Die Gartenlaube (1888)/Heft 46

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[773]
Deutsche Art, treu gewahrt.
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.

(Fortsetzung.)

Während Achatius längs einer dichten Hecke dahineilte, schwebte Benigna hinter der Buchsbaumgans hervor und sperrte ihm den Weg. „Nun, was habt Ihr mir zu vertrauen?“ flüsterte sie und stach, schelmisch drohend, mit ihrem Fingerlein unter seinen Augen herum.

Er zog es an seine Lippen. „Holde Schäferin, ich fürchte, Lauscher sind auf unserer Spur,“ erwiderte er, ohne den Schritt anzuhalten.

„Wo denn? Wartet doch!“ rief sie und folgte ihm mit ausgestreckten Händen nach.

Aber nicht er wartete auf sie, sondern auf ihn wartete im nächsten Hagedorngang die Sternguckerin aus Eisenach. „Wie steht es mit der Zusammenkunft von Mars und Venus?“ wisperte sie, neben ihm hertrippelnd.

„Sie kann leider nicht stattfinden,“ schwadronirte Achatius, weiter eilend; „die holde Venus wird allein am Himmel stehen, was das Sicherste ist für eine einzelne Dame, wenn sie nicht dem himmlischen Klatsch verfallen will. Deshalb geziemt dem feurigen Mars, so schnell als möglich am Horizonte zu verschwinden.“

Er spendete einen Kniefall, drückte seine schlanke Gestalt mit Todesverachtung durch die dornige Hecke, schlug die Zweige hinter sich zu und – stand vor der zweiten Eisenacherin.

Sie sah ihn so barmherzig an wie die heilige Elisabeth selbst. „Rautenblätter in Wein gesotten sind das Mittel gegen ein preßhaftes Herz,“ flüsterte sie. „Aber erst muß ich prüfen, ob Euer Herzschlag nicht zu unruhig ist für die starke Medizin.“

Mit fliegender Eile drückte er ihre Hand an sein Herz, versprach, das Tränklein in Eisenach abzuholen, wenn sein Leiden sich nicht bessere, und setzte über das Muschelbassin des Neptun. Da fielen wie zwei Wegelagerer hinter dem aus Stein gehauenen Meergott hervor die beiden Koburgerinnen ihm in die Seite.

„Vor wem spielt Ihr Reißaus?“ fragte die Eva sich ihm zugesellend.

„Vor der Holdseligkeit des Frauenzimmers,“ rief er verzweifelt.

„Fürchtet Euch nicht; ich führe Euch auf den rechten Pfad,“ lispelte der Cherub und flog hinter ihm her.

„Schöne weiße Hände haben mich allezeit von solchem abgelenkt,“ stöhnte er, schlug sich mit der Faust vor die Stirn und flüchtete in eine Grotte, die ihr Tuffsteinthor vor ihm aufthat.

Himmelkreuzdonnerwetter! Da rannte er mit der rundlichen Hofmeisterin zusammen. Er hatte sich zu dem Standbild des Hymen verirrt.

„Hochehrwürdige Frau!“ flehte er.

„Was fällt Euch ein,“ schalt sie empfindlich, „daß Ihr so ehrerbietig thut, als sei ich neunzig Jahre alt?“

Was half’s? Er mußte einen Kuß auf ihre Lippen drücken, um zu beweisen, daß es mit seiner Hochachtung nicht allzu weit her war.

„Mein herzallerliebster Bräutigam!“ jubelte auf.

Er taumelte entsetzt rückwärts zum Tempel hinaus.

Da sah er sich von der ganzen Schar der holden Schäferinnen umringt.

Reichsgerichtspräsident Simson.
Nach einer Photographie von G. Brokesch in Leipzig.

[774] „Ich ernenne Euch zu meinem Schäfer Amindor!“

„Wollt Ihr nicht mein Thyrcis sein?“ „Nein, mein Lycidas!“ riefen sie durcheinander.

Auch Käthchen hatte sich dazu gesellt. Den Maßliebchenstab in der kleinen festen Hand, sah sie ihn finster an: „Gebt mein Favor wieder her! Es war eine ganz neue Schleife.“

Achatius schaute sich vergeblich nach einem Ausweg um.

Sie standen wie Wachtposten mit ihren Schäferstäben um ihn im Kreise.

Da seufzte er tief auf und sprach: „Der braune Abend ist herabgesunken und Frieden waltet auf der stillen Flur. Tugendseligste Nymphen! Hochedelgeborene Schäferinnen! Gebet auch Ihr für itzo Frieden. Und gestattet, daß ich, um Euch allen zu dienen, den Tanz aufführe, der aus Frankreich kommt und Galliarde benamset wird.“

Und er schob sie eigenhändig ein wenig zurück, indem er ihnen die zarten Finger bittend drückte.

Dann warf er sein leichtes Mäntelchen aus rother Seide von der Schulter und stand nun in ihrem Kreis, hoch, schlank und im weißen Atlas seiner Kleidung schillernd gleich der Silberpappel drüben an der murmelnden Ilm.

Mit süßem Ton sang er in das Wellenrauschen, das Flüstern der Blätter die Tanzweise und hob die künstliche Galliarde an.

„Eine Stunde lieben ist lange Frist,
Ein Augenblick genugsamb ist,“

klang es in die Ohren der Frauen. Aber sie ließen sich nicht bange machen. Es bebte etwas in der Stimme, was den leichtfertigen Worten widersprach und was jede auf sich bezog.

Wie zierlich waren die Pas, welche die feinen Füße des Tänzers auf dem Rasen ausführten!

Triumphirend lächelte Benigna, als er ihr voll Zierd und Wohlanständigkeit eine Capriola darbrachte. Aber da war er schon wieder vor der rundlichen Hofmeisterin, warf ihr einen kecken Kußfinger zu, und nun sang er aufmunternd vor dem verdrießlichen Käthchen: „Sa! sa!“

Wem galt der Blick, der so sehnsüchtig hinüberflog in den dämmerigen Buchengang? Keine dachte mehr daran, ihn mit ihrem Stab einzuhegen.

Da hob er sich plötzlich mit einem leichten Satz, flog wie eine Feder aus dem Kreis hinaus und war im nächsten Augenblick hinter der Buchenwand verschwunden.

Dort wandelte Gertrud von Hellingen dem Schloß langsam zu. Er eilte ihr nach.

Diantre! Er hatte sich also abgehetzt, daß ihm das Herz bis in den Hals schlug. Er mußte erst Athem schöpfen; sonst versagte ihm die Stimme. Aber wie die stille Gestalt näher und näher kam, wurde es immer toller mit dem Herzschlag. Es blieb ihm nichts übrig, als fast athemlos sie zu begrüßen.

„Wer ist würdig genug von Euch befunden worden, um Euer Schäfer zu sein?“ fragte er mit stockender Stimme, und seine Augen suchten unruhig hinter allen Büschen.

Sie erwiderte leise: „Ihr seht, daß ich keinen Schäferstab trage; ich gehöre nicht zu den Hirtinnen und habe derohalb den Dienst meiner Gefährtin Benigna übernommen, in der Apotheke das Magenwasser für die morgen wieder Abreisenden bereit zu stellen.“

Sie ging dabei ruhig weiter; sie war blaß wie immer, nur die sinkende Sonne hauchte eine zarte Röthe über ihr stilles Gesichtchen. Sie war also noch frei, und sie sprach auch milder zu ihm denn sonst. Er hätte sich ihr so gern als Schäfer angetragen; aber sie wollte keine Hirtin sein.

„Ach!“ rief er schmerzlich, „Ihr verschmäht auch diesen anmuthigen Zeitvertreib! Ihr seid so kalt wie die steinernen Würmlein in Eurem Halsband.“

Da sah sie zu ihm auf mit ihren großen dunklen Augen. „Scheltet die steinernen Würmlein nicht,“ sagte sie mit trauriger Stimme. „Sie hatten auch ein Recht, sich im Sonnenschein ihres Lebens zu freuen wie Ihr. Aber ihr Schicksal war, abgeschlossen zu werden im durchsichtigen Kerker von allem, was Lust und Freude heißt. Da sind sie starr und kalt geworden.“

Sie neigte das Haupt gegen ihn, und er schmiegte sich in die grüne Wand, daß sie ungehindert vorüber gehen konnte.

Er folgte ihr nur mit dem Blick, wie sie still dahin schritt.

Wie klagend war der Ton ihrer Stimme gewesen! Noch nie hatte sie ihn einer so sanften Rede gewürdigt. Es dünkte ihm, als sei er ihr plötzlich nahe gekommen.

Ein leiser Wind flüsterte durch die Gänge. Den rosigen Abendhimmel, der sich darüber spannte, überwallten lichte Wölkchen wie Engelsflüglein.

Ihm war so weich, so schmerzlich selig zu Muthe. Einst, da er als Jüngling durch diese Gänge wandelte, hatte er so gefühlt. Wie lange Zeit war seitdem vergangen, wie bunt waren die Erlebnisse, die sie ihm ausgefüllt hatten!

Und nun kamen ihm, dem Vielerfahrenenn diese längst vergessenen Empfindungen des jungen Pagen wieder.

Der kühle Kopf versank in Träumerei und vergaß, das junge warme Herz im Zügel zu halten. –

Auch um die schöne Schäferin Astrea spann der Maiabend seinen Zauber, während sie die einsamen Wege an der Ilm suchte.

Die Sonne ging zu Gnaden. Noch im Scheiden breitete sie ihren lichten Mantel über den Himmelsbogen aus und streute goldige Flocken durch das mattgrüne Laub der Weidenbäume, auf die leise dahin treibenden Wellen des Thüringer Flüßchens.

So ringelten sich die Bäche durch die französische Landschaft, in welcher Celadon und seine Astrea daheim waren. In solchen still hingleitenden Wellen beschaute sich der treue Schäfer und sang dazu auf seiner Pfeife:

„Hört auf einmal, mir zuwider zu sein,
Eh daß ich sterb’, zartes Jungfräulein.“

Aber nicht sehnsuchtsvolles Flötenspiel ließ sich vernehmen. Majestätische Klänge verhallten in ernstem Summen über ihrem Haupte; die Glocken der Kirche zu St. Peter und Paul, darin die jungen für den evangelischen Glauben und das Vaterland deutscher Nation gefallenen Herzöge schliefen, riefen zu einer Beichtkirche.

Nicht weiche Liebesklagen drangen an ihr Ohr. Vom steinernen Wachthäuschen herüber schallte das Kriegslied:

„Nun seid getrost, Ihr frommen Knecht,
Fürs Vaterland nur männlich fecht!“

Gestört in ihrem süßen Sinnen wandte Dorothea sich ab und den schweigenden Taxusgängen zu, die vor ihr die dunklen Pforten öffneten. Der Zephyr strich lautlos an den hohen glatt geschorenen Nadelwänden hin. Tiefe Stille umfing sie. Aber da, wo ein anderer Pfad, lauschiger noch als der, welchen sie ging, sich abzweigte, kam es her wie ein sanft ersterbender Seufzer. Ihr Herz schlug hochauf. Sie folgte dem leisen Ton. Aber sie hatte sich getäuscht. Auch dieser Weg lag wie ausgestorben vor ihr. Nirgends war Der zu erblicken, den sie im welschen Garten erwarten wollte. Sie ging immer rascher; aber sie fand kein Ende. Neue Wege durchkreuzten den ihrigen.

Wo war sie? Ueberall schlängelten sich dunkle Gänge in dämmerige Tiefen hinein. Aufs Gerathewohl eilte sie weiter, Eine unerklärliche Angst überfiel sie.

Jetzt – endlich trat sie auf einen freien Platz heraus. In der Mitte desselben erhob sich ein Obelisk aus Thüringer Schriftgranit. Seine Spitze war von der untergehenden Sonne roth angestrahlt, während die Taxuswände bereits im Schatten lagen und gleich einem schwarzen Kranz ihn umgaben. Sie war in den Irrgarten gerathen.

Wohin sollte sie sich wenden? Rathlos blieb sie stehen.

Ging da nicht jemand? Ja, es war keine Täuschung. Und sie kannte diesen festen raschen Schritt. Ihr Herz klopfte, daß sie meinte, die Schläge bis in die Spitzen ihrer Locken zu fühlen.

Um die dunkle starre Wand bog im nächsten Augenblick Herzog Albrecht.

Sie sah ihm gespannt entgegen. Wie anders erschien er ihr heute als am Tage ihrer Ankunft! Das gut gelaunte Lächeln war verschwunden; ein Zug unbeugsamer Festigkeit lag um seine Lippen. Die klaren braunen Augen glitten mit unwilligem Blick an ihrer phantastisch geschmückten Gestalt herab. Mit kurzer, förmlicher Reverenz begrüßte er sie.

„Also es ist wahr,“ sprach er, und seine Stimme bebte wie von unterdrücktem Zorn, „die deutschen Tugendlichen haben sich in französische Schäferinnen verwandelt?“

Es war, als schnüre ihr eine plötzliche Furcht das Herz zusammen. Aber sie überwand die Schwäche, lehnte ihr Köpfchen [775] anmuthig an den Schäferstab und sagte mit holdseligem Lächeln: „Und wir sind der Dienste unserer getreuen Schäfer gewärtig.“

Sein Blick zuckte verächtlich auf den bebänderten Schäferstab herab. „Ich führe eine Stütze, die zuverlässiger ist als dieses Spielzeug,“ entgegnete er, auf das goldene Rappier an seiner Seite deutend.

Sie zwang sich zu einem scherzhaften Ton. „Eine Waffe wäre ein wunderliches Attribut für einen Celadon.“

„Für den Schwächling allerdings,“ entgegnete Herzog Albrecht wegwerfend.

Das Lächeln erstarrte auf ihren Lippen.

„Einen Schwächling,“ rief sie vorwurfsvoll, „nennen Sie den Schäfer, der lieber stirbt als verschmäht lebt?“

„Ein Mann, der sich wegen der Launen seiner Geliebten ertränkt, statt ihr dieselben abzugewöhnen, verdient keinen andern Namen,“ sprach er schroff. „Ein rechter Mann stirbt für seinen Glauben, sein Vaterland, seine Ehre, in der Erfüllung seiner Pflicht.“

„Pflicht,“ wiederholte sie und zog unmuthig die Brauen zusammen, „das ist ein hartes, ungalantes Wort.“

„Ja, hart ist die Pflicht, hart wie unsere Zeit,“ entgegnete er fest. „Aber wir haben uns dem Gesetz das sie vorschreibt, zu beugen.“ Und er setzte die Spitze seines Rappieres so fest auf, als drücke er sein fürstliches Siegel unter seinen Ausspruch.

„Eure Liebden geben dem Gespräch eine Wendung,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „welche ihresgleichen nicht hat in den Diskursen alamoder Kavaliere.“

„Ich stehe nicht hier als alamoder Kavalier und französischer Schäfer, der süßliche Diskurse führt,“ entgegnete er rasch, und seine hohe Gestalt schien noch zu wachsen, „sondern als deutscher Fürst, als Herzog von Sachsen, der eine Fürstin gleichen Stammes um eine ernste Aussprache gebeten hat.“

„Und warum darf nicht auch das Ernste in schöne schmeichelnde Form sich kleiden?“ fragte sie, und ihre Augen begannen zu flammen.

„Weil ein sächsischer Herzog itzunder zu solchen Tändeleien keine Zeit hat,“ antwortete er mit unerschütterlicher Festigkeit. „Er muß auf der Wacht stehen, um die Unabhängigkeit deutscher Fürsten zu behaupten gegen den hispanisch gesinnten Kaiser, ererbte heilige Sitte, sinnvollen alten Brauch und die Muttersprache rein zu bewahren, auf daß diese werthvollsten Schätze einst ungeschädigt den Glücklicheren überliefert werden, die nach uns kommen. Und dasselbe Streben muß er fordern von der Gemahlin, die er seinen Erblanden als Fürstin giebt.“ Er hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er langsam, als wäge er jedes Wort, mit tiefem Ernste fort: „Das alles heischt die Pflicht von ihm, und er kann keinen Buchstaben davon ablassen, wenn er auch darob das Glück, das er heiß ersehnt, verloren geben müßte.“

Dorothea richtete sich hoch auf. Sie fühlte das Diadem auf ihrer Stirn.

