begnügen müssen. Das gilt von Joseph Weilen, dessen „Tristan“ durch edeln dichterischen Schwung, dessen „Graf Horn“ sich durch geistreiche und theatralisch wirksame Fassung hervorthat, dessen „Edda“ und „Drahomira“ seinerzeit über die meisten Bühnen gingen, der aber mit seinem neuesten Drama „König Erich“, trotz einzelner ergreifender Situationen von tragischer Kraft, keinen Treffer des Erfolges gezogen hat; dies gilt von Heinrich Kruse, dem wackern publicistischen Veteranen, der fast alljährlich ein neues Drama erscheinen läßt, aber immer mehr in den Kreis der Buchdramatik zurückgedrängt wird. Seine „Gräfin“, die bei dem Berliner Schiller-Comité und bei der Kritik Anerkennung gefunden, sein „Wullenweber“ wurde an einigen ersten Bühnen gegeben; um die meisten späteren Dramen kümmerten sich die Directoren nicht mehr; nur neuerdings ist sein Drama „Raven Bornekow“ unter dem Titel „Otto Voge“ am Stuttgarter Hoftheater mit Erfolg in Scene gegangen. Es hat die Vorzüge aller Kruse’schen Dramen: lebenswahre Charakteristik, einen Stil von einer oft köstlichen Naivetät und einen oft edeln Schwung, doch auch ihre Schattenseiten: eine mehr epische Zersplitterung der Handlung, den Mangel an einem die Spannung erregenden Aufbau, eine oft chronikartige Trockenheit des Stils und überwiegende, anekdotenhafte Verzierung.

Paul Heyse, der hervorragendste deutsche Novellist und feinfühlige Dichter, hat vorzugsweise mit seinem Schauspiel: „Hans Lange“, das sich durch genrebildliche Scenen und charakteristische Kraft auszeichnet, und durch sein, von patriotischem Schwung beseeltes und in den Volksscenen mit feiner Laune charakterisirendes Drama: „Colberg“ die Bühnen auf die Dauer erobert; seine neuesten Trauerspiele: „Graf Königsmark“ und „Elfriede“, denen sich der in Weimar aufgeführte „Alcibiades“ anschließt, verdienen mehr Anerkennung, als sie gefunden: sie sind mit feinem künstlerischen Geist componirt und auch die Sprache hat lebhafteren dramatischen Pulsschlag, als die früheren Stücke

[201]

Vor dem Städtchen.
Nach dem Oelgemälde von V. Weißhaupt.

[202] des Dichters. Neuerdings hat er ein durchaus originelles und geistreiches Drama: „Don Juan’s Ende“ geschaffen, in welchem er uns den spanischen Libertin als Vater eines wieder aufgefundenen Sohnes vorführt und ihn wie einen neuen Empedokles in den Flammen des Aetna untergehen läßt. An dieses Stück haben sich die Bühnen noch nicht gewagt, während sein Schauspiel: „Das Recht des Stärkern“, obwohl in seinen Grundzügen durchaus novellistisch, in Hamburg und Berlin mit Erfolg aufgeführt wurde.

Felix Dahn, dessen „König Roderich“ als dramatischer Culturkämpfer seinerzeit großen Erfolg hatte, pflegt neuerdings mehr das mittelalterliche Lustspiel. Der jüngst verstorbene türkische Gesandte Murad Efendi zeigte in seinen „Selim“ „Mirabeau“ und „Marino Falieri“, sämmtlich Dramen, die an großen Bühnen zur Aufführung gekommen sind, den echten Pulsschlag dramatischen Lebens, die feurigen Ergüsse leidenschaftlicher Kraft, ohne welche eine Tragödie nicht denkbar ist, während der preisgekrönte Dichter des „Brutus und Collatinus“, Albert Lindner, mit seinen ästhetisch ungeläuterten Dramen plötzlich von der Bühne verschwunden wäre, wenn nicht die Meininger sein bestes, allerdings auch von der Shakespearomanie angekränkeltes Drama: „Die Bluthochzeit“, bei ihren Tournées auf ihrem Repertoire erhielten.

Ein kühner Wurf war das Trauerspiel von Arthur Fitger: „Die Hexe“; es ist ebenso viel Volksthümliches wie Sensationelles in diesem von grellen Lichtern beleuchteten Gemälde; überall aber zeigt sich dramatisches Mark. Wo die eine Scene gemildert wurde, in welcher das Gebahren der freigeistigen Heldin allzu verletzend und renommistisch war, hat das Stück, bis auf den schwachen letzten Act, eine starke Wirkung nicht verfehlt.

Wenn das Theaterpublicum allen diesen Trauerspielen mit einer gewissen Reserve gegenübertritt und sich zum Enthusiasmus so selten wie möglich hinreißen läßt, es müßte denn ein zeitungsberühmter Künstler denselben als schuldigen Tribut verlangen, so zeigt es dagegen warme Theilnahme für das höhere Conversationsstück, mag dies nun ein Rührstück, eine comédie larmoyante sein oder ein Salonlustspiel, oder ein bürgerliches Lustspiel; hier aber ist das Gebiet, wo die Franzosen uns auf unserem eigenen Boden besiegt haben; die großen Erfolge gehören Stücken wie „Fernande“, „Dora“, „Odette“, „Feodora“ an. Der auf der Bühne erfolgreichste Dramatiker der Gegenwart in Deutschland heißt Victorien Sardou; doch auch Emil Augier und Alexander Dumas der jüngere theilen sich in diese Theaterlorbeeren. Soweit es sich um hervorragende Talente einer Nachbarnation handelt, brauchte man gegen diese Aneignungen wenig Einwendungen zu machen, denn die Empfänglichkeit für das Schöne aller Zeiten und Völker ist ja ein anerkennenswerther Zug unserer universalen Bildung; der Sinn für die Weltliteratur, den ein Goethe gepflegt hat, darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden. Schlimm steht es nur mit dem gegenseitigen geistigen Austausche der Grenznationen, dessen Gleichgewicht doch als eine nationale Ehrensache betrachtet werden sollte: der deutsche Export nach Frankreich steht mit dem französischen Import in Deutschland in gar keinem Verhältniß; er ist, was das Drama betrifft, gleich Null, denn es wird kein neues deutsches Schauspiel in Paris aufgeführt. Umgekehrt werden aber nicht blos die Werke jener hervorragenden Talente, sondern überhaupt alles, was auf einer Pariser Bühne erscheint, selbst wenn es dort Fiasco gemacht hat, nach Deutschland eingeführt: so groß ist der Heißhunger der Theater in den Hauptstädten nach französischer Nahrung; die Directoren wallfahren nach dem Seinebabel, suchen sich dort in den Antichambres der Poeten und Agenten den Rang abzulaufen und zahlen ihnen, außer den Tantiemen, noch bedeutende Prämien welche deutschen Dramatikern nie gezahlt werden. Das ist beschämend für unseren nationalen Ruf, wir erscheinen dadurch als eine geistig insolvente Nation ganz im Schlepptau unserer überlegenen Nachbarn.

Ein befremdendes Symptom dabei ist es, daß sich das deutsche Publicum in französischen Stücken allerlei gewagte Probleme gefallen läßt, die ein deutscher Autor nicht auf die Bühne bringen darf. Auch die geschicktesten Nachahmer der neuen Franzosen schrecken daher vor solchen Wagnissen zurück. Einer der gewandtesten Jünger der französischen Schule, Paul Lindau, der ihr nicht nur manchen Kunstgriff der dramatischen Technik abgelauscht hat, sondern auch zum Vortheil unseres Lustspiels wie jene einen eleganten Dialog mit größeren geistigen Perspectiven pflegt, kommt in seinen Salonstücken nicht über kleinbürgerliche Motive hinaus, indem er, „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, alles in usum Delphini abzuschwächen sucht. So sind die Voraussetzungen seines besten Dramas „Maria und Magdalena“ so kindlicher Art, so confirmandenhaft zugestutzt, daß man gar nicht begreift, wie sich aus diesen Pensionsspielereien eine so ernste Handlung entwickeln kann. Ein französischer Autor hätte diese Vorgeschichte in ein ganz anderes Licht gerückt.

Paul Lindau hat mit seinen jüngsten Dramen nicht gleichen Beifall errungen, wie mit „Maria und Magdalena“, und „Ein Erfolg“, einem Stücke von höchst dünner Handlung und spärlicher Erfindung, das aber durch geistvollen Dialog und einige glücklich gezeichnete episodische Figuren, durch eine gewisse renommistische Frische das Publicum interessirte, besonders bei der vortrefflichen Aufführung am Wiener Burgtheater. „Johannistrieb“ und „Jungbrunnen“ sind immerhin fein entworfene Stücke mit stimmungsvoller Beleuchtung und geistigen Parallelen: doch es fehlt die rechte dramatische Spannung, das pièce de résistance in der Handlung, und gewisse stereotype Manieren des Dialogs und die stereotypen Gesichter der mehr französischen als deutschen ingénues, der unbeschriebenen weißen Blätter, die als Mädchencharaktere durch die Handlung flattern, schwächen den Eindruck der jüngsten Productionen Lindau’s wesentlich ab.

Auch Adolf Wilbrandt ist auf diesem Gebiete fruchtbar gewesen. Seine Einacter „Jugendliebe“, „Unerreichbar“, „Durch die Zeitung“ sind kleine Cabinetsstücke von feinstem Schliff espritvoller Conversation, die auch seinem Lustspiele „Die Maler“ ein anziehendes Gepräge giebt. Der erste Act derselben ist einer der besten Lustspielacte, von feiner Jovialität durchdrungen. Andere Lustspiele Wilbrandt’s waren Nieten, ein Schlag in’s Wasser: effectvoll dagegen war das Criminal-Schauspiel „Die Tochter des Fabricius“, in seinen Hauptscenen, wenn sie auch auf einem etwas grellen Canevas aufgetragen waren, ergreifend und erschütternd.

Ein sehr fleißiger Schauspieldichter ist Hugo Bürger, der jetzt sein Pseudonym abgelegt und sein letztes Stück „Aus einer Großstadt“ mit seinem Namen Hugo Lubliner veröffentlicht hat. Bürger’s Stücke haben meistens eine etwas weitläufige Anlage: er liebt es, mehrere Handlungen neben einander hergehen zu lassen, und es glückt ihm nicht immer, sie einheitlich zu verschmelzen. Er ist sehr sorgsam in den Motivirungen, aber er geräth gerade dadurch bisweilen in ein anfechtbares Detail. Sein Dialog ist die Sprache der gebildeten Conversation, sein Esprit nicht so leichtgeflügelt wie derjenige Lindau’s, aber doch nicht arm an glücklichen Wendungen.

Am meisten Erfolg hatte sein Lustspiel „Die Frau ohne Geist“. Warum die Heldin, die ein kluges Mädchen ist, die „Frau ohne Geist“ spielt, das ist vielfach motivirt, aber es fehlt das recht durchschlagende Motiv. Am Schluß des zweiten Actes wirft sie die Maske ab und erobert den Gatten; in den zwei letzten Aufzügen rächt sie sich als „Frau von Geist“ an einer Gegnerin und Nebenbuhlerin. Eine romantische italienische Novelle, welche man „Die Bettlerin von Santa-Croce“ nennen könnte, wird dann ohne jede durchgreifende Beziehung zur Haupthandlung noch in das Stück eingefügt. Auch verspürt man in manchen Vorgängen den Parfüm Sardou’scher Reminiscenzen.

Einheitlicher, aber in der Durchführung weniger interessirend ist „Gold und Eisen“. Der Held ist ein Techniker, der die beste Methode erfunden hat, das Eisen vom Phosphor zu befreien; die Heldin ist durch frühere Actienspeculationen um ihr Vermögen gebracht worden; sie gewinnt das verlorene „Gold“ durch das phosphorfreie „Eisen“ wieder; es ist natürlich, daß auch die Herzen sich finden.

Das Lustspiel „Auf der Brautfahrt“ beruht auf der hergebrachten Komik der Verwechselungen; frischer und freier gearbeitet, ohne allzu schweren Ballast von Motivirungen, ist „Jourfix“. Der „Jourfix“ ist freilich nicht in den Mittelpunkt der Handlung gerückt und hat nur eine nebensächliche Bedeutung; aber in dem ganzen Lustspiele herrscht gute Laune. Der berühmte Reisende, der edle Rumäne, der fashionable leichtlebige Arzt sind gute Lustspiel-Charaktere.

In dem neuesten Lustspiel „Aus der Großstadt“ ist die Handlung wieder verwickelter, hier und dort sogar etwas verzwickt, aber das Stück enthält einige nicht uninteressante Charaktere und Situationen, und die wirksamen Lichter in Ernst und Scherz sind an der rechten Stelle aufgesetzt.

[203] Wie Hugo Bürger’s Stücke an die französische comédie, so klingen die neuesten von Gustav zu Putlitz an das skandinavische Schauspiel an. Der Intendant des Karlsruher Hoftheaters ist ein productiver dramatischer Dichter; sein historisches Schauspiel „Das Testament des großen Kurfürsten“, sein Trauerspiel „Don Juan d’Austria“, eine nicht geringe Zahl einactiger und mehractiger Lustspiele, welche der Schule von Roderich Benedix angehören, beweisen die Vielseitigkeit seiner Begabung. Es herrscht ein gemüthvoller Ton, sittliche Bravheit und Tüchtigkeit in seinen Dramen. Die beiden letzten, „Rolf Berndt“ und „Die Idealisten“, sind bürgerliche Rührstücke; das erste ist indeß bei weitem gelungener. Es ist ein Gemälde socialer Zustände der Gegenwart, zum Theil mit satirischen Lichtern beleuchtet, ganz im Stil der Dramen von Ibsen und Björnson gehalten, und führt uns vor, wie der gute Ruf eines tüchtigen Mannes, der von böswilligen Gegnern erschüttert wurde, wieder hergestellt wird. Einige Charaktere sind markig gezeichnet. Das Schauspiel „Die Idealisten“ hat keinen rechten dramatischen Halt; es beruht auf einem Mißverständniß, das schon bald nach dem Beginne des Stückes leicht aufgeklärt werden konnte. Ueberdies ist der „Idealismus“ hier auch nicht annähernd in seiner höheren Bedeutung gefaßt; die Helden desselben sind Gemüthsmenschen, aber mit stark philiströsem Beigeschmack.




Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Lange, lange war das Dschapei droben am Steige stehen geblieben und hatte verdutzten Blickes dem dahinschreitenden Jäger nachgeschaut. Scheltende Worte aus diesem Munde – das war ihm freilich eine ganz neue, verblüffende Erfahrung.

So trollte es schließlich mit nachdenklichem Hängekopf der Hütte zu, kroch unter die Holzbank, drückte den Kopf in die Ecke zwischen Hüttenwand und Boden und schloß die Augen.

Ob es dann die näherkommenden Tritte seiner Herrin überhörte, oder ob es nur zu träge war, sich zu erheben – gleichviel – es rührte kein Glied, nicht einmal die Lider, als Nannei, mit dem Wasserganter auf der linken Schulter, der Thüre zugeschritten kam.

„Ja – ja was is denn da?“ murmelte das Mädchen, als es den weißen Zettel gewahrte.

Die Nachricht, welche Nannei nun mit langsam sich bewegenden Lippen entzifferte, schien ihr keine willkommene zu sein. Nachdem sie gelesen, betrachtete sie das kleine Blatt ein paarmal von beiden Seiten und schob es dann unter einem lauten, stockenden Seufzer hinter das Mieder.

Still ging sie an ihre Arbeit – die ihr keine Freude machte; sie kochte ihr Abendmahl – das ihr nicht schmeckte.

„Na – so an Abend im Sommer – net zum derleben!“ grollte sie einmal vor sich hin.

Als sie schließlich alle Arbeit von den Händen hatte, war sie herzlich froh. Ohne Zögern wollte sie sich zur Ruhe legen.

Erst lockte sie das Dschapei in die Stube, dann schob sie an der Hüttenthür den hölzernen Riegel vor und untersuchte den Verschluß des Fensters, wie sie das bisher allabendlich gethan, bevor sie schlafen ging.

Das Dschapei war dem Herde zugetrippelt und hatte sich auf sein gewohntes Lager niedergestreckt.

Nannei kauerte sich eine Weile zu dem Thiere nieder – doch plauderte sie heute nicht zu ihm, wie sie das sonst so gerne that – sie fuhr ihm nur langsam mit den Fingern immer und immer wieder durch das lockige Vlies.

Endlich erhob sie sich, und seufzend schritt sie der Kammer zu. Hier stand sie eine Zeit lang an den Kreister gelehnt und schaute sinnend in das dämmerige Fensterlicht.

Nun löste sie das Brusttuch und legte das Mieder ab. Dabei fiel Festei’s Zettelchen zu Boden. Hastig bückte sie sich darnach und schob es an dem in der Wandecke befestigten Crucifixe fürsorglich hinter die Füße der hölzernen Christusfigur.

Noch streifte sie die Schuhe und Strümpfe von den Füßen, dann kniete sie nieder auf die rauhen Dielen, stützte die Ellbogen auf ihre Truhe, und die eine Wange gegen die verschlungenen Hände neigend, begann sie zu beten.

Das währte lange – Nannei mußte ja um so vieles und für so Viele beten.

Stirne, Mund und Brust bekreuzend, erhob sie sich, bestieg den Kreister und suchte sich bequem zu legen. Darauf drückte sie die Augen zu und erharrte den Schlaf.

Der aber wollte nicht kommen.

Sie war sonst nicht von furchtsamer Art – aber heute – heute war so etwas Eigenes in ihr – Angst war es gewiß nicht, nein – so etwas Eigenes eben.

Eine Stunde mochte ihr schlaflos vergangen sein, da ließ sie sich vom Lager gleiten, holte das Dschapei von draußen in die Kammer herein und verriegelte die Thür. Vor ihrem Kreister breitete sie eine alte Regenkotze über die Dielen und drückte das Thier darauf nieder.

„So – Dschapei – so – und jetzt sei stad – und schlaf’!“ sagte sie und legte sich wieder zur Ruhe.

Die Nähe eines lebenden Wesens schien ihre Beklemmung zu lösen, denn bald verspürte sie in ihren Gliedern eine sanfte Wärme und jene wohlthuende Erschlaffung, die den kommenden Schlaf verkündet.

Da wurde sie durch ein pochendes Geräusch des Neuen aufgestört.

Mit unruhigem Getrippel stand das Dschapei an der Thür und ließ sich auch durch Nannei’s Zurufe nicht mehr besänftigen. Das Thier hatte sich eben in seiner Schmerzenszeit an das Lager da draußen gewöhnt.

So gab es für Nannei, wenn sie überhaupt zu Schlaf und Ruhe kommen wollte, keinen anderen Ausweg, als ihrem Dschapei den Willen zu thun. Sie öffnete die Thür und rief dem Liebling, der hurtig über die Schwelle hüpfte, schmollend nach: „Geh weiter – ich mag Dich nimmer!“

Wie nun das Thier seinem Lager zuschreiten wollte, stutzte es plötzlich vor dem weißschimmernden Streifen, den das Mondlicht durch eine Klumse der Hüttenthür über den Lehmboden warf. Schließlich tappte es aber doch darüber hinweg und streckte sich am Herde auf das Heu.

Nun herrschte Stille – und bald auch klangen die tiefen und langen Athemzüge des schlafenden Mädchens durch die angelehnte Kammerthür heraus in die Stube.

Wohl hielt sich das Dschapei ruhig; jedoch es schlief nicht; der flimmernde Lichtschein fesselte sein Auge.

Plötzlich hob es lauschend den Kopf.

Das waren leise Tritte gewesen – und nun folgte ein Geräusch, als würde eine schwere Last vorsichtig zur Erde gesetzt.

Jetzt erlosch am Boden jener helle Schimmer, und sacht erknirschte die Thür wie unter einem von außen kommenden Drucke. In der Klumse erschien ein blinkendes Etwas – und Ruck um Ruck verschob sich der hölzerne Riegel.

Da fiel die Thüre langsam in die Stube – und auf der Schwelle stand, umrahmt vom hellen Mondenschein, eine dunkle Gestalt mit geschwärztem Gesichte.

Kannte das Dschapei die Gespensterfurcht? So schien es fast – denn wie von grauenvollem Entsetzen gejagt, fuhr es von seinem Lager, durchrannte die Stube, warf die Holzgeschirre durch einander, schleuderte die Bank zur Seite und prallte, das Freie suchend, wider die Beine des nächtlichen Gastes, der unter einem zornige Fluche das lautauf schmählende Thier mit einem Fußtritt über die Schwelle warf.

Da klang aus der Kammer ein gellender Schrei – wohl stürzte nun der Bursche mit langem Satz in die Stube – schon aber flog die Thür ins Schloß, und klirrend fuhr innen der Riegel vor.

Bebend am ganzen Leibe, stand Nannei in dem engen, finsteren Gelasse – und wußte noch kaum, ob das Alles wirklich war, oder nur ein häßlicher Traum.

[204] Jetzt hörte sie die dünnen Bretter ächzen vor wuchtigem Drucke und hörte das Eisenwerk des Schlosses klappern und rasseln – und die nackten Sohlen gegen den Fuß des Kreisters stemmend, preßte sie die Arme, unter Schluchzen und Beten, mit der ganzen Kraft ihres jungen Körpers wider die wankenden Bretter.

Was half ihr Beten? Was half ihre Kraft?

Knirschend bog sich der Riegel – klirrend sprang er entzwei – in die Spalte der weichenden Thüre schob sich ein Fuß – ein Knie – ein tastender Arm – und nun – nun –

Nun klang an das Ohr des verzweifelnden Mädchens das laute Gebell eines Hundes – so nahe schon – nun schon in der Hütte – und „Festei! Festei!“ schrie es in herzzereißenden Lauten von Nannei’s Lippen.

Da wich an der Thüre die einwärtsdrückende Kraft, polternd fuhren die Bretter zurück in ihre Fugen – und unter dem jähen Ruck in die Kniee brechend, schlug Nannei mit voller Stirne gegen das dröhnende Holz.

Noch war sie nicht wieder auf den Füßen, da hallte von draußenher ein röchelnder Schmerzensruf – aufkreischend flog das Mädchen hinaus in die Stube – und während das heulende Bellen des Hundes, einem enteilenden Schritte folgend, von der Hütte sich entfernte, sah Nannei jenseits der Schwelle im Mondlicht Einen stehen – der hielt in hocherhobenen Händen die Büchse, die ihr krachendes Feuer gradauf in die Luft entlud – nun sank ihm das Haupt in den Nacken – es sanken ihm die Arme – die Büchse fiel klappernd auf die Steine – und der sie gehalten, brach zusammen mit dumpfem Schlage.

Es war nur ein Augenblick, während dessen Jammer und Entsetzen Nannei’s Glieder lähmten – dann klang es von ihrem Munde mit gellendem Wehschrei in die Lüfte: „Festei! Mein Festei! Mein armer Festei!“ – und noch war das schwebende Echo dieser Laute zwischen den mondbeglänzten Felsen nicht verhallt, da lag sie vor dem Hingestreckten schon auf beiden Knieen, hob mit zitternden Händen sein Haupt von den Steinen, und unter Schluchzen und Stammeln überströmte sie das bleiche, blutbegossene Antlitz mit Küssen und Küssen.

Nun kam auch der Hund zurück und umkreiste winselnd die jammervolle Gruppe.

Unter klagenden Worten des Schmerzes und der Liebe, unter schluchzenden Hülferufen hielt Nannei das Haupt des Geliebten an ihren Busen gepreßt, nicht achtend, daß sein warmes, rinnendes Blut ihr dünnes Linnen netzte und durchdrang.

„Festei! Festei!“ glitt es plötzlich in zitternder Freude von ihren Lippen.

Sie sah seine Augen offen, sah an seinem Blicke, daß er sie erkannte, und sah ein glückliches Lächeln seinen blassen Mund umspielen.




9.

Dichte Wolken umhüllten alle Bergspitzen, und vor einem kalten Winde flatterten unfreundliche Nebel quer über das Griesthal. Dicke Wassertropfen hingen an allen Büschen, aus denen sich ab und zu auch leichte weiße Dünste emporkräuselten.

Da war nun auf dem Wege, welcher in steilem Zickzack zum Trischübl emporführt, ein schlechtes, glitschiges Gehen.

Dem Wimbacher Jagdgehülfen machte das keine Sorgen, wohl aber der bunt aufgeputzten Weibsperson, die an seiner Seite ging und ein um das andere Mal mit einem ängstlichen Kreischen, das eigentlich mehr dem Blöken eines alten Schafes glich, den Arm des Jägers haschte. Man hätte auch ihre Züge und den Ausdruck ihres Blickes in den Bereich dieses Vergleiches ziehen können.

Nun that sie gerade einen langen, tiefen, wie ein recht gedehntes J…a lautenden Athemzug, aus dessen Art man schließen konnte, daß sie damit eine lange Rede geschlossen hatte.

Mit bedauerlicher Miene nickte der Jäger vor sich hin: „Mein Gott, mein Gott – jetzt kommt so ’was auch noch über das arme Deandl! Als ob ’s net an der letzten G’schicht’ schon g’nug g’habt hätt’!“

„J…a – da war halt jetzt nachher der Almbauer bei mir und hat mir die G’schicht auseinanderg’setzt. Das hab’ ich aber gleich g’sagt, daß ich am Trischübl net bleib’. J…a – morgen in aller Früh schon treib’ ich ’nunter auf d’ Griesalm. An der Zeit wär’s lang’ dazu – is ja heut’ schon der zwanzigste September.“

Der Jäger schien diese letzten Worte ganz überhört zu haben; plötzlich hob er den Kopf und legte seine Hand auf den Arm des Weibes. „Gelt, Wabei – sag’s ihr fein net g’rad so ’raus – weißt – sie könnt’ alles z’viel derschrecken.“

„J…a – ich will ’s ihr schon recht schon verblümeln,“ betheuerte Wabei. „Weißt – so schön – die soll schier gar nix merken.“

„No – da is’ nachher g’rad recht, daß wenigstens ich ihr a bißl a bessere Botschaft bringen kann. Weißt, mit’m Festei macht sich die Sach’ wieder – ja – macht sich schon!“

„Gelt – das is der Jäger, der droben gestochen ’worden is.“

„Ja.“

„Wohin denn?“

„No – von oben ’rein muß ihn der Lump an’ linken Schlaf hing’stochen haben. Da hat’s ihm den Knochen angesplittert, hat ihm ’runterwärts den ganzen Backen g’schlitzt und d’ Schulter hat’s ihm auch noch so a bißl derwischt.“

„J…a – mein – das is ja gar nix – da hab’ ich schon viel schönere Stich’ g’sehen,“ versicherte Wabei.

„Weißt – so ’was wär’ auch leicht in a vierzehn Tag’ wieder verheilt g’wesen, wenn man’s gleich richtig hätt’ verbinden können – aber nachher die Nacht da droben – und der Weg – Du! Da hättst Du auch g’nug! Mein – was hat das arme Deandl allein machen können – a bißl a Pflaster halt und an kalten Umschlag. No – und jetzt hat er halt so – so a Ding ’kriegt – a Knochenverentzündigung – sagt der Dokter – und – a Wochen a drei a vier kann’s dengerst noch dauern. Aber Gott sei Dank – er is schon aus der G’fahr.“

„J…a – wie is denn?“ frug Wabei, für die Dauer ihrer Frage am Wege sich verhaltend. „Hat man den Kerl noch net derwischt?“

„Na – gar nix is ’rauskommen!“ brummte der Jäger. „Von dem fremden Gewehr und von dem Rucksack mit demselbigen Hirschkalb, wo der Lump neben der Hüttenthür hat liegen lassen, da hat man kein Eigenthümer net derfunden. Derkennt – so, daß er drauf schwören möcht’ – hat ihn der Festei net, weil dem sein G’sicht ganz schwarz verstrichen war – und a bißl g’schwind is die G’schicht halt dengerst ’gangen – das heißt – weißt – an Verdacht hat er schon g’habt – ja – auf Ein’ von Dings enten – von – ah – von Saalfelden – Suttner Korbini heißt er. Wie aber d’Schandari[16] bei dem nachg’fragt haben, da hat er zwei Senner als Zeugen ’bracht, daß er in derselbigen Nacht am steinernen Meer in einer von sei’m Vatern seine Almhütten g’wesen is. Mein – so Kerl’ da – die schwören ja um a Maas Bier! Aber was kannst machen!“

„J…a – da kannst gar nix machen!“ wiederholte Wabei mit nachdenklich gesenktem Kopfe.

[205] Sie hatten die Höhe erreicht und schritten der Hütte zu, unter deren Thür Nannei stand, als hätte sie die Beiden erwartet.

Ja, den Iäger hatte sie erwartet – seit Stunden schon – und mit Schmerzen. Er brachte ja Nachricht von Festei.

Stillen, harrenden Blickes schritt sie dem Kommenden langsam entgegen.

„Gut geht’s, Deandl – gut,“ rief ihr derselbe von Weitem schon entgegen. „Er laßt Dich recht schön grüßen – ja – a ganze Menge Sachen hat er mir auftragen – aber – weißt – das is net so g’schwind g’sagt. Jetzt muß ich z’erst ’nauf in’s Jaagerhäusl. Ich sieh’ Dich nachher schon noch, eh’ daß gehst.“

Er nickte einen Gruß und folgte weiter dem Steige. Verwundert sah ihm das Mädchen nach; sie begriff seine letzten Worte nicht. Gehen? Wer ging?

„Jetzt weiß ich net – “ sagte Wabei nun, nachdem sie eine Weile kopfschüttelnd Nannei’s Gesicht betrachtet hatte, „jetzt weiß ich net – bist Du’s – oder bist Du’s net – d’Nannei?“

„Ja, ich bin’s schon.“

„Schau – wann mir g’rad so am Weg begegnet wärst, g’wiß wahr, ich hätt’ Dich nimmer derkennt. Hast allweil so a frisch G’sichtl g’habt – und jetzt bist so blaß und schmal im G’sicht – und so a traurig’s G’schau machst daher – j…a!“

„Wär’ auch kein Wunder!“ seufzte Nannei und blickte mit feuchten Augen dem Thale zu. Dann wieder hob sie den Kopf. „Und Du – gelt – Du bist d’Nadler–Wabei von Unterstein? Han? Was willst denn bei mir heroben?“

„No – jetzt weißt – j…a – da setzen wir uns zuerst schon a bißl nieder – geh – komm’!“ Sie schritt der Holzbank zu und machte sich’s darauf bequem.

Nannei lehnte sich unter die Thür.

„Weißt – gestern is Dein Almbauer zu mir ’kommen,“ erzählte Wabei, „und da hab’ ich ihm zugesagt, daß ich an Deiner Statt daheroben aushelfen will, solange halt d’Almzeit noch dauert. Kannst nachher gleich gehen, wann D’magst, und –“

„Ja – warum denn?“ frug Nannei verwundert. „Is ’leicht der Almbauer nimmer z’frieden mit mir? Und ich mein’ doch –“

„Ah na! Davon is gar kein Rede net. Aber weißt, Dein’ Mutter hat gestern zu ihm g’schickt – es geht halt nimmer allein – weil’s gar kein’ Menschen net hat – j…a – weißt – sie hat’s allweil g’schoben, weil’s dengerst noch gemeint hat, die Sach’ könnt’ sich von selber wieder machen – j…a – und ängstigen hat’s Dich auch net mögen – weißt –“

„Aber Wabei – ich bitt’ Dich nur g’rad,“ so stammelte Nannei in Furcht und Sorge mit zitternden Lippen, „schau – so sag’ doch – was is denn – was is denn? Es wird doch um Gotteswillen mein Mutterl net verkrankt sein?“

„Verkrankt? Ah na! Weißt – a bißl verkühlt hat sie sich halt, selbigsmal, wie’s bei Dir heroben war – drunten am See bei’m Heimfahren – j…a – und da liegt’s halt jetzt! Aber – da brauchst jetzt gar net zu derschrecken. Weißt – die Sach’ is ja net so g’fahrlich. D’Leut’ sagen freilich, daß – daß – und der Dokter weiß auch nix Bessers – aber schau – weißt – mußt halt denken, daß jeder Mensch amal sterben muß – Du, und ich, und a jeds – amal – j…a!“

Eiue Weile noch schaute Nannei mit starren Augen auf den Mund der Sprechenden, als könnte sie den Sinn dieser Worte nicht fassen, dann aber brach es aus ihr hervor, nicht wie Weinen und Schluchzen – es war wie das stockende Röcheln eines Erstickenden.

„Geh, Deandl, geh – thu jetzt doch net gar a so!“ tröstete Wabei, während sie mit beiden Händen Nannei vor sich her in die Hütte schob. „Schau – mußt Dich dengerst a bißl fassen! So ’was kommt über an Jeden! Da schau mich an – mir sind zwei Mütter g’storben, a richtige und a Stiefmutter – und ich hab’s doch verwunden. Drum sei g’scheid! Geh – rühr’ Dich a bißl! Pack Deine Sachen z’samm. Gegen Abend kommt Einer ’rauf, der mein Zeugl[17] bringt, und der kann nachher morgen ’s Deinige mit ’nunter nehmen. Jetzt is drei vorbei – bis um viere kannst am Weg sein, da bist nachher bis siebne drunt’ in Bartlmä und um neune bist daheim – ’leicht – j…a!“

Nannei hatte keine Thräne mehr; ihre Augen waren heiß und trocken. Lautlos ging sie in Kammer und Stube hin und wieder, um in den Korb zu legen, was ihr eigen war.

Wabei kramte inzwischen alle Neuigkeiten des ganzen Berchtesgadnerthales aus, wobei sie allen verfänglicheren Nachrichten den klugen Beisatz gab: „so sagen d’Leut’,“ oder „so heißt’s, aber ich glaub’s net!“

Nannei achtete dieses Geschwätzes nicht; nur einmal horchte sie auf, als Wabei vom alten Wofei erzählte:

„J…a, ah – Du – das is an andere G’schicht’ mit dem! Den haben vor a Wochen a drei die Funtenseer Schafhüter am kleinen Hirsch droben g’funden; ’s ganze G’wand hat er abg’rissen g’habt – und g’rad verschunden war er und umundum blutig – und halb derhungert! No – da is er halt nachher ’nuntergeschafft worden – j…a – mein – und jetzt is er ganz verruckt und überg’schnappt – was sich der für Sachen einbildt, g’rad grausen möcht’s Ei’m dran! Und die ganzen Nächt’ schreit er, als ob er am Spieß stecken thät. J…a – morgen, da wird er jetzt nachher forttranspadiert – weißt – in a Narrenhaus!“ –

Nannei war wegbereit. Sie ging dem Rauhenkopfe zu und suchte ihr Dschapei, das sie mit hinunternehmen wollte.

Als sie in Begleitung desselben wieder in die Hütte zurückkehrte, fand sie den Jäger in der Stube. Der erzählte ihr nun, was Festei ihm aufgetragen habe: es waren Grüße – Grüße – und wieder Grüße, vermischt mit Bedenken und Sorgen um Nannei’s Wohl.

„Gelt – wann wieder zu ihm kommst –“ sagte das Mädchen, kaum eines klaren Wortes mächtig, „so richt’ ihm halt aus – daß ich schon zu unserem Herrgott beten will – damit – weißt – und gelt – sagst es ihm – von mei’m Mutterl – gelt!“ –

Nun sie dahin schritt, kamen ihr doch die Thränen in die Augen. Zwischen niederen Büschen sah sie die Scheckin stehen, die ihr mit gestrecktem Kopfe entgegenbrüllte. Sie trat auf das Thier zu und schlang ihre Arme um seinen Hals:

„O mein – Scheckin, Du gute Du – gelt – b’hüt Dich Gott und – und sag’s auch zu die andern – ja – ja – b’hüt Dich Gott! – Komm, Dschapei – komm – jetzt müssen wir uns tummeln – weißt – ’s Mutterl – o du mein lieber Herrgott, lieber Herrgott, lieber Herrgott – schau –“

Sie fing zu laufen an – und lief, bis ihr der Athem ausging. Da mußte sie eine Weile stehen bleiben – es war auch das Dschapei um eine gute Strecke zurückgeblieben.

Wieder folgte sie, bald laufend, bald erhitzt und müde dahinschreitend, dem Steige. Manchmal wandte sie das Gesicht und schaute der Almhütte zu – da schoß ihr dann Alles durch den Kopf, was sie da oben erlebt hatte – all das Liebe – all das Entsetzliche! Und nun kam das über sie, das!

„Lieb’s Herrgottle, was hab’ ich Dir denn ’than, daß Du –“

Nun fing sie laut zu weinen an – und lief – und lief –

Als sie die Unterlahneralm erreichte, vermißte sie plötzlich ihr Dschapei.

Sie rief und rief – doch erfolglos.

Eine Strecke rannte sie zurück am Steige und rief und weinte, und weinte und rief – doch erfolglos.

Die quälende Sorge um die kranke Mutter verbot ihr ein weiteres Zurückgehen und weiteres Suchen – Nannei hoffte, daß ihr Dschapei wohl den Weg nach der Alm wieder finden würde – und da war es ja dann auch gut aufgehoben.

Sie selbst kam jetzt nur um so rascher vom Flecke.

Und dennoch langte sie drunten am See viel später an, als sie gehofft hatte.

Da war vor Stunden schon der letzte Nachen abgefahren. Doch stellte ihr der Förster, da sie ihm unter Thränen von der traurigen Ursache ihrer Heimkehr sprach, einen seiner eigenen Kähne zur Verfügung und gab ihr auch seinen Fischer mit.

[206] Die Beiden ruderten selbander, daß die Fluth vom Kiele laut und plätschernd emporrauschte. – Als Nannei vor dem Schiffmeisterhause zu Königssee an das Ufer sprang, war das Gelände schon in tiefe Dämmerung gehüllt.

Fliegenden Fußes eilte sie die Straße dahin.

Da plötzlich bannte ein jäher Schreck für Secunden ihre Schritte: im tieferen Lande sah sie eine lohende Flamme emporschlagen in die Luft und sah den nebligen Himmel zu trüber Röthe sich färben.

Im ersten Entsetzen täuschte sie sich in der Richtung des Brandes – und sie fürchtete schon – aber nein! Das Feuer war zu nahe – und mehr zur Rechten!

Sie lief und lief! Als sie die ersten Häuser von Unterstein erreichte, sah sie die Leute rennen und hasten. Die Einen, die aus ihren Thüren stürzten, riefen: „Wo brennt’s denn? Wo brennt’s?“ – und Andere, die des Weges einherkamen, schrieen entgegen: „Beim Wofei! Beim verruckten Wofei!“

Da war die Brandstätte.

Mit Mühe nur konnte sich Nannei einen Weg durch die dichtgedrängten Menschen bahnen, welche schreiend und jammernd die Hütte umringten.

Das war ein einziger Gluthhaufen, und aus seinem Innern hallte wildes Geheul und schauerliches Gelächter.

Prasselnd neigten sich jetzt die glühenden Balken des ausgebrannten Daches – krachend stürzten sie zu einem wüsten, lohenden, qualmenden Haufen in einander – und ein hundertstimmiger Schrei des Entsetzens tönte in die Lüfte.

Von Grausen gepackt, flog Nannei dahin – da war der schmale Fußpfad, der heimwärts führte über die thaunassen Wiesen – dort hob sich schon der dunkle First des elterlichen Hauses empor über einen heckenbesetzten Hügel – und nun – nun stand sie vor der niedrigen Thür.

Das Schloß widerstand ihrem Drucke – Nannei pochte – sie hörte schlurfende Tritte sich nähern – und als die Thür geöffnet wurde, stand eine alte Frau vor ihr – eine der Nachbarinnen.

Die Stube, welche sie wankenden Schrittes nun betrat, war unerleuchtet – doch dämmerte ein matter Lichtschein aus der offenen Kammerthür.

„Mutterle?“

„Nannei!“ klang von da drinnen her eine dünne, zitternde Stimme entgegen.

Aufschluchzend eilte das Mädchen diesem Rufe nach – brach vor dem Bette stöhnend in die Kniee und schlug die beiden Arme um den Hals der Mutter, auf deren eingefallenen Wangen schon das bleiche Zeichen des nahen Todes stand.

(Schluß folgt.)




Die Schatzmeisterin des Himmels.

Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens.


Es wird immer offenbarer, daß der „alte böse Feind“, der Teufel, dessen Herrschaft und Reich einst so groß und gewaltig war, mehr und mehr über schlechte Zeiten zu klagen hat; wenigstens scheint es gesichert, daß sein Credit in den Ländern, welche zu den Culturstaaten gehören, in den jüngsten Zeitläuften sehr in Abnahme gekommen ist. Sein Name ist, wie er als Mephisto sich bitter beklagt, „längst in’s Fabelbuch geschrieben“, und kein gebildeter Mensch glaubt mehr an den höllischen Junker mit Hörnern und Bocksfüßen. Damit ist auch der Glaube an seine Zaubermacht geschwunden, den Sterblichen, die ihre Seelen verkauft, vergrabene Schätze aufzuweisen, und heute citirt ihn kein Mensch, um mit seiner Hülfe seine Taschen mit Gold zu füllen. An Stelle dieser sündhaften Gewohnheit kam aber an gewissen Orten schon seit geraumer Zeit ein anderes Mittel in Schwung, das bei richtiger Befolgung aller Weisungen ebenso sicher wie die alte Teufelsbeschwörung zu Geld und Gut verhelfen soll.

Das Volk will mit dem altmodischen Gottseibeiuns nichts mehr zu thun haben und hat sich statt desselben für Beschwörungen und Citationen in Geldangelegenheiten eine eigene Heilige angeschafft. Diese soll auch, wie allgemein verlautet, ihre Sache durchaus nicht schlechter verstehen, als ehedem der Teufel selbst. Sie heißt Sancta Corona und wird als „Schatzmeisterin des Himmels“ angesehen. Der Kalender und das Martyrologium Romanum kennen dieselbe nicht, keine Legende nennt ihren Namen, ja es scheint sogar, daß sie niemals auf unserer schönen Gotteswelt gelebt habe. Dessen ungeachtet giebt ein bei Ph. Kraußlich in Urfahr-Linz erschienenes Büchlein über dieselbe und ihre Verehrung genügende Auskunft.

Dieses Büchlein führt den Titel: „Neuntägige Andacht zu der heiligen Corona“ und enthält schon in der Vorrede eine gründliche Untermeisung, wie man es anfangen müsse, um durch Hülfe dieser Heiligen zu Geld zu kommen.

Es würde uns zu weit führen, wenn wir alle die salbungsvollen „Anmuthungen“, die der unbekannte Verfasser einem geldbedürftigen armen Teufel in den Mund legt, ausführlich mitthellen wollten, und wir müssen uns deshalb darauf beschränken, nur eine flüchtige Blumenlese aus diesem Tractätlein anzuführen.

Vor Allem soll Derjenige, welcher die heilige Corona beschwören will, an einem neuen Sonntage, das ist einem Sonntage, auf den ein Neumond fällt, sein Gewissen durch Beichte und Ablaß reinigen. Darauf bete er 93 Vaterunser und siebenmal den Glauben, „vor dessentwillen, daß dir Gott die heilige Corona wolle schicken“. „In der Nacht aber,“ heißt es weiter, „da du wollest schlafen gehen, sprich alle Gebete bei einem geweihten Wachslicht neun Tage nach einander, so kommt die heilige Frau Corona unter diesen Tagen oder aber am neunten Tag zu dir im Schlaf, ohne Furcht und Scheu, lieblich und angenehm, wie dein Gebet gewirkt hat, und führet dich dahin, zu offenbaren, was du begehrt hast, oder sie bringet dir zum Bett, was du willst.“

Ueber das Leben der splendiden Heiligen berichtet das Büchlein, daß dieselbe eine Hauptmannstochter gewesen sei und unter der Regierung des Kaisers „Antoni Tiroh, welcher im Jahre 1610 zum Kaiserthum gekommen und regieret 19 Jahr“, gelebt habe. Ferner erfahren wir, daß unsere räthselhafte Schatzmeisterin einen Hauptmann zum Ehegemahl gehabt habe, „einen großen Mann in Egintisten, davon entwichen und von wegen des christlichen Glaubens willen zum Gefängniß eingeführt worden. Um das, weil sie beständig geblieben, ist sie an zwei mit Gewalt zusammengezogen Bäum gebunden worden. Als die heilige Corona mitten von einander gerissen worden, ist dann an jedem Baum der halbe Theil ihres Leibes hangen blieben. Der nämliche Tag wird begangen den 2. Mai.“

Nach dieser Erzählung folgen die eigentlichen Besprechungsformeln, so beim geweihten Licht nenn Tage hinter einander gesprochen werden müssen. Es sind drei Gebete zur heiligen Corona und drei „Ermahnungen vor dem Schlaf“, an die sich noch ein „Schlußgebetlein“ und ein „Urlaub nach empfangener Gabe“ anreihen.

In allen diesen Gebeten beschwört ein „mühseliger Sünder“ bei dem Leiden Christi, bei Cherubin und Seraphin, bei der „ganzen Ritterschaft“, bei den „heiligen drei Schwestern,“ welche übrigens nicht näher genannt werden, die heilige Corona, daß sie ihm zu Hülfe kommen wolle, und wendet sich zum Schluß noch an Gott Vater selber:

„Ich bitte Dich und Deine göttliche Gütigkeit, o himmlischer Vater, durch alle Sichtbaren und Unsichtbaren, schick mir zu Hülf die heilige Corona. Amen!“

Aehnliche Formeln wiederholen sich mehrmals unter immer kräftigeren Anrufungen, welche das Herz der heiligen Corona unfehlbar rühren müssen. Ja es bleibt nicht mehr bei der Himmelsritterschaft allein, bei welcher die Heilige beschworen wird, der „mühselige Sünder“ nimmt seine Zuflucht zum „siebenten Wort, das der Herr mit gewaltsamen, großen, erbärmlichen [207] Geschrei, so bis in den Himmel erschallet, und bis in die Höll hinunter gehöret ist worden, darüber sich Himmel und Erden erzittert und alle Elemente sich entsetzet“, gerufen hat.

Ansprachen von solcher Kraft müssen denn doch endlich selbst eine Heilige rühren, und im Vertrauen auf diese Wirkung rückt der „mühselige Sünder“ endlich heraus mit seinem Begehren:

„Ich falle Dir zu Füßen und bitte Dich als eine Schatzmeisterin des Himmels, Du wolltest mir aus meiner großen Noth und Armuth helfen und mir mit einer Summe Geld, soviel mir gedeihlich sein möchte, auch rechtes gangbares Geld, so nun gib und gab ist; begnaden, dieweil ich denn gar so arm und elendiglich bin.“

Nun folgen noch die drei „Ermahnungen vor dem Schlaf“ an unsere mildthätige Himmelscassiererin, worauf sich der Bittende getrost auf’s Ohr legen und das Weitere erwarten mag. Ob die Gerufene erscheinen werde, hängt natürlich von dem größeren oder kleineren Vertrauen ab, so der „mühselige Sünder“ während der neuntägigen Beschwörung an den Tag gelegt hat.

Auch scheint es, als ob die himmlische Schatzmeisterin nicht immer „lieblich und angenehm“, sondern mitunter ziemlich polternd und unhold aufträte, denn in den letzten Zeilen giebt das Büchlein noch „Weis und Lehr“, wie man sich beim Erscheinen des „Geistes“ zu verhalten und von ihm „Urlaub“ zu nehmen habe.

„Wenn Du etwas hörst,“ steht daselbst geschrieben, „so sprich es gleich an: Gottes Gnad und Huld sei mit Dir im Namen des Va†ters, des Soh†nes und des heiligen Gei†stes amen.“ Und zum „Urlaub“ spricht man: „Dir aber, Du gutwilliger Geist, gebiete und befehle ich, daß Du in gehörigen Ort zurückkehrst und in Freuden und Gutwilligkeit ohne Getümmel und Schaden meines Leibes und der Seele. Dazu verhelfe mir die allerheiligste Dreifaltigkeit. †††.“

So berichtet unser Zauberbüchlein von der heiligen Corona, und wer möchte wohl daran zweifeln daß sie dem „mühseligen Sünder“ mit ihren Gnaden schon oft erschienen sei?

Soll sie doch vor mehreren Jahren einmal einem alten Mütterchen, das gar emsig neun Nächte hindurch gewacht und gebetet hatte, auf der Innbrücke in Passau begegnet sein! Es war eine bleiche, schöne, schwarz gekleidete Frau, welche ein Körblein am Arme trug. Aber die Alte hatte nicht den Muth, die Erscheinung sogleich anzureden, und als sie sich endlich ein Herz faßte und umkehren wollte, war die bleiche Frau verschwunden. Nochmals machte sie zwar die ganze heilige Zauberei nach Anweisung des Coronabüchleins durch, aber alles war vergebens.

Ein anderes Mal kam es zu Mühldorf einem reichen geizigen Bauern in den Sinn, mit Hülfe der heiligen Corona seinen ohnehin schon beträchtlichen Besitzstand noch vermehren zu wollen. Da ihm aber für seine Person allein die ganze Procedur um endlich den ersehnten Geist zu sehen, etwas zu mühevoll war, wendete er sich um Beistand an ein altes Weib, das in derlei Dingen, wie nicht minder im Wahrsagen und Traumdeuten eine gewisse unheimliche Berühmtheit hatte. Die Hexe versprach Hülfe, verlangte aber für ihre Mühewaltung 400 Mark, welche der Geizhals, obwohl ungern, in der Hoffnung eines größeren Gewinnes endlich opferte. Die Beschwörung begann und ging richtiger Weise durch neun Nächte von statten. Wirklich stellte sich auch in der letzten Nacht eine Erscheinung ein, aber nicht die heilige Corona, sondern ein handfester Gensd’armerie-Corporal, welcher die Zauberin wegen Betrugs in den Arrest abholte. –

Ein solch löbliches Ende wünschen wir den Versuchen aller „mühseligen Sünder“, die mit Hülfe der Anweisung des Corona-Büchleins auf Gelderwerb ausgehen. Wir übergeben dieses traurige Literaturerzeugniß der Oeffentlichkeit nicht als ein Stück erheiternder Unterhaltung. Dazu ist ein solches Zeichen verwahrloster Volksbildung viel zu beklagenswerth. Wenn der Erzähler und der Leser aber sich trotzdem eines Lächelns über so überstrotzend wuchernde Blüthen der Dummheit nicht erwehren können, so möge man diese menschliche Regung verzeihen. Es ist das immer noch die mildeste Strafe für Verführer wie Verführte.

J. C. Maurer.




Blätter und Blüthen.


Eine Riesenorchidee. Wer in der Congo-Niederung während der Monate October bis Februar eine Fahrt stromaufwärts unternimmt, wie ich sie bereits im vorigen Jahrgange Seite 487 geschildert habe, der wird eine Erdorchidee in voller Blüthe bewundern können, welche an mächtiger Entwickelung wohl von keiner ihrer Schwestern erreicht, an Schönheit von keiner übertroffen wird. Diese Orchidee (Lissochilus giganteus Hook.) ist ein Prachtgewächs ersten Ranges, eine Königin selbst in ihrer Familie, deren Glieder doch überhaupt die wunderbarsten Blumen hervorbringen, die wir kennen.

Eine Riesenorchidee.
Nach einem Aquarell von Dr. Pechuel-Loesche.

In ihrem Habitus, selbst in Form und Farbe der Blüthen, ähnelt sie einigen unserer bescheidenen heimischen Orchideen, den bekannteren, manche Wiesen zierenden Knabenkräutern; nur muß man sich die letzteren in’s Riesenhafte gewachsen denken, denn Lissochilus mit zwei Meter hohen Schäften sind keineswegs selten, einzelne treiben sogar noch höhere Blüthenstände. Die vorwiegend mild carminroth, bisweilen aber auch leuchtend roth gefärbten Blüthen sind von bedeutender Größe. In der Regel umgeben sie nicht sehr zahlreich und darum nur locker vertheilt den entsprechend dicken Schaft; bei besonders kräftigen Pflanzen entwickeln sie sich jedoch in größerer Menge und stehen so dicht gedrängt, wie die Abbildung zeigt. Es giebt gewissermaßen arm- und reichblüthige Exemplare dieses Lissochilus, ebenso wie es stark- und schwachriechende giebt. Die meisten besitzen einen zarten, bei weitem nicht so auffallenden Duft wie andere Orchideen; doch wird diese Eigenschaft wohl durch den Standort beeinflußt, denn ich bin auch auf einzelne Blüthenstände gestoßen, welche einen betäubenden Wohlgeruch aushauchten.

Die Verbreitung dieser Prachtgewächse scheint eine sehr beschränkte zu sein. Hat man, am Nordufer des Congo entlang fahrend, die Bullen- und Kalbinsel passirt, so erblickt man in der Gegend von Malela und am Südufer um Tschissanga die ersten Exemplare, welche, von fern an unsere stattlichen Malven erinnernd, sich auf feuchten und morastigen Blößen deutlich vom dunklen Hintergrunde des Buschwerkes abheben. Bis in die Umgebung von Ponta da Lenha finden sie sich in Menge und an diesem Punkte besonders zahlreich auf dem, vom Gebüsch gesäuberten schlammigen Grunde rings um die englische und holländische Factorei. Dort mögen gegenwärtig einige Hundert vorkommen Als ich im Jahre 1875 schon einmal diese Gegend besuchte, gab es daselbst erst wenige Exemplare. Zwei Jahre früher hatte Monteiro einige Pflanzen von dieser Stelle nach England gesandt, welche in Kew Gardens mit Erfolg cultivirt wurden. Sie sind wohl die einzigen, welche bisher in Europa Beachtung gefunden, denn von denen, die ich zu jener Zeit für unsere botanischen Gärten sammelte und nach Deutschland schickte, ist nichts weiter gehört worden.

Außerhalb des beschriebenen Uferstriches werden diese Orchideen sogleich seltener und verschwinden endlich gänzlich. Nur in dem Inselhaufen oberhalb Ponta da Lenha lugen noch ganz vereinzelt die schönen Blüthenpyramiden aus dem hohen Grase am Ufer. Auch habe ich sie nirgends weiter weder an der Küste noch im Inneren von Westafrika beobachtet, außer an einem zweiten Standorte, und zwar am Gabun auf einem sumpfigen Terrain unfern der Hauptfactorei des Hamburger Hauses Woermann. Doch erreichen dort die Exemplare nicht die Größe der am Congo vorkommenden.

Zwei andere riesige Erdorchideen, wahrscheinlich ebenfalls Lissochilus, die eine mit tief purpurrothen, die andere mit gelblichen, violett gefleckten Blüthen, fand ich vor neun Jahren sehr selten auf feuchten Stellen der Savane von Pontanegra an der Loangoküste, halbwegs zwischen dieser Niederlassung und dem südlicher gelegenen Massabe. Pechuel-Loesche.     



Chriemhild an Siegfried’s Bahre. (Mit Illustration S. 192 und 193) Aus grauer Vorzeit, entsprossen aus der germanischen Götter- und Heldensage, stammt das gewaltige Epos, „Das Nibelungenlied“ genannt, welches nun seit so manchem Jahrzehnte die Dichter und Maler, und neuester Zelt sogar die Componisten begeistert zu immer neuen Schöpfungen. Unter den Malern hat seit Cornelius und Schnorr von Carolsfeld wohl Keiner den mächtigen Stoff dramatischer und effectvoller behandelt, als der Meister des hier in einem trefflichen Holzschnitte wiedergegebenen Bildes, Professor Emil Lauffer in Prag. Zum Verständniß der auf dem Bilde dargestellten Scene ist es nothwendig, auf den uralten Volksglauben hinzuweisen, welcher sogar in unsern Tagen noch in manchen Gegenden verbreitet ist: daß die Wunden des Getödteten von Neuem zu bluten beginnen, wenn der Mörder an die Leiche seines Opfers herantritt oder dieselbe berührt. Im Mittelalter erwuchs aus dieser Anschauung das sogenannte Bahrrecht oder Bahrgericht, bei welchem der des Mordes Verdächtige vor den Leichnam des Getödteten geführt wurde, die Wunden desselben berühren und dabei in einer vorgeschriebenen Formel Gott um ein Zeichen zur Entdeckung des Schuldigen anrufen mußte. Wenn nun bei diesem schauerlich-feierlichen Acte die Wunden des Leichnams zu bluten [208] anfingen oder Schaum vor dessen Mund trat, so hielt man den Angeklagten für überwiesen. Es ist nicht zu verwundern, daß dieses Bahrgericht sich so lange erhalten hat, denn, wenn auch die Leichen ewig stumm blieben und niemals ein derartiges Zeugniß gaben, so wirkte doch in Tausenden von Fällen der Anblick des Opfers so erschütternd auf den Mörder, daß er verwirrt seine Schuld gestand. Und aus diesem Grunde ist auch in unserer Zeit noch allerorten von den Gerichten die Uebung beibehalten, daß der Verdächtige den Leichnam des Gemordeten ansehen muß, damit er durch den grausen Anblick seines Opfers zum Geständniß bewegt werde. Doch kehren wir zu unserem Bilde zurück: Im Dom liegt die Leiche des Helden Siegfried aufgebahrt; Gunter und Hagen treten an die Bahre, und das Blut des Erschlagenen strömt auf’s Neue aus den Todeswunden.

Die alte Sage, durch die meisterhafte Behandlung in unsere helle Nähe gerückt, ruht doch durchaus auf dem echten Boden ihrer Zeit. Das Helden- und Ritterthum in seiner eigensten Welt steht lebendig vor uns: der grimme düstere Hagen, furchtbar prächtig anzuschauen, nimmt mit der an der Bahre Siegfrieds knieenden Chriemhild unsere volle Aufmerksamkeit in Ansprnch; hinter ihm, die Hand zum falschen Schwure an’s Herz gelegt, Gunter mit Mantel und Scepter; zu Füßen des Todten zwischen zwei Jünglingen der trauernde König Siegmund; zu Siegfrieds Häupten knieend die fromme Mutter Chriemhild’s, Frau Ute; im Hintergrunde auf der einen Seite die Geistlichkeit, auf der andern Frauen und die Mannen Siegfried’s. So stellt sich uns in ergreifender Deutlichkeit der im siebenzehnten Abenteuer des Nibelungenliedes enthaltene Auftritt dar, über den wir am besten das Lied selbst nach der volksthümlichen Bearbeitung des schwäbischen Dichters Emil Engelmann reden lassen:

„Da trat auch König Gunter zu Siegfrieds Sarg heran,
Und mit ihm schritt Herr Hagen, das war nicht wohl gethan;
Herr Gunter sprach: ‚Weh, Schwester, des theuren Gatten Dein,
Wie brach so grause Drangsal doch über uns herein,
Wir müssen immer klagen um Siegfried’s Jammertod!‘
‚Was schwatzest Du so trugvoll und höhnest meine Noth?‘
Rief sie, ‚wär Dir’s zu Leide, so wär es nicht gescheh’n,
Ihr habet mein vergessen, das muß ich wohl gesteh’n,
Und mich so schlimm geschieden von meinem lieben Mann,
Gott weiß im Himmel droben, Ihr tragt die Schuld daran!‘
‚Von uns aus,‘ schwuren Beide, ‚ist Dieses nicht gescheh’n!‘
‚Das wollen wir,‘ rief Chriemhild voll Zornes, ‚baldig seh’n;
So tretet zu der Bahre vor allem Volk heran,
Seid ohne Schuld Ihr dessen, was man ihm angethan!‘
Und siehe da! ein Wunder begab sich, wie’s geschieht
Zuweilen, wenn den Mörder man bei dem Todten sieht;
Neu bluteten die Wunden, als man voll Trotzes da
Den Tronjer zu der Leiche Herrn Siegfried’s treten sah,
Die blut’gen Bäche flossen noch stärker als zuvor,
Und Chriemhild’s Klage gellte wild an der Mörder Ohr;
Doch Gunter sprach voll Truges: ‚Ich sag die Wahrheit an,
Ihn schlugen feige Schächer, nicht Hagen hat’s gethan!‘
‚Mir sind die feigen Schächer,‘ rief Chriemhild, ‚wohl bekannt,
Es that es Niemand anders, als Eure arge Hand,
Dich Gunter und Dich Hagen, Euch beide klag ich an!‘“

Das Weitere gehört nicht hierher, aber wie düstere Wetterwolke lastet es auf dem Beschauer, daß Gewaltiges auf diese „Meinthat“ folgen muß und wird. – Wie dieselbe später von Chriemhild mit dem Tode so vieler Helden, auch Hagen’s und Gunter’s, furchtbar gerächt wurde, das ist in dem herrlichen „Nibelungenliede“, diesem köstlichen Schatze unserer Nationalliteratur, in meisterhafter Weise geschildert.


Sein Bild. (Mit Illustration S. 197.) Was schließen für ein Frauenherz, welches liebt, nicht die beiden kleinen Worte ein: Sein Bild! – Sein Bild ist ja der Abglanz seiner Person, seines ganzen Wesens, es zeigt der Braut oder der Gattin, was ihr das Liebste auf der weiten Welt ist, was das Leben für sie erst lebenswerth macht. Sein Bild ist ihr Freund in den Stunden der Entfernung von dem geliebten Manne, der einzige Zeuge ihrer Seufzer oder auch wohl ihrer Thränen. Das junge Mädchen, das unsere Illustration darstellt, hat ihre Blicke sehnsuchtsvoll auf das kleine Medaillon in ihrer Hand geheftet. Ihr Gesicht sagt uns, daß er, bei welchem ihre Gedanken weilen, nicht zu weit in der Ferne ist, nicht zu lange ausbleiben wird; denn es lagert mehr der Ausdruck inniger Zärtlichkeit als der Schatten eines tieferen Trennungsschmerzes auf den feinen Zügen dieses Profils. Bald wird der ferne Freund wiederkommen, ihrer Einsamkeit ein Ende machen und der sehnsüchtige Ausdruck ihres Gesichts wird sich zu wonniger Freude verklären.


Vor dem Städtchen. (Mit Illustration S. 201.) Es ist ein Bild heiterer Ruhe und süßen Friedens, ein anmuthiges Feierabendbild, das V. Weishaupt uns vorführt. Der Abend ist hereingebrochen, ein klarer, milder Spätsommerabend; der Bursche, welcher die von der Arbeit heimkehrenden Zugstiere vor sich hertreibt, begrüßt mit fröhlichem Zuruf und lebhafter Geberde die Magd, die ohne Zügel und Sattel fest auf dem breiten Rücken ihres Pferdes sitzt. Die beiden Dirnen am Ufer sind noch beschäftigt, Wäsche zu spülen, aber ihr frohes Geplauder macht ihnen die Arbeit zur Unterhaltung. Selbst der alte trotzige Thurm, der sich aus der Häuserfront so drohend hervorschiebt, stört nicht den friedlichen Eindruck der Scene; denn ob er vor Jahrhunderten der Vertheidigung gegen anstürmende Feinde diente oder ob er mit seinen feuchten Verließen an eine Zeit grausamer und willkürlicher Rechtspflege erinnert, diese Tage liegen für ihn und für das Städtchen weit zurück in der Vergangenheit. Wie ein alter, längst ausgedienter Veteran blickt er auf die neue Generation heiterer und genügsamer, bei der Arbeit fröhlicher Menschen, die ihre Häuser an sein bemoostes Gestein angebaut haben.


Ein Veteran der Schauspielkunst. Die Wiener Bühne hat in kurzer Zeit zwei schwere Verluste erlitten, ihre beiden populärsten Erscheinungen eingebüßt. Kaum sind die ersten Kränze auf dem Grab der Josephine Gallmeyer verwelkt, so kommt aus Wien die Nachricht, daß Karl Laroche, der Nestor der deutschen Schanspieler, am Nachmittag des 14. März gestorben ist. Oft äußerte der greise Künstler selbst zu seinen Freunden, er glaube, der Tod habe ihn vergessen. Das ist nun freilich nicht der Fall gewesen, aber allerdings konnte er auf ein so bedeutsames und ereignißvolles Leben zurückblicken wie kein anderer Künstler; die Entwickelung aller heutigen Bühnenverhältnisse hatte er mit durchlebt und mit eigenen Augen gesehen. Die Anfänge seiner Thätigkeit fallen mit den Anfängen des heutigen deutschen Theaters zusammen: er war Zeuge, wie die ersten stehenden Theater entstanden, er erlebte die großen Tage von Weimar, wo er 1829 unter Goethe’s Augen, bei der ersten Aufführung des „Faust“, den Mephistopheles spielte, er sah den deutschen Schauspielerstand aus einem verachteten Proletariat zu einem gesellschaftlichen Ansehen sich entwickeln, er nahm Theil an den hundertfachen Wandlungen des Repertoires, denn er spielte in den classischen Tragödien ebenso häufig und mit ebenso großem Beifall die Hauptrollen wie in den Kotzebue’schen Lustspielen oder den Iffland’schen Rührdramen. Als Schauspieler zeichnete ihn sein großes Natürlichkeitsstreben aus, durch das er den heutigen Künstlern des Wiener Hofburgtheaters ein leuchtendes Vorbild ist; in der Adresse, welche ihm vor einem Jahre, im März 1883, die Vorstände und Mitglieder des Hofburgtheaters zu seinem fünfzigjährigen Dienstjubilänm an der Wiener Hofbühne überreichten, hieß es mit Recht: „Es ist Ihnen das seltene Glück beschieden, ein Doppelleben zu führen, das eine für sich daheim, wo Sie sich die Gegenwart mit der Vergangenheit schmücken, das andere im Burgtheater, wo Ihre Vergangenheit sich in neue Gegenwart verwandelt.“ Als Ehrenbürger von Wien und Ehrenmitglied verschiedener gelehrter Gesellschaften, überhäuft mit Auszeichnungen, unter denen der Orden der eisernen Krone, welcher ihm den Adel verlieh, die hervorragendste war, ist der große Künstler nun im Alter von achtundachtzig Jahren gestorben und die deutsche Schauspielkunst trauert wiederum um eines ihrer größten und originellsten Talente.


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 3 in Nr. 11:

1. T d 2 – d 6:   S h 8 – g 6
2. D h 6 – h 3   S g 6 – f 8
3. T c 3 – c 4 : †       K : T c 4 oder T d 6
4. D h 3 – c 8 resp. d 3 mattt.

Varianten: a) 1. .., S f 7; 2. T c 4 : †, L : T c 4 oder T d 6; 3. D f 4 : resp. D f 8 † etc. b) 1. ..., K : T; 2. T c 4 : etc.

Sonstiges leicht ersichtlich.




Inhalt: Frühlingslied zum 22. März. Gedicht von Karl Weitbrecht. S. 189. – Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 189. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. V. S. 194. – Die Muse der dritten französischen Republik. Von Schmidt-Weißenfels. S. 198. – Das neue deutsche Bühnendrama. Von Rudolf von Gottschall. II. S. 200. – Dschapei. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 203. Mit Illustrationen S. 204 und 206. – Die Schatzmeisterin des Himmels. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens. Von J. C. Maurer. S. 206. – Blätter und Blüthen: Eine Riesenorchidee. Von Pechuel-Loesche. Mit Abbildung S. 207. – Chriemhild an Siegfried’s Bahre. S. 207. Mit Illustration S. 192 und 193. – Sein Bild. S. 208. Mit Illustration S. 197. – Vor dem Städtchen. S. 208. Mit Illustration S. 201. – Ein Veteran der Schauspielkunst. – Auflösung der Schachaufgabe Nr. 3 in Nr. 11. S. 208.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleinigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung. 

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Mathe Eva Popert, nachmalige Heine, gestorben 1799.
  2. Sie hatte in zweiter Ehe einen gewissen Schiff geheirathet.
  3. Kränkliche Blässe, sonst speciell zur Bezeichnung der Gesichtsfarbe der Venezianerinen gebraucht.
  4. Es folgten im ursprüglichen Manuscript hier noch drei Zeilen unten auf dem Blatt und auf dem nächsten Blatt oben, welche mit einer Scheere abgeschnitten sind. Schwerlich von Heinrich Heine, sehr wahrscheinlich von Maximilian Heine oder einem andern zärtlichen Verwandten, der Anstoß genommen an Aeußerungen über die Kinder Salomon Heine’s.
  5. Bei dem großen Hamburger Brande von 1842.
  6. Diese „Uniform“ hat zu allerlei Aufschneidereien seitens der Familie Heine geführt. Maximilian Heine hat daran die Erfindung geknüpft, daß sein Vater Samson Heine Militär gewesen und als solcher im van Geldern’schen Hause „in Quartier gelegen“; Heine’s Nichte, die Prinzessin della Rocca, geht gar so weit, daß sie Samson Heine frischweg einen ufficiale (Officier) nennt; wir werden weiterhin aus Heinrich Heine’s ehrlichen Geständnissen sehen, was an dieser Rederei ist.
  7. einrahmte.
  8. Brummel ist der Name eines Modelöwen zur Zeit des Prinzregenten von England, des nachmaligen Königs Georg IV.
  9. Offenbar eine Verwechselung mit dem weisen Pittakus; ob eine absichtliche oder eine unabsichtliche, bleibe unentschieden.
  10. Figuren des Kölner Carnevals. – Heine nennt „Kobes“ auch spöttisch seinen Widersacher Jacob Venedey.
  11. Von hier ab bis †† [„ausgebeutet zu werden.“] vergl. das Facsimileblatt in Nr. 7 der „Gartenlaube“.
  12. Die Memoiren enthalten vielfach die Verarbeitung von gelegentlichen Aussprüchen oder Notizblättchen Heine’s. So findet sich unter den im dreizehnten Bande seiner gesammelten Werke als „Gedanken und Einfälle“ bezeichneten Zetteln auch einer, der den Inhalt obiger Stelle kurz andeutet: „Die Affen sehen auf die Menschen herab,[WS 2] wie auf eine Entartung ihrer Rasse, sowie die Holländer das Deutsche für verdorbenes Holländisch erklären.“ – Die Zahl solcher Parallelstellen ließe sich in’s Unendliche vermehren, doch ist hierzu in diesen Blättern nicht der Ort.
  13. Da Heine’s Vater am 2. December 1828 gestorben, so ergiebt sich auch aus der obigen Zeitbestimmung das Jahr 1854 ungefähr als das des Beginns der Memoirenabfassung.
  14. Beiname der Musen von der macedonischen Landschaft Pieria.
  15. Vergl. Nr. 3. dieses Jahrgangs.
  16. Die Gensd’armen.
  17. Eigenthum, Kleider und Geschirr.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. [Dieser Satz lautet im Manuskript:] Ich will hiermit keineswegs einen Mangel an Männlichkeit andeuten; letztere hat er zumal in seiner Jugend oft erprobt und ich selbst bin am Ende ein lebendes Zeugniß derselben. Im Sinne hatte ich nur die Formen seiner körperlichen Erscheinung, die nicht straff und drall, sondern vielmehr weich und zärtlich geründet waren;
  2. Vorlage: herb