Die Gartenlaube (1889)/Heft 41

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[689]

No. 41.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Sicilische Rache.

Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans.
(Fortsetzung.)
15.

Es wollte an diesem Abende mit Romeos Arbeit nicht vorwärts gehen. Er saß in seiner Werkstatt vor seiner Hobelbank und starrte, ohne die Hand zu bewegen, vor sich hin. Das Versprechen, das er seiner Tochter heute gegeben hatte, wie sollte, wie konnte er es halten? Das Leben jenes Offiziers hatte er zu beschützen gelobt! Ein bitteres Lachen entrang sich seiner Brust.

„Unschuldiges Kind! Was Du von mir gefordert hast, weißt Du nicht! Du kannst – und darfst es nicht ahnen! Die Feinde, die Deinem Retter nachstellen, Du suchst sie unter unsern Freunden, im Straßenkampfe, im blutigen Waffenspiele, – und im andern Lager, in seinem eigenen Lager lauert die drohende Gefahr!“

Er stand von seinem Sitze auf und Hammer und Stemmeisen niederwerfend, durchmaß er unruhigen Schrittes das enge Gemach.

„Und gegen die Anschläge der Königlichen soll Romeo einen königlichen Offizier in Schutz nehmen!“

Ein harter Schritt erdröhnte auf der Treppe.

Unter der weitaufgerissenen Thür erschien die stämmige Gestalt des Marchese. Ohne hereinzutreten und den Schlapphut mit einer breit ausholenden Armbewegung schief auf seinen Kopf drückend, rief er mit seiner mächtigen Stimme:

„Schau mich an, Romeo! Erkennst Du mich noch?“

„Was soll das?“ fragte Romeo verwundert.

Der andere trat herein, warf sich mit der ganzen Wucht seines Körpers auf einen Sessel, daß das morsche Holz in allen Fugen krachte, und rief unter dröhnendem Lachen seinem Freunde zu:

„Die Marchesenkomödie ist aus! Der ‚Marchese‘ ist wieder zum früheren ganz gewöhnlichen Giuseppe Russo degradirt worden, – und rechtmäßiger Marchese bin ich! Die Halunken im königlichen Lager – Halunken sind sie ja, – aber ehrliche Halunken giebt’s doch noch bei diesen Leuten, – oder ehrliche Leute bei diesen Halunken! – Haha! Halunken und ehrlich, wie reimt sich das? – Finde Dich zurecht darin, ich kann’s nicht! – Sie haben aber meine Rechte anerkannt, – und heute mittag ließ mir der Gouverneur meine Wiederernennung melden! Haha! Romeo, was sagst


[Ferdinand Gregorovius]

[690] Du dazu? – Und morgen soll’s der saubere Marchesendieb erfahren; er ist hierher befohlen, zum Gouverneur, – wegen seines Trockensitzens in den Bergen! Der Gouverneur will strenge Justiz üben; da mag unser Freund Antonino Merlo sich in acht nehmen! Fangen und hangen geht schnell heutzutage!“

Romeo hörte nur mit halbem Ohre zu; seine Gedanken waren anderswo. Er zuckte die Achseln.

„Antonino?“ erwiderte er, als wecke dieser Name ganz besondere Gefühle in seiner Seele; „Antonino ist ja in den Bergen und wird sich hüten …“

„Was? In den Bergen?“ rief aber der andere zurück. „Antonino ist hier und treibt sich, als weißer Kapuzenmönch verkleidet, unter dem Schutze des Karnevals bei seinen Freunden herum.“

Mit einer Gesprächigkeit, die man nicht an ihm gewöhnt war und die vielleicht auf den mit seiner Wiederernennung verbundenen reichlichen Genuß von süßem Syrakusanerwein zurückzuführen war, fuhr der Marchese zu plaudern fort; er erzählte von allem möglichen; in einem Athem ging’s vom Hundertsten ins Tausendste; zehnmal ließ er seine Pfeife ausgehen; zehnmal zündete er sie wieder an und warf das Streichholz, ohne sich um die Spähne zu bekümmern, unter die Hobelbank.

Romeo hörte nicht mehr zu. In Gedanken versunken saß er in seiner Ecke. Antonino war in Messina! Antonino mußte von dem Vorfall im Kloster unterrichtet sein! Er sah sich als Felicitas Bräutigam an; er war der Sohn Salvatores und huldigte den alten sicilischen Auschauungen! Romeo wußte nur zu gut, in welcher Weise dieser den Vorgang in der Badiazza und in seinem Hause deuten würde! An dem vermeintlichen Verführer seiner Braut würde Antonino Rache nehmen, – blutige Rache! Der Offizier war dem Tode verfallen, – und dieser Offizier hatte seiner Tochter das Leben gerettet, und diesen Offizier hatte er selber zu beschützen gelobt!

Der Marchese hielt plötzlich in seinem Sprechen inne. Vor ihm, die Brauen finster zusammengezogen, stand Romeo, die Hand des Volksführers hatte seinen Arm krampfhaft umklammert.

„Was ist Dir?“ fuhr der Marchese auf, als wäre er mit einem Rucke ernüchtert.

„Filippo! Bist Du bereit, für mich, Deinen alten Freund, zu thun, was ich in gleichem Falle für Dich thäte? Es handelt sich um die Ehre meines Namens.“

Der Alte war aufgesprungen.

„Sogleich, Romeo! Sprich! Wen schlagen wir todt?“

„Nicht von tödten ist die Rede, Marchese, sondern einen Unschuldigen gilt es, vom Tode zu erretten.“

„Noch besser! Wo soll ich hin? Für die Freunde bin ich zu allem bereit.“

„Freunde? – Und wenn’s kein Freund wäre?“

Der Marchese stutzte.

„Kein Freund? Romeo kann mir doch nicht zumuthen, einem Feinde zu helfen!“

Romeo sah ihm fest ins Auge.

„Es giebt auch ehrliche Leute unter diesen Halunken, sagtest Du vorhin, – und ehrlich waren diejenigen, die Dir wieder zu Deinem Titel verhalfen! Unschuldige giebt’s aber auch unter jenen Halunken – und unschuldig ist der, um den sich’s handelt.“

„Wer ist er?“

„Setze Dich! Dort liegt Papier und eine Feder; Du wirst es erfahren, – schreibe!“

Halb widerstrebend gehorchte der Marchese. Der breit geschnittene Gänsekiel fand nur mit Mühe seinen Platz zwischen den dicken Fingern des alten Bauern.

„Der Teufel hole das Schreiben! Was soll’s denn damit?“ sagte er, sich unwirsch umdrehend. „An wen? für wen? wer unterschreibt?“

Romeo schaute ihn mit einem so sonderbar weichen, bittenden, fast flehenden Blicke an, daß der Marchese sich betroffen unterbrach.

„Schreibe! Dem treuesten Freunde leiste diesen Dienst!“

„So sprich mir vor; ich schreibe nach; aber langsam; das Schreiben ist nicht meine Sache!“

„Schreibe: ‚Ein Offizier der schweizer Garde, Hauptmann von Hattwyl …‘“

Romeo hielt inne; sein Herz schnürte sich zusammen; das Wort, das ungerecht verklagende Wort, sollte er es aussprechen? – Und doch! sprach er’s nicht aus, so verfehlte dies Schreiben seine Wirkung, – so brach morgen das Unheil los! Und das Wort sprach er aus:

„‚steht in einem Liebesverhältniß mit einem sicilianischen Mädchen. Des letzteren Bräutigam hat Blutrache geschworen. Setzt der Offizier den Fuß über die Schwelle der Citadelle, so ist er morgen eine Leiche. Die Obrigkeit ist hiermit gewarnt. In ihrer Hand liegt sein Leben.‘“

Der Marchese hatte schweigend geschrieben.

„Und wie soll die Unterschrift lauten?“ fragte er langsam mit beklommener Stimme.

„Ein Freund des Hauptmanns.“

„Und an wen soll der Brief gerichtet werden?“

„An den Gouverneur, Herzog von Montalto.“

Der Marchese legte das Papier in Falten, versiegelte es und schrieb die Adresse, ohne ein Wort zu sagen. Als alles fertig war, stand er von seinem Stuhle auf und stellte sich vor Romeo hin. Sein Blick war seltsam ernst.

„Dem treuesten Freunde habe ich als treuester Freund den Dienst, um den er mich bat, nicht verweigert. Nun sage aber, was willst Du mit diesem Brief? Um was es sich darin handelt, weiß ich; Deine Tochter …“

Romeo fuhr auf wie ein verwundeter Löwe.

„Du weißt? Nein, Marchese, Du weißt nichts! Du weißt, was man Dir in der Stadt wohl erzählte! Die Wahrheit aber kennst Du nicht! Eine Lüge …“

„Lüge? Du selbst, Romeo, hast mir ja soeben diese Lüge in die Feder diktirt!“

Da schien es, als wollte Romeo zusammenbrechen. Er bedeckte sich die Augen; Thränen rannen durch seine Finger.

„Das ist es eben, das Entsetzliche!“ schluchzte er; „zur Lüge mußte ich meine Zuflucht nehmen! Meiner Tochter, der Unschuldigen, der Reinen, mußte ich diese Schande anthun, um mein Wort zu halten, um mein Versprechen zu lösen.“

Sprachlos starrte ihn der Marchese an.

„Der Wahnsinn spricht aus Deinem Munde!“

„Nicht der Wahnsinn, Marchese! Höre mich an und urtheile selbst!“ Und er erzählte ihm, was ihm seine Tochter anvertraut hatte, und daß sie für das Vaterland, für ihn ihrer Liebe entsagt, daß aber er ihr gelobt habe, des Schweizers Leben zu schützen.

„Und sieh! Antonino ist in der Stadt; Du sagtest es.“

„Ich hab’ ihn gesehen.“

„Und wenn er’s erfährt, wenn er es weiß, – ich kenne ihn – morgen tödtet er den Offizier.“

„Daran zweifle ich nicht.“

„Und was geschieht? Mit einem Morde beginnt die Volkserhebung! Die heilige Fahne der Freiheit wird besudelt! Mit Maffia und Brigantengesindel werden wir alle …“

Da unterbrach ihn aber der Marchese:

„Laß das, Romeo! Hier spintisirst Du Dich wieder in Deine Grillen hinein, und hier vermag ich nicht, Dir zu folgen! Mir mag’s einerlei sein, wie der Aufstand beginnt, und man mag über uns sagen, was man will, wenn nur das Werk gelingt! Aber ein anderes ist Deiner Tochter Sache! Ich glaube Dir, ich glaube Deiner Tochter! Jener Offizier ist ein braver Mann, Du hast versprochen, ihn zu schützen, und hast recht gehabt, er verdient’s. Den Schwur mußt Du halten, und siehe, daß Du mich zu Deiner Hilfe gerufen hast, freut mich! Hier die Hand zum Danke! Ja, als ich anfing zu schreiben, geschah es mit innerem Grimm; – ‚was geht uns dieser Schweizer an‘, dachte ich, und mein Blut empörte sich gegen den Gedanken, daß Du – einem Mann, – der Dein Kind … Nein, wahrlich, ich suchte meinen Romeo und fand ihn nicht! – und wäre ich nicht Dein alter Freund, ich hätte an Dir oder an Deinem Verstande gezweifelt! Jetzt aber! jetzt! – Nein, ich möchte nicht, daß ein anderer als ich diesen Brief geschrieben hätte, und ich selber werde ihn besorgen!“

Gerührt schüttelte ihm Romeo die derbe, schwielige Hand. – – – – – – – – – – – – – –

Tiefe Nacht lag über den Straßen Messinas, als ein in einen Mantel gehüllter Mann, den Schlapphut über die Augen gezogen, sich unter die Fenster des Palastes von Montalto schlich. Er schaute sich nach allen Seiten um, alles war stumm und leer.

„Dort oben ist sein Schlafgemach!“ sprach er zu sich selber, schob einen Stein in den Brief, den er aus der Tasche zog, – [691] das zerbrochene Fenster klirrte in der Nacht; – als die erschreckten Diener auf die Straße herausliefen, sah man keinen Menschen weit und breit; – der Brief war an den Ort seiner Bestimmung gelangt.


16.

In dem Palazzo des Gouverneurs herrschte seit einigen Tagen ein ungewöhnlich reges Leben. Botschaften auf Botschaften liefen aus allen Theilen der Provinz ein; alle berichteten von dem immer drohender sich gestaltenden Zustand der Insel, von der unter der anscheinend unbewegten Oberfläche immer beunruhigender sich fortpflanzenden Gährung der Volksmassen, von den in Hunderten von kleinen, nur scheinbar bedeutungslosen Vorfällen bemerkbaren Anzeichen eines nahen Unwetters. Die bekannten Volksführer reisten in unablässiger Bewegung im Lande umher; aus den Klöstern meldete man eine geheimnißvolle, nach allen Richtungen hin sich verzweigende Thätigkeit; die Mönche aller Orden hatten augenscheinlich viel mit einander zu berathschlagen. Hier und da, in verborgenen Winkeln des tiefzerklüfteten Berglandes, fanden nächtliche Zusammenkünfte statt; bewaffnete Banden tauchten in der Nähe der Städte und Städtchen auf; einzelne Gendarmenposten wurden überfallen; königlich gesinnte reiche Grundbesitzer wurden gepfändet. Kamen jedoch die Truppen der Regierung zur Stelle, so waren die Banden verschwunden, so betheuerte groß und klein, hoch und niedrig mit seltsamer Einmüthigkeit und unter den allerheiligsten Schwüren, daß von Banditen, von Ueberfall, von Pfändung hier überhaupt nichts bekannt sei, daß keiner je etwas davon gehört oder gesehen habe, daß alles nur auf bösartiger Erfindung beruhe. Glaubte aber die Regierung einmal den Faden einer solchen Verschwörung in der Hand zu halten, so geschah, was soeben dem Gouverneur in höchsteigener Person begegnet war, als er den von Banditen gepfändeten Giuseppe Russo, den angeblichen Marchese della Rovere, und den Bankier Lerche, der in die Sache verwickelt sein sollte, zu sich beschieden hatte: von dem ersteren hatte er erfahren, daß er lediglich in geschäftlichen Angelegenheiten die Berge hinter Taormina bereist, daß er auch nicht einmal den Schatten eines Briganten angetroffen habe und daß er niemals bei Wasser und Brot in einer Felsenhöhle eingekerkert gewesen sei – von dem zweiten aber, daß das Geldgeschäft, an welchem er sich betheiligt hatte und welches angeblich den Loskauf des andern bezweckt haben sollte, weiter nichts als eine harmlose Hypothekentilgung gewesen sei – was auch der Biedermann durch schriftliche, in authentischer Form beglaubigte Urkunden und Unterschriften aufs schlagendste zu beweisen sich beeilte. Und als der Herzog von Montalto sodann von Antonino Merlo als dem Mörder des Verwalters anfangen wollte, da mußte er zu seinem nicht geringen Befremden aus dem Munde des angeblichen Marchese selber erfahren, daß dieser junge Mann an jenem Morde völlig unschuldig und daß der Mörder kein anderer sei, als – der „frühere“ Marchese selbst. – „Wer hätte es geglaubt,“ meinte in kläglichem Tone mit seiner Fistelstimme das kleine fadenscheinige Marcheschen, „wer hätte es geglaubt, daß in seinem Alter der Marchese … ich meine, der Filippo Ruggieri … noch Liebeshändel haben und sich in solch gewaltthätiger Weise an einem glücklicheren Nebenbuhler rächen würde!“

Wer es hätte glauben können? Keiner von den Dreien, die hier zusammenstanden, glaubte es ja; aber dem, der die unglaubliche Geschichte so unverfroren hererzählte, konnte ja keiner seine Lüge nachweisen!