„Auch Wir haben eine hohe Meinung von Unserem fürstlichen Beruf,“ entgegnete sie, den flammenden Blick zu seinen streng auf sie niederschauenden Augen erhebend, „wenn auch eine andere als Eure Liebden. Sie richten ein steiles Gerüst von Pflichten auf, an welchem alles verkümmert, was flüchtig ist wie der Duft, fein wie der Aether, zart wie der Schmelz. Wir aber gedenken, die Anmuth und die Schönheit zu pflegen. Wir haben Uns gerettet in das Land der Poesie und nicht danach gefragt, ob ein Deutscher oder ein Franzose den Weg dahin gewiesen hat.“

Der Herzog war unter ihren Worten erbleicht. Aber er schwieg.

Es war todtenstill.

Dorotheas Augen irrten unsicher umher. Die Schriftzeichen des Obelisken starrten sie an, als habe eine Hand hier Worte eingegraben, die unentzifferbar für sie waren. Auf der Spitze erlosch das letzte Roth. Mit fast erstickter Stimme sprach sie: „Es wird Zeit zur Heimkehr. Die Sonne neigt sich.“

„Sie ist untergegangen,“ erwiderte er leise. Und mit schwerer Betonung setzte er hinzu: „Aus diesen Irrgängen vermag ich Sie zurückzuführen.“ Mit dem abgezogenen Federhut deutete er ihr den Weg an, der aus dem Labyrinth führte.

Zwischen den schwarzen Wänden eilte das junge Paar in heiterer Festtracht mit todternsten Mienen dahin. Nur das Knirschen des Kieses unter den hastigen Schritten ließ sich vernehmen; aber jedes meinte, das andere müsse das Pochen seines Herzens hören.

Ueber den Buchen des Webichts stieg der Mond empor, und in langgezogenen Tönen hob die Nachtigall ihr Abendlied an. Luna lächelte, Philomele klagte – und am Ausgang des Irrgartens trennten sich mit tiefen höfischen Reverenzen Albrecht und Dorothea.

Auch über die übrige Gesellschaft war eine Verstörung gekommen. Die Schäferinnen standen auf der einen Seite, die Palmgenossen auf der andern. Statt feiner Diskurse über wohlmeinende Affektionen hatte es derben Zank gesetzt. Es gab bei den Damen rothgeweinte Augen und bei den Herren Zornesadern auf den Stirnen.

Selbst Herzog Wilhelm, der allezeit einen Ausgleich zu finden wußte, war verlegen. Er mochte seiner Gemahlin die Bitte nicht gänzlich abschlagen, als weiser Sylvander zärtliche Reden mit ihr zu führen, und die Damen nicht kränken, die seine Hofstatt mit ihrem Besuch erfreut hatten. Aber er wollte auch nicht die französischen Spiele an seinem deutschen Hof einführen.

Die Schäferinnen riefen nach ihrer Astrea, daß sie ihnen helfe, die widerspenstigen Schäfer zum Gehorsam zu bringen.

Statt ihrer trat die blasse Frau Witwe aus einem dunklen Cypressengang hervor und sprach mit müder Stimme: „Unsere Tochter hat sich eine starke Verkühlung im welschen Garten zugezogen und sich in die Rosenkammern zurückbegeben.“

Da verstummten die Schäferinnen erschrocken. Denn von der Herzogin von Koburg bis herab zum letzten Hofjungfräulein errieth im selben Augenblick jede, daß Herzog Albrecht ebenfalls es verweigert hatte, den Celadon zu spielen, und daß ein wohlgeschmiedeter Plan gescheitert sei.

Es wußte niemand mehr, wo ein und aus.

Da trat der Einschläfernde, ein alter Rath vom Schöppenstuhl in Jena, hervor und sprach: „Nach wohl erwogenen Dingen gebe ich anheim, zu entscheiden, ob die Zeit nicht zu kurz bemessen ist, um diese hochbedenkliche Sache mit allen Diffikultäten nach Nothdurft zu berathen, und schlage vor, selbige für jetzt ad acta zu legen und das Urtheil auf gelegenere Zeit zu vertagen.“

Alles athmete auf. Wenn man die gelahrte Rede auch nicht gänzlich verstanden hatte, so viel war aus selbiger hervorgegangen, daß die Sache auf die lange Bank geschoben werden sollte. Und da man in alten gemächlichen Zeiten beschwerliche Dinge gern auf solcher unterbrachte, so zeigten sich Schäferinnen und Palmgenossen zufriedengestellt und begaben sich, müde von Freud und Leid, in ihre Losamente.

In den Rosenkammem wurde eingepackt. Die Kammermägdlein der Frau Witwe wickelten bestürzt den Schäferstab in undurchsichtige Hüllen. Bärbchen, welche das Hirtentäschchen herbeitrug, schnickte mit den Fingern, als hätte sie sich an dem flammenden Herzen verbrannt; Aennchen, die den verwelkten Tulpenstrauß in den Silberflor hüllte, stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Tautenburgischen falteten ihre Staatskleider zusammen.

„Du hast recht gehabt, Käthe,“ sprach der Schloßhauptmann, „es ist in Weimar kund geworden, wie ein adliger Junker einer edlen Jungfrau gegenüber sich benehmen muß. Nu, nu! hänge Dein Mäulchen nur nicht zu tief herab, Du könntest darauf treten.“

„Wer recht nach Gesundheit tracht’, kein Bitterniß der Arznei acht’,“ setzte die Frau Mutter hinzu. „Aber gieb Dich zufrieden. Bei dem Johannisbier, wenn Du Dich mit dem Junker Utz schwenkest, wirst Du mehr Spaß haben.“

„Ach der!“ erwiderte Käthchen trotzig, „der tanzt Kreiskessel, und was eine Galliarde ist, weiß er gar nicht.“

„Larifari!“ entgegnete die Mutter, „Im heiligen Ehestande helfen zierliche Tanzbeine nichts. Ich will niemand rathen, mit seinem Schühlein zu diesem Werk zu schreiten, sondern es wolle sich jeglicher wohlweislich mit einem Paar tüchtigen Nägelstiefeln versehen.“

Käthe biß die Zähne zusammen, damit sie nicht laut aufschrie.

Nägelstiefel! Und vor ihren Augen wirbelten schmale Rösleinschuhe in anmuthigen Pas in der Luft herum.

Was ein armes Mädchenherz tragen kann, ohne zu brechen! Wie einen Sargdeckel schlug sie die Truhe über dem Leberfarbenen zu.


[776] Das war ein verdrießliches Erwachen am andern Morgen. Die Herren schauten mürrisch drein, die weiland Tugendlichen sahen müde und abgespannt aus.

So ist’s nun einmal der Welt Lauf an Abschiedstagen, zumal in unsicheren Zeitläuften, vollends nach einem luftigen Fest und in Sonderheit, wenn die Gäste zur guten Letzt in einem Streit auseinander gefahren sind.

In den Familienhäusern des auswärtigen Adels wurden die langen Reisekutschen gepackt. Ist den Sitzkästen verwahrte man das Palmgeschmeide; denn der Deutsche saß allezeit gern auf seinen Schätzen. Unter die Sparren des Wagens steckten die Damen die bebänderten Schäferstäbe. Der Widerspruch der Männer sänftigte sich zu einem Gebrumme, als die Frauen wie sonst auch mit Safran, Ingwer und Kardamom sich versahen. Es war das tröstliche Zeichen, daß sie ihre Ehegesponsen vorderhand verschonen wollten mit der grünen Brunnenkresse, welche die Schäfer in ihrem Liebeskummer aßen.

Auch im Grünen Schloß wurde zur Abreise gerüstet.

Die fürstlichen Gäste versammelten sich allmählich im Rautenkranzgemach zum Abschiedstrunk.

Im Vorzimmer stand Achatius, die schlanke Gestalt ein wenig geduckt, daß er zwischen den andern Hofjunkern verschwand. Das sonst so hochfahrende Gesicht trug einen bescheidenen Ausdruck; über die kecken Augen waren die dunkel umsäumten Lider sittig niedergeschlagen. Er sprach nicht, bewegte sich nicht, als erhoffe er, hierdurch aus dem Gedächtniß der andern sich selbst zu löschen.

Aber wie schmal er sich auch machte, unsichtbar wurde er doch nicht. Er war und blieb der Zielpunkt für die Augen des gesammten weiblichen Hofpersonals.

Selbiges deutete sich alles zum Vortheil. Jede Hofjungfrau meinte, daß ihn der Schmerz über ihre Abreise also danieder schlage. Und jede erachtete es als Pflicht, dem schüchternen Hofmeister aufzuhelfen und Trost zu spenden.

„Habt Ihr eine Spinne verschluckt, Herr Hofmeister?“ lachte die Eva. „Seid Ihr mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden?“ neckte der Cherub. „Warum so traurig?“ fragte selbstgefällig die Freundin des Mars. „Wir werden uns ja Wiedersehen,“ tröstete die rundliche Hofmeisterin.

In die Enge getrieben, machte er eine allgemeine Verbeugung und verschanzte sich hinter dem Schenktisch. Statt seiner nahten dem Frauenzimmer die Lakaien und boten auf silbernen Kredenztellern den nach großen Schmausereien heilsam befundenen Salbei- und Wermuthwein dar.

Drinnen im Gemach tauschten, die fürstlichen Personen die letzten Adschiedsgrüße aus. In die Reiseschaube gehüllt, saß Anna Marie müde in einem Armstuhl und harrte auf das Vorfahren der Kutsche. Als Christine, ihr ein Lebewohl bot, zuckten ihre Lippen bitter.

„Es trifft nichts mehr ein, was geweissagt wird,“ sagte sie leise, „nicht das Gute, nicht das Schlimme. Leider! Ich wollte, die Welt wäre untergegangen, wie vor ein paar Jahren prophezeit wurde.“

Christine sah sie verwundert an. „Damit müssen wir uns geduldigen bis zum Jahre 1643, wo wieder eine Konjunktion einflußreicher Gestirne dem Schiffe Argo gegenüber stattfindet. Da kann leichtlich die Sintfluth anheben.“

„Wer weiß, was wir bis dahin zu leiden haben,“ seufzte Anna Marie. „Eurer Liebden Wissenschaft ist sonder Trost.“

Christine schüttelte leise, das Haupt. „Ist es kein Trost, zu sehen, wie die Sterne unbeirrbar den Weg gehen, der ihnen vorgeschrieben ist von Anfang? Erkennen wir nicht daraus, daß sich erfüllt, was droben beschlossen wurde, trotz aller Zwischen- und Wechselfälle des Erdenlebens?“

Neben ihrer Mutter stand Dorothea in stolzer Haltung, aber mit blassen Wangen, die Zeugniß ablegten von der schlaflos verbrachten Nacht.

Wie Nebelgestalten gingen alle an ihr vorüber: Eleonore, die ihr so beklommen die Hand drückte, Wilhelm, über dessen offenes Gesicht eine leichte Röthe der Befangenheit glitt, der alte Hofmarschall von Teutleben, welcher bei seiner tiefen Reverenz ihr ein so unbewegtes Antlitz zeigte, als habe er ein unsichtbares Visir herabgeschlagen.

Mechanisch neigte sie sich gegen die Abschiednehmenden und sprach die üblichen Worte. Ihr Blick flog verstohlen immer wieder hinüber, wo Albrecht, von ihr abgewendet, in einem Kreis von Herren stand. Wie fest und kalt klang seine Stimme!

Da ertönte die erste Fanfare. Es wurde zum Aufbruch geblasen.

Kutsche auf Kutsche fuhr vor. Zuerst zog der alte Herzog von Koburg von dannen, seine Gemahlin trotz ihrer Schäferinnenwürde unabänderlich auf dem Rücksitz, er auf dem Ehrenplatz.

Da der Wagen der Hofjungfrauen sich in Bewegung setzte, ließ sich herzzerreißendes Weinen vernehmen. Dann folgte die Eisenacher Herrschaft. Der Herzog schwang sich auf das Pferd, Christine stieg ein. Auf den Rücksitz wurden Pergamentrollen gelegt. Darauf war die Stunde der Geburt von allen denen verzeichnet, welche sie darum ersucht halten, ihnen das Horoskop zu stellen. In dem Narrenkästlein, wie der Platz an der Rückseite der Kutsche genannt wurde, saßen die Hofjungfrauen und wehten mit ihren Tüchlein, bis der Hofmeister ihren Blicken entschwunden war.

Dorotheas Herz klopfte zum Zerspringen unter dem Sammetmantel. Noch immer hatte Albrecht kein Wort an sie gerichtet.

Nun fuhr der Wagen mit den Engelsköpfchen vor.

Und jetzt – jetzt trat er endlich heran. Er neigte sich tief vor den beiden fürstlichen Damen.

Dann – ein jäher Schrecken durchzuckte ihr Herz – bot er der Frau Witwe die Hand, um sie zu geleiten.

Zu ihr trat Herzog Ernst. Sie reichte ihm ihre eiskalten Finger. Gemessen schritt der junge Fürst neben ihr die Treppe hinab. Gewaltsam hielt sie sich aufrecht. Mit hoch erhobenem Haupt saß sie neben ihrer Mutter.

Diese winkte Frau von Tautenburg heran auf den Rücksitz „Fahrt mit Uns,“ sagte sie matt, „auf daß Wir einen Beistand bei Uns haben. Unsere Hofmeisterin ist zu gesprächsam.“

Die Thür wurde geschlossen. Herzog Ernst trat zurück. Die Pferde zogen an.

Aber – Dorothea athmete auf – Herzog Albrecht schwang sich auf sein apfelgraues Roß. Er gab ihnen wie beim Empfang das Geleite. Ihr Herz wollte nicht an ein Scheiden für immer glauben, hielt noch eine leise Hoffnung fest, er werde im letzten Augenblick eine Versöhnung anbahnen.

Die Gefährte wankten durch die Gassen von Weimar davon. Und wieder stürzten die Bewohner der Stadt an die Fenster, brachen die Kinder in laute Ausrufe der Bewunderung aus, wo die Engelskutsche vorüber kam.

Dorothea achtete nicht darauf. Nur der Hufschlag des Pferdes neben ihr drang an ihr Ohr; sie harrte nur des Augenblicks, da Albrecht ein Wort an, sie richten würde.

Da rollte die Kutsche wieder zu dem Stadtthor hinaus, durch welches sie so triumphirend vor drei Tagen eingefahren war. Dumpf dröhnend ging es über die Zugbrücke des Grabens und nun langsam auf der Landstraße gen Dornburg weiter.

Der Morgen war trübe und feucht. Ueber der Ilm qualmten Nebel. Die Blumen am Weg neigten die Köpfe unter dem Thau, die Gräser hingen voll schwerer Tropfen.

Scheu, schüchtern streifte Dorotheas Blick den stummen Begleiter.

Aber seine Augen begegneten den ihrigen nicht mehr. Den Blick geradeaus gerichtet, die Lippen herb geschlossen, ritt Albrecht neben dem Wagen.

Jetzt waren sie an der Stelle, wo er sie begrüßt hatte. Und wie damals hielten Reiter und Wagen an.

„Es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen,“ sprach er. Es war, als versage ihm die Stimme. Aber er zwang die Bewegung nieder und fuhr fort: „Noch einmal sage ich Euren Gnaden im Namen der Gebrüder von Weimar Dank, daß Sie unsrer Einladung huldvoll gefolgt sind. Möge Gottes Segen Sie heute und fürder auf allen Ihren Wegen begleiten!“

Mit matter Stimme erwiderte die Frau Witwe:

„Auch Eure Liebden sollen in den Schutz des Allerhöchsten befohlen sein.“

Dorothea neigte stumm das Haupt.

Niemand sprach das Wort: Auf Wiedersehen!

Das Sechsgespann zog an. Den Hut in der Hand, ließ Albrecht den Wagen an sich vorübergehen.

[777]

Schwarzblattl.
Nach dem Oelgemälde von Fr. Defregger.
Photographie im Verlag von Fr. Hanfstängl in München.

[778] Aber jetzt richteten sich seine Augen auf Dorothea, und ein Blick voll Schmerz und Anklage traf sie und hielt sie fest, bis die Engelskutsche vorübergerollt war.

Dann drückte er den Hut über die Stirn, warf sein Pferd herum und jagte nach der Stadt zurück.

Dorothea sah ihm nach.

Dort verschwand er hinter dem Feldrain, wo die Lerche jubelnd in die Luft stieg. Wie mochte sie nur so freudig singen?

Langsam rollte der Wagen den jenseitigen Abhang hinab. Weimar entschwand; noch lugte die Spitze des Schloßthurmes hervor. Dorotheas Augen klammerten sich daran. Nun war auch diese verschwunden. Rasselnd, knackend bewegte sich der Reisezug in das von kleinen Wäldern unterbrochene Hügelland hinein. Der Schloßhauptmann ritt an der Spitze und zeigte seiner gnädigen Herrschaft Tümpel, Löcher und Steinblöcke im Wege an, damit sie sich auf die Stöße vorbereiten konnte.

Dorothea seufzte nicht wie Anna Maria, und sie betete auch nicht, wie Frau von Tautenburg an besonders gefährlichen Stellen that. Sie saß in düstres Sinnen versunken.

Auch im zweiten Wagen ging es anders zu auf der Rückfahrt denn bei der Ankunft.

Die rundliche Hofmeisterin war es jetzt, die den Vetter Achatius als ihr Eigenthum in Anspruch nahm; sie sah so lange zum Fenster hinaus, als noch ein Nasenspitzchen von ihm zu erschauen war. Dann fiel sie in einen kleinen Dämmerschlummer.

Käthe, die damals das große Wort geführt hätte, saß kleinlaut in ihrem Eckchen. Die Hofjungfrauen zahlten ihr heim, was sie an Neid und Mißgunst auf dem Herwege gelitten hatten.

„Ei, Käthe, Dein Vetter hat Dich sehr kurz valediziret,“ meinte die Langnasige höhnisch. „Ich dachte, er wäre Dir gut.“

Dabei rutschten alle fürsorglich auf die rechte Seite; denn dieses Rad lief auf hohem Rain hin, das andere bewegte sich in einem Schlammbettlein.

„Der Hofmeister wird eine gute Partie thun,“ sagte das Strohblümchen schadenfroh. „Er heirathet die blonde Benigna der Herzogin Eleonore. Sie schrieb täglich Briefchen an ihn. Benigna hatte kein Geheimniß vor mir.“ Wie alle, die selbst keine Eroberungen zu Verzeichnen haben, brüstete sich das Strohblümchen mit den Erfolgen anderer.

Dabei hoben sie sich insgesammt in die andere Ecke des Wagens, da nun diese Seite auf ein Steinriff stieg, während die vorher hochgehenden Räder an einem Abhang hinliefen.

„Laßt Euer thörichtes Gerede,“ sagte die Hofmeisterin. „Achatius von Krombsdorff ist ein Mann von Erfahrung. Er erkiest sich kein grünes Früchtlein, sondern eine süße Pomesine.“ Sie lachte schelmisch in sich hinein.

Die Kutsche fiel mit den Vorderrädern in ein tiefes Loch, während die Hinterräder über einen Stein sprangen. Die Damen prallten gegen die Wagendecke und setzten sich dann in die Mitte des Gefährtes.

„Was wird der Junker Utz dazu sagen,“ höhnte die Langnasige, „wenn ihm zu Ohren kommt, wie ehrbare Mägdlein sich nicht geschämt haben, dem Hofmeister für und für mit goldenem Brustlatz in den Weg zu laufen und an offener Tafel ihm zu Leibe zu gehen? Ja, ja! Manchmal legen sich die klügsten Leute eigenhändig Schadorte.“

Sie waren selbst an einem Schadort angelangt. Die Pferde des zweiten Wagens, darin die Kammermägdlein saßen, bekamen eine muthwillige Neigung zum Durchgehen. Mit Macht rannten sie fürbaß und stracks auf die Kutsche der Hofjungfrauen zu. Ein Stoß erfolgte, und die Deichsel erschien zwischen den schreckensbleichen Gesichtern der Hofmeisterin und der ältesten Jungfrau. Ein zweiter Ruck und die Wagen neigten sich krachend auf die Seite und fielen um.

Ein grauenvoller Wirrwarr entstand. Die Vorspänner schrieen und schlugen auf die Pferde. Das verunglückte Frauenzimmer jammerte aus dem Wagenkasten. Die Engelskutsche hielt. Frau von Tautenburg bog sich heraus.

„Hilf, Himmel! Unsre Käthe!“

Der Schloßhauptmann trabte eiligst zurück, sprang vom Pferde und zog seine Tochter heraus.

Sie war ganz weich auf ihre Peinigerinnen gefallen. Er setzte sie auf den Wegrain.

Käthe hatte nun doch eine Ursache zu weinen. Sie machte tüchtig Gebrauch davon.

Ihr Vater wandte sich der Hofmeisterin zu.

„Ach, wenn Herr Achatius mich so liegen sähe!“ klagte diese.

„Seid froh, daß es nur die kleinen Frösche sehen,“ antwortete Herr von Tautenburg und rang ihre Reisemutze aus, die sich in einem Pfuhl voll Wasser gesogen hatte.

Benignas Freundin war auf den Mund gefallen und hielt ihn nunmehr fest zu; die andere Hofjungfrau kühlte sich die geschrammte Nase mit einem Wegebreitblatt.

Der Wagen war zertrümmert.

„Wie, kommen wir nun fürbaß?“ fragte der Schloßhauptmann rathlos. „Bis zum nächsten Ort nach Hilfe zu reiten, wird sehr lang dauern und höchstens ein Mistkarren zu beschaffen sein.“

Da zeigte sich auf dem Weg ein Reiter; eilig sprengte er näher, gefolgt von einem Knecht.

„Gott sei Dank, Junker Utz!“ rief der Schloßhauptmann.

Utz war im Nu an der Unglücksstätte und vom Pferd. Seine Augen suchten und fanden Käthchen. Die aber legte nun vollends die Arme über das Gesicht. Er sah den Schloßhauptmann angstvoll fragend an.

„Sie ist nur erschrocken,“ tröstete dieser. „Aber wo kommt Ihr her?“ -

„Es muß mir geahnt haben, daß Euch ein Unfall bevorstand,“ antwortete Utz. „Immer mußte ich an Euch denken und es zog mich ordentlich an den Haaren fort. Das halte der Teufel aus, sagte ich, ließ die Knechte das Erbsenfeld allein bestellen und ritt Euch entgegen. Na! und da finde ich richtig die Bescherung.“

Seine Augen musterten dabei das ganze Häuflein Reisende und er athmete sichtlich auf; es war nirgends ein alamoder Monsieur zu erschauen. „Gott sei Dank, daß sich nichts ereignet hat als ein Wagenbruch.“

Dann wandte er sich den in einander gefahrenen Fuhrwerken zu. „Die Pferde abgesträngt!“ befahl er den Kutschern. „Angefaßt!“ herrschte er den Trabanten zu.

Er selbst legte mit Hand an. Ein Ruck seines starken Armes, und die Deichsel war frei. Der Wagen der Kammerkätzchen stand bald wieder reisefertig auf seinen vier Rädern. Aber er faßte nicht viel mehr, als schon darin saßen.

Da erhob Frau von Tautenburg in der Engelskutsche ihre Stimme:

„Mit Eurer fürstlichen Gnaden Erlaubniß mache ich hier Platz und steige hinter meinem Eheherrn aufs Pferd. Sein starker Ramskopf trägt uns beide. Die Frau Hofmeisterin und eine Jungfrau können meine Stelle einnehmen. Nun sind noch zwei Frauenzimmer unterzubringen.“

Junker Utz sah Käthchen an, „Auch auf meinem Rothschimmel wäre noch ein Platz,“ sagte er treuherzig. „Er hat einen sanften Gang.“

Käthchen saß unbeweglich, die Hände vor den Augen; das blonde Haarbüschchen fiel darüber. Aber die Hofjungfrau mit dem Wegebreitblatt auf der Nase erhob sich und trat zu dem Junker.

„Ich nehme Euer Anerbieten an.“ Sie stieg auf einen Meilenstein und mit Hilfe der Knechte hinter dem enttäuschtes Utz auf das Pferd. Der Schloßhauptmann stopfte an ihrer Stelle nicht allzu sanft seine Käthe in den Wagen der Kammermägde, hob seine Ehegesponsin zu sich auf den Ramskopf, und nun ging es wieder fürbaß.

Nachdem Frau von Tautenburg sich zurecht gesetzt hatte, seufzte sie: „Ist das eine Fahrt! Alles geht in die Brüche: Heirathen, Wagen, Arme, Beine.“

Ihr Eheherr begütigte: „Nu! nu!“

Besorgt flüsterte sie ihm ins Ohr: „Ist der Utz freundlich mit seiner Partnerin?“

Der Schloßhauptmann lugte aus und drückte pfiffig ein Auge zu: „Er macht ein Gesicht so gleichmüthig, als habe er einen Hafersack aufgeladen.“

„Spricht sie auf ihn ein?“ forschte die Frau weiter.

„Bei diesem Trab wird es ihr schier vergehen,“ entgegnete er und setzte seinem Ramskopf ebenfalls die Sporen ein, auf daß auch er Ruhe bekam.

(Fortsetzung folgt.)

[779]
Präsident Simson.

Am Geburtstage Luthers und Schillers, am 10. November, erblickte Eduard Simson in Königsberg im Jahre 1810 das Licht der Welt. Ueberaus früh reifte der Hochbegabte in behaglichen Verhältnissen, unter der Fürsorge und in der geselligen Häuslichkeit feingebildeter Eltern. Kaum sechzehn Jahre alt, schied er an der Spitze der Abiturienten vom Gymnasium mit einer vollendeten griechischen Ansprache an den großen feierlich geladenen Kreis der Hörer. Unter diesen befand sich der Mann, welcher den Studenten der Rechte Simson in den nächsten Jahren am meisten an sich fesseln sollte: Eduard Albrecht, damals selbst erst 25 Jahr alt, aber als Verfasser der heute noch als klassisch anerkannten Schrift „Die Gewere“ bereits ordentlicher Professor des deutschen Privat- und Staatsrechts an der Universität Königsberg und weithin berühmt. Was sich beide junge Männer damals, was sie sich 22 Jahre später als Mitglieder des Frankfurter Parlamentes gegenseitig wurden und verdankten, haben beide oft dem Verfasser dieser Zeilen später mit rührenden Worten ausgesprochen.[1]

Gerade an Albrechts scheinbar herber Sprödigkeit, seiner eigenthümlichen Gedankenschärfe und schneidenden Kritik fand des jungen Simson weiche Empfindung und feurige Begeisterung den geeignetsten Lehrmeister.

Drei Jahre lag Simson den Studien in seiner Vaterstadt ob. Mit achtzehn Jahren erwarb er hier den Doktorhut beider Rechte. Dann suchte er die berühmtesten Hochschullehrer des damaligen Preußens auf: Savigny in Berlin und Niebuhr in Bonn. Beide nahmen ihn freundlich auf, besonders Niebuhr, an den er gut empfohlen war.

Und ein seltsames Ereigniß brachte ihn dem gefeierten Gelehrten, dem Begründer der neuen deutschen Geschichtswissenschaft, besonders nahe.

Das Wintersemester 1829 auf 1830, das Simson in Bonn verlebte, war äußerst kalt. Der junge Doktor bekämpfte die Kälte und wohl auch die Schlaflust bei seinen nächtlichen Studien mit selbst eingekauftem und eigenhändig zubereitetem Kaffee, den er beim Einkauf in der inneren Brusttasche eines langen weichen Gewandes barg, in das er sich sowohl beim Ausgehen, als bei seinen nächtlichen Studien hüllte. In der äußeren Seitentasche steckte stets ein seidenes Taschentuch.

An einem sehr kalten Februarabend des Jahres 1830 hatte der junge Doktor eben wieder Kaffee eingekauft und seine Studirlampe angezündet, als Feuerlärm und der Ruf der Sturmglocke durch die stille Stadt hallte. In der Richtung von Niebuhrs Haus war der Nachthimmel blutig geröthet. Sofort eilte Simson an die Brandstätte − wirklich brannte Niebuhrs Haus. Eben führte man den alten Mann, der mit 37 Jahren noch die Freiheitskriege mit geschlagen und mit Ernst Moritz Arndt der hereinbrechenden Reaktion muthig getrotzt hatte, wie gebrochen die Treppe hinab. Verzweifelt und vor Kälte bebend, nur von einem dünnen Röckchen bekleidet, stammelte er nur: „Meine Manuskripte! Meine Manuskripte!“ Unerkannt in der allgemeinen Verwirrung, warf Simson dem verehrten Lehrer rasch den eigenen warmen Mantel über und verschwand dann, selbst vor Kälte schlotternd, aus dem Brandkreis, eben als das gastliche benachbarte Haus Bethmann-Hollwegs sich Niebuhr öffnete.

Wenige Tage später veröffentlichte die „Bonner Zeitung“ Niebuhrs rührenden Dank, in dem Simson zu seinem Schrecken den Worten begegnetet „… insbesondere danke ich auch dem wir völlig unbekannten edeln Manne, der mir in der Unglücksnacht den eigenen Mantel umwarf. Er möge mir bei Abholung des Mantels den persönlichen Dank ermöglichen und sich als Eigenthümer kennzeichnen durch Benennung der in den Taschen befindlichen Gegenstände.“

Wer sich „als Eigentümer“ nicht „kennzeichnete“, war Simson − das verrätherische Pfund Kaffee in der inneren Rocktasche fiel ihm jedoch mit Centnerlast auf die Seele. Monate blieb er unerkannt. Aber auf einem Frühlingsspaziergange des Jahres 1830 an der Seite des Sohnes Bethmann-Hollwegs wurde er von diesem doch plötzlich entlarvt, da aus Simsons Tasche ein Zwillingsbruder jenes seidenen, E. S. gezeichneten Taschentuches schaute, das in dem herrenlosen Mantel steckte, nach dessen Eigenthümer Niebuhrs Forscherauge seit Monaten vergeblich ausspähte. Sofort ward Simson dem Meister verrathen und dieser hielt ihn fortan wie den eigenen Sohn.

Nach Paris, wohin Simson noch der Julirevolution des Jahres 1830 zog, gab ihm Niebuhr die wichtigsten Empfehlungen an die Lehrer der Sorbonne mit und noch bedeutsamer waren für den jungen Liebling des Meisters Niebuhr fleißige Briefe.

Im Jahre 1831, 21 Jahre alt, kehrte Simson als Privatdocent der heimathlichen Hochschule nach Königsberg zurück. Zwei Jahre später finden wir ihn daselbst schon als außerordentlichen Professor. Mit 24 Jahren ist er bereits Mitglied des Tribunals der Provinz Preußen.

Wenn sein politisches Wirken seiner ursprünglichen Absicht, akademischer Lehrer zu werden. durch seine häufige Entfernung von der alma mater Albertina, hinderlich ward, so hat er doch dem Lehrstuhl der Hochschule erst dann entsagt, als er 1860 als Vicepräsident des Appellationsgerichts nach Frankfurt an der Oder versetzt wurde.

Von dem Präsidentenstuhl dieses Gerichtshofes ward er dann 1879 auf den höheren des deutschen Reichsgerichts berufen.

Wahrlich, eine glänzende, unvergleichliche Laufbahn!

Und dennoch ist fast noch glänzender und bedeutsamer die Rolle gewesen, die Eduard Simson in den öffentlichen Angelegenheiten seines Staates und Volkes gespielt hat. 1842 begann er diese öffentliche Thätigkeit bescheiden genug als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Königsberg − aber das war in jenen Jahren immerhin schon ein Posten, auf den ganz Deutschland blickte, denn Königsberg war damals nächst Berlin und Breslau die geistig regsamste und politisch schneidigste preußische Stadt. Königsberg sendet Simson im Frühjahr 1848 ins Frankfurter Parlament. Hier wird der noch junge Mann sofort in das Bureau des Hauses gewählt, hier steigt er allmählich zum Präsidenten der Nationalversammlung empor, von allen Parteien bewundert wegen der unvergleichlichen Geschicklichkeit und Gerechtigkeit seiner Amtsführung. Die wichtigsten Sendungen nach der preußischen Hauptstadt werden ihm anvertraut. An der Spitze der Kaiserdeputation verkündet er Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Frühjahr die Wahl zum Deutschen Kaiser − bekanntlich vergeblich!

Unter schwerem körperlichen und seelischen Leid sah Simson durch die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone seitens seines Königs das Frankfurter Verfassungswerk scheitern. Aber sein unerschütterliches Pflichtgefühl und sein hochgemuther Idealismus hielten ihn treu und fest bei der nationalen Fahne auch in Deutschlands trübsten Tagen. 1849 schon hatte er sich ins preußische Abgeordnetenhaus wählen lassen und ward hier Mitglied des Ausschusses, welcher die preußische Verfassung beriet. 1850 ließ er sich auch in das Erfurter Parlament senden, auf das die besten Männer Deutschlands die letzten Hoffnungen einer deutschen Verfassung setzten und auch dieses Parlament ernannte Simson zu seinem Präsidenten.

In dieser amtlichen Stellung traf er in höchst merkwürdiger Weise in scharfer persönlicher Begegnung zusammen mit dem Gewaltigsten unserer Tage − mit Bismarck.

Dieser war Schriftführer des Hauses und damals noch ganz befangen in seiner Jugendliebe zum alten Oesterreich, die ein Menschenalter später in dem deutschen Bündniß mit dem verjüngten Oesterreich eine so schöne reife Bestätigung des Sprichwortes erfahren hat: „Alte Liebe rostet nicht“. Der junge, damals fünfunddreißigjährige Bismarck, Deichhauptmann von Schönhausen, [780] Schriftführer des Volkshauses zu Erfurt, Führer der preußischen Junker gegen alle sträflichen Neuerungen des „tollen Jahres“ 1848, sonst aber vorläufig noch nichts weiter, war höchst ergrimmt gegen zwei Preßberichterstatter der Erfurter Tribüne, welche Tag für Tag an einflußreiche Zeitungen ihre Berichte in sehr entschieden antiösterreichischem Sinne sandten.

Bismarck schrieb nun aus eigener Machtvollkommenheit, aber mit der Unterschrift: „Das Schriftführeramt des Volkshauses zu Erfurt, von Bismarck“ an die beiden Berichterstatter, daß diesen die Sitze auf der Zeitungstribüne entzogen würden, wenn sie nicht augenblicklich ihre verwerflichen Angriffe gegen Oesterreich einstellten. Der eine der beiden Betroffenen, Ludwig von Rochau, später als Schriftsteller und Reichstagsabgeordneter einer der treuesten Vor- und Mitkämpfer der neuen Zeit, die Bismarck heraufführte,[2] beantwortete diese verletzende Zuschrift Bismarcks in sehr höhnischer und ungehöriger Form. Der andere dagegen fragte einfach und höflich bei Simson an, ob der junge Schriftführer des Volkshauses wirklich berechtigt gewesen sei, diese Aufforderung amtlich an ihn zu erlassen. Beim Beginn der nächsten Sitzung forderte Bismarck mit Ungestüm vom Präsidenten Simson Satisfaktion gegen Rochaus ungehörige Antwort. Simson sagte ihm diese zu, bestellte ihn aber auch wegen der dem anderen Berichterstatter zu gewährenden „Satisfaktion“ auf abends acht Uhr in das Präsidentenzimmer des Volkshauses Erfurt. Bismarck erschien zur bestimmten Stunde − aber nur um jede Verbindlichkeit einer Satisfaktion seinerseits gegenüber dem „lästigen Federfuchser“ zu bestreiten.

„Da saßen wir denn bis zwei Uhr nachts,“ erzählte mir Simson vor fast zwanzig Jahren von dieser Unterredung, „und tauschten unsere Gedanken aus, daß die Wände dröhnten. Sie müssen sich den gewaltigen Mann zwanzig Jahre jünger denken. Und am Ende gab Bismarck doch Satisfaktion und ich ihm auch, indem ich seinem Beleidiger den Sitz entzog. Der andere Berichterstatter behielt natürlich den seinen.“

Bekanntlich ist auch das Erfurter Verfassungswerk gescheitert. Die innere und äußere Reaktion gegen bürgerliche Freiheit und nationale Hoffnungen kam überall, und vorweg in Preußen zum Durchbruch. Preußen demüthigte sich in Olmütz vor Rußland, ließ Kurhessen und Schleswig-Holstein vergewaltigen und die deutsche Flotte versteigern. Der deutsche Bundestag wurde wieder eingesetzt, „reaktivirt“, wie der Kunstausdruck für das moderne Wunder hieß, das einen Todten auferweckte, der sich im Frühjahr 1848 feierlich selbst für todt erklärt hatte. Es war die Zeit, von der Dahlmann sagte: „Das Unrecht hat alle Scham verloren“. In diesen Jahren war keine Stätte des Wirkens mehr für Simsons freiheitlichen und deutschen Sinn im preußischen Abgeordnetenhause.

Ende 1852, nach heftigen Kämpfen gegen die Politik Manteuffels, entsagte er dem politischen Leben und widmete sich nur seinem Amt und seinen Studenten, bis mit der Regentschaft des Prinzen von Preußen (des späteren Kaisers Wilhelm I.) und der „liberalen Aera“ unter dem Ministerium Schwerin-Auerswald eine neue Zeit für Preußen und Deutschland heraufzog. Da ließ sich Simson 1858 von neuem ins preußische Abgeordnetenhaus wählen und war hier bis 1866 einer der vornehmsten Führer der „Altliberalen“, steter Vorsitzender der wichtigen Justizkommission des Hauses und 1860 und 1861 Präsident des preußischen Volkshauses. In dieser Eigenschaft brachte er seinem König Wilhelm I. am 18. Oktober 1861 zu dessen Krönung die Glückwünsche der preußischen Volksvertretung in Königsberg dar.

Das Jahr 1866 hatte die bis dahin vergeblichen Anstrengungen der Freunde der preußischen Vormacht in Deutschland erfüllt und die alten Parteinamen verwischt. Simson zählte sich fortan zu der nationalliberalen Partei. Aber das allgemeine Vertrauen der zum norddeutschen und deutschen Reichstag Erwählten entrückte den ehrwürdigen Präsidenten des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und preußischen Abgeordnetenhauses dem Parteikampf, indem es ihn auch im deutschen Reichstag von 1867 bis 1874 auf den Stuhl des Präsidenten berief Und so hoch wir von seinen Nachfolgern in dieser Würde denken, jeder von ihnen wird doch gern in Simsons unvergleichlicher Unparteilichkeit, Milde und Festigkeit zugleich, seiner unnachahmlichen Kunst, auch die bewegtesten Debatten würdevoll, gerecht und mit strenger Handhabung des Hausgesetzes, der Geschäftsordnung, zu leiten, seinen Meister anerkennen. „Aus Gesundheitsrücksichten“ − die ausnahmsweise leider kein Vorwand waren − legte Simson 1874 dieses hohe Amt nieder und entsagte bald darauf dem parlamentarischen Leben für immer.

Aber die Zeit dieses siebenjährigen Wirkens im deutschen Reichstag und an der Spitze des deutschen Zollparlaments (1868 bis 1870) hat dem hochverdienten Manne, der einst, 1849, mit fast gebrochenem Herzen aus dem preußischen Königsschlosse trat, als sein König die vom Frankfurter Parlament in heißer Arbeit geschmiedete Kaiserkrone ablehnte, doch in Fülle die ausgleichende Gunst eines seinem Volke gnädigen Schicksals geboten. Bei jeder Gelegenheit, bei der die deutsche Volksvertretung den Schirmherrn des norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches feierlich begrüßte, war Simson der Führer und Sprecher, so am 3. Oktober 1867 bei Ueberreichung der Adresse des Reichstags auf der Hohenzollernburg in Sigmaringen, so am 19. Juli 1870 in Berlin am Tage der französischen Kriegserklärung, so endlich am 18. Dezember 1870, an der Spitze einer anderen, glücklicheren Kaiserdeputation, im französischen Königsschlosse zu Versailles. Deutlicher kann die geheimnißvolle Fügung der Vorsehung nicht zu Menschen reden, als sie die deutsche Kaiserkrone hervorgehen ließ aus den Mauern des Lustschlosses Ludwigs XIV., des hochmüthigsten Feindes unseres Volkes!

Und es war auch wahrlich kein Zufall, daß Simson, der hochverdiente Jurist und Vaterlandsfreund, als Präsident des deutschen Reichsgerichts berufen wurde, als dieses am 1. Oktober 1879 seine Thätigkeit eröffnete. In seiner rückhaltlosen Würdigung geschichtlicher Ereignisse und geschichtlich bedeutsamer Menschen soll Bismarck damals seinem Kaiser den einstigen Präsidenten des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und des deutschen Reichstags als den Einzigen bezeichnet haben, der nach seinem Wirken, seinen Verdiensten und seiner Bedeutung in Frage kommen könne, um an der Spitze des neuen höchsten Gerichtshofes für das Deutsche Reich zu stehen. Und damit hat der deutsche Kanzler sicherlich in dieser wichtigen Frage das Richtige getroffen, denn Simsons Name an dieser hohen Stelle verhieß die Erfüllung aller der stolzen Hoffnungen, welche das deutsche Volk auf das höchste Bollwerk seiner Rechtseinheit, das Reichsgericht setzte − und die neun Jahre der Wirksamkeit desselben haben diesen Hoffnungen Erfüllung gegeben.

Freilich, ein Ruheposten, wie ihn andere Nationen den zu Jahren gekommenen Vorkämpfern ihrer nationalen Größe gönnen mögen, ist dieses Amt nicht. Wie unser neunzigjähriger Kaiser Wilhelm noch auf seinem Sterbebett nicht die Zeit fand, müde zu sein, so denken und handeln auch die Männer, die mit ihm Deutschland zu dem machten, was es heute geworden ist, unter ihnen Präsident Simson.

Er hat am Sitze des Reichsgerichts in Leipzig den herbsten Schmerz seines langen Lebens erlitten durch den Tod der edlen Gattin, die ihm seit Jugendtagen das Leben verschönte und allen unvergeßlich war, die ihr nahten. Aber dennoch steht er ungebrochen aufrecht und geistesfrisch, dem jüngeren Geschlecht ein Muster treuester Pflichterfüllung. Präsident Simson hat aber auch an dem Sitze des deutschen Reichsgerichtes in Leipzig manchen Tag freudiger Erhebung erlebt seit jenen glänzenden Festen, welche die Stadt Leipzig dem in seine Mauern einziehenden Reichsgericht am 1. Oktober 1879 gab. Keiner der Freuden- und Ehrentage jedoch, die er hier feierte, kann den 31. Oktober an Bedeutung erreichen, da Kaiser Wilhelm II. selbst zugleich mit seinem erlauchten Freunde und Bundesgenossen, dem König Albert von Sachsen, und umgeben von Vertretern des Bundesrathes und Reichstages, Leipzigs Mauern betrat, um hier den Grundstein zum neuen Reichsgerichtsgebäude zu legen!

Möge auch in diesem von kaiserlicher Huld geweihten Hause Präsident Simson noch lange an der Spitze des deutschen Reichsgerichts ausdauern!

Hans Blum.     
[781]
Die feierliche Grundsteinlegung des Reichsgerichtsgebäudes in Leipzig.


Zwei Jahrzehnte ist sie nun bald vorüber, die lange, kaiserlose Zeit! In Versailles erhob sich der deutsche Aar zu neuem Fluge und breitete seine mächtigen Schwingen aus. Das Reich war wieder erstanden! Aber es war nicht das alte Reich, dessen spottwerthe Institutionen alles, nur keine Einheit repräsentirten – nein, es war ein neues, geeintes Reich, ein Reich voll Kraft und Energie, dessen Krone der greise Hohenzoller trug! Unter den Einheitsbestrebungen, die nach der Kaiserkrönung hervortraten, stand das Bestreben, ein einheitliches Recht zu schaffen, obenan. Das Strafrecht und der Strafprozeß, das Handelsrecht, der Civilprozeß, die Gerichtsverfassung und eine ganze Reihe speciellerer Materien erhielten einheitliche Normen, und das bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich wird dereinst die Krone dieses einheitlichen deutschen Rechtes bilden. Mit der Einheit des Rechtes aber sollte die Einheit der Rechtsprechung Hand in Hand gehen: am 1. Oktober 1879 trat der höchste Gerichtshof Deutschlands, das Reichsgericht, das nach dem Gesetz vom 11. April 1877 seinen Sitz dauernd in Leipzig hat, ins Leben. Sein Vorläufer war das Reichsoberhandelsgericht gewesen, das freilich nur ein Forum für Handelssachen gebildet hatte. Seit den Tagen des alten Reichskammergerichtes in Wetzlar, wo man „nach des Reichs und gemeinen Rechten, und nach ehrbaren und redlichen Ordnungen und Statuten“ verfuhr, dabei aber die Rechtsstreite wie eine ewige Krankheit forterben ließ, wurde zum ersten Male wieder ein hohes Tribunal errichtet, das eine Einheit der deutschen Richtersprüche in Straf- und Civilsachen, als Revisions- und Beschwerdeinstanz, herbeiführen und zugleich die erste und letzte Instanz in Fällen des Hoch- und Landesverrathes gegen Kaiser oder Reich bilden sollte. Nachdem der Reichsgerichtshof in Leipzig vorläufig in einem zu diesem Zwecke hergerichteten städtischen Gebäude Unterkunft gefunden, wurde am 31. Oktober d. J., unter Anwesenheit des Kaisers von Deutschland und des Königs von Sachsen feierlich der Grundstein zu dem neuen Reichsgerichtsgebäude auf dem Platz an der Harkortstraße gelegt. Ueber die Geschichte und den Charakter des Baues hat die „Gartenlaube“ bereits in Nr. 15 des Jahrgangs von 1885 eine Skizze mit einem Bild des preisgekrönten Entwurfes gebracht, auf die wir hier nur verweisen wollen.

Die Feier der Grundsteinlegung war eine ebenso würdige wie glänzende. Leipzig hatte ein prangendes Festgewand angethan. In den Straßen, durch welche der Kaiser an der Seite König Alberts fuhr, bildeten das Militär, die Kriegervereine, Innungen, Gesangvereine, Turnvereine und Schulen vor der begeisterten Volksmenge Spalier, während draußen auf den Tribünen und um den prunkvollen „Kaiserpavillon“ sich die auserwählten Gäste der Feier, die Räthe des Reichsgerichts, die höchsten Würdenträger des Reiches und des Landes, die Vertreter der Korporationen, der Studentenschaft etc. ehrfurchtsvoll gruppirten.

Ueberall brauste ein mächtiges „Hurrah“ durch die Straßen, welche der imposante Kaiser- und Königszug berührte. Derselbe bewegte sich in lachendem Sonnenschein, echtem „Kaiserwetter“, über den Markt, wo der Kaiser das neu erbaute Siegesdenkmal, an dem die Gestalten Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Friedrichs III. mit Immortellenkränzen geschmückt waren, in Augenschein nahm, nach dem Festplatz, wo es von bunten, goldgestickten Uniformen und blitzenden Orden wimmelte. Vor dem Kaiserzelt, in dem die beiden Majestäten sich niederließen, lag der Grundstein, der seiner Weihe harrte. Der Sängerchor stimmte zunächst den Hymnus „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ an, nach dessen Beendigung der Staatsminister von Bötticher die vom Kaiser vollzogene Urkunde für die Feier der Grundsteinlegung verlas, in der es vom Reichsgericht heißt: „Zum Wohle des Volkes soll es ein unabhängiger Hüter des im Deutschen Reiche geltenden Rechtes sein und demselben in dem hier zu errichtenden Gebäude eine würdige Stätte bereiten.“ Die Urkunde wurde hierauf mit den übrigen Schriftstücken und einem vollständigen Satze deutscher Münzen in einer Metallkapsel verlöthet und in den Grundstein eingesetzt. Unter einer Ansprache überreichte der bayerische Bundesrathsbevollmächtigte, v. Lerchenfeld, die Kelle, der Vicepräsident des Reichstages, Dr. v. Buhl, den Hammer. Se. Majestät der Kaiser that drei Hammerschläge, indem er sprach: „Der Ehre des allmächtigen Gottes, dem Rechte und seinen allzeit getreuen Dienern.“ Ihm folgte König Albert, der folgendes sprach: „Gott zur Ehre, dem Reiche zum Ruhme, dem Rechte zum Schirm.“ Den beiden Majestäten schlossen sich die sämmtlichen Staatswürdenträger mit Hammerschlägen an. Gebet und eine kurze Predigt des Superintendent Pank, sowie ein vom Reichsgerichtspräsidenten Dr. v. Simson ausgebrachtes Hoch auf den Kaiser bildeten den Schluß der wahrhaft erhebenden Feier. An dieselbe schloß sich ein Frühstück und ein Konzert im „Neuen Gewandhaus“ an. Alle Theilnehmer der Feier haben gewiß die Ueberzeugung erlangt, einem hohen, weltgeschichtlichen Momente beigewohnt zu haben, einem Momente, bedeutsam für Leipzig, bedeutsam für das Sachsenland, bedeutsam für das ganze deutsche Kaiserreich!

Hermann Pilz.




[782]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Doktor Reinsfeld saß in seiner Wohnung und schrieb eifrig. Es mußte vor der Abreise doch noch so manches geordnet und aufgezeichnet werden für den Nachfolger, der im Lauf der nächsten Woche eintreffen sollte und mit der Wohnung auch deren Einrichtung übernahm. Groß war die Habe des jungen Arztes ja allerdings nicht, aber sein Blick streifte doch bisweilen mit einem wehmütigen Ausdruck die einfache, fast dürftige Umgebung. Er war hier so glücklich und − so unglücklich gewesen.

Draußen fuhr ein Wagen vor und hielt gerade vor dem Doktorhause. Benno hielt mit Schreiben inne, um hinauszublicken, und sprang dann überrascht auf, denn er gewahrte die zierliche Gestalt der Frau Doktor Gersdorf, die sich aus dem Schlage beugte. Die vornehme Verwandte, deren Bekanntschaft er einst so gefürchtet hatte, war ihm in der letzten Zeit eine so tapfere kleine Freundin geworden und hatte sich mit solchem Feuereifer seiner Liebe angenommen! Er hatte das freilich zurückgewiesen und zurückweisen müssen; aber er war ihr doch von ganzem Herzen dankbar dafür.

Mit einem frohen Willkommen auf den Lippen trat er an den Wagen, schrak aber plötzlich zusammen, denn neben der jungen Frau erblickte er noch eine andere Dame, die sich blaß und scheu in die Ecke drückte − Alice Nordheim!

„Ja, ich komme nicht allein,“ sagte Wally, die höchst zufrieden war mit dem Effekt ihrer Ueberraschung. „Wir sind auf einer Spazierfahrt begriffen und kamen durch Oberstein, da wollten wir doch nicht so ohne weiteres vorbeifahren. Nun, Benno, freuen Sie sich denn gar nicht über den Besuch?“

Reinsfeld stand noch immer ganz fassungslos da. Eine Spazierfahrt bei diesem kalten, regnerischen Wetter! Und weshalb kam Alice mit? Weshalb zitterte sie so, als er ihr aus dem Wagen half, und vermied es, ihn anzusehen? Er brachte kein Wort über die Lippen; aber das war auch nicht nöthig, denn Frau Doktor Gersdorf füllte die Pause hinreichend aus. Sie sprach unaufhörlich, bis man im Zimmer war, und da fing sie erst recht an.

„So, nun sind wir hier! Du hast es ja gewollt, Alice, und nun siehst Du aus, als ob Du am liebsten davonlaufen möchtest! Warum? Ich werde meinem Vetter doch einen Besuch machen können und Du bist ja in meiner Begleitung, unter dem Schutze einer verheiratheten Frau, dagegen darf selbst Deine gestrenge Frau Oberhofmeisterin nichts einwenden. − Uebrigens, braucht Ihr Euch gar nicht zu geniren Kinder! Ich weiß alles, ich bin vollkommen auf der Höhe der Situation und finde es ganz natürlich, daß Ihr Euch aussprechen müßt. Also fangt nur an!“

Sie setzte sich in den Armsessel, den der Doktor soeben verlassen hatte, und machte Miene, der Sache in aller Feierlichkeit beizuwohnen; aber vorläufig trat nur eine unendlich lange Pause ein. Alice stand auf der einen Seite des Zimmers und Benno auf der andern, keines von beiden sprach ein Wort, und als das einige Minuten gedauert hatte, fing die junge Frau an, sich zu langweilen.

„Ach so, Ihr wollt allein sein!“ sagte sie. „Nun meinetwegen, ich werde in das Nebenzimmer gehen, um dafür zu sorgen, daß Ihr ungestört bleibt − wenn ich vor der Thür stehe, kommt sicher kein Mensch hinein.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie dem Wort die That folgen und schloß geräuschlos die Thür hinter sich, hatte aber dann nichts Eiligeres zu thun, als sich am Schlüsselloch zu etabliren. Zu ihrem großen Mißvergnügen machte sie jedoch die Entdeckung, daß die alte, festgefügte Eichenthür keinen Laut hindurch ließ, und aus dem, was das Schlüsselloch ihr zeigte, wurde sie auch nicht klug. Die beiden da drinnen schienen noch immer nicht anzufangen. Trotzdem harrte Wally mit Selbstverleugnung aus auf ihrem Posten, sie hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, ein Schutzgeist zu sein, und wenn sie in dieser Eigenschaft den ganzen Tag hier stehen sollte.

Leider ließ sie bei diesem lobenswerthen Vorsatze den Umstand außer Acht, daß das Zimmer noch eine zweite Thür hatte, die in einen kleinen Nebenraum und von dort in das Gärtchen führte, und überdies hatte sie keine Ahnung davon, daß gerade zu derselben Stunde sich Veit Gronau in Begleitung Saids und Djelmas dem Doktorhause näherte.

Ernst Waltenberg war gestern Abend nicht nach Heilborn zurückgekehrt, obgleich er seinem Sekretär eine Unterredung zugesagt hatte. Erst heute morgen war ein Bote von ihm gekommen mit der Nachricht, daß er sich für einige Tage in dem kleinen Wirthshause von Oberstein einquartiert habe und daß man ihm die beiden Diener mit den notwendigsten Sachen nachschicken solle. Das war denn auch unverzüglich geschehen und Veit hatte sich gleichfalls mit auf den Weg gemacht. Da das Fahren auf dem steilen und unbequemen Gebirgswege aber nicht gerade zu den Annehmlichkeiten gehörte, so hatten sie es vorgezogen, die letzte Strecke zu Fuß zu machen, während der Wagen mit dem Gepäck langsam nachfuhr.

Said und Djelma waren nicht sehr erbaut von dem Einfall ihres Gebieters, tage- und vielleicht wochenlang in dem kleinen Bergwirthshause zu bleiben, das nicht die mindeste Bequemlichkeit bot, während man in Heilborn eine schöne, behagliche Wohnung hatte. Sie zeigten sehr mißvergnügte Gesichter und der Neger erlaubte sich die wehmütige Bemerkung:

„Master Hronau, der Herr gar nicht mehr ist zu begreifen!“

„Ganz natürlich, und er wird noch viel unbegreiflicher werden, wenn er erst verheiratet ist!“ sagte Veit mit grimmiger Genugthuung. „Freut Euch nur auf die ‚serr schöne Geschichte‘, das habt Ihr davon! Nun, mich geht es nichts mehr an, ich werde wohl die längste Zeit bei Euch gewesen sei; jetzt seht zu, wie Ihr allein mit ihm fertig werdet.“

Der Afrikaner und der Malaye horchten entsetzt auf bei diesen Worten. So sehr Master Hronau sie auch hofmeisterte und gelegentlich ausschalt, sie hingen doch mit Leib und Seele an ihm, und der Gedanke, daß er sie verlassen könne, war ihnen unfaßbar. Sie begannen daher, mit Bitten und Klagen auf ihn einzustürmen, und trieben ihn mit ihren Fragen so in die Enge, daß Gronau heimlich seine Uebereilung verwünschte.

Er hatte sich längst selbst gesagt, was Benno ihm zu bedenken gab, daß es um seine Stellung bei Waltenberg geschehen war, wenn er wirklich mit einer Anklage gegen den Präsidenten auftrat. Trotzdem hielt er den Entschluß mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters fest. Gerade weil sich der Sohn seines alten Freundes so unverzeihlich lau und zaghaft zeigte, hielt er es für seine Pflicht, an dessen Stelle einzutreten. An sich selbst dachte er dabei nicht im mindesten; er war es gewohnt, sich von einer Lebensstellung in die andere zu werfen und nicht viel nach der Zukunft zu fragen, er kümmerte sich einzig und allein um die Gegenwart.

Das kannte er nun freilich den beiden Dienern nicht auseinandersetzen; aber er war nicht um einen Vorwand verlegen, und als sie ihm wieder mit der Frage nach dem Warum zu Leibe gingen, erklärte er:

„Weil die Unbegreiflichkeit des Herrn Waltenberg immer toller wird! Was ist das nun wieder für ein Einfall, sich bei solchem Wetter in dem elenden Bergneste hinzusetzen! Wahrscheinlich ist er seiner Braut noch nicht nahe genug, oder er hat Eifersuchtsmucken im Kopfe und will sie nicht aus den Augen lassen. Das wird wohl überhaupt chronisch bei ihm werden, wenn er erst Ehemann ist, und das kann ich nicht mit ansehen.“

„O, Master Hronau gar nicht mag die Damen,“ sagte Said betrübt, denn er teilte keineswegs diese Abneigung, sondern schwärmte für die künftige gnädige Frau.

„Nein, denn wo die Damen anfangen, da hört die Gemüthlichkeit auf, bei den Männern wenigstens!“ grollte Veit, der selten eine Gelegenheit vorbeigehen ließ, seiner Frauen- und Ehefeindschaft Luft zu machen. „Wenn sie verliebt sind, werden die klügsten Leute verrückt.“

„Verr − rückt!“ wiederholte Djelma, indem er sich Mühe gab, das R möglichst energisch zu schnarren, aber der arme Junge hatte kein Glück mit seinem Lerneifer; er erntete auch diesmal statt des gehofften Lobes nur Scheltworte.

[783] „Du hast eine verwünschte Manier, Dir gerade die Worte zu merken, die Du nicht nachsprechen sollst!“ fuhr ihn Gronau an. „Wenn unsereins verrückte Streiche macht, so ist das eben Verrücktheit; wenn Herr Waltenberg sie aber macht, so ist das Genialität und man findet es ungeheuer poetisch. − Da kommen wir endlich wieder auf die Fahrstraße! Ihr könnt dort auf den Wagen warten, ich will inzwischen nur auf einen Augenblick bei dem Doktor Reinsfeld eintreten, mit dem ich ein paar Worte zu reden habe.“

Der Fußweg, den sie eingeschlagen hatten, führte gerade an dem Gärtchen des Doktorhauses vorüber; Gronau durchschritt dasselbe und öffnete die ihm wohlbekannte Hinterthür. Er war bei dem letzten Zusammensein mit Benno sehr heftig geworden, hatte ihm seine Zurückhaltung in den bittersten Worten vorgeworfen, und seine Gutmüthigkeit litt es nicht, daß ein solcher Mißklang bestehen blieb. Er kam jetzt, halb in der Absicht, sich zu entschuldigen, und halb in der Hoffnung, den Doktor noch nachträglich zu einer Theilnahme an seinem Vorhaben zu bestimmen. Da der Nordheimsche Wagen an der Vorderseite des Hauses hielt, so hatte er keine Ahnung von dem Damenbesuche, sonst hätte er wahrscheinlich davor die Flucht ergriffen.

Frau Doktor Gersdorf stand inzwischen aufopfernd auf ihrem Posten am Schlüsselloch, der ihr leider sehr wenig zu sehen und gar nichts zu hören erlaubte; freilich nahm das Gespräch da drinnen eine ganz andere Richtung, als sie voraussetzte.

Benno, der vergeblich darauf wartete, daß Alice sprechen sollte, nahm endlich selbst das Wort.

„Sie wollten zu mir, gnädiges Fräulein − wirklich?“

„Ja, Herr Doktor,“ war die leise, mit bebender Stimme gegebene Antwort.

Reinsfeld wußte sich das nicht zu deuten. Alice war ihm in der letzten Zeit stets so unbefangen und zutraulich genaht. Seit jenem Zusammensein im Walde war es freilich vorbei mit der Unbefangenheit; aber das erklärte doch nicht diese seltsame Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie stand bleich und zitternd da und schien eine förmliche Angst vor ihm zu hegen, denn sie wich zurück, als er ihr näher trat.

„Sie fürchten sich − vor mir?“ fragte Benno vorwurfsvoll.

Sie machte eine matt verneinende Bewegung.

„Nein, nicht vor Ihnen, aber vor dem, was ich Ihnen zu sagen habe − es ist so furchtbar!“

Reinsfeld sah sie noch immer verständnißlos an; aber plötzlich kam ihm wie ein Blitz die Erkenntniß der Wahrheit.

„Um Gotteswillen, Sie wissen doch nicht etwa −?“

Er vollendete nicht, denn Alice hob jetzt zum ersten Male das Auge zu ihm empor, so trostlos, so verzweifelt, daß es keiner anderen Antwort mehr bedurfte, der eine Blick sagte ihm alles. Er trat rasch zu ihr und faßte ihre Hand.

„Wie ist das möglich? Wer ist so grausam gewesen, Sie damit zu quälen?“

„Niemand!“ versetzte das junge Mädchen mit sichtbarer Anstrengung. „Ein Zufall − ich hörte eine Unterredung meines Vaters mit Gronau −“

„Und Sie glauben doch nicht, daß ich daran betheiligt bin?“ fiel Benno stürmisch ein. „Ich habe alles versucht, Gronau zurückzuhalten, habe jede Theilnahme meinerseits verweigert.“

„Ich weiß es − um meinetwillen!“

„Ja, um Ihretwillen, Alice! Und deshalb brauchen Sie auch nichts von mir zu fürchten. Es war nicht nöthig, daß Sie kamen, um mein Schweigen zu erbitten, ich hätte ohnehin geschwiegen.“

„Ich kam nicht deshalb,“ sagte Alice leise. „Ich wollte Sie um Verzeihung bitten, um Vergebung für −“

Ein lautes Aufschluchzen erstickte ihre Stimme; da fühlte sie sich plötzlich von Benno umfaßt. Sie war ja nicht mehr Wolfgangs Braut, er beging keinen Verrath mehr an dem Freunde, wenn er die Geliebte einmal wenigstens in die Arme schloß; aber er wagte es nicht, sie zu küssen, während sie im fassungslosen Weinen an seiner Brust lehnte.

Gerade in diesem Augenblick öffnete Veit Gronau die Seitenthür und blieb ganz entsetzt auf der Schwelle stehen. Er hätte eher des Himmels Einfall erwartet als einen solchen Anblick; aber er besaß leider nicht das diplomatische Talent der Frau Doktor Gersdorf, geräuschlos zu verschwinden und zu thun, als habe er nichts gesehen; die Ueberraschung entriß ihm im Gegentheil ein langgezogenes „Ah!“

Die beiden fahren erschrocken auf. Alice entwand sich in tödlicher Verlegenheit den Armen Bennos, der nicht viel mehr Geistesgegenwart zeigte, während der Störenfried noch immer groß und breit auf der Schwelle stand und in seiner Bestürzung gar keine Anstalt machte, sich zurückzuziehen. Endlich faßte sich das junge Mädchen so weit, um in das Nebenzimmer zu Wally zu flüchten, während der Doktor mit finster gerunzelter Stirn dem ungebetenen Gaste entgegentrat.

„Ich habe Sie wirklich nicht erwartet, Herr Gronau; das ist ja ein förmlicher Ueberfall!“

Seine Stimme klang in ungewohnter Schärfe; aber Gronau schien das durchaus nicht übelzunehmen. Er trat näher und sagte mit dem Ausdruck höchster Befriedigung:

„Das ist etwas anderes! Das ist etwas ganz anderes!“

„Was denn?“ rief Benno gereizt; aber Veit klopfte ihm statt einer Antwort freundschaftlich auf die Schulter.

„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Jetzt begreife ich es, warum Sie durchaus nicht gegen Nordheim auftreten wollten, und jetzt finde ich das auch in der Ordnung, ganz in der Ordnung.“

„Ich werde auch nicht dulden, daß ein anderer es thut,“ erklärte Reinsfeld, dessen Gereiztheit durch diesen gemüthlichen Ton nur noch gesteigert wurde. „Ich gestehe keinem das Recht zu, sich hineinzumischen, auch Ihnen nicht, Herr Gronau.“

„Fällt mir auch gar nicht mehr ein!“ sagte Gronau ruhig. „Gut, daß ich bei Herrn Waltenberg noch keinen Lärm geschlagen habe, jetzt bleibt die Sache natürlich unter uns. Sie haben sie ja viel gescheiter angefangen als ich, Doktor, und da lassen Sie sich geduldig von mir ausschelten, ohne mir ein Wort zu sagen? Ich habe Ihnen diese Gescheitheit wahrhaftig nicht zugetraut.“

„Halten Sie mich etwa einer niedrigen Berechnung fähig?“ fuhr Benno auf. „Ich liebe Alice Nordheim.“

„Habe ich gesehen!“ bestätigte Veit. „Und sie läßt es sich gefallen − bravo! Jetzt gehen wir dem Herrn Präsidenten ganz anders zu Leibe, jetzt fordern wir nicht etwa das gestohlene Kapital, sondern seine sämmtlichen Millionen mit der Hand seiner Tochter. Wie gesagt, Benno, Sie sind unglaublich gescheit gewesen, eine glänzendere Genugthuung konnten Sie sich gar nicht schaffen und damit würde auch Ihr Vater im Grabe zufrieden sein.“

„Ja, so sehen Sie die Sache an,“ sagte Reinsfeld mit schmerzlicher Bitterkeit. „Alice und ich fassen sie ganz anders auf. Was Sie gesehen haben, war nur ein Abschied, eine Trennung für ewig.“

Veit machte bei dieser Erklärung ein Gesicht, als habe man ihm unversehens eine Ohrfeige versetzt.

„Trennung? Abschied? Doktor, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Verstande!“

Der junge Arzt war sonst die Höflichkeit und Geduld selbst, bei dieser derben Einmischung aber in die zartesten Angelegenheiten seines Herzens verlor er die Geduld so vollständig, daß er sogar einen Versuch machte, grob zu werden.

„Ich wiederhole Ihnen, Herr Gronau, daß ich mir Ihre Einmischung verbitte!“ rief er heftig. „Glauben Sie etwa, daß ich den Mann, der meinem Vater das angethan hat, selbst Vater nennen könnte? Freilich, Sie kennen und verstehen nicht solche ideale Gründe.“

„Nein, von dem Idealen verstehe ich gar nichts,“ gestand Veit; „aber desto mehr vom Praktischen und hier ist die Sache so klar und einfach wie nur möglich. Sie haben das Mittel, Nordheim zur Einwilligung zu zwingen, also wird er gezwungen; Sie lieben seine Tochter, also wird sie geheirathet. Alles Uebrige ist Unsinn − Punktum!“

„Ganz meine Meinung!“ sagte eine Stimme von der Thür her, und Frau Doktor Gersdorf, die die letzten Worte gehört hatte, trat ein und bemächtigte sich mit gewohnter Entschiedenheit des Gespräches.

„Herr Gronau hat recht, die Sache ist so klar und einfach wie nur möglich,“ wiederholte sie. „Sie werden Alice unter allen Umständen heirathen, Benno − Punktum!“

Der arme Reinsfeld, der sich jetzt von zwei Seiten angegriffen sah, mochte wohl fühlen, daß er hier mit seinen idealen [784] Gründen nicht durchkam. Er ermannte sich daher zu einem Gewaltstreich und erklärte:

„Ich will aber nicht! Und darüber habe ich doch wohl allein zu entscheiden.“

„Und das will nun ein Liebhaber sein!“ rief Gronau, indem er in heller Verzweiflung die Hände zum Himmel emporhob. Wally aber griff die Sache viel praktischer an und zähmte den Widerspenstigen in anderer Weise.

„Benno!“ sagte sie vorwurfsvoll; „da drinnen sitzt die arme Alice und weint, als ob ihr das Herz brechen sollte! Wollen Sie denn nicht wenigstens den Versuch machen, sie zu trösten?“

Das Mittel wirkte, der ganze Trotz Bennos sank zusammen. Er zögerte noch eine Minute, aber nur eine einzige, dann stürzte er in das Nebenzimmer.

„So, jetzt wird er vorläufig nicht wiederkommen“ sagte die junge Frau, indem sie die Thür hinter ihm schloß. „Jetzt wollen wir die Geschichte in die Hand nehmen, Herr Gronau!“

Veit sah etwas betroffen aus bei diesem Vorschlage. Er hatte zwar nichts gegen eine Bundesgenossenschaft einzuwenden, daß sie aber weiblichen Geschlechtes war, ging gegen seine Grundsätze. Wally ließ ihm jedoch keine Zeit, sich darüber zu beunruhigen, sondern fuhr fort:

„Den Doktor können wir dabei nicht brauchen und Alice auch nicht. Er glaubt sich zur Entsagung verpflichtet, weil der Chefingenieur sein Freund ist, und er wäre im Stande, sein ganzes Leben in Neuenfeld zu verseufzen, während Alice als Frau Elmhorst am gebrochenen Herzen sterben würde − aber daraus wird nichts, das leide ich nicht!“

Sie trat so nachdrücklich mit dem Fuße auf, daß Veit unwillkürlich auf denselben hinblickte, und er konnte nicht umhin, die Bemerkung zu machen, daß es ein zierliches, allerliebstes Füßchen war, das so energisch den Boden stampfte. Er wußte nun freilich, daß die Entsagung Bennos andere Gründe hatte; aber da er das nicht verrathen durfte, so zog er es vor, die junge Frau in ihrem Irrthum zu lassen.

„Ja, gnädige Frau, der Doktor ist, was man so einen Idealisten nennt,“ sagte er, „und denen ist von der vernünftigen Seite nicht beizukommen. Es sind hochachtungswerthe Menschen, aber etwas verrückt sind sie alle.“

Wally schien derselben Meinung zu sein, sie nickte ernsthaft mit dem Kopfe und bemerkte mit Selbstgefühl:

„Ich und mein Mann, wir sind gar keine Idealisten, Herr Gronau, wir sind ganz vernünftige Menschen.“

Gronau machte eine respektvolle Verbeugung, welche die Vernünftigkeit von Herrn und Frau Doktor Gersdorf unbedingt anerkannte, und die letztere war davon so befriedigt, daß sie ihn freundschaftlichst einlud, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, damit man die Angelegenheit in aller Gemüthlichkeit besprechen könne.

Veit entsetzte sich einigermaßen bei dieser Zumuthung, aber ablehnen konnte er sie doch nicht. So nahm er denn auf der äußersten Ecke Platz und ließ all die Erörterungen, Vorschläge und Fragen über sich ergehen. Zu einer Antwort kam er allerdings nicht; er staunte nur darüber, daß jemand so unendlich viel sprechen könne! Aber unangenehm war ihm das eigentlich nicht; im Gegentheil, er fühlte sich ganz behaglich in dem Redestrome, der ihn umrauschte und umplätscherte. Dazu gestikulirten zwei kleine, rosige Hände unaufhörlich vor seinem Gesicht und ein zierliches Köpfchen, mit krausen schwarzen Ringellocken, neigte sich im Eifer des Gespräches immer näher zu ihm. Er fing schließlich an, die Situation ganz annehmbar zu finden, und da ihm keine Zeit zu einer Antwort gelassen wurde, so begnügte er sich, verschiedene Male mit dem Kopfe zu nicken, und sah sich inzwischen seine Bundesgenossin sehr gründlich an, wobei er die Entdeckung machte, daß das weibliche Geschlecht, so ganz in der Nähe betrachtet, doch viel von seinem Abschreckenden verlor.

Endlich versiegte auch Wallys Redestrom, sie schöpfte Athem und forderte ihren Zuhörer auf, nun endlich auch seine Meinung zu sagen.

„O, ich bin einverstanden, ganz einverstanden!“ versicherte dieser, in der Ueberzeugung, daß ein Protest ihn doch nichts helfen würde.

„Das freut mich,“ sagte die junge Frau. „Es bleibt also dabei, Sie setzen Benno den Kopf zurecht und ich werde den Chefingenieur auf mich nehmen und ihn zum Zurücktreten veranlassen. Mein Mann hat es mir zwar verboten, aber man muß den Männern gegenüber immer ja sagen und dabei das Gegentheil thun von dem, was sie wollen. Ist es einmal geschehen, dann fügen sie sich ganz geduldig.“

(Fortsetzung folgt.)


Des alten Heerbanns Heilruf bei Kaiser Wilhelms II. Romfahrt.

Wie von rothem Nordlicht glühend,
Voll von sagenhaftem Glanz
Steigt zum Himmel, Strahlen sprühend,
Hoch empor der Alpen Kranz.
In den eiserstarrten Lüften
Tönt’s wie kriegerisch Geschrei;
Von den Firnen, aus den Klüften
Wallt es scharenweis herbei.

Hoch auf knochenstarken Rossen,
In der Eisenfaust der Speer,
Von dem Panzer fest umschlossen,
Ein verscholl’nes Ritterheer;
Blaue Augen, blonde Bärte,
Deutscher Nibelungen Bild,
Wogt es wie auf Kriegesfährte
Zum ronkalischen Gefild.

Wieder hallt es hart und eisern
Wieder stellt sich Hauf bei Hauf
Mit den alten Heldenkaisern
Deutschlands alter Heerbann auf.
Hundertjähr’ger Gräber Schollen
Huben sie mit freud’ger Macht,
Und wie fernen Donners Rollen
Schallt ihr Heilruf durch die Nacht.

Hoch in seiner Treuen Mitten,
Einem Barbarossa gleich,
Kommt ein junger Fürst geritten
In das heil’ge röm’sche Reich,
Ernst und mild, fest und entschieden,
Jeder Zoll ein echter Held:
Kaiser Wilhelm trägt den Frieden
In die kampfesmüde Welt.

Naht ein Feind dem deutschen Volke,
Steht, ein unbesiegter Wall,
Seines Heeres Wetterwolke,
Wie die Lohe in Walhall;
Doch dem Freund mit inn’gem Grüßen
Reicht der Kaiser Hand und Mund:
Deutschland und Italien schließen
Einen festen Völkerbund.

Und die deutschen Geisterscharen,
Die für ihrer Kaiser Ehr’
Einst gen Rom gezogen waren,
schwingen ihre rost’ge Wehr,
Und, laut schallend, in die Schilde
Rufen sie wie Sturmgebraus
Im ronkalischen Gefilde
Ihren neuen Kaiser aus.
 A. Ey.




Unser Kaiser in Italien.

Von Woldemar Kaden.


„‚Italia, wir steh’n zu Dir!‘ so rief der junge Kaiser −
„Nun grünet neu zu Eh’r und Zier, ihr alten Lorbeerreiser!“


Die Blumen und Blätter, die dem gen Rom fahrenden Kaiser über den Weg gestreut und in Sträußen und Kränzen gereicht wurden, sind längst verwelkt und verweht; verklungen sind die Hymnen und Serenaden, das Beifallsjauchzen italienischer Begeisterung, die Salutschüsse der Kanonen von Kastellen und Panzerschiffen; die leuchtenden Fahnen Deutschlands und Italiens, die der frische kecke Herbstwind so lustig ineinanderflocht und die vereint von den stolzen Kriegsschiffen der italienischen Marine in Neapels Golf flatterten, sind zusammengerollt und geborgen worden; verlaufen auch hat sich nach stürmischer Brandung und lang nachdauernder Fluthung der Strom, das Meer der Völker, die aus den Gebirgen Kalabriens und der Basilikata, aus der lombardischen

[785]

Der Besuch des Kaisers Wilhelm in Pompeji.
Originalzeichnung von E. Rossi.

[786] und apulischen Ebene, dem Gartenland Toskanas, von der Aetna-Insel und allen andern Inseln des schönen Landes, gekommen waren, den Kaiser zu schauen, ihn Hand in Hand zu sehen mit ihrem geliebten Herrscher, und, freudig überzeugt von dem Ernste, von der Herzlichkeit des Bundes, nun zurückgekehrt sind in ihre Städte und Dörfer, in Paläste und Hütten, um den Heimgebliebenen zu erzählen, daß sie mit eigenen Augen ihn erblickt, ihn, der Italien als Friedensfürst erscheint.

Auch der Kaiser selbst, nur schwer sich losreißend von all dem Lieben und Schönen, was ihm hier Fürst und Volk des Sonnenlandes entgegenbrachten, ist über die Alpen heimgekehrt in die Arme seiner Lieben, empfangen als ein Geliebter auch vom gesammten germanischen Volk.

Auf Wiedersehen! war sein Scheidegruß in Neapel und in Rom. Auf Wiedersehen! rief ihm das italienische Volk zurück, dem er durch ein stolzes Kaiserwort seine theure Kapitale für unabsehbare Zeiten gesichert. „… und wenn Dich im heimischen Norden droben der graue Tag wieder ernst und kalt empfangen wird, wenn Mühe und Sorge und Kummer in dunklen schleppenden Gewändern wieder in Dein Gefolge treten − dann erinnere Dich der warmen gluthfarbenen Sonnentage in unserem Süden, wo das Leben wohnt, erinnere Dich des Volkes, das Dir nicht bloß in flüchtigem Tagesrausch zujubelte, das Dich schon lange vorher, schon in Deinen Vätern liebte und ehrte und Dich heute feiert in dem Bewußtsein, Dich zur Seite ihres Königs zu sehen mit dem Gelöbniß, Freud und Leid mit ihm, mit uns zu theilen, mit uns und ihm Eins zu sein in den hohen Aufgaben, die Eurer Völker warten.“ …

So, oder ungefähr so dürfte der Auszug aller Ansprachen, Reden, Trinksprüche, Hymnen und Gedichte lauten, die in diesen hohen Zeiten allüberall laut wurden. − −

Die Chronik der jüngsten italienischen Ereignisse zu schreiben, ist nicht Aufgabe der „Gartenlaube“, die diese nothwendig den Tagesblättern überlassen muß; noch immer aber hat dieselbe in ihren Annalen in großen Zügen die Thatsachen markirt, die einer großen civilisatorischen Idee entspringen und das Ergebniß sind weisheitsvoller Vorbereitungen, die in einer Verbindung enden, durch welche ganze große Völker endlich in den Stand gesetzt werden, Hindernisse, die sich ihnen bislang als unüberwindbar auf ihrem zur Höhe aufschreitenden Wege entgegenstellten, zu überwinden. Unendlich viel bedeutet heute für Italien die Verbindung mit einer großen stabilen Macht mit wahlverwandten Interessen; und welche Bedeutung kann sie für unser umdrohtes Vaterland nicht vielleicht schon in nächsten Zeiten gewinnen!

Ein Akt der Geschichte hat sich abgespielt. −

Sympathisch, wie dem italienischen Volke die vornehme und menschenfreundliche Dynastie der Hohenzollern, ist dem Volke Deutschlands seit langem die in Italien hochverehrte, freiheitliebende und -fördernde „Casa Savoia“. An der Wiege beider aber saß ein gemeinsames Geschick. Bis 1415 waren sie beide einflußlose Feudalwesen; in diesem Jahre erst verlieh Kaiser Sigismund dem Savoyer den Herzogstitel, gleichzeitig dem Hohenzollern die Mark Brandenburg mit der Kurfürstenwürde. In dreihundert darauffolgenden Jahren suchen Savoyer und Hohenzollern in Kraft die Grenzen ihrer Staaten zu erweitern, und 1701 giebt es so den ersten König von Preußen, und nur wenig Jahre später einen König von Sardinien, so daß nun beide Häuser ihren gebührenden Platz unter den Mächten Europas einnehmen.

1866 verbindet das Land, dem die Casa Savoia vorsteht, sich mit Deutschland, ein erster Schritt nach dem durch die politische Einigkeit zu erreichenden Ziele. 1870 wird das große Hinderniß der italienischen und der deutschen Einheit, Frankreich, überwunden, Victor Emanuel steigt aufs Capitol und Wilhelm setzt zu Versailles die deutsche Kaiserkrone sich aufs Haupt.

Von da ab sind Savoyen und Hohenzollern, sind Deutschland und Italien geeinigt, „verbunden“, wie der junge Kaiser vor dem versammelten Reichstage am 25. Juni erklärt, „durch die gleichen geschichtlichen Beziehungen und gleiche nationale Bedürfnisse der Gegenwart. Beide Länder wollen die Segnungen des Friedens festhalten, um in Ruhe die Befestigung ihrer neugewonnenem Einheit, der Ausbildung ihrer nationalen Institutionen und der Förderung ihrer Wohlfahrt zu leben.“

Sie beide aber werden, sowie sie einig sind im Bebauen der Felder des Friedens, auch eine treue Waffenbrüderschaft halten, wenn die Verhältnisse sie aufs Schlachtfeld drängen, und zu diesem Zwecke, damit der waffenkundige Fürst, der junge deutsche Kaiser die Stärke seines savoyischen Verbündeten kennen lerne, führte dieser ihm vor Rom, bei Centocelle, sein herrliches Heer vor, ließ er in Neapels herrlichem Golfe seine stolze Flotte an ihm vorüberfahren.

Nur einmal erst − das ist aber schon lange her und steht auf einer vergilbten Seite der Geschichte geschrieben − fanden Preußen und Piemontesen als Waffenbrüder sich zusammen auf dem Schlachtfelde, das war im Jahre 1706, wo Prinz Eugen sie nebst den Oesterreichern (eine alte Tripelallianz!) gegen die Turin belagernden 70 000 Franzosen des Herzogs von Orleans zum Siege führte.

Das andere Mal …? Niemand lüftet den Schleier, hinter dem hervor es blutroth schimmert, aber der Kaiser hat die Ueberzeugung gewonnen und hat dieser vor dem italienischen Kriegsherrn, vor dessen Heer- und Flottenführern lauten freudigen Ausdruck gegeben: die vereinten Waffen werden unter allen Umständen bewährt erfunden werden.

Rom hatte zum Empfange des Friedensfürsten viel gethan, dabei aber freilich nichts geschaffen, was würdig gewesen wäre der kunstgewandten Gegenwart und seiner großen klassisch-künstlerischen Vergangenheit. Sein Festapparat aus Straßen und Plätzen entsprach durchaus nicht seiner Größe, zu welcher zwei Jahrtausende Geschichte es erhoben − aber was auch wäre das Herrlichste, das Erhabenste gewesen im Vergleich mit dem wogenden Meere römischer und neapolitanischer Volksbegeisterung, das über die Dächer, über die Thürme hinaufschlug, in dem alles andere, Fahnen und Ranken und Triumphbögen unterging, das mit seinem Brausen den Donner der Kanonen selbst verschlang, und aus dem einzig und allein, von vielen hunderttausend Augen gesucht, die leuchtende Gestalt des Kaisers wie eines antiken Sagenhelden hervorragte!

Erschüttert bis in des Herzens tiefste Tiefen, bleich und stumm, nahm er die Huldigungen, wie sie ein nordisches Volk nicht zu bringen vermag, entgegen; eines freien Volkes Huldigungen, das verständnisinnig zu ihm und dem ernstblickenden, gleichermaßen tief erregten König an seiner Seite emporsah.

Und das traditionelle Wetterglück des alten Hohenzollern war auch dem Enkel treu, heute, da er zum zweiten Male über die Alpen kam.

Im letzten Frühlinge, da er seinen Vater in dessen dunkelsten Stunden zum Troste in San Remo besuchte, lagen Land und Meer im Trauergewand und Sturm und Regen waren seine Begleiter.

Heute empfing ihn die Sonne Italiens mit ihrem hellsten Schein; was sie berührte, wurde zu Gold. Der ärmste Schmuck in Zweig und Blatt blitzte und glitzerte wie köstliches Metall; die Rosen wurden zu Rubinen, die armen Fähnchen zu Seide und Goldbrokat.

Aber am herrlichsten strahlte das Meer. In ihm berauschte die Sonne sich und berauscht kehrten die Blicke von ihm zurück. Auf diesem glänzenden Meere aber vollzog sich das glänzendste Schauspiel, das dieser Golf, den einst die Purpursegel der Herren der Welt durchkreuzten, je gesehen.

In Castellammare, zwischen dem Vesuv und dem Kap der Minerva, erwartete die italienische Flotte, eine der schönsten und bestgeführten der Welt, in den anwesenden Schiffen allein 150 000 Pferdekräfte repräsentirend, erwarteten ungezählte andere Dampfer, Schiffe, Yachts, Boote und Barken die vereinten, auf die schöne „Savoia“ steigenden Herrscher zur Taufe und zum darauffolgenden Stapellauf des Kolossalpanzerschiffes „Umberto II.“ Alles vollzog sich in größter Ordnung und höchster Begeisterung. Aber so prächtig dieses Schauspiel auch war, übertroffen bei weitem ward es durch die darauffolgende Flottenschau vor Neapel. Durch sie ward auch der Kaiser zu rückhaltloser Bewunderung hingerissen; durch eigene Augen überzeugte er sich, daß Italien zu einer Seemacht ersten Ranges sich emporgeschwungen.

Siebenundvierzig Schiffe, darunter die weltbekannten Riesen „Lepanto“, „Italia“, von je 18 000 Pferdekraft, der „Duilio“, „Etna“, „Vesuvio“, „Stromboli“, „Tripoli“ und wie diese Seeungeheuer sonst heißen mögen, manövrirten vor dem deutschen Kriegsherrn, dessen Streben es ist, auch Deutschlands Seemacht immer würdiger zu gestalten, in bewundernswerther Weise. Wie [787] lustige Delphine schäumte die Schar der Torpedoboote durch die blaue Fluth und jene Kolosse bewegten sich gleich zierlichen Tänzern.

Heer und Flotte Italiens hatten die große Probe bestanden, und Italiens Name wird fortan mit Achtung, mit höchster Achtung von dem Kaiser genannt, in aller Welt anerkannt werden.

Der Geschichtsforscher erinnert sich mit Lächeln der Zeit, nicht jener, wo ein deutscher Kaiser im Büßerhemd und barfuß von einem Papste gedemüthigt ward, sondern einer früheren, wo Deutschland ungestraft zur See beleidigt werden konnte.

Es war im Jahre 968. Im Palast des Nicephorus Phokas zu Konstantinopel gab es einen harten Wortstreit. Liudprand, Bischof von Cremona und Abgesandter des deutschen Kaisers Otto I., stand vor dem zornmüthigen Griechenkaiser, der ihn und seinen deutschen Herrn in schroffster, frechster Barbarenweise beleidigte.

„Sage Deinem Herrn, daß er in Ermangelung einer Flotte keine Herrschaft auf dem Meere ausübt. Ich allein habe eine Flotte, ich habe Seeleute, und kommt mich die Lust an, so werde ich mit ihnen seine Meerstädte angreifen und sie in Steinhaufen verwandeln …“

Und was ist heute der Orient? −

Und nun kam die Abreise. Himmel und Sonne hatten ihre Schuldigkeit gethan und hüllten sich aufs neue in ihr Herbstgewand.

Es war ein ernster, grauer, doch weicher Tag, der 18. Oktober, der Geburtstag seines unvergeßlichen Vaters, an dem der Kaiser Pompeji besuchte, um durch einen Blick in jene schweigende Vergangenheit das durch die überwältigende Herrlichkeit der letzten Tage berauschte und erregte Gemüth zu sammeln.

Ob er beim Anblick der in Ruinen liegenden Tempel und Häuser an unsere blonden Vorfahren dachte, da diese bei römischen Herren noch verachtete Thürsteherdienste versahen und jenen Kaisern als Leibwache dienten?

Die Nachkommen der alten italischen Völker, der König Humbert, dessen Bruder Amadeo, der Kronprinz standen ihm zur Seite als Freunde, als herzlich Verbündete; hoch über ihren Häuptern dampfte der Vesuv, ein Opferaltar, und drüben an der Station „Pompeji“, wo der Kaiser den Zug bestieg, um gen Norden zu fahren, schmiegten die deutschen und italienischen Fahnen sich eng ineinander und das dichtgescharte Volk schrie:

„Evviva la Germania, Evviva l’Italia, per sempre!“




Blätter und Blüthen.

Das Burgtheater in Wien. Mitte Oktober feierte die österreichische Kaiserstadt eine Reihe denkwürdiger Theatertage. Das alte Burgtheater, das seit etwa 112 Jahren im Dienste gestanden, wurde am 12. Oktober geschlossen, das neue am 14. Oktober eröffnet. Ein grellerer Gegensatz, als diese beiden Schauspielhäuser zu einander bilden, läßt sich unmöglich ersinnen. Im alten Hause nahm weder das verwitterte Gebäude, noch der Zuschauerraum, dessen einziger Schmuck acht einst vergoldete Sterne an der rauchgeschwärzter Decke waren, die Aufmerksamkeit des Publikums in Anspruch. Man hatte sich daselbst mit nichts als mit dem Stücke und dessen schauspielerischer Wiedergabe zu beschäftigen. Da überdies auch auf der Bühne bis zu Dingelstedts Zeit von einer schönen oder stilvollen Ausstattung keine Rede war, herrschte in diesem Musentempel das Wort mit unumschränkter Gewalt. Für das Auge war nichts gethan, dieses fand keine Gegenstände für etwaige Schaulust. Und Laube, der dem Burgtheater seine glanzvollste Epoche bereitete, hatte keinen Sinn für Aeußerlichkeiten. Er beging, was Möbel, Dekorationen u. dergl. betraf, geradezu absichtlich Sünden gegen den guten Geschmack, um darzuthun, daß hier die dramatische Dichtung das Scepter führe, wie Tapezierkünste aber als überflüssig angesehen würden. Unter Laube genoß das Orchester des Burgtheaters einen verzweifelt schlechten Ruf, aber das war ihm eben recht, denn am liebsten hätte er, wie er sich ausdrückte, „eine ganz stille Bude“ geleitet. Mit Dingelstedts cyklischen Unternehmungen kam ein Aufschwung in Beachtung von Kostümen, Zimmereinrichtungen etc., aber nach wie vor legte das schlecht beleuchtete, schlecht ventilirte, gesellschaftliche Neigungen der Besucher ignorirende Haus der Entfaltung wirklichen Prunkes enge Schranken auf.

Aber gerade aus seinen Schwächen schöpfte das Burgtheater seine besten Eigenschaften; seine Gebrechen wurden ihm zur Quelle einer ganzen Reihe unvergeßlicher Erfolge. In einem großen Hause hätte sich die intime, die Wahrheit einfach und ohne Aufdringlichkeit vertretende Wiener Spielweise nicht so rein entwickeln können wie in dem kleinen, das so viele wahrhaft bedeutende Vertreter deutscher Bühnenkunst emporwachsen ließ. Ein La Roche − um nur einen von vielen zu nennen − wäre in einem anderen Theater einen anderen Weg gegangen. Seine Kleinmalerei war in das alte Burgtheater eingefügt wie in einen selbstverständlichen Rahmen.

Und nun das neue Haus, das freilich eine Nothwendigkeit war, weil das andere den modernen Forderungen gar zu arg widersprach! Man sehnte sich − trotz aller Pietät, welche die Stätte üppigen Ruhmes zu ehren wußte − nach einem Theater mit Licht und Luft; man wollte, daß auch im Beiwerk der gute Geschmack sich geltend machen dürfe, und eine junge Generation weiblichen Geschlechtes wünschte sich vielleicht auch eine Möglichkeit, sich selbst mit allen angeborenen und − angezogenen Reizen bemerkbar zu machen. Das neue Burgtheater, das wir in Bild und Wort schon am Anfang dieses Jahres vorgeführt haben (siehe Nr. 4 der „Gartenlaube“), kommt solchen Neigungen gefällig entgegen. Als Bauwerk herrlich, fordert es geradezu, daß die darzustellenden Stücke nicht nur gut gespielt, sondern auch effektvoll und mit einem gewissen Aufwande inscenirt werden, und unsere lieben Frauen laufen − Dank namentlich dem klaren und milden elektrischen Lichte − keine Gefahr, ihren natürlichen Vorzügen oder den Meisterleistungen ihrer Schneider die gebührende Würdigung vorenthalten zu sehen.

Die besagten Festtage begegneten einer getheilten Stimmung. Man freute sich des neuen Hauses, das man herbeigewünscht, und sehnte sich doch ein wenig nach dem alten, über das man sich lustig gemacht hatte.

Der Abschiedsabend in der „Bude“ brachte Goethes „Iphigenie auf Tauris“ und einen Epilog aus der Feder des Direktionssekretärs Alfred Freiherrn von Berger. Dieser Epilog bietet eine gedrängte Rückschau auf die Geschichte des Burgtheaters. Aus der Schar derer, welche mit dankbarer Erinnerung genannt wurden, trat besonders scharf die Gestalt Kaiser Josefs II. hervor. An ihn gemahnte der Epilog:

„Laßt uns getrost die altbewährte Kraft
Verjüngen an dem Bild des großen Kaisers,
Der einst in ahnungsvoller Morgenzeit
mit mächt’gem Schöpferwillen diese Burg
Des Künstlergeistes aus dem Nichts erschuf,
Der, wie ein Seher, mit dem Kaiserscepter
Aus scheinbar taubem Grund die Quelle schlug,
Die, fromm gehütet, bald ein Hain umgrünte,
Ein heil’ger Hain von Lorbeern und von Palmen,
In dem die Nachtigall der Dichtung schlägt!“

Auch Lessing wurde gefeiert als „zweiter geist’ger Ahnherr dieses Hauses“, Laube dagegen − der sich mit seinem Buche über das Burgtheater ein- für allemal die Gunst der officiellen Kreise verscherzt hatte − „todtgeschwiegen“. Dagegen wandte der Epilog sich an die dahingegangenen bedeutenden Schauspieler, die er als Schutzgeister anrief; dann erfolgte die Bitte an die Stammgäste, in Treue zu verharren, und schließlich klangen die Verse in die Zuversicht aus, man werde „im neuen Haus das alte Burgtheater“ wiederfinden. Damit war das Leichenbegängniß beendet, und es folgte die fröhliche Wiederauferstehung. Das neue Haus wurde mit einem „scenischen Prolog“ von Josef Weilen eröffnet, auf welchen Grillparzers Fragment „Esther“ und „Wallensteins Lager“ folgten. Der „scenische Prolog“, eine echte und rechte Gelegenheitsdichtung, führt den „Geist des alten Burgtheaters“ vor, der über die Pracht des neuen erschrickt, aber vom „Genius der Poesie“ beruhigt wird, ein Bestreben, in welchem diesen Thalia und Melpomene unterstützen.

Auch wir wollen hoffen, daß − namentlich nachdem das neue Kunstinstitut in Dr. August Förster einen bewährten Fachmann als Direktor erhalten − der „Geist des alten Burgtheaters“ in der That unberechtigte Schwarzseherei treibt, wenn er bekennt:

„Und doch will Angst und Sorge mir nicht schwinden;
Wo lockend so viel Reiz dem Aug’ sich heut,
An Farbenglanz und marmornen Gestalten,
Da ist es schwer, den Hörer fest zu halten;
man schaut bewundernd, doch man lauscht zerstreut,
Die Stimmung ist, die heil’ge Stimmung fort,
Leicht mit dem Außen wandelt sich das Innen −
Ich soll den Kampf mit all’ der Pracht beginnen,
Und meine einz’ge Waffe ist das Wort.“

Ferdinand Groß.
Die erste chinesische Eisenbahn. Früher hatten englische Ingenieure mit ihrem Plan, im Reiche der Mitte eine Eisenbahn zu bauen, keinen Erfolg; jetzt sind französische Ingenieure, unterstützt von dem Vicekönig Li-Hung-Tschang und dem General Tschenk-ki-Tang, glücklicher gewesen. Es handelt sich zunächst nur um eine Privat- und Luxuseisenbahn, welche Tientsin mit dem sechs Kilometer entfernten Landsitze des Vicekönigs verbinden soll. Land und Volk werden zunächst davon nur geringen Nutzen haben, doch der erste Schritt für China ist damit gethan und das Wunderwerk europäischer Kultur, das so jetzt durch die Wüsten Afrikas und die Steppen Asiens seinen Weg gefunden, wird auch jenseit der chinesischen Mauer sich alsbald einbürgern. Die Wagen dieser Bahn sind in Lyon gebaut worden und haben eine bedeutende Länge (11 Meter). Unter einander sind sie durch kleine Brücken mit Sicherheitsgeländern verbunden. Von den sechs Wagen des Zugs sind drei Luxuswagen; der zweite, für den Vicekönig bestimmt, ist außen in blau gemalt und mit Goldverzierungen versehen; in jeder Längswand wird das mittlere Feld durch das kaiserliche Wappen und den Drachen mit fünf Krallen eingenommen. Das Innere ist im Geschmack Ludwigs XV. eingerichtet, der Salon mit kirschrothem Atlas und Plüsch und einer Decke in grauer Seide ausgestattet. Die zwei andern Luxuswagen sind roth mit goldenen Strichen gemalt, der eine enthält ein Rauchzimmer mit havannafarbigem Saffian und einem großen für die Mandarinen bestimmten Raum in grünem Plüsch und Atlas. Der dritte Wagen enthält einen großen, in violettem Sammet und Atlas ausgestatteten Theesalon.

[788] Schwarzblattl. (Mit Illustration S. 777.) Tirol ist nicht nur wegen seiner Berge, sondern auch wegen seiner Menschen ein seltsames Land. In seinen einsamen Hochthälern haben Reste versprengter Völkerschaften Zuflucht gefunden, wohl schon lange, ehe man anfing, Geschichte zu schreiben; und auch nachher noch. Diese Völkerreste ließen Erinnerungen in alten Orts- und Familiennamen, in sprachlichen Wendungen und in den Gesichtszügen der Lebenden zurück. Da findet man Gesichter, die an nichts anderes mahnen können, als an die letzten Cimbern, die dem Römerschwerte des Marius entronnen, und wieder andere vom vollendetsten Typus des Südländers. Eins aber ist hier wie dort ausfallend: die klassische Schönheit der Mädchen. In diesem Punkte ist Tirol ein wahrhaft gesegnetes Land.

Eine echt tirolische Schönheit ist es auch, die Franz Defregger in dem Bilde „Schwarzblattl“ uns vorführt, eins von jenen Mädchengesichtern, wie man sie wohl in den entlegensten Thälern an der Grenze von Kärnten findet; aber auch unter den Weinlauben von Meran und an den Gletscherbächen des oberen Etschthales. Wenn sie aus ihren braunen Holzhütten treten oder aus der weißgetünchten Thür ihrer kleinen Dorfkirche, meint man, griechische Göttinnen hätten sich in Bauernkittel gesteckt, um den Wanderer mit ihren unergründlichen Augen zu berücken.

So war mir’s auch bei diesem Bilde. Ich sann und sann, wo ich das „Schwarzblattl“ schon gesehen hätte, und durchwanderte in Gedanken wieder all die steinigen Jochsteige und weltfremden Dorfgassen von den Quellen der Drau bis zur Malser Heide. Und endlich fiel es wie ein Sonnenstrahl in meine Erinnerung, und das wirkliche, lebendige „Schwarzblattl“ tauchte wieder vor mir auf im Zauber seiner Jugendschöne, mit der räthselhaften Melancholie seiner tiefdunklen Augen. Ich sah sie wieder vor mir sitzen, auf der Holzbank vor dem Wirthshause zu Ridnaun; unfern von dem Gletscherbach, der aus der blauen Eishalle des Ueblenthalferners herabschäumt, um sich in den Eisack zu ergießen. An einem heißen Augusttage war ich von Sterzing aus hinaufgestiegen; ich wollte am nächsten Morgen höher, zu den Stubayer Fernern empor, und dann nach Meran hinunter. Beim Wirthe zu Ridnaun mußte ich übernachten; und als ich ankam, saß das „Schwarzblattl“ auf der Hausbank und hatte die Hand in einer hölzernen Schüssel, welche mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war. Sie saß ganz still und regungslos, als lauschte sie nur aus den rauschenden Gletscherbach; und als ich sie grüßte, dankte sie auch still und träumerisch. Auf alle Fragen gab sie Antwort mit einem Gemisch von Freundlichkeit, Stolz und Schwermuth.

Da erfuhr ich denn Folgendes: Das „Schwarzblattl“ war nicht aus dem Thale daheim, sondern weit her gekommen, aus der Gegend von Innichen. Es war durch’s ganze Pusterthal, damals noch ohne Eisenbahn, gereist, um den Wirth von Ridnaun aufzusuchen. Dieser war damals im ganzen mittleren Tirol als bäuerlicher Heilkünstler hochangesehen, und zur Sommerszeit weilten immer einige Patienten in seinem geräumigen Hause, um sich seiner Kur zu unterwerfen. Und darum war auch das „Schwarzblattl“ heraufgestiegen, damit ihm der Wirth die kranke Hand heile, die bisher allen Heilversuchen Widerstand geleistet hatte. Es zeigte mir die Hand – eine arme weiße Hand, um die Hälfte kleiner als die andere. Es hatte sich die Hand vor Jahren einmal verletzt; seitdem war sie nicht mehr gesund geworden trotz aller Bemühungen des Doktors von Innichen und der Pusterthaler Kurpfuscher, welche wahrscheinlich alles, was der Doktor gutgemacht hatte, wieder verdorben hatten. Nun war der breitschulterige Wirth von Ridnaun mit seinem schlauen jovialen Gesichte die letzte Hoffnung des Pusterthaler Mädchens. Aus trockenen, scharf würzigen Alpenkräutern kochte er ein Heilmittel; darin mußte die Patientin jeden Tag ein paar Stunden lang die Hand liegen lassen. Ihre Hoffnung war freilich eine sehr geringe; mich aber tröstete die Zuversicht des Wirthes, der ihr fest versprochen hatte, die Hand gesund zu machen. Und weil der Mann nach jeder anderen Richtung hin so viel Erfahrung und gesundes Urtheil zeigte, konnte man wohl auch seinem ärztlichen Scharfblick einigermaßen vertrauen. Schlimmer als mit dem Mädchen stand es, wie der Wirth selber eingestand, mit einem anderen seiner Patienten, einem alten Bergmann aus den nahgelegenen Schneeberger Gruben. „Der wird nimmer!“ sagte der Wirth. Und ich glaubte es ohne weiteres.

Als ich am nächsten Morgen aufbrach, saß die schöne Pusterthalerin schon wieder auf der Hausbank und hatte die Hand in der hölzernen Schüssel. Die gesunde Rechte reichte sie mir zum Abschied, und als ich ihr meine felsenfeste Hoffnung ausdrückte, daß sie geheilt über die Felsen von Ridnaun wieder Hinuntersteigen werde, grüßte mich ein schwermüthiger Dankesblick aus den wunderbaren Augen des Mädchens. Ich wanderte hinauf, viele Stunden lang, zu den erzreichen Halden des Schneebergs und zu den Eisfeldern zwischen dem Brenner und dem Oetzthale. Als es dann wieder thalab ging durch das Passeier, als an die Stelle der Eisfelder zuerst die Alpenwiesen, dann die reifen Kornfelder und endlich die Kastanien und die Rebengelände von Meran traten, da sah ich wohl noch manches schöne Mädchengesicht mit dunklen Feueraugen und hörte silbernes Lachen aus dem Weinlaub heraus, aber so schön wie das Pusterthaler Mädchen im Wirthshaus zu Ridnaun war keine andere; so viel liebliche Schwermuth, so tiefe Empfindung fand ich auf keinem Antlitz mehr, nicht in Meran und in Bozen und im ganzen Tirol. Nur Meister Defregger hat mir das Mädchen von Innichen wieder gezeigt. Ob sie es war oder eine andere – er hat sie getroffen!

M. Haushofer.     

Auflösung des Vexir-Bilderräthsel’s auf S. 772: „Lessing“. Erklärung: Das L bildet den Randbeschlag des Buches, das E eine Verzierung des Lyrasockels; die beiden S werden durch die links und rechts an den Larven herabhängenden Bänder dargestellt; das I bildet die Verzierung des Dolchgriffes; das N liegt versteckt in der rechten Wand des Lyrasockels und das G bildet die Randverzierung des Lyrakörpers.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

A. F. in Köln. Seit alten Zeiten gilt bei allen Kulturvölkern die Mittag- und Abendtafel für einen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Zusammenseins, doch ist diese Blüthe der Kultur, wie Sie richtig vermuthen, den Naturmenschen fremd. So berichtet Dr. Carl von den Steinen[WS 1], der eine Reise in das Gebiet der Indianerstämme am Schinguflusse unternommen hatte, daß ein dort in paradiesischer Harmlosigkeit lebender Volksstamm, die Bekairi, es für einen großen Verstoß gegen die Sitte halten, wenn einer in Gesellschaft anderer ißt. Jeder ißt dort für sich allein. Als unser Reisender in Gegenwart anderer von einem gebratenen Fisch aß, den man ihm brachte, senkten alle die Köpfe und schämten sich in augenfälliger Weise. Carl von der Steinen sucht für dies Gebot der Volkssitte die Erklärung darin, daß die Menschen es anfangs wie die Hunde machten, von denen jeder den Knochen, den er gefunden hat, beiseite schleppt, aus Furcht, daß er ihm entrissen werde. Was anfangs ein Akt der Nothwehr war, sei dann Volkssitte geworden.

C. B. in Viersen. Für Ihre freundliche Mittheilung bezüglich des Artikels über die Kornblume in Nr. 39 unseres Blattes danken wir Ihnen bestens! Wir freuen uns, daß derselbe Ihre Zustimmung findet und daß Sie ein bewährtes Verfahren für die Kultur der Kornblume angeben. Da dasselbe auch weitere Kreise interessiren wird, drucken wir es hier ab. Sie schreiben: „Man pflanze im Herbste einen frischen Schößling in einen Topf, stelle den letzteren an einen nicht zu warmen Ort und begieße denselben oft und reichlich mit Wasser. Schon in der zweiten Hälfte des Winters, wenn draußen noch die weiße Schneedecke liegt, wird man sich an dem satten Blau der Kornblume erfreuen können. Die Pflanze wächst bis zu einer Höhe von 70 cm empor und liefert bis zur Zeit, wo die ersten Kornblumen im Felde prangen, mindestens 150 Blumen. Doch nehme man nur frische Schößlinge, da Pflanzen, welche schon im Sommer Blumen getrieben haben, im Topfe nur eine winzige blaue Blume hervorbringen.“

Marlitt-Verehrerin in London. Sie wünschen, zu wissen, „wie viel von dem Roman ‚Das Eulenhaus‘ von E. Marlitt geschrieben ist,“ Wir wollen Ihre Neugierde gern befriedigen: Die Fortsetzung von W. Heimburg beginnt auf S. 87 mit dem Satze: „Die großen glänzenden Augen der Herzogin blickten staunend zu dem Alten hinüber, wie die eines Kindes, dem man Märchen erzählt."

Inhaltsverzeichniß von Heft 2, VII. Band.
Der Elefantenjäger. Erzählt von August Niemann. Mit Originalillustr. von C. W. Allers. – Die Schlacht von Sempach. Ballade von Felix Dahn. Mit Illustr. nach d. Gem. von C. Grob. – Im Wetterstein. Erzählung aus dem bayer. Gebirge von Maximilian Schmidt. Mit Illustr. von C. W. Allers und F. Voltz. – Sprüche. Von Victor Blüthgen und Julius Lohmeyer. – Das Lied vom guten Herbst. Von Frida Schanz. Mit Eingangszeichnung. – Kleine Weihnachtsarbeiten aus Mohnköpfen. Von Ida Bloch. Mit Illustr. nach Arbeiten der Verfass. – Reinhold Buchholz, der Nordpol- und Afrika-Reisende. Von Robert Koch. Mit Portr. u. Illustr. -Lebensgeschichten deutscher Wörter. 2. Krämer. Von Walter Werner. – Eine kleine Vase als Weihnachtsarbeit. – Knackmandeln. Von Robert Loewicke. – Räthsel etc. von C. Leo und O. Hübner.


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
In der Alpenschutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
Inhalt: 1. Eingeregnet. – 2. Wanderzauber. – 3. Hochgefreit. – 4. Die Geschichte der Malersleute. − 5. Der Bötzler. −6. im ewigen Eise. − 7. Heimkehr. − 8. Im Sonnenschein.
8°. Elegant broschiert 3 Mark. Elegant gebunden 4 Mark.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

  1. Eduard Albrecht, neben Dahlmann der Führer und das juristische Haupt und Gewissen der berühmten „Göttittger Sieben“, die dem verfassungsbrüchigen König Ernst August von Hannover Eid und Pflicht weigerten und deshalb von Göttingen 1837 vertrieben wurden, fand an der Universität Leipzig Anstellung, der er bis 1876 als eine der vornehmsten Zierden angehörte. Er hinterließ sein sehr bedeutendes Vermögen, da er kinderlos starb, der Universität Leipzig in feinsinnigster Stiftung. Der erste Entwurf einer deutschen Reichsverfassung floß im Frühjahr 1849 aus seiner Feder, das Urbild der heutigen Reichsverfassung noch mehr als der 1849 vom Frankfurter Parlament beschlossenen. Mir war der ehrwürdige Mann der bedeutendste Lehrer und ein wahrhaft väterlicher Freund!
    Der Verfasser.     
  2. Rochau ist der Erfinder des Worten „Realpolitik“ und war ihr Wortführer, lange ehe die Zeitgenossen die Politik des Kanzlers mit diesem Worte kennzeichneten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Carl von der Steinen