„Ich beschwöre es vor der allergnädigsten Madonna!“ rief das kleine Männchen mit erhobenen Händen, als in den Gesichtsmuskeln des Herzogs sich ein gewisses nicht mißzuverstehendes Zucken zeigte; aber mit gemessener Würde und mit einer nahe an Verachtung grenzenden Höflichkeit unterbrach ihn der Gouverneur:

„Laßt die heilige Madonna aus Eurem Spiele. Es schwören heutzutage zu viel Leute!“

Und ohne sich weiter mit dieser Sache zu befassen, fügte er in geschäftsmäßig kühler Weise hinzu, der Gerichtshof in Palermo habe nun in der Prozeßangelegenheit entschieden, der Marchesetitel gehöre dem alten rechtmäßigen Marchese wieder an, die erkauften Güter könne er, Giuseppe Russo, behalten, und dies sei ja auch die Hauptsache für einen so praktischen und geschäftskundigen Mann wie er. Worauf der Herzog dem auf seinen Beinchen hin und her schwankenden und nach Luft schnappenden Marcheschen den Rücken drehte und sich mit dem Bankier Lerche in eine leise, augenscheinlich sehr wichtige Unterhaltung einließ.

„Sie kamen noch wegen einer andern Sache zu mir?“ sagte er, als der kleine Russo schlotternd und unter heftigen Protesten zur Thür hinaus gewankt war, „was ist es denn mit diesem schweizer Offizier, für den sich plötzlich so viele Menschen interessiren – ehrenwerthe Leute wie Sie, Herr Lerche – denn nur durch einen Zufall sind Sie ja in dieses Winkeladvokaten schmutzige Geschäfte verwickelt worden und Ihnen thue ich nicht den Schimpf an, Sie mit jenem Gesindel in einen Topf zu werfen. Aber auch noch andere Leute, meine ich … Kennen Sie diese Schrift?“

Er hielt ihm einen Wisch Papier hin, den man ihm gestern abend durchs Fenster hereingeworfen hatte und auf dem von ungeübter Hand schwer zu entziffernde Worte zusammengekritzelt standen.

Lerche überflog mit raschem Blinzeln das unförmliche Schreiben des Marchese.

„Diese Schrift kenne ich nicht,“ antwortete er, „aber der Schreiber wußte seinerseits auch, was ich gerade Eurer Excellenz mitzutheilen kam.“

Etwas ganz anderes freilich war es, was der schlaue Lerche wußte – denn der Abbate Scaglione hatte Geld gebraucht, um jenen jungen Mann zu gewinnen, der vor dem Altar des heiligen San Rocco so reuig um Vergebung seiner künftigen Sünden zu beten pflegte, und Lerche war keiner von denjenigen, die ihr Geld wegleihen, ohne sich vorher Gewißheit verschafft zu haben, wozu es gebraucht werde und wer die Zahlung gewährleiste. Was die Gräfin von Cellamare gegen den Offizier plante, hatte er erfahren, nachdem er vorher mit heiligem Schwure gelobt hatte, das Geheimniß für sich zu behalten.

„Wie wäre dem jungen Blut zu helfen?“ hatte er aber, nachdem sich der Abbate verabschiedet, zu sich selber gesagt; handelte es sich doch um einen Schweizer, spürte der alte Lerche doch in seinem deutschen Herzen so etwas von Sympathie für diesen Stammesbruder und hatte er sich doch als Lebensziel gesetzt, jene Sicilianer, die er von Grund aus verachtete und denen er, nur um sie besser zu betrügen, ihre Schlauheit abgelernt hatte, auf alle erlaubte und unerlaubte Art zu hintergehen und auszuplündern.

Wie eine Fügung der Vorsehung, an die er doch so wenig glaubte als an sicilianische Redlichkeit, kam ihm der schmierige Brief des Marchese. Seinen Schwur brauchte er nun ja nicht mehr zu brechen, nicht einmal um eines Härchens Breite davon abzuweichen – und sein Ziel war erreicht ohne sein Mitwirken.

„Ja, ja, Excellenz!“ setzte er hinzu. – „junges, verliebtes Blut! – wir waren ja auch jung – haben auch solche Thorheiten begangen! – muß abgeholfen werden. Wenn Excellenz den Offizier in der Citadelle behalten – streng einschließen – oder besser noch, mit dem nächsten Kriegsschiff nach Neapel schicken, er kann ja zum Major befördert werden, um die Pille zu versüßen! – dann ist geholfen – dann sitzt der blutgierige Bräutigam da – mit seinem sauberen Bräutchen, ha! ha! – und hat das Nachsehen! ha! ha!“

Die Schadenfreude, die ihn bei dem Gedanken befiel, daß jener ihm doch unbekannte Sicilianer so in seinem Vorhaben betrogen werden, und daß auch er, Lerche, dabei mitgeholfen haben würde, äußerte sich durch ein sonderbar meckerndes Lachen und Husten des alten Gesellen.

„Sie sind ein kluger Kopf, Herr Lerche, und was zu thun ist, haben Sie erkannt. Die Gräfin von Cellamare hatte sich schon vor einigen Tagen bei mir für diesen Offizier verwendet, – er ist wohl ihr Liebling, dieser junge Herr? – Es wird sie freuen, von mir zu vernehmen, wie ich die Gefahr beseitigen werde!

Auch der Herzog sprach in diesem Augenblick nur die Hälfte, und zwar die falsche Hälfte seiner Gedanken aus; denn daß Eckart im Herzen der Gräfin einen größeren Platz einnahm, als dem Gouverneur lieb war, das verhehlte sich dieser nicht, – und daß er, indem er den jugendlichen Nebenbuhler entfernte, sich selber viel mehr noch als der Gräfin einen Dienst zu erweisen gedachte, dessen war er sich im Grunde der Seele gar wohl bewußt! Als er eine Viertelstunde später bei der Gräfin erschien und ihr in bewegten Worten die Gefahr schilderte, in welcher ihr Günstling schwebte und die sie selber vorausgesehen hätte, da brachte es seine staatsmännische Kunst leicht fertig, jene Hintergedanken völlig ins Dunkel treten zu lassen, und sogar die

[692]

Strand bei Nervi.
Zeichnung von H. Nestel.

[693] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [694] Gräfin konnte annehmen, daß er nichts anderes bezwecke, als ihrem „Günstling“, wie er sich ausdrückte, und ihr einen ehrlichen Freundschaftsdienst zu erweisen. Bei des Herzogs ersten Worten, als er von den Gefahren sprach, die Eckart drohten, da hatte es in ihrer Seele aufgeleuchtet: „Hätte Scaglione meinen Plan verraten?“ – War sie doch zu sehr mit sich selber beschäftigt, als daß sie an jenen Bräutigam ihrer Nebenbuhlerin gedacht hätte. Als aber der Herzog den Brief des Marchese hervorzog und als ihr plötzlich klar wurde, daß Eckart noch von anderer Seite bedroht war – was überkam sie da plötzlich? Welch seltsam widersprechendes Gefühl brach sich mit einem Male in ihrem Herzen Bahn? – Wie? wenn sie jetzt einen letzten Versuch machte? – wenn sie jener verhaßten Nebenbuhlerin den Geliebten entrisse? – Denn jenes Mädchen haßte sie ja viel mehr, viel mehr noch als ihn! Wenn sie ihn durch ein rasches Handeln an sich fesselte? – Sie konnte es ja. Sie hatte es in der Hand – wenn sie selber ihn vor jener Gefahr warnte! wenn sie es wäre, die ihn jetzt rettete! wenn sie ihm ihre Liebe in so thatkräftiger Art bewiese! Jenes Mädchen, die Tochter Romeos, war ja doch für ihn verloren!

(Fortsetzung folgt.)




Bilder vom Mittelmeer.

An der Riviera.
Von Woldemar Kaden. Mit Zeichnungen von H. Nestel.

Römerthurm La Turbie.

„Schon thut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.“

Ist es ein Traum? Draußen treiben des Winters Vorboten ihr Wesen, es stürmt und wettert. Ich aber sehe sonnenumglänzte grüne Berge ragen, schimmernde Felsen über sie hinaus … ich sehe stille licht- und wärmeerfüllte Thäler sich öffnen, in denen Lorbeeren wachsen, Rosen und Orangen blühen … wie ins Unendliche dehnt sich das leuchtende blaue Meer mit gleitenden Segeln; ein süßer Wind weht von ihm herüber und regt und weckt die Knospen in den Gärten, wo kranzflechtende Frauen wandeln; Musikklänge, Gesangestöne flattern aus den weitgeöffneten Fenstern der Villen, welche die schlanken Glycinen einspinnen; hoch auf den Hügeln, von Cypressen und Pinien erklettert, steht in braunen Trümmern, alte Geschichten erzählend, ein Kloster, ein Schloß, und die Leute, die auf den stillen Wegen an mir vorüberwandern, grüßen mit einem fremdklingenden Gruß … die sonnendurchkochte lautere Luft aber, die ich in vollen Zügen athme, spricht von Gesundheit, von Genesung.

Das ist kein Traumland. Du kennst das Land, dessen fast schönster Theil es ist, das uralte Sehnsuchtsland Italien, und dieser schöne Theil heißt: die Riviera. Unsere Sehnsucht braucht nicht vergebens nach ihr zu schmachten, die ehemalige Scheidewand, „der Berg und sein Wolkensteg“, ist gefallen; wir bedürfen des Faustschen Zaubermantels nicht mehr, seit wir den Gotthardtunnel haben, und brauchen nicht viel mehr Zeit als unsere Phantasie, „der Sonne nach und immer nach zu streben,“ bis dahin, wo „das Meer sich mit erwärmten Buchten vor den erstaunten Augen“ aufthut; wir brauchen vierundzwanzig Stunden, um mitten in die Wärmeparadiese des Mittelmeeres hineinzufliegen, um ganz deutlich fühlbar, wie in ein warmes Bad, von den Alpen in die lauen Buchtenkessel der ligurischen Küste zu steigen und unter wirklichen Freilandspalmen zu sitzen. Und so ward die Riviera nicht bloß Wanderziel, sondern auch Winterasyl und so entstanden dort die berühmten Winterkurorte, einer nach dem andern.

Winterkurort: ein prosaisches Wort, es schmeckt nach Hospital, nach Arzt und Arzenei! Aber das Hospital, welch reizende Lage hat es, wie mild und menschenfreundlich ist der Arzt, wie süß und erquickend die Arzenei! Was uns daheim fehlt, die Lebensspeise der reinen Luft, hier bekommen wir unsere wohlgemessenen nöthigen Kubikmeter täglich in unverfälschter Güte, wie die Milch der Alpen, und Kranke trinken an ihr sich gesund, Todeskandidaten schlürfen aus ihr neues Leben, und Gesunde – nun, so ein zeitweiliger Klimawechsel, man glaubt es kaum, wie er auf den Gesammtorganismus des Menschen und dadurch auch auf Seele und Geist anregend, belebend, umgestaltend wirkt.

„Riviera“ ist der Gesammtname für den langen, südlich von den Seealpen und dem ligurischen Apennin sich hinziehenden, schöngeschwungenen Mittelmeerküstenstrich von Nizza bis Spezia; denn Riviera bedeutet Ufer- oder Küstengegend. Nun unterscheidet man aber nach den Himmelsrichtungen mit Genua als Ausgangspunkt eine Riviera di Ponente, von Genua bis Nizza, und eine Riviera di Levante, von Genua bis Spezia. Ponente heißt das Land „gegen Abend“, von Ponente, der Sonnenuntergang; Levante, von levare aufgehen, ist das Land gegen Sonnenaufgang. Politisch unterscheidet man eine französische, bis Ventimiglia reichende, und eine italienische Riviera. Die erstere läßt einer koketten Französin sich vergleichen, die andere ist ganz eine brünette reizvolle Italienerin, beiden aber steht das „Halsband“, das die Natur ihnen umgebunden – denn das französische „Rivière“ hat auch diese Bedeutung – gar prächtig zu Gesicht. An dieses Halsband sind gereiht als Perlen und Diamanten in steter Abwechselung von klein und groß, von Nizza bis Spezia sechs Dutzend Städte, Flecken, Dörfer, Orte und Oertchen, von denen als weltbekannt sich auszeichnen Nizza, oder wie die Franzosen wollen: Nice, Monaco, Monte-Carlo, Mentone, Bordighera, San Remo, Savona, Pegli, Nervi, Sestri, Spezia. Alle funkeln und leuchten in echtestem Glanze, alle aber werden überstrahlt und zusammengehalten von dem Krondiamanten Genua, der in der Mitte unsrer „Rivière“, aus dem tiefsten Grunde des Riesengolfes hervorblitzt.

Werfen wir einen Blick auf die Karte! Wir erkennen an der ganzen großen Küstengestaltung, wie an der Form und Stellung des Gebirges die freundliche Absicht der Natur, die Sonnenstrahlen einzufangen, die nordischen Lüfte abzuhalten; und jeder kleine und kleinste Golf wiederholt dies Bestreben noch einmal im kleinen und dann natürlich um so erfolgreicher. Fragen wir den Geographen, so sagt er uns, daß die Isotherme (die Linie gleicher mittlerer Wärme) der ligurischen Küste die lieblichste der Welt ist: es ist die glückliche Linie von 15° Celsius, dieselbe, welche über die südlichen Inseln Japans, China, das Kaspische Meer, Griechenland, die Cykladen, das Adriatische Meer, die Arnoufer läuft. Weiter erfahren wir, daß um diese glückliche Linie in nächster Nachbarschaft als Linie der größten Wärme diejenige von 24° C. und als Linie der größten Kälte die von 8° C. sich windet.

[695] So ist es denn an dieser Küste möglich, die verschiedenen Pflanzengürtel der Erde so rasch wie sonst nirgend zu durchkreuzen. Die niederen Ufergegenden kleiden die immergrünen Wälder der Olive, schmücken die Gärten voll Orangen und Rosen, die Wiesen voll Frühlingsblumen; bei zweihundert Metern Höhe noch reift der köstliche Wein, bei vierhundert wandelt man unter Eichen, bei sechshundert unter Nußbäumen und Edelkastanien; dann treten die Buchen und Tannen auf, die zu Begleitern sich die zierlichen Blüthen der Meerkirsche und der Alpenrose und gewürzige Kräuter, bis zu fünfzehnhundert Metern Höhe, erwählten. Weiter hinauf dann dieselben Erscheinungen auf den höchsten Gipfeln des Apennins wie auf den schweizer Alpen: zwei Drittel des Jahres Schnee, vier Monate grüne kräftige Sommerweide mit Herden und Hirten.

Da hinauf aber steigen die Herren und Damen, welche in den genannten Orten einen Winter verbringen wollen, und besonders die Kurgäste nicht. Sie wandeln die bequemen Wiesenpfade, um die herum schon der Monat Januar seinen Blumenteppich breitet, und erfreuen sich der blühenden Pracht. Diese Pracht steigerte der Fleiß des Menschen noch in den Villengärten an den sanften Hügelhängen, wo die verschiedenartigsten und seltensten Pflanzen unter dem Kusse der südlichen Sonne keimen, gedeihen und blühen. Die Geranien sind hier ganz heimisch und wachsen zur Höhe eines kleinen Baumes; die Margarethen oder Anthemis, in Deutschland bescheidene Blümchen, entfalten sich zu staunenerregender Größe; Levkojen wachsen auf freiem Feld und die Veilchen sind augengroß mit spannenlangen Stielen und haben nichts von der Bescheidenheit der unter nordischem Frühling erblühten.

Wenn irgendwo, so ist hier die Rose die Königin der Blumen, glühend von Farben, voll üppigen Duftes und von stolzer Größe. Kamelien und Oleander stehen prächtig und stark und entwickeln sich ganz ohne Pflege; Nelke, Heliotrop oder Vanille blühen gleichzeitig und mischen ihre süßen Düfte. Die fremden Pflanzen athmen hier heimische Luft und gedeihen deshalb wie unter den Tropen. Ganz gewöhnliche und offen in allen Gärten gezogene Landesprodukte sind die Olive, die Citrone, Orange, Cedrato, Mandarine, Granate und japanische Mispel, die eßbare Kastanie, Pfirsich, Kirsche, Pflaume, die köstlichsten Trauben und Melonen; gewöhnliche und billige Gemüse sind die Artischoken, der Blumenkohl, Liebesapfel, Eierapfel und alle feinen Sorten von Salat.

Was auf dem Gebiete der Blumen geleistet werden kann, erkennt man zu gewissen Zeiten am besten in dem lebelustigen Nizza. Schon an gewöhnlichen Tagen labt unser Auge sich an dem am Ende des „Korso“ abgehaltenen Blumenmarkt, an der Fülle der Veilchen, Anemonen, Narcissen, Jonquillen, Rosen, Aurikeln und Heliotropen; was aber die Gartenstadt Nizza an Blumen aufzubringen vermag, wenn sie einmal alle ihre Kräfte wie an den Februartagen des Blumenkarnevals zusammennimmt, davon können wir uns trotzdem keine Vorstellung machen. An einem Tage wird ein ganzer Frühling in einzelnen Blumen und Sträußen vergeudet, ein Blumenmeer ergießt sich über die Stadt.

Der Jardin Public, der „öffentliche Garten“, ist das Toilettezimmer Nizzas. Wie üppig stehen hier die Bäume, die Lorbeeren und immergrünen Eichen, die Pfefferbäume und Kasuarinen, die Agaven und Rosen! Und die prächtigen Palmengruppen – Algerien kann schönere nicht haben!

Ja, auch die Palme hat an der Riviera ihr zweites Vaterland gefunden, aus dem sie nicht nöthig hat, sich nach ihrer afrikanischen Sonne zurückzusehnen. Wir finden sie auch in andern Theilen Italiens, aber meist nur in einzelnen, oft sehr schönen Exemplaren; an der Riviera jedoch erscheint sie nicht bloß in Gruppen, sondern, mit staunenden Augen sehen wir’s, in ganzen tausendstämmigen Wäldern, und zwar ungepflegt, frei, am Meeresufer, auf Felsterrassen, allen Winden hingegeben, in verwahrlosten Bauerngärten am Berge.

Wer nach dem berühmten Bordighera kommt, steige durch Alt-Bordighera in die höher gelegenen Gärten hinauf, hier findet er den größten Palmenhain Italiens, den „Palmeto“ von Bordighera, und dieser Ort liegt unter dem 44° n. Br.! Hier ist die vorherrschende Palme die Phoenix dactylifera, die Dattelpalme; andere Palmenarten und viele exotische Gewächse schauen wir in dem prächtigen Garten des Signor Moreno an der Via Romana und in den wohlgepflegten Anlagen unseres vortrefflichen Landsmanns Winter. Auch der Palmengarten des vor einigen Jahren verstorbenen Barons von Hüttner in San Remo an einer sonnigen Hügellehne ist ein wahres Schmuck- und Schatzkästchen der Riviera. Hier können wir mit Muße die eingehendsten Palmenstudien machen und in einer Stunde weite Flüge durch Asien, Afrika, Amerika und Australien thun. Versuche mit den verschiedensten Sorten der Kokospalme sind hier ganz herrlich gelungen.

Dies für den Kenner. Den lustigen Touristen und Freund Scheffelscher Muse führen wir zu einer Gruppe von Palmen, die einsam unterhalb der Straße im Osten Bordigheras am Meeresufer steht. Der Eingeborene nennt den Ort „La Cisterna“, denn inmitten von etwa zwölf schlanken, meerwindzerzausten Dattelpalmen, die sich keineswegs durch ihre Schönheit auszeichnen, findet sich ein kleines verfallendes Brunnengemäuer.

Diese Palmen sind bekannt unter dem Namen der „Scheffelpalmen“, unter ihnen fühlte sich der Dichter, als er die Riviera entlang fuhr, in den fünfziger Jahren „dem Tode nahe“; diese Ueberschrift erhielt auch das darauf bezügliche Gedicht, und in ihm wird jener einsamen Palmen Erwähnung gethan:

„Zwölf Palmen ragten am Meeresstrand
Um eine alte Cisterne;
Der Wagen knarrte im Ufersand,
Die Sonne versank in der Ferne.“

Hier will er sterben; ein schöner Sterbeort wär’s schon, denn:

„Hier umsteh’n, eine altbefreundete Schar,
Mein Schmerzenslager die Palmen;
Im Fächerdach rauscht’s voll und klar,
Wie tröstende Sterbepsalmen.“

Er starb in der Heimath erst viele Jahre nachher, und nach ihm haben sich viele neues Leben unter den Palmen geholt, denn wo Palmen im Freien ausdauern und Musen wachsen, da lebt auch der Mensch ein volles Leben.

Welchen Ort aber sollen wir vor allen andern nennen, wo jeder seine Vorzüge hat, aber auch – seine Mängel, klimatische sowohl wie gesellschaftliche? Der Kranke fragt nur nach den klimatischen Vorzügen und wendet der italienischen Riviera, wendet San Remo, Bordighera, Alassio, Pegli und Nervi sich zu; der Gesunde und wer sich noch stark oder nur erholungsbedürftig fühlt, geht nach der lebhafteren französischen Seite, wo er außer Nizza (vielleicht mag auch Cannes dazu gerechnet werden) noch Villafranca, Monaco, Monte-Carlo, Mentone findet.

Der ernstlich Kranke verlangt von seinem Winterkurorte am Mittelmeer ein beständiges, ein heilkräftiges „Klima“. Was aber ist „Klima“? Die meisten Menschen verstehen darunter nur einen einzelnen Faktor des Klimas: die Temperatur. Der Mann der Wissenschaft jedoch, Humboldt z. B., faßt unter „Klima“ den Inbegriff aller der Zustände der Atmosphäre, von denen unsere Organe auf eine merkliche Weise berührt werden. Dazu gehören: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des Luftdrucks, Ruhe oder Bewegung der Luft durch verschiedenartige Winde, die Spannung der atmosphärischen Elektricität, die Reinheit der Luft oder ihre Mengung mit mehr oder weniger schädlichen gasigen Aushauchungen, endlich der Grad ihrer gewöhnlichen Durchsichtigkeit, jene Heiterkeit des Himmels, die einen so wichtigen Einfluß ausübt, nicht nur auf die Wärmeausstrahlung des Erdbodens, auf die Entwickelung des organischen Gewebes der Pflanzen und auf das Reifen der Früchte, sondern auch sogar sich geltend macht durch die Richtung, welche sie der gesammten sittlichen Entwickelung des Menschen giebt.

In der Temperatur wechselt die Natur am meisten, und das ist es gerade, was der Winterkurgast am ersten vermeiden möchte und was er an vielen Orten der Riviera vermeiden kann. Aber einen „ewigen“ Frühling (es ist damit wie mit dem „ewig-blauen“ Himmel Italiens) findet der Südlandsfahrer an der Riviera noch nicht; sie ist kein vollständiges, windstilles, regenfreies Paradies! Wie sollten ohne Regen auch die herrlichen Bäume wachsen, die Wiesen grünen, die Blumen blühen? Man kann es manchen Winter auch recht schlimm treffen, obschon gänzlich böse Winter sehr große Ausnahmen sind. Schnee gehört an der Riviera zu den größten Seltenheiten und kehrt im Durchschnitt alle vier Jahre während ein bis zweier Stunden wieder, [696] ohne eine dauernde Decke bilden zu können; auch Nebel sind seltene Erscheinungen.

Ich will aber meinem Bilde einen Schatten geben und setze ein Stück aus dem Mittelmeer-Tagebuch von Gutzkow hierher, der es im Winter des Jahres 1873 recht schlecht traf. Er schreibt: „Ja, das ist ein trauriger Winter. Ich suchte Italien, um einen ständigen Katarrh, ein Rheuma in allen Gliedern loszuwerden, und wie hat uns Venedig, Genua begrüßt? In Venedig, wo alle Kirchenkuppeln mit Schnee bedeckt waren, auf dem Markusplatz jeder kleine Tümpel Wassers zu Eis gefroren war, da erkältete ich mich vollends. In dem reizenden Städtchen Pegli (dicht bei Genua) hielten wir sechs bis sieben Wochen aus. Dann mußten wir den Versuch machen und eine eigene „Villa“ miethen, ein Familienhaus in gebirgszerklüfteter Höhe. Wie hier der Sturm haust! Nachts rüttelt er an den geschlossenen Fensterläden. Er beugt die Pinien, daß sie seufzen und knacken! Das Meer wirft Westen bis auf die Eisenbahn, die sich unten an der Landstraße hinzieht nach Nizza, wo dieselben Täuschungen über den italienischen Winter etwaige Zureisende erwarten …“

Die Männer der Wissenschaft haben langjährige Beobachtungen über das Klima dieses reich gesegneten Küstenstrichs zum Wohl der leidenden Menschheit angestellt. Aus allen geht hervor, daß das Klima der Riviera eine höchst günstige und glückliche Mischung von Wärme, Feuchtigkeit und Luftzug bietet. Von der Klarheit der Luft, wenn sie einmal durch einen großen Regen gewaschen wurde, von ihrem Glanz, ihrer beflügelnden Leichtigkeit hat der Nordländer keinen Begriff. Wer solche Tage an der Riviera verlebte, Lenztage für Leib und Seele, vergißt sie nie wieder. Dann möchte der Mensch „ganz Lunge“ sein, um die Fülle dieser Luftheiterkeit in sich aufzunehmen, dann schwimmt er wie körperlos in einem erquickenden Meere von Sauerstoff.

Die Scheffel-Palmen bei Bordighera.

Und wie genießt das Auge! Die Ferne schwindet, alles ist nahe gerückt, alles nimmt reichere Formen an, was vorher flach erschien, wird plastisch, die Farben entfalten sich in voller Pracht. Felsen, Baumblätter, Gräser glänzen wie poliert, als wären sie eben erst aus der großen Schöpfungswerkstätte hervorgegangen. Ueber der Horizontlinie des tiefblauen Meeres, das sanft in die Ufer hineinathmet, erscheint das Profil einer Insel …

Das sind ligurische Sonnenfesttage!

„In diesen Silberhainen von Oliven
Hab’ ich die Heilung aller meiner Wunden
Und auch die heitre Lösung nun gefunden
Von meines Lebens ernsten Hieroglyphen.“

Ort für Ort kennen zu lernen, befahren wir die mit hohem Recht weltberühmte Uferstraße der Corniche, italienisch Cornice, was ein Architekt etwa mit „Kranzgesimsstraße“ übersetzen würde, denn in die Seiten der Ausläufer der Seealpen, in die Hänge der apenninischen Vorberge wurde sie, oft hoch über dem Meere, hineingesprengt und -geschnitten, zu einer Zeit, wo es noch keine Eisenbahn gab. Sie beginnt in der Nähe Nizzas und läuft bis Genua, alle Orte der Riviera di Ponente berührend. Ihr malerisch schönster Theil ist die Strecke von Nizza bis zu der Burgruine La Turbie, jenen weitschauenden Resten eines vom Kaiser Augustus errichteten ungeheueren Römerthurms; und diesen Theil muß jeder gesehen haben, der an die Riviera kam. Aber auch in ihrem weiteren Verlaufe, über Monaco, Mentone, Bordighera, San Remo, Savona bis Genua ist der kaleidoskopische Wechsel der landschaftlichen Bilder ein unendlicher.

Nizza liegt hinter uns. Dort steht es an der „Baie des Anges“, der „Engelsbucht“, und winkt zum Abschied. Es prangt in lustiger, sonnenheitrer Frühlingstoilette, Orangenblüthen an dem Hut, einen großen Veilchenstrauß an der Brust, und giebt den aus aller Welt Geladenen ländliche Feste, Soiréen und Diners, Theater und tausend Freuden. Nizza ist zu geräuschvoll; Erholung, idyllische Ruhe und Einsamkeit wohnt nur auf den benachbarten Bergen.

Der Weg nach Mentone führt uns durch einen mittelalterlichen Rest: das Fürstenthum Monaco, das selbstherrliche Fürstenthum Monaco. Wir sind auf der Corniche und der Küstenzauber beginnt; die Fee Morgana treibt ihr Spiel! Wir sind nicht mehr in Europa, wir sind in Afrika, das sagt uns die warme Luft, das sagt uns die üppige, fast tropische Vegetation: die Agaven mit dem Riesenblüthenstamme, die Opuntienkaktus mit den goldglühenden Blüthenflammen, die baumartigen Heidekräuter, Rieseneuphorbien, der mannshohe leuchtende Ginster, die wilde Granatblume – schwellende Formen, glühende Farben allüberall. Und wo die Natur sich nicht gleich willig fügen wollte, da hat die Menschenhand kräftig nachgeholfen, um das einst versunkene Paradies wieder auf die Oberfläche zu heben. Aber auch die alte Schlange ist wieder mit heraufgekommen: hüte Dich, Wanderer, betritt den gefährlichen Boden nicht oder nur mit einem dreifachen Panzer gewappnet: Monte-Carlo[1] ist die Spielhölle! Ob wohl der neue Herrscher von Monaco der Schlange den Kopf zertreten wird? Wird er die Hand dazu reichen, daß ein Schandfleck aus der Welt verschwinde? Wer weiß es!

Mentone taucht auf über den blauen Wellen. Sehen wir uns vorher die ganze Küstenlandschaft ein wenig aus der Vogelschau an. Das Meer bildet von der Punta St. Hospice, bei dem zunächst Nizza gelegenen Villefranche, an bis zu dem

[697]

Straße in Bordighera.

Kap S. Ampeglio, an welchem Bordighera liegt, eine in weitem Bogen verlaufende sanfte Küsteneinbiegung. Der Rand dieser Küste erfährt jedoch wiederum verschiedene Gliederungen durch hervorspringende Landspitzen, mittels deren weitere, kleinere Golfe gebildet werden. Zwischen Kap St. Hospice und Kap d’Aglio schmiegt sich der Busen von Eza, zwischen Kap d’Aglio und Kap Martino der Busen von Monaco, zwischen Kap Martino und Kap della Murtola endlich der mentonesische Busen, zwischen dem letztern Kap und dem von St. Ampeglio liegt die italienische Grenzstadt Ventimiglia.

Mentone kann man eine englische Kolonie nennen; überall hört man englisch sprechen. Aber Mentone ist reich geworden durch die Söhne Albions, und da wollen wir denn nicht neidisch kritteln, nicht einmal staunen, wenn wir, gerade wie in Nizza, in den Namen der Hotels: Angleterre, Anglais, Victoria, Londres, Westminster u. a. ihnen geschmeichelt sehen.

Bordighera lernten wir bereits als Stadt der Palmen kennen, in San Remo sehen wir uns den ursprünglichen Bauplatz eines solchen Winterkurorts an, er kann als Modell und Beispiel für alle andern dienen.

Die schöpferische Natur zeichnete in feinen sanften Linien einen Meerbusen, setzte wie zwei Wachtthürme zwei in die Wellen vorspringende Landzungen an dessen Endpunkte, schob in den Rücken der Landschaft gegen Norden in Kreisform einen hohen Gebirgszug, ließ von diesem sieben Hügel mit dazwischenliegenden, sanft geneigten Thälern, welche friedliche Bäche durchfließen, meerwärts sich abdachen, umkleidete diese Hügel mit dem Oelbaum, dem silbernen Baume der Minerva, mit Citronen, Orangen, Mandeln, Granaten, Lorbeeren, Myrthen und Palmen, die höhern Berge mit Tannen, Fichten, Eichen, schmückte das ebenere Land gegen das Meer hin mit Reben und Rosen, die Wiesen mit Veilchen und Anemonen und all den süßen Frühlingsspielereien, erfüllte die ganze amphitheatralische Höhlung mit einer milden Bergluft und – der Boden von San Remo war fertig. Darüber spannte nun der Himmel sein blaues Zelt aus und ließ seine sanftesten Winde wehen. Die Menschen aber kamen und bauten ihre Häuser in diese Landschaft, und als die Leidenden aus dem Norden kamen, baute man ihnen zahlreiche Gasthöfe und Fremdenwohnungen, in [698] denen es sich still und lieblich lebt, wenn auch schmerzliche Erinnerungen jeden Deutschen überkommen, der San Remo betritt, wo unser Kaiser Friedrich vergeblich Heilung jenes heimtückischen Leidens suchte, das ihm ein frühes Grab bereitet hat. Alle andern Küstenorte, welche die Natur nach san-remesischem Modell angelegt hat, Pegli und, über Genua hinaus: Nervi, bauten ihnen nach; zuletzt erschloß sich als jüngste Knospe zwischen Bordighera und San Remo das glänzende Ospedaletti. – Das Baumaterial von Gebirge, Berg, Hügel, Thal, Strom und Bach, von Wald und Wiese haben wir in Deutschland auch; einen „Leib“ San Remo könnten wir herstellen, aber den lebenden Odem, den Geist vermögen wir nicht, ihm einzuhauchen: die Sonne des Südens fehlt, es fehlt das gewaltige Wärmebecken des Mittelmeeres.




Wie entstehen Moden?

Von Cornelius Gurlitt.
II.

Wohl nie hat eine Frau die Mode so „beherrscht“, als es die Kaiserin Eugenie in den sechziger Jahren that. Sie war ein Schatz in den Händen kluger Geschäftsleute. Noch nie gab es eine Frau, welche durch das bloße Tragen so ausgiebige Reklame für einen neuen Stoff, eine neue Farbe, einen neuen Schnitt machte und noch dazu so kaiserlich zahlte. Aber ihre Herrschaft hatte eine sehr sichtbare Grenze. Durch die Reklame, welche man für sie als Modekönigin machte, führte man eben die Mode selbst mit ein. Doch die Macht der Kaiserin endete mit dem Augenblick, in welchem sie eine eigene Mode machen wollte.

Eines Tags war Hungersnoth unter den Seidenwebern in Lyon. Die Kaiserin beschloß, die Industrie zu heben, und trug sich in Lyoner Seide. Das paßte aber den großen Schneidern von Paris nicht in ihre Handelspläne. Da sah die hohe Frau auf einmal, daß nur wenig Damen ihr folgten, und sie mußte erkennen, daß ihre Herrschaft also ausschließlich auf ihrem Gehorsam beruhte. Ihre Mode wurde nicht angenommen, die Welt kümmerte sich nicht um ihre Launen. Und klug wich sie zurück, ihre Niederlage verbergend. Lauter Beifall empfing sie wieder, seit sie alle selbstherrlichen Versuche in ihrem Reiche aufgab und hübsch verfassungsmäßig so auftrat, wie ihr die Minister der Mode vorschrieben.

Das Jahr 1870 brachte die Welt der Frauenkleider in Schwanken. Die so meisterhaft arbeitende Maschine wechselseitigen Lobes war zerstört. Paris schien entthront, es gab keine anerkannte Herrscherin mehr, die Modenanarchie war im Ansturm!

In mancher Beziehung kam es damals wirklich zum Abfall von Paris, z. B. hinsichtlich der Zimmereinrichtungen. Unseren Tapezierern fällt es nicht mehr ein, in Frankreich nach Vorbildern zu suchen, ebenso wenig unseren Tischlern. Hier haben die kunstgewerblichen Lehranstalten, hat die von ihnen gehobene Kunst des Entwurfes von Möbeln Großes geleistet. Es kommt ja zunächst nicht darauf an, ob der Geschmack der Deutschen besser sei als der der Engländer oder Franzosen, sondern ob die deutschen Erzeugnisse dem deutschen Publikum besser gefallen als die fremden. Dies ist in der Zimmereinrichtung thatsächlich erreicht, dadurch eroberten wir das heimische Geschmacksgebiet zurück. Die zweite Frage ist nun, ob auch fremde Länder unserer Geschmacksführung folgen wollen. Geschieht dies, so haben wir in der Ausfuhr die Vorhand. Man muß eben einmal untersuchen, wie der Geschmack geführt, die Mode gemacht wird.

Lassen Sie uns in eine der großen deutschen Tapetenfabriken eintreten! Dort liegen in mächtigen Bänden die Muster der letzten Jahre aus, Abschnitte aller Tapeten, welche gefertigt wurden. Die Reisenden, welche bei den Zwischenhändlern diese Bände vorlegten und die Aufträge einsammelten, haben ihre Berichte eingesendet. Da zeigt sich denn bald, welches unter den neu erschienenen und welches unter den älteren Mustern von den Händlern bevorzugt wurde. Diese aber haben feine Fühlung mit den tausenden Kunden und wählen die Gegenstände, von welchen sie annehmen, daß sie gut „gehen“ werden. Sie haben wohl den oder jenen gehört, welcher sagte: „Meine Zimmer sind mir etwas dunkel!“ oder: „Ich möchte doch eine etwas kleinere Zeichnung auf der Tapete haben, weil meine Bilder nicht gut auf den großen Blumen aussehen!“ oder: „Wenn nur eine frischere, lustigere Tapete für mein Boudoir zu finden wäre, etwa Streublumen auf Silbergrau!“

Alle diese Wünsche des Publikums sammeln sich im Gedächtniß des Händlers, auf Grund dieser wählt und bestellt er nach den vorgelegten Mustern. In den Berichten der Reisenden heißt es dann: „Helle Sachen, naturalistische Blumen wurden gefragt. Tieffarbige Stilmuster sind weniger gewünscht“ etc.

Alle Berichte, namentlich aber die Zusammenstellung der am meisten bestellten neuen Muster sprechen dann eine für den geschickten Fabrikanten und Musterzeichner sehr verständliche Sprache. Er erkennt deutlich, wohin der Zug der Zeit geht, welche Geschmacksrichtung unter den vorgelegten Arbeiten bevorzugt wurde. Nun heißt es, „Ersatz“ für die bevorzugten Muster schaffen, das heißt: neue Muster entwerfen, welche den bevorzugten alten verwandt sind, aber womöglich jene Eigenschaften in höherem Maße besitzen, durch welche die früheren beliebt wurden.

Die Feinheit des Musterzeichners muß sich nun bekunden. Er muß etwas Neues schaffen, das vom Alten sich nicht zu plötzlich entfernt und den Geschmacksandeutungen entspricht, welche das Publikum durch den Kauf bestimmter Ware gab. Er muß mit vorsichtiger Hand das Publikum leiten, indem er ihm doch den Zügel läßt. Er muß schaffen, was die Menge will, aber dabei sie zum Schönen hinführen. Was nützte es ihm, schaffte er das herrlichste Muster, das niemand kauft, es bliebe wie ein im Schreibtisch verborgenes Gedicht – zwecklose, verlorene Mühe! Der Maler, Bildhauer oder Musiker soll seine Gebilde frei aus sich schaffen, sie sollen ein reiner Widerhall seiner künstlerischen Stimmung sein, selbst wenn die Menge das Werk ablehnen sollte. Der Musterzeichner dagegen arbeitet für den Absatz. Er schafft völlig zwecklos, wenn seine Zeichnungen den Geschmack der Abnehmer nicht treffen. Er muß sich der Mode anbequemen. Aber indem er die Grundstimmung der Mode ausnutzt, muß er sie zum Guten führen lernen. Dazu gehört eine große Biegsamkeit des Geistes und eine feine Stilempfindung, ein tüchtig geschultes Künstlerthum.

Nach einigen Monaten hat der Fabrikant die neuen Musterentwürfe in sauberer Gouachemalerei vor sich. Der Laie vermag nicht zu erkennen, daß es nicht Abschnitte aus fertigen Tapeten sind, sondern Handmalereien, die der Musterzeichner vorlegt. Nun werden die Zeichnungen für den Druck in Holz gestochen und dann erhält ein Künstler diese „Stöcke“, um die „Karte zu kolorieren“. Dasselbe Muster wird in den verschiedensten Farbenzusammenstellungen benutzt. Es gilt nun, durch geschickte Wahl der Töne das Muster möglichst reich erscheinen zu lassen, damit mit wenig Druckplatten eine große Wirkung erzielt werde. „Ein Zweidruck muß den Eindruck eines Dreidrucks machen!“ sagt der Witz der Werkstätte.

Endlich ziehen die Musterkarten wieder auf die Reise. Nun zeigt sich, ob Fabrikant und Musterzeichner richtig gerechnet haben, ob sie trafen, was der Geschmack wünscht, ob sie in enge Fühlung mit der kaufenden Menge traten.

„Grade so habe ich es mir gedacht!“ so soll der Kunde sagen, wenn das Muster kommt.

Er soll die Tapete mit Freude an sich nehmen, weil sie den Ausdruck eines unklaren Wunsches bildet, der in ihm lebte. Denn in uns wandelt sich der Geschmack unaufhörlich, und zwar nicht bei jedem einzelnen in besonderer Richtung, sondern nach großen gemeinschaftlichen Gesetzen. Wer diesen Geschmack trifft, dem ist der Absatz sicher. Auch hier ist erst die zweite Frage: sind die neuen Erzeugnisse wirklich eine Verbesserung der alten? Das wird man erst nach Jahrzehnten zu entscheiden vermögen. Jetzt kommt es darauf an, sich klar zu werden, daß das schönste gewerbliche Erzeugniß, namentlich dasjenige, welches die Maschine in Tausenden von Wiederholungen anfertigt, uns nach und nach zu ermüden beginnt, daß es veraltet, und daß das Neue uns stets [699] schön erscheint, wenn es sich mit unserem in unklarem Gefühl fortschreitenden Stilempfinden begegnet.

Um aber im Handelsgebiet der Tapeten und ebenso in dem der Möbelstoffe die Fühlung mit dem Geschmack zu gewinnen, dazu gehören für ein Volk, für ein Gewerbe nicht nur guter Wille, sondern Jahre der emsigsten Arbeit und feiner künstlerischer Durchbildung. Es ist zweifellos, daß ohne den nationalen Aufschwung, ohne die 1870 aus Paris vertriebenen deutschen Musterzeichner dieser Wandel sich nicht vollzogen hätte.

„Sie haben schon einmal einen lebendigen Musterzeichner gesehen?“ frug mich eine deutsche Frau; „wie sieht so ein Mann denn aus? Gehört er der besseren Gesellschaftsklasse an? Ist er Künstler oder Handwerker, Mann von Stellung oder kleiner Fabrikbeamter? Trägt er einen schwarzen Schlapphut und eine Sammetjacke oder hat er eine Schürze von grüner Baumwolle um, wie die Buchbinder?“

Die Sachunkenntniß ist verzeihlich. Im Leben wie in der Dichtung ist der Musterzeichner in Deutschland noch eine wenig hervortretende Persönlichkeit. Wir haben noch keinen Roman wie Daudets „Fromont jeune et Risler aîné“[WS 1] und keine so meisterhafte Schilderung des deutschen Musterzeichners in Paris, wie ihn der große Naturalist uns im biedern Risler gegeben hat.

Aber es ist doch bezeichnend, daß Daudet den geistigen Leiter der großen Tapetenfabrik der Fromonts einen Deutschen – oder doch einen deutschen Schweizer sein läßt, denn die heutigen leitenden Köpfe im deutschen Musterfach sind vor 1870 fast ausnahmslos in Paris thätig gewesen.

Ihre Namen hier vor einem großen Publikum zu nennen, ist mir eine besondere Freude, weil die deutschen Fabrikanten es lange Zeit für eine Sache der Geschäftsklugheit gehalten haben, den Musterzeichner als ihren Handlanger darzustellen, während er doch nur zu oft die eigentliche Seele ihres Geschäfts war. Der Fabrikherr glaubt größeren Vortheil zu haben, wenn niemand jene Männer kenne, welche seine Waren zu schönheitsvollen machen. Selbst in Fachkreisen erwähnt man in Deutschland die Zeichner nur selten, welche für die großen Fabriken arbeiten, in den Fachblättern fast nie.

Die Fabrikanten gehen alljährlich nach Paris, froh, in den großen Ateliers die Mappen durchsehen zu dürfen, in welchen sich noch an Entwürfen vorfindet, was die Franzosen, Engländer und Amerikaner selbst zu kaufen verschmäht haben. Oder sie kaufen Proben fertiger Arbeiten, um diese unmittelbar nachzuahmen oder mit nur kleinen Veränderungen, welche meist Verschlechterungen waren. Dem Zeichner in Paris wird in oft nicht sehr würdiger Weise der Hof gemacht, jener zu Hause in möglichst knechtischer Abhängigkeit gehalten. Der kaufmännisch gebildete Fabrikant hält sich allein für den Träger des Geschmacks, den Zeichner nur für den Verwirklicher seiner künstlerischen Anschauungen. Erst sehr schwer, in vielen Gebieten auch heute noch nicht, haben die Fabrikanten sich zu ihrem eigenen Vortheile und zum Segen des Industriezweiges gewöhnt, den Musterzeichner als Künstler und als selbständig denkenden Menschen zu behandeln.

In den sechziger Jahren waren die Blumenmuster diejenigen, durch welche Paris die Welt beherrschte. Einer der ersten Künstler auf diesem Gebiete war der etwa vor zehn Jahren verstorbene Eduard Müller, ein Elsäßer, dessen außerordentlich saubere Zeichnung und feine Farbengebung ihm unter den „Blumisten“ dauernde Anerkennung sichern. Der Franzose Alfred Chabal-Dussurgey steht ihm in vieler Beziehung gleich, obwohl sein Einfluß auf das Gesammtgewerbe minder bedeutend war. Unter den neuen Zeichenwerkstätten von Paris steht diejenige von Arthur Martin entschieden am höchsten. Auch dort werden mit Vorliebe Blumen gezeichnet, und zwar mit jener Feinheit der Anordnung und der Wiedergabe, die ein altererbtes Gut der Franzosen ist. Doch fehlt es auch nicht an Mustern für stilvolle Sachen, namentlich für Gobelins, Stoffe, Cretonnes, Teppiche etc. Der Ruf des Victor Dumont litt, seit er, ein trefflicher Blumist, zu Stilzeichnungen überging. Gattiker arbeitet für die elsässischen gedruckten Stoffe.

Während die Franzosen die Musterzeichnerei als freie Kunst betrieben, während dort in den Werkstätten von allen Seiten Bestellungen einliefen, die Zahl der Lernenden aus allen Landen sich alljährlich mehrte, das Zeichnen ein Gewerbe und zwar ein sehr lohnendes für einen tüchtigen Mann wurde, behandelte man in Deutschland die Sache zunächst wissenschaftlich. Man studirte alte Stoffe, alte Flächenmuster, verbreitete sich über das Wesen der Ornamentik und wollte die idealen Muster, wie man sie etwa den Griechen nachbildete, den „Auswüchsen der Mode“ entgegensetzen. Was an Berlin unter dem Einfluß des großen Architekten Schinkel und einiger Mitarbeiter entstand, nimmt zweifellos künstlerisch eine hohe Werthstellung ein – aber kaufmännisch war es ganz ohne Wirkung. Einzelne Schlösser richtete man zwar nach „geläutertem Geschmack“ ein, aber die Mode vermochte man nicht einen Schritt weit aus ihrem Geleise zu lenken. Auch die eifrigen Bemühungen des rheinischen Kanonikus Bock, auf die herrlichen Stoffproben, welche das Mittelalter uns hinterlassen hat, als auf Vorbilder für Neuschaffungen hinzuweisen, brachten doch zunächst nur bestimmte Kreise zur Nacheiferung.

In Deutschland fand erst seit 1870 das Musterfach einen festen Boden, aber es waren zunächst nicht die Fabrikanten, welche es stützten, sondern der Staat. Wiens „k. k. österreichisches Museum für Kunst und Industrie“, 1864 gegründet, bot das Vorbild. Dort nahm Prof. Stork die Formen der italienischen Renaissance auf und fand dann in opferbereiten Fabrikanten den Rückhalt, um bestimmend auf die Mode in großen Industriegebieten einzuwirken. Das war eine ganz außerordentliche That. Die Fachblätter, namentlich die Stuttgarter „Gewerbehalle“ unter Julius Schnorrs und Bäumers Leitung, bereiteten den Umschwung in Deutschland vor. Friedrich Fischbach wagte es, der französischen Mode entgegenzutreten, gestützt auf seine Stoffsammlungen und auf die aus diesen entstandenen Veröffentlichungen. Er übertrug die Richtung der Wiener Schule an die Zeichenakademie zu Hanau und wußte von hier aus deutsche Fabriken für seine stilvolleren Muster zu erwärmen. Nach Sachsen brachte Karl Graff die Wiener Anregungen. Die bedeutende Textilindustrie Sachsens hatte dort den Boden vorbereitet. E. G. Krumbholz, ein Schüler Chabals und feiner Blumist, Georg Schütz in Wurzen, einer jener Männer, die zu allem mit Geschick ausgerüstet sind, hatten der Industrie schon einen hohen künstlerischen Gehalt gegeben. Die Dresdener Kunstgewerbeschule wurde aber unter Graffs Leitung die erste, welche das Musterzeichnen entschieden im Sinn der Pariser Ateliers praktisch ohne wissenschaftlichen Nebenzweck zu pflegen begann. Max Rade und der 1883 verstorbene Hermann Beck, später Eckart und Bernhard Wissel, der in England zu Ansehen gelangte, sämmtlich Schüler des Arthur Martin, waren die Männer, welche Dresden und das ganze gewerbfleißige Sachsen zu Heimstätten einer Musterzeichnerei machten, die an Feinheit Paris nichts nachgab, an stilistischer Vertiefung aber es übertraf. Hierzu half wesentlich die schnell anwachsende Sammlung von alten Stoffproben mit, die den Zeichnern eine unerschöpfliche Quelle der Anregung bot. Unter E. Kumschs rühriger Leitung gewann die Sammlung bald den Ruf, die für das Musterzeichenfach am vortheilhaftesten angelegte zu sein. Heute fehlt es ihr selten an französischen oder englischen Benutzern.

Selbständig, auch litterarisch für sein Fach thätig, arbeitete in Wurzen Georg Bötticher als einer der besten in seinem Gebiet. Ihm gleichwertig sind August Matthis in Heidelberg und Friedrich Baer, welcher in Baden einen Schülerkreis heranbildete. Hofmann in Plauen i. V. sieht seinen Schwerpunkt im Gardinenfach. In Chemnitz und am Rhein, in Wien und München giebt es jetzt blühende Werkstätten, welche ihren Mann nähren und ihm die Möglichkeit geben, sich mit den Anforderungen des letzten Geschmackes vertraut zu machen.

Das sind also etwa die Leute, welche in gewissen Gebieten die Mode machen, d. h. die Mode, welche in der Luft liegt, durch zeichnerischen Entwurf zum Ausdruck bringen.

Im Gebiet der Kleidung haben sie freilich alle nur wenig Einfluß. Hier stehen ist erster Linie die Modezeitungen, welche eine ganz außerordentliche Gewalt über die Frauenwelt Deutschlands bekommen haben. Es ist durchaus bezeichnend, daß die Modezeitungen gerade bei uns blühen, ja in Tausenden von Exemplaren für Frankreich und England angefertigt werden, während wir doch die Mode nur in kleinen Theilen beherrschen.

Wie aber arbeiten die Modezeitungen? Die Leiter derselben stehen mit den Fabrikanten in enger Verbindung. Der Großschneider läßt nach seinen Angaben ein neues Kostüm fertigen. Dies wird der Redaktion vorgelegt, welche es für ihr Blatt zeichnen [700] läßt, wenn nicht schon der erste Entwurf zur Wiedergabe geeignet ist. Denn es giebt besondere Leute, welche „Figurinen“ zeichnen, und zwar ist auch dieses Gebiet des gewerblichen Schaffens besonders in Paris ausgebildet worden. Es gehört dazu eine große Sachkenntniß. Ein Maler, und wäre es der beste, würde die Fabrikanten wenig befriedigen. Denn gerade weil er die Figuren richtig zeichnen würde, wären sie für jene nicht brauchbar. Die Verhältnisse des menschlichen Körpers sind derart, daß der Kopf etwa ein Siebentel der Gesammthöhe ausmacht. Schlagen wir ein Modeblatt auf: da bildet der Kopf oft nur ein Elftel der Figur. Die Gestalten sind in die Länge gezogen; solchen Frauen, wie man sie dort sieht, würden die Kinder auf den Straßen nachlaufen, wenn sie überhaupt vorhanden wären. Diese Mißbildung aber gerade ist es, welche die Figurinen der Frauenwelt als schön erscheinen läßt. Die Kunst schwankt stets zwischen unabsichtlichen Verzeichnungen hin und her. Bald sollen ihre Gestalten kräftig erscheinen und werden leicht zu dick und kurz: so bei Niccolo Pisano, dem vortrefflichen italienischen Bildhauer des 13. Jahrhunderts, bei dem der Kopf oft bis zu einem Fünftel der Gestalt anwächst. Dann, wenn es gilt, geschmeidige, durchgeistigte Wesen zu schildern, strecken sich die Körper, so z. B. in der Zeit der Gothik, bis zur komischen Wirkung. So geht es auch in der modernen Kunst. Man braucht nur einmal mit dem Zirkel in der Hand die Zeichnungen namentlich der beliebten „Spezialartisten“ nachzumessen: der Kopf der vornehmen Leute, ihre Füße und Hände schrumpfen da zu Abmessungen zusammen, die in Wirklichkeit lächerlich oder krankhaft erscheinen würden. Aber gerade infolge dieser Verzeichnungen erscheinen sie als vornehm. Im 15. Jahrhundert galt ein vorgedrückter Leib, eine Stellung in der S-Linie bei Frauen für schön, heute ist’s eine Wespentaille.

Die Figurine aber soll durch die Künste des Zeichners die Frauen verleiten, das Kostüm nachzuahmen, die „Bezugsquellen“ sind angegeben, die Wahl der Stoffe soll erleichtert werden – d. h. jene Beeinflussung der Frauenwelt, welche in Paris auf der Börse der Eleganz, den Boulevards, und durch die großen Magazine ausgeübt wird, vollzieht sich in Deutschland, wo der geschäftliche Mittelpunkt fehlt, auf litterarischem Wege. Wenn dann das Kostüm genau nach der Figurine geschneidert werden soll, bemerkt man mit Schrecken, daß jene Eleganz nicht zu erreichen ist, welche die Modejournale zeigen, daß es am wahrhaft schönen Frauenleibe an Platz fehlt, um die Falten so zu legen, wie sie an jenen Modehopfenstangen verlockend angeordnet sind.

Die Modeblätter sind eine Macht geworden, die kein Fabrikant umgehen kann, und der Aufschwung der Berliner Konfektion hat zweifellos engen Zusammenhang mit dem Blühen der Berliner Modezeitungen, welche die ersten der Welt geworden sind.

Also auch die Mode im Berliner Konfektionshandel ist nicht von den Frauen abhängig. Der Großschneider macht eine Anzahl Versuche mit neuen Mantelformen, er schickt sie auf die Reise und liefert, was die Händler bestellen, wenn er nicht in einem vielbesuchten eignen Laden die nöthige Fühlung mit der Frauenwelt bekommt. In einem derartigen Laden ist der Käufer ganz willenlos, wenigstens außerhalb des ihm vom Händler freundlich gelassenen Spielraums. Da heißt’s, eines der „modernen“ Muster kaufen oder gehen! Denn wie viele Damen haben den Muth, selbständige Formen zu entwerfen, und wie viele Händler Zeit und Lust, auf die Wünsche einzugehen? Schreitet das Konfektionswesen fort, gelingt es dem Großkapital, die kleineren, im einzelnen arbeitenden Schneider zu verdrängen, so wird die Einförmigkeit der Mode bei schnellem Wechsel immer mehr steigen. Die Berliner Fabrikation hat es ja schon dahin gebracht, daß nur noch verhältnißmäßig wenig Frauen sich einen Mantel anfertigen lassen, der für sie besonders hergerichtet ist. Von der Fürstin bis zum Ladenfräulein ist nur der Werth des Stoffes und die Verfeinerung der Arbeit das Unterscheidende, der Schnitt, die Mode ist bei ihnen allen schon fast gleich. Nur bringt der Händler die besseren Waren zuerst auf den Markt, um sie sich als „Nouveauté“, als „letzte Neuheit“, doppelt so gut bezahlen zu lassen. Schreitet diese Form der Kleidererzeugung fort, so wird vielleicht die Zeit kommen, in der wir uns nach der Launenhaftigkeit der Mode wieder sehnen, nachdem die Einförmigkeit der Kleidung ganz außerordentliche Steigerung erlebt hat. Also waren es in diesen Gebieten die Fabrikanten, welche die Mode von Paris frei machten, nicht das kaufende Publikum.

Es ist ein großer Irrthum vieler Händler, daß sie glauben, die Käufer wollten französische Waren erstehen. Erst wenn den letzteren eingeredet wird, das Fremde sei besser, fordern sie Fremdes. Und sehr mit Recht, denn es ist eine unbillige Forderung an den Patriotismus, daß wir das minder Preiswerthe kaufen sollen, weil es deutsch ist. Diese Selbstaufopferung hat kein Volk der Welt. Wenn aber das Deutsche anerkannt ebenso gut oder besser als das Fremde ist, so werden nur vereinzelte Narren oder Närrinnen das einheimische Erzeugniß verschmähen.

Eine Erfahrung jedoch, welche ich einst ist Gesellschaft eines Musterzeichners in Hamburg gemacht habe, giebt zu denken.

Ein Kaufmann zeigte uns Stoffproben, deutsche und französische. Die letzteren waren zwar theurer, aber auch unvergleichlich besser. Mein Gefährte, der, wie sich später zeigte, eine Reihe der vorgelegten Muster selbst entworfen hatte, ließ sich die ganze Karte zeigen, ehe er sein Urtheil abgab. Dies fiel aber auch um so derber aus. Der Händler hatte nämlich alle Probeabschnitte zusammengelegt, die besseren als französisch auf die Seite gethan, während die häßlicheren und minderwerthigen, gleichviel woher sie stammten, als deutsch bezeichnet wurden. Die „französischen“ waren dann aber auch, wie es mit erkünsteltem Bedauern hieß, sehr viel theurer: „Solche Ware geht eben nicht in Deutschland, darauf können sich unsere Fabriken gar nicht einlassen.“

Auf unsere Vorwürfe antwortete der Händler: „Was wollen Sie, die feinen Leute kaufen die Sachen nicht, wenn ich sage, sie seien aus Crefeld oder Glauchau!“

Freilich, sie kaufen nicht, weil man ihnen eben erst den Gedanken eingeimpft hat, das Beste stamme nicht daher. Als der Kaiser von Marokko dem Kaiser Wilhelm II. die herrlichsten Brokate durch seine Gesandtschaft überreichen ließ, wußte der Schenker auch nicht, daß diese Erzeugnisse orientalischer Prachtliebe in – Crefeld gefertigt seien! Aber es ist ärgerlich, daß die Fabrikanten nicht durchsetzen, daß es der Kaiser von Marokko erfährt, woher seine Ware kommt, sondern mit pfiffiger Miene zuschauen, daß man ihr Werk für ein fremdes ausgiebt.

In Deutschland giebt es genug Leute, welche trotzdem in solchem Vorkommniß einen Sieg des deutschen Gewerbes sehen. Mir will es als ein Mangel an nationalem Rückgrat bei den Fabrikanten erscheinen. Der Engländer und Franzose ist eben überzeugt, daß sein Werk als das beste in der Welt gilt, und sorgt dafür, daß seine Fabrikmarke als Ehrenschild das Erzeugniß decke, während wir oft noch froh sind, wenn unseres unter falscher Flagge für das beste genommen wird!

So sind es eben die Fabrikanten, welche im Wandel der Mode der Vorwurf der Abhängigkeit vom Ausland trifft, und mehr noch die Kaufleute – nicht etwa die Frauen! Und es giebt thatsächlich Wege, um einen Wandel zu schaffen, namentlich durch eine systematische Ausbildung des Musterfaches für die Mode. Der Staat, der ja leider bei uns immer als Allerweltsretter angerufen wird, kann hier wenig machen. Die Fabrikanten sollten aus sich heraus die Anregung geben, daß ein höher stehender Zeichnerstand, ein solcher, wie er seit 1870 für Tapeten, Möbelstoffe u. dergl. thatsächlich sich ausgebildet hat, herangezogen werde, Leute, welche eigene schönheitliche Gedanken zur Ansführung bringen, ohne die Fühlung mit dem allgemeinen Geschmack zu verlieren, welche vor allem aber in der Lage sind, in den Uebergangszeiten den Sinn auf das Schöne hinzulenken und nicht auf kecke Uebertreibungen der angeregten Moderichtung. Denn diese Uebertreibung ist es, welche das Neue bald ungefällig macht und es durch Neueres verdrängen läßt. Die unkünstlerische, ungeschulte, dilettantische Schaffensart innerhalb der deutschen Modemacher ist ein wesentlicher Grund unserer Abhängigkeit vom Ausland. Wo an deren Stelle zielbewußtes Vorgehen trat, wie etwa bei den Herrenhutmachern, hat sich die Sache schnell geändert.

An die Fabrikanten und Händler also sind die Schmerzensschreie der Aesthetiker, der Bekämpfer der Moden zu richten, nicht an die Frauen, von denen die einzelne ein Tropfen in einer Brandung ist, willenlos dem Zuge der Woge folgt und stolz ist, sie kurze Zeit als glänzender Schaum geschmückt zu haben, ehe sie wieder zurückfluthet in das Meer der Allgemeinheit.




[701]

Lieder ohne Worte.
Nach einem Gemälde von R. Pößelberger.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[702]

Ein deutsches Mädchen auf dem Kriegspfade.

Von Dagobert von Gerhardt (Amyntor).
(Schluß.)


Wie heißen Sie denn, mein armes Kind?“ fragte ich nach einer Pause das Mädchen.

„Marie Segner.“

„Haben denn Ihre Eltern erlaubt, daß Sie sich in solch ein Wagniß begeben?“

„Ich habe keine Eltern mehr; ich bin eine Waise und diene in X. bei fremden Leuten.“

„Denen Sie also fortgelaufen sind?“ fragte ich unwillkürlich im Tone eines leisen Vorwurfes.

„Freilich bin ich fortgelaufen,“ jammerte sie; „ich mußte ja fortlaufen, denn wenn ich erst lange hätte warten und fragen wollen, dann wäre ich ja vielleicht zu spät gekommen. Großer Gott, vielleicht ist es schon zu spät! Ach, Sie wissen gewiß darum; bitte, bitte, sagen Sie mir, ob mein Fritz noch am Leben ist!“

„Nun, ich kann Sie beruhigen. Er lebt. Er hat sich sogar das Eiserne Krenz erworben und wird von seinen Vorgesetzten und Kameraden hoch geschätzt …“

„O du Allgütiger! Ist das wahr? So sind meine Gebete erhört worden? Ach, mein Gott! mein Gott! so viel Glück ist zu viel!“ – Sie hemmte den Schritt; es schien mir, als ob sie sich kaum noch auf den Füßen halten könnte.

Ich holte aus meiner linken Satteltasche meine Feldflasche hervor.

„Da, mein Kind, trinken Sie einen Schluck! Das wird Ihnen neue Kräfte geben. Sie müssen ja ganz erschöpft sein.“

Sie nahm die Flasche und brachte sie an ihre Lippen. Dann sagte sie aufathmend:

„Ich danke schön, das hat gut gethan! Seit vier Tagen habe ich keine ordentliche Mahlzeit mehr genossen.“

„Sehen Sie dort den Schein des Lagerfeuers? Dort ist mein Bataillon. Wenn Sie imstande sind, mir bis dorthin zu folgen, dann will ich Sie weiter fahren lassen … soll ich Sie vor mich auf das Pferd nehmen?“

„Nein, ich danke; es geht schon wieder. Sie sind so gut, Herr Offizier! Der Himmel möge es Ihnen lohnen!“

Sie marschierte wieder tapfer neben mir her.

Ich verhielt den Schritt meines Pferdes, um ihr keine allzu schwere Aufgabe zu stellen.

Als wir im Feuerschein meines Bivouacs angekommen waren, bemerkte ich, daß Marie Segner ein hübsches blondes Mädchen war; trotz der kräftigen Entwickelung ihres Wuchses mochte sie kaum zwanzig Jahre zählen.

Ich winkte meinen Adjutanten heran und besprach mit ihm den Vorfall.

„Wir müssen sie wahrhaftig noch heute abend dem kommandirenden General auf den Hals schicken.“

„Sonst könnte es auch leicht zu spät werden,“ versetzte der Adjutant. „Der Herr Major sind morgen früh zehn Uhr zum Kriegsgericht nach Y. kommandirt; es ist nicht unmöglich, daß dies das Kriegsgericht über den betreffenden Gefreiten ist. Wenn die Fürsprache jenes Mädchens auch gänzlich nutzlos sein wird, so ist sie doch wenigstens noch zu rechter Zeit eingetroffen und braucht sich später in dieser Hinsicht keine Vorwürfe zu machen.“

„Sagen Sie dem Zahlmeister, er soll meinen Stabswagen anspannen lassen und das Mädchen hinüberfahren.“

„Zu Befehl!“

Nach zehn Minuten verließ Marie Segner, die auf meine Veranlassung mit dem, was ein Bivouac bieten konnte, erquickt worden war, unter lebhaften Dankesversicherungen unseren Lagerplatz. Sie saß auf einem Leiterwägelchen, mein Zahlmeister als Schutz neben ihr, und einer meiner Trainsoldaten zügelte das von der Unthätigkeit längeren Bivouakirens muthige Gespann.

Mein Adjutant las mir inzwischen Losung und Feldgeschrei und die sonstigen Tagesbefehle vor, die in meiner Abwesenheit eingegangen waren; dann kroch ich in meine sehr schadhafte Strohhütte, wickelte mich in eine Pferdedecke und versuchte zu schlafen. Aber es wollte mir nicht gleich gelingen; mich hielten die Schüsse, die ab und zu vorn bei den Vorposten fielen, vielleicht auch der Gedanke an das thörichte unglückliche Mädchen und seinen beklagenswerthen Bräutigam noch längere Zeit wach. Endlich aber verschwammen mir die Kreise des Denkens, ich entschlummerte, und als ich die Augen wieder aufschlug, stand schon die Sonne am leicht bewölkten Himmel.

Der erste Morgengruß, den ich erhielt, war eine Granate, die dicht vor der Front meines Bivouacs einschlug und deren Sprengstücke heulend über uns hinwegwirbelten. Ich trank schnell einen Schluck sehr zweifelhaften Kaffee, den mir mein Stabskoch in einem von Hammelfett nicht ganz freien Kochgeschirr bereitet hatte, und schwang mich in den Sattel, um meiner Ladung nach Y. nachzukommen.

Es war erst neun Uhr, als ich vor dem Quartier des Kommandirenden vom Pferde stieg. Das Kriegsgericht sollte um zehn Uhr in einem Wirtschaftsgebäude abgehalten werden, das mit zu dem Gehöft gehörte, in welchem sich das Generalkommando eingerichtet hatte; mir blieb also noch Zeit, mit den Herren des Stabes zu plaudern und endlich einmal wieder eine gute Cigarre zu rauchen.

Unter anderem erzählte man mir auch, daß gestern abend ein deutsches Mädchen ganz allein eingetroffen und bis zu Seiner Excellenz vorgedrungen wäre, um sich für das bedrohte Leben ihres Geliebten zu verwenden. Da ich meinem Zahlmeister befohlen hatte, Marie unmittelbar vor dem Dorfe abzusetzen und dann ist aller Stille und unbemerkt wieder zurückzukehren, so ahnte niemand, daß ich es war, der sie hatte befördern lassen. Ich ließ mir denn auch die Mittheilung ruhig gefallen und stellte mich so, als ob ich etwas durchaus Neues erführe.

„Wo ist denn die Aermste geblieben?“ fragte ich scheinbar verwundert.

„Der General hat sie nicht wieder in Nacht und Grauen hinausjagen mögen,“ versetzte ein Generalstabshauptmann, „sie ist in die Stabsküche gesteckt worden und kann, wenn sie Lust hat, so den Feldzug mitmachen.“

Das Erscheinen des Höchstkommandirenden, der, die Mütze auf dem Kopfe und eine Cigarre im Munde, vor die Thür trat, störte unsere Unterhaltung.

Ich ging an Seine Excellenz heran und meldete mich zum Kriegsgericht kommandirt.

Er zog die Uhr und sagte: „Erst halb zehn; Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit … kommen Sie! Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“

Wir schritten um das Haus herum nach einem Garten, in dem schon die Weintrauben bläulich zu schwellen begannen. Die andern waren vor dem Hause geblieben; wir waren allein.

„Rauchen Sie ruhig weiter,“ sagte der General, welcher bemerkte, daß ich eine brennende Cigarre in der Hand hielt, „Sie sehen, ich gestatte mir selbst diesen Genuß. Was ich sagen wollte: die Sache, über die Sie nachher kriegsgerichtlich urtheilen werden, liegt recht mißlich für den Angeschuldigten. Ich habe sie mir vom Auditeur vortragen lassen; der Gefreite Dornbusch hat Hand an einen Vorgesetzten gelegt und er wird, ohne Zweifel, zum Tode verurtheilt werden müssen. Ich habe aber auch erfahren, wie tapfer sich der Unglückliche benommen hat; er ist dekorirt worden; auch jener Windbeutel von Unteroffizier, dem er eins versetzt hat … wie hieß er doch? …“

„Jesaias Schellbaum, wenn ich mich recht erinnere,“ warf ich dazwischen.

„Richtig, ganz richtig! Jesaias Schellbaum … nun, dieser Schellbaum scheint einen eben so festen Schädel zu haben, als er ein ungewaschenes Maul hat … die Meldung ist eingegangen, daß er als völlig geheilt aus dem Lazareth entlassen und zu seinem Truppentheil wieder in Marsch gesetzt worden ist … er wird, denke ich, in diesen Tagen bei seinem Bataillon eintreffen. Das sind Umstände, die den armen Teufel von Gefreiten wohl einer milden Beurtheilung empfehlen dürften. Ich darf und will natürlich Ihnen, als dem Präses des Kriegsgerichtes, in keinerlei Weise vorgreifen; sollte das Gericht aber etwa ein Gnadengesuch für den Verurtheilten beantragen, so würde ich mich [703] aufrichtig freuen und dasselbe bei Seiner Majestät aufs wärmste befürworten. Die Disciplin in dem betreffenden Bataillon ist ja eine so glänzende, daß es dort eines besonderen Beispiels von Strenge wahrlich nicht bedarf; thun Sie also, was Rechtens ist, und melden Sie mir sofort nach dem Kriegsgericht das Ergebniß.“

„Zu Befehl, Excellenz! Ich kann übrigens meinerseits schon jetzt versichern, daß ich die Ansicht Eurer Excellenz vollkommen theile; zufällig bin ich durch den Bataillonskommandeur des Gefreiten Dornbusch über den Fall schon unterrichtet und muß gestehen, daß mir das Schicksal des Angeklagten sehr am Herzen liegt. Er hat sich schwer vergangen, aber er that es, weil er die Ehre seiner Braut vertheidigen zu müssen glaubte; der Beweggrund war sicher ein anständiger, wenn auch das Mittel unbesonnen und verwerflich war …“

„Sehen Sie,“ fiel der General befriedigt ein, „wir sind einerlei Meinung. Ich habe die Braut dieses Mannes … Sie hörten wohl schon davon? … unter den Schutz meines Stabes gestellt; sie ist ein heldenmüthiges Mädchen und hat für ihren Geliebten gethan, was nicht jedes Mädchen in gleicher Lage thun würde. Ohne Führer, ohne Geldmittel, ohne Schutz und ohne jegliche Kenntniß des Weges ist sie Tag und Nacht, über Stock und Stein, mit Dransetzung der letzten Körper- und Seelenkraft dem Heere gefolgt, um mich aufzusuchen, bei dem sie in ihrer Einfalt für den Geliebten erfolgreiche Fürsprache glaubte einlegen zu können … Na, wir wollen nicht sentimental werden! Erst heißt es, die Pflicht thun, und wenn sie noch so schwer ist, dann erst darf man sich den Luxus des Gefühls gestatten. Gehen Sie, mein lieber Major! … es ist gleich Zehn“ – er hatte meine Hand ergriffen und drückte sie, eigenartig lächelnd – „ich sage mit dem Könige Philipp von Spanien: ‚Kardinal, ich habe das Meinige gethan – thun Sie das Ihre!‘“ –

Ich war entlassen. Daß er Marie Segner für den heutigen Vormittag das Verlassen ihrer Küche verboten hatte, damit sie die Vorführung ihres verhafteten Bräutigams nicht etwa zufällig sehen sollte, das hatte er mir nicht gesagt; ich erfuhr es aber später aus dem Gange der Ereignisse.

Das Personal des Kriegsgerichtes war vollzählig versammelt. Der Gefreite Dornbusch wurde vorgeführt. Der arme Kerl sah bemitleidenswerth aus. Nicht daß er etwa Furcht gezeigt hätte, im Gegentheil! Er hielt sich so kerzengerade und trug das Haupt so stolz im Nacken, als ob er das beste Gewissen von der Welt hätte; aber den Ausdruck seines Gesichtes vergesse ich mein Leben lang nicht. Seine hübschen dunklen Augen starrten trostlos ins Leere; er schien uns gar nicht zu bemerken; seine Mundwinkel waren herabgezogen, seine Nasenflügel etwas erweitert; tiefstes Seelenleid, heftigster Schmerz sprach aus jedem seiner Züge. Mit dumpfer Stimme, nur schwach und langsam sprechend, beantwortete er die Fragen, die an ihn gerichtet wurden; sein Vergehen suchte er nicht zu beschönigen, er gestand ohne weiteres ein, daß er die Absicht gehabt habe, den Verleumder seiner Braut niederschlagen; daß es der Vorgesetzte war, gegen den er die Hand erhob, daran habe er, durch den genossenen Champagner und den jählings auflodernden Zorn übermannt, gar nicht gedacht. Er wisse, daß er sein Leben verwirkt habe, und ohne zu klagen werde er sich in sein Geschick fügen; nur die eine Bitte spreche er aus, daß man ihn nicht zu lange auf die Vollstreckung des Urtheils warten lasse und daß man ihm gestatte, mit dem Kreuz auf der Brust zu sterben. Seiner Leiche möchte man das Kreuz abnehmen und es nach X an seine Braut senden – der arme Bursche ahnte also nicht, daß dieselbe ganz in seiner Nähe weilte.

Er war wieder abgeführt worden, und einstimmig erkannte das Kriegsgericht, wie es nicht anders konnte, auf Todesstrafe. Aber ebenso einstimmig beantragte es, die Gnade des obersten Kriegsherrn für den Verurtheilten anzurufen. Nachdem ich die Mitglieder des Gerichtes noch vorschriftsmäßig ermahnt hatte, über das gefällte Urtheil so lange zu schweigen, bis seine Bestätigung oder die beantragte Begnadigung veröffentlicht sein würde, entließ ich die Versammlung und begab mich zum Kommandirenden, um ihm den Spruch des Gerichts zu melden.

„An meiner dringenden Verwendung soll’s nicht fehlen,“ erwiderte der General lebhaft und unverkennbar sehr erfreut, „ich hoffe, wir bekommen ihn gänzlich frei; die lange Untersuchungshaft ist für ihn Strafe genug gewesen.“

Als ich mir auf der Dorfstraße wieder mein Pferd vorführen ließ, kam Dornbusch gerade bei mir vorüber, gefolgt von einem bewaffneten Unteroffizier, der ihn nach dem Bivouac seines Truppentheils zurückzubringen hatte. Er schritt jetzt leicht vornüber gebeugt einher; sein Blick suchte träumerisch den Boden. Das Leben lag wohl nach seiner Ausicht hinter ihm, und die letzten Stunden, die ihm noch blieben, mochte er zum stillen Gedenken an seine fernen Lieben verwenden wollen.

Da durchschnitt der gellende messerscharfe Ruf „Fritz!“ die Luft und aus dem Hause hinter mir stürzte ein Mädchen und schoß bei mir vorbei geradeswegs auf den Gefangenen los.

„Fritz! mein Fritz! da bin ich! Wenn Du sterben mußt, sterbe ich mit Dir! Sie sollen uns nicht mehr trennen, weder im Leben noch im Tode!“

Sie schlang die Arme um seinen Nacken und bedeckte sein Antlitz mit leidenschaftlichen Küssen.

„Marie!“ stammelte Dornbusch verwundert und beseligt, „wie kommst Du denn hierher? O, der liebe Gott ist doch barmherzig, daß er mir noch diese Freude gönnt. Nun sterbe ich gern!“ Und ungestüm erwiderte er die Liebkosungen seines Mädchens.

„Nein, Du sollst nicht sterben, und wenn ich bis zum Könige laufen und Dich losbitten soll! Und wenn’s bei den Menschen kein Erbarmen mehr giebt, dann sterbe ich mit Dir, so wahr ein Gott lebt! Fritz, ich verlasse Dich nicht mehr und theile Dein Schicksal, so oder so!“

„Nun ist’s aber genug, Jungfer!“ mahnte der Unteroffizier, der den Verhafteten zu bewachen hatte und sich in seiner Ueberraschung jetzt erst bewußt wurde, was er zu thun hatte. „Sagen Sie ihm Ade und dann fort! Wir müssen weiter.“

„Ich gehe mit,“ erklärte mit aller Bestimmtheit das Mädchen, „ich trenne mich nicht mehr von ihm!“

„Dummes Zeug!“ brummte der Unteroffizier, „das darf ich nicht gestatten. Ein Arretirter darf sich mit niemand unterhalten. Erschweren Sie mir nicht nutzlos mein Amt! Ich muß dringend bitten, daß Sie uns jetzt allein lassen.“

Er wollte den Verhafteten weiter führen, aber das Mädchen hing sich wie eine Klette an den Hals ihres Bräutigams und machte die Abführung desselben unmöglich. Als der Unteroffizier sie mit sanfter Gewalt bei Seite schieben wollte, klammerte sie sich nur um so fester an ihren Geliebten und schrie wie außer sich: „Morden Sie mich nur! Stechen Sie mich über den Haufen, mir ist’s recht! Aber lebend lasse ich mich nicht mehr von ihm trennen! So hilf mir doch, Fritz! Er will mich von Dir reißen! Du brauchst Dich nicht zu fürchten, wenn er auch Dein Vorgesetzter ist; jetzt ist doch alles eins. Sie haben Dich zum Tode verurtheilt; ich hab’s mit eigenen Ohren gehört, als ich unbemerkt unter dem Fenster horchte. O, sie sind alle falsch! Der General auch; er hatte mir gelobt, daß alles gut werden sollte, und heimtückisch wollte er mich verhindern, Dich wiederzusehen. Aber ich merkte seine Absicht und habe mich fortgeschlichen. Nein, nein!“ wandte sie sich gegen den Unteroffizier, „ich lasse ihn nicht, und wenn Sie mich mit ihm umbringen!“

Es hatte sich ein kleiner Auflauf in der Dorfstraße gebildet. Mehrere französische Bauern, die verständnißlos dem Vorgange zusahen und nur die Entschlossenheit und Unerschrockenheit des jungen Mädchens erkannten, lächelten belustigt und tauschten billige Witze miteinander aus.

Ich zog den Fuß, den ich schon in den Steigbügel gesetzt hatte, wieder zurück und trat der Gruppe näher.

„Thun Sie ihr nichts zu leide, Unteroffizier!“ mahnte ich theilnehmend. „Ich will sie im Guten wegzubringen suchen.“

Und ich redete sie bei ihrem Namen an und bat sie, vernünftig zu sein und mir zu glauben, wenn ich ihr fest verspräche, daß sie den Geliebten noch wiedersehen würde.

„Um Gotteswillen!“ rief der Unteroffizier, der schnell hinzugesprungen war und ihre Hand ergriffen hatte, „sie ersticht sich!“

In der That, es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich das spitze Küchenmesser, das sie unbemerkt aus ihrer Tasche gezogen haben mußte, in die Brust gestoßen.

Nun galt kein Zaudern mehr.

„Nehmen Sie ihr das Messer fort!“ kommandirte ich, „in Güte oder mit Gewalt! Sie ist von Sinnen!“

Der Unteroffizier brach ihr die Finger auf und bemächtigte sich trotz ihres heftigen Widerstandes des gefährlichen Werkzeuges.

[704] „Was ist das für eine Aufführung?“ fragte die strafende Stimme des kommandirenden Generals, der nun auch auf der Straße erschienen war. „Ich kenne Sie ja gar nicht wieder, Marie! Sie, ein tapferes deutsches Mädchen, geben den Franzosen hier ein so klägliches Beispiel?“

Ein Zittern lief durch ihre Glieder. Ihre gestrafften Muskeln wurden schlaff; ein Weinkrampf erschütterte ihre Gestalt. Aber sie gewann noch einmal Herrschaft über sich und, die Thränen meisternd, stieß sie flehentlich hervor:

„Lassen Sie mich mit ihm sterben, Excellenz!“

Der General faßte ihre Hand und sah sie väterlich liebreich an.

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollten die Hoffnung nicht verlieren? Ihr Bräutigam hat allerdings sein Leben verwirkt; weil er aber ein braver Soldat ist und das Eiserne Kreuz auf der Brust trägt, werde ich noch heute die Gnade Seiner Majestät des Königs für ihn anrufen, und zweifeln Sie nicht, mein Kind, unser König hat ein Herz für seine Helden und wird Gnade für Recht ergehen lassen!“

Dornbusch, der diese Worte gehört hatte, stand, die Hände auf die Brust gepreßt, die in beschleunigtem Takte auf- und niederwogte, und starrte aus großen, halb noch ungläubig aufleuchtenden Augen den General an. Er taumelte einen Schritt vorwärts, als wollte er sich vor ihm zur Erde werfen und seine Kniee umfassen.

„Stillgestanden!“ kommandirte in verstelltem Ernste die Excellenz, und wie der also Angeherrschte zu einer Statue erstarrt war, an der sich auch nicht der Augapfel im Kopfe mehr bewegte, fuhr der General fort: „Gefreiter Dornbusch! Das, was Sie hier zufällig vernommen haben, war nicht für Sie bestimmt; Sie haben darüber zu schweigen, bis Ihr Arrest beendet ist, dann . . . dann melden Sie sich bei mir, damit auch ich Ihnen zum Eisernen Kreuze Glück wünschen kann, das Sie da auf der Brust tragen. Ihre Braut bleibt meinem Stabe zugetheilt; ich werde für sie Sorge tragen, sie ist gut ausgehoben.“

„Ich . . . ich . . . danke . . . Eurer Excellenz,“ brach es wie ein dumpfes Geheul von den zuckenden Lippen des Gefreiten.

„Marsch! fort!“ schnitt der General, scheinbar barsch, jedes weitere Wort ab, dabei blinzelte er aber aus halb zusammengekniffenen Lidern vergnügt und zufrieden nach dem schmucken Soldaten, der jetzt stramm und aufrecht vor seiner Wache dahinschritt und sich nicht einmal mehr nach Marie umzusehen wagte. – – –

Noch mehrere Wochen vergingen, die für die Ungeduld des stets auf Lagerwache befindlichen Verhafteten gewiß zur Ewigkeit geworden sind. Aber eines schönen Tages, gegen Ende des Septembers, wurde der Gefreite Dornbusch wieder nach dem Stabsquartier des Generals geführt und ihm dort verkündet, daß ihm Seine Majestät der König in Anbetracht seines besonders guten Verhaltens vor dem Feinde die Strafe in Gnaden erlassen habe. Dem Befehle gemäß meldete sich der Begnadigte, dem wieder ein Seitengewehr umgeschnallt worden war, bei dem General.

Dieser gratulierte ihm, indem er ihm warm die Hand drückte.

„Nun halten Sie sich weiter so tapfer, Unteroffizier Dornbusch!“ Und als der so Angeredete verwundert aufhorchte, erläuterte der General: „Sie werden bei Ihrer Rückkehr ins Bivouac die Tressen bekommen für Ihre vorzügliche Haltung beim letzten Ausfall der Franzosen. Ich denke, das wird Ihnen auch Ihre Stellung zum Unteroffizier Schellbaum wesentlich erleichtern – oder grollt Ihr einander noch?“

„O nein, Excellenz! wir haben längst Frieden geschlossen.“

„Das freut mich, ein anständiger Mensch muß nichts nachtragen. Und nun gehen Sie mit Gott! Sollten Sie vorher noch ein gewisses Mädchen sehen wollen, so wenden Sie sich an meinen Stabskoch; er ist sehr zufrieden mit ihr.“

Anfang Februar, während des Waffenstillstandes, wurden in einem französischen Gotteshause der Unteroffizier Friedrich Dornbusch und Marie Segner vom Stabe des nten Generalkommandos ehelich verbunden. Unter den Zeugen befand sich Jesaias Schellbaum, der seine Rolle äußerst würdevoll spielte und dem jungen Paare als erster seine herzlichen Wünsche darbrachte

Nach der Rückkehr in die Heimath trat das Pärchen in die Privatdienste des kommandirenden Generals; Dornbusch als Kutscher, Marie als Küchenvorstand.

Als ich ein Jahr darauf bei dem General einmal zur Tafel geladen war, fragte er mich freundlich:

„Nun? schmeckt es Ihnen? Das freut mich! Meine Köchin verdient auch alle Anerkennung; Sie kennen sie ja noch; Sie haben sie, so zu sagen, eines Nachts aus dem Graben gefischt und ihren Mann habe ich mir gewissermaßen vom Galgen geschnitten. Sie erinnern sich doch der blonden Marie und des Fritz Dornbusch, der durchs Kriegsgericht verurtheilt und durch Seine Majestät begnadigt wurde?“

„Gewiß – ein schneidiger Bursche.“

„Ist jetzt auch zahmer geworben, seine Frau hat ihn gehörig unter der Fuchtel, nur wenn er ’mal ein Gläschen übern Durst getrunken hat, haut er gelegentlich über die Schnur. Aber da braucht ihn die Marie nur mit einem gewissen Blick anzuschauen und zu fragen: ‚Möchtest wohl wieder mal Champagner trinken, Fritze?‘ – dann wird er allemal mäuschenstill und giebt klein bei. Ist überhaupt ein kleiner Hausdrache geworden, die blonde Marie. Schad’t nichts, ist eine tapfere kleine Frau, hat sich ihren Mann aus dem Feuer geholt – eine Frau, wie Soldaten sie brauchen. Wir wollen anstoßen: Alle tapferen Frauen leben hoch!“




Ferdinand Gregorovius,
der Geschichtschreiber des mittelalterlichen Roms und Athens.

Mit Bildniß S. 689.

Der Klang des Namens Gregorovius erweckt bei jedem, der mit der neueren Litteratur vertraut ist, unwillkürlich den Gedanken an die Kulturbeziehungen Deutschlands und Italiens. Seit Winckelmanns und Goethes Zeiten hat die Sehnsucht nach dem Lande der schönen Natur, der Kunst und des Alterthums manchen Nordländer nach Italien geführt; wohl den meisten ist die Rückkehr schwer geworden; einige fühlten sich dauernd jenseit der Berge gefesselt und fanden in dem Lande ihrer Sehnsucht eine zweite Heimath. Unter allen diesen nimmt Gregorovius eine eigenthümlich hervorragende Stellung ein, denn wie keinem andern ist es ihm beschieden gewesen, in dem bedeutendsten Zeitraum der Umgestaltung beider Länder eine schöne Vermittlerrolle durchzuführen, sich durch glänzende schriftstellerische Leistungen das römische Bürgerrecht zu erwerben und doch ein deutscher Bürger zu bleiben. Als dauerndes Denkmal seines vieljährigen Aufenthalts in Italien steht sein großartiges Werk über die Geschichte Roms im Mittelalter da, eine Arbeit zugleich der Begeisterung und des unermüdlichen, wissenschaftlichen Forschens.

Es darf als ein besonderer Glücksfall betrachtet werden, daß die Vollendung dieses Geschichtswerkes zusammenfiel mit dem Schluß der päpstlichen Herrschaft und dem Beginn der Aufrichtung des italienischen Königreichs. Denn der Geschichtschreiber Roms war während jener Jahre noch von dem Zauber der alten römischen Welt umwittert; er schuf unter der Wirkung dieses Eindrucks, was nach der Umwandlung der Stadt der Päpste in die moderne Hauptstadt Italiens kaum noch möglich gewesen wäre. Seine Arbeit besitzt daher, abgesehen von ihrem historischen Werth, die besondere Anziehungskraft der Darstellung eines Augenzeugen, und zwar eines Augenzeugen, der, bei aller Begeisterung für die wunderbare Größe der ewigen Stadt in ihrer den Wechsel der Zeiten abspiegelnden Gestalt, seine Aufgabe von vornherein als moderner Mensch gefaßt hatte, dem es lediglich zu thun war um die großen Gesichtspunkte und Interessen der Geschichte und Kultur der Menschheit. Selbst die päpstliche Presse konnte nicht umhin, seine Unparteilichkeit anzuerkennen, während die neue Gemeindevertretung des wiedergeborenen Roms auf ihre Kosten die Fortführung des Drucks der Uebersetzung seines Werkes ins Italienische verordnete und ihm selbst das römische Bürgerrecht verlieh.

Nicht weniger als vier Auflagen des achtbändigen Werkes sind seit dessen Vollendung im Jahre 1872 erschienen. Jetzt aber hat Gregorovius jener Hauptarbeit seines Lebens eine „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ folgen lassen. Ehe wir auf [705] den reichen Inhalt dieses neuen Werkes hinweisen, mag den Lesern ein Rückblick auf die Laufbahn des Verfassers erwünscht sein, der seinen großen Verdiensten ein neues hinzugefügt hat, indem er, mit reifer Erfahrung und im Vollbesitz schöpferischer Kraft, für die Geschichte Athens und Griechenlands eine ähnliche Aufgabe zu lösen unternahm wie vorher für jene Roms und Italiens. Zugleich geben wir ein Bildniß des Gelehrten nach einer in „Nord und Süd“ erschienenen Radierung.

Ferdinand Gregorovius ist von ostpreußischer Herkunft, geboren im Jahre 1821 in dem Städtchen Neidenburg, einer früheren Kolonie der Deutschritter, deren Schloß noch jetzt den Ort überragt. Sein Vater, Justizrath des dortigen Kreises, rettete diese Burg vor dem Untergange, indem er den berühmten Minister von Schön, den Burggrafen von Marienburg, bewog, ihre Herstellung und theilweise Einrichtung für die Amtsräume der Justiz auf Staatskosten zu veranlassen. Des Geschichtschreibers Bruder Julius, Artillerieoberst a. D., hat vor einigen Jahren die Geschichte des Ordensschlosses Neidenburg in einer Abhandlung beschrieben.

Ferdinand Gregorovius hat es ausgesprochen, daß die Eindrücke dieses Schlosses in seiner Kindheit ihm die Richtung auf die Geschichte des Mittelalters gegeben haben. Seine Schulbildung empfing er auf dem Gymnasium in Gumbinnen; dann ging er nach Königsberg, um Theologie zu studieren, wendete sich jedoch bald unbefriedigt von ihr ab und widmete sich, besonders auf Rosenkranz’ Anregung und unter dem Einfluß der neuen Entwickelungsepoche, die mit den vierziger Jahren in Deutschland begann, dem Studium der Philosophie und der Geschichte. Auf sein akademisches Triennium folgte eine Zeit der Lehrthätigkeit, auf diese litterarische Arbeiten: Gedichte, philosophische Abhandlungen und, während der Revolutionsjahre 1848 bis 1849, eine lebhafte journalistische Betheiligung an den politischen Ereignissen. Damals erschien von Gregorovius die Schrift „Goethes Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen betrachtet“, die Tragödie „Tiberius“ und endlich der erste Entwurf der historischen Monographie „Der Kaiser Hadrian“, die erste seiner Arbeiten, welche seinen Beruf zur Geschichtschreibung bekundete.

Indeß war die Sehnsucht in die weite Welt, vor allem nach Italien, in ihm erwacht. Ein tiefgewurzeltes Unabhängigkeitsbedürfniß machte ihn der Bewerbung um ein Amt abgeneigt. Den alten Humanisten ähnlich, war er von dem Verlangen beseelt, in voller Freiheit den Studien zu leben. So brach er im Frühling 1852 entschlossen nach Italien auf, was für die Gestaltung seines Lebens von entscheidender Bedeutung werden sollte. Nach einem Aufenthalt in Venedig und Florenz fuhr er im Frühsommer 1852 nach Corsika hinüber und durchwanderte während der nächsten Monate diese merkwürdige, wenig bekannte Insel. Die Frucht davon war sein Buch „Corsika“. Dasselbe begründete seinen Ruf auch in England und Amerika, wo fast gleichzeitig mit der deutschen Ausgabe Uebersetzungen erschienen, denen später andere ins Italienische und Französische folgten. Schon dieses Erstlingswerk seines Wanderns in Italien offenbarte in glänzender Weise die Begabung des Verfassers auf beiden Gebieten, die er zu pflegen fortfuhr, der Geschichte und der historischen Landschaft. Die Geschichte der Corsen, mit der er sein Buch einleitete, ist ein unübertroffenes kleines Meisterwerk; von den corsischen Landschaftsbildern darf man behaupten, daß sie Muster ihrer Gattung sind, plastisch anschauliche Darstellungen, in denen ein künstlerisch bildender Geist Natur, Geschichte und Volksthum zu einem formenreichen Ganzen verbindet. Auch nach einer anderen Seite hin erwarb sich Gregorovius in seinem „Corsika“ ein Verdienst um die deutsche Litteratur, nämlich durch seine vortreffliche Uebersetzung der bis dahin so gut wie unbekannten Todtenklagen (Vôceri) der Corsen. Später ergänzte er diese Beiträge zu unsern „Volksstimmen in Liedern“ durch Uebertragungen toskanischer Volkslieder und vieler Dichtungen des volksthümlichsten Dichters Siciliens, Giovanni Meli.

Sein Buch über Corsika schrieb Gregorovius in Rom, das er im Herbst 1852 erreicht hatte; und Rom blieb, gelegentliche

Die Jahnshöhle bei Giebichenstein an der Saale.
Nach einer Skizze von Ernst Kießling gezeichnet von E. Buffetti.

[706] Reisen nach Deutschland und häufige Studienreisen zur Erforschung der wichtigsten Archive Italiens abgerechnet, sein Wohnort während der nächsten zwanzig Jahre. Innerhalb dieses Zeitraums entstand seine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, ein Werk, welches einst schon Gibbon, ehe er sich zu seiner „Geschichte des Niederganges und Sturzes des römischen Reichs“ entschloß, geplant hatte, das aber durch Gregorovius zuerst in einem der Größe des Gegenstandes entsprechenden Stil und Umfang vollendet wurde. Ein näheres Eingehen auf diese großartige Schöpfung der historischen Wissenschaft und Kunst würde an dieser Stelle zu weit führen. Sie hat ihren Platz unter den bleibenden Werken der Geschichtschreibung eingenommen und wird wohl kaum je durch eine andere ersetzt werden. Auf der breiten Grundlage unermüdlich forschenden Fleißes und künstlerischer Gestaltungskraft, auf welcher Gregorovius dies Hauptwerk seines Lebens aufbaute, steht sein Ruhm fest begründet, und sie verbürgt ihm die dauernde Anerkennung besonders der beiden vor allem betheiligten Nationen, der Italiener und der Deutschen. Es mag hier daran erinnert werden, wie er schon während des Fortgangs seiner Arbeit sich der Unterstützung der preußischen Regierung zu erfreuen hatte; in welcher Weise die Gemeinde des neuen Roms ihm ihre Anerkennung bezeigte, wurde bereits erwähnt.

Während aber Gregorovius in jene Arbeit vertieft war, verlor er nicht den Blick auf die Landschaft und das Volksthum der schönen Halbinsel, welche ein zweites Vaterland für ihn geworden war. Wie unser in England weilender Landsmann Max Müller seine dreißigjährige Arbeit an der Herausgabe der „Vedas“, der alten heiligen Schriften der Inder, gelegentlich unterbrach, um die Welt mit kleineren Erzeugnissen seines Geistes, „Spänen aus einer deutschen Werkstatt“, wie er sie nannte, zu erfreuen, so nahm der Verfasser der Geschichte der Stadt Rom in den Pausen seiner Arbeit die andere, schon in „Corsika“ begonnene Richtung seines litterarischen Schaffens wieder auf, indem er jene Reihe unübertrefflicher historischer Landschaftsbilder veröffentlichte, die unter dem Titel „Wanderjahre in Italien“ eine noch weitere Verbreitung gefunden haben als seine Geschichte Roms. Innerhalb desselben Zeitraums fand er auch Muße zur Abfassung seiner Schrift über die „Grabdenkmäler der Päpste“ und zu der Dichtung „Euphorion“, einem Idyll von so klassischer Anmuth und Formvollendung, daß man sich fast zu dem Bedauern versucht fühlt, daß die ernstere Muse der Geschichte dem Dichter kein größeres Maß von Freiheit vergönnt habe für die Uebung seiner schönen Kunst. Auch diese Schöpfungen waren Goldfrüchte, an der südlichen Sonne gereift; in der That würde das Charakterbild des Geschichtschreibers einseitig und unvollkommen bleiben, wenm das dichterische Temperament wie die herodoteische Schau- und Wanderlust, von der sie Zeugniß ablegen, ihm als wesentlich ergänzende Züge fehlten.

Inzwischen vollzog sich die große Umwandlung Deutschlands und Italiens, welche während der Jahre 1870 bis 1871 ihren Höhepunkt erreichte. Gregorovius erlebte in Rom den Feldzug Garibaldis vom Jahre 1867 und entwarf von demselben in einem Band seiner „Wanderjahre“ eine interessante Schilderung. Der Einzug der italienischen Truppen in Rom fand in der Zeit statt, als er an die Geschichte der Stadt die letzte Hand legte. Sein Werk nach den vieljährigen Mühen der Arbeit unter dem Eindruck so gewaltiger Ereignisse abschließen zu können, erfüllte ihn mit hoher Befriedigung; aber er empfand auch, daß der Zweck seines langen Aufenthalts in Italien damit erreicht sei. Es zog ihn zurück in das deutsche Vaterland.

Nach einigem Schwanken nahm er in München seinen Aufenthalt, und München blieb seitdem sein Wohnort. Doch konnte damit nichts weniger beabsichtigt sein als ein dauernder Abschied von Italien. Gewiß nicht ohne Grund hatte er sich das den Alpenpässen so nahe gelegene München ausersehen; denn auch zahlreiche persönliche Bande, Freunde, die er in allen Schichten der gebildeten Klassen Italiens, von Venedig bis nach Sicilien, gewonnen hatte, fesselten ihn an das schöne Land. In München wurde er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt, aber er war auch Mitglied der römischen Akademie der „Lincei“, das heißt der „Luchsäugigen“. So war es nur eine natürliche Folge seines Lebensganges, wenn er während der nächsten Jahre seinen Aufenthalt abwechselnd bald in Deutschland, bald in Italien nahm. Er erneuerte die alten persönlichen Beziehungen und vervollständigte auch den Kreis seiner früheren italienischen Wanderungen durch Ausflüge in ihm noch unbekannt gebliebene Gegenden der Halbinsel.

So entstand der letzte Band seiner Wanderjahre in Italien: „Apulische Landschaften“. Zugleich behielt er die auf das mittelalterliche Rom bezügliche Litteratur im Auge, um die Geschichte der Stadt nach Inhalt und Form seinem Ideal näher zu führen. Jede neue Auflage war eine vervollständigte und verbesserte. Als Ergänzung schrieb er das Buch „Lucrezia Borgia“, eine auf archivalischen Forschungen und Entdeckungen beruhende Arbeit, die nicht bloß ein außerordentlich fesselndes Zeitbild vorführte, sondern auch die Familiengeschichte der Borgia vollkommen neu gestaltete und dadurch den Anstoß zu einer Reihe von Schriften in Italien und Frankreich gab. Die Studien, welche römische Gelehrte seit 1870 dem Mittelalter der ewigen Stadt widmen, sind überhaupt zum größten Theil durch das große Geschichtswerk unseres Landsmannes angeregt worden.

Zu Anfang der achtziger Jahre trat in Gregorovius’ Leben eine neue Wendung ein. Schon längst hatte er sich nach dem Anblick der alten Stätten der griechischen und östlichen Kultur gesehnt. Er besuchte zuerst Athen im Jahre 1880; dann unternahm er im Frühling 1882 von Neapel aus eine Reise in den Orient. Alexandria und Kairo, Jerusalem und Damaskus, Smyrna, von wo aus er die Ruinen von Sardes besuchte und die alte Burg des Krösus bestieg, Konstantinopel, und auf der Rückfahrt Athen und Korfu bildeten die Hauptstationen dieser Reise. Seine Fahrt von Kairo nach Jerusalem, den Ausflug nach Sardes, seine Streifzüge durch die attische Landschaft und seinen Aufenthalt auf dem reizenden Korfu beschrieb er in verschiedenen deutschen Zeitschriften; aber diese Landschaftsbilder waren nur die Vorläufer größerer historischer Arbeiten.

Der kühne Gedanke war in ihm lebendig geworden, die Geschichte des mittelalterlichen Athens als Seitenstück zu Rom aufzustellen, und mit Ausdauer widmete er sich der Durchführung dieses Plans, der einen mächtigen Reiz auf seine Einbildungskraft ausübte. Als vorbereitende Schriften ließ er die Abhandlung „Athen in den dunkeln Jahrhunderten“ und das Lebensbild „Athenais, Geschichte einer griechischen Kaiserin“, erscheinen. Das Hauptwerk selbst, die „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (1889, 2 Bde.), obgleich an Umfang viermal geringer als seine Geschichte Roms, beschäftigte ihn volle sechs Jahre.

Seine Aufgabe war schwierig, theils wegen des Mangels an Quellen, theils wegen der vergleichsweisen Bedeutungslosigkeit der erlauchten Hauptstadt der antiken Kultur in den nachklassischen Jahrhunderten. Um so bewundernswerther erscheint die Kunst, mit welcher die zerstreuten Bruchstücke zu einem lebendigen Ganzen zusammengefügt sind, die Liebe des Geschichtschreibers zu seinem Gegenstande, mit der er das Interesse des Lesers zu fesseln verstanden hat. Große Gesichtspunkte leiten ihn auch in der Geschichte Athens. Beginnend mit dem Verfall des antiken Lebens führt Gregorovius im ersten Bande die Geschichte der unsterblichen Hellenenstadt fort durch die Stürme barbarischer Ueberfluthungen und durch die Zeit der byzantinischen Herrschaft bis zu der Eroberung Athens durch die Franken im 13. Jahrhundert. Im zweiten Bande erzählt er die Geschichte des Herzogthums Athen bis zur Knechtung Griechenlands durch die Türken um die Mitte des 15. Jahrhunderts, mit welcher das Mittelalter der Stadt seinen Abschluß findet. Es ist eine lange, oft schwermuthsvolle Wanderung; aber die trüben Eindrücke mildert das Schlußkapitel, welches die Geschichte des Wiederaufblühens Athens und Griechenlands, seine Befreiung von dem Joche der Osmanen und die nationalen Ziele seiner Zukunft in großen Zügen vorführt.

Ein zufälliges Zusammentreffen mit Ereignissen der Gegenwart macht das Erscheinen dieses neuen Werkes über Athen für uns Deutsche heute besonders willkommen. Wir meinen die Verschwägerung des deutschen Kaiserhauses mit dem griechischen Königshause und die erste Fahrt eines deutschen Kaisers nach Athen, zum Hochzeitsfeste seiner jugendlichen Schwester. Die Tochter des Kaisers Friedrich III., welche den hellenischen Namen „Sophia“, „die Weisheit“, trägt, wird einst an der Seite ihres Gemahls den Thron der Griechen besteigen. Möchte sie dort blühen und Gutes wirken, wie vor ihr Amalie von Oldenburg, und möchte sie glücklicher sein als diese edle Fürstin! Wir blicken schon deshalb mit Antheil auf das athenische Vermählungsfest, weil diese Verbindung nur dazu beitragen kann, die alten deutschen Sympathien für die klassisiche Heimath des Wissens und der Kunst neu zu beleben.




[707]

Blätter und Blüthen.

Die Jahnshöhle bei Giebichenstein. (Zu dem Bilde S. 705.) Da, wo die vielbesungene Saale unterhalb Halle durch die sogenanntn Trothaer Felsen zu einer scharfen Umbiegung gezwungen wird und dann wenige hundert Schritte stromabwärts über das Kröllwitzer Wehr stürzt, befindet sich in einem von dem Flusse unmittelbar bespülten Felsen eine Höhle von nur geringer Ausdehnung; ein kleiner Vorplatz ist durch eine Aufmauerung aus Quadersteinen hergestellt, ein kunstvoll gearbeitetes eisernes Geländer umgiebt diesen, und über dem Eingang der Höhle ist eine eiserne Gedenktafel mit einem Medaillonbildniß an den Felsen geheftet.

Wie man aus den das Brustbild umgebenden Sinnbildern, dem Eichenkranz und dem vierfachen F, ersieht, ist es die deutsche Turnerschaft, welche dieses historische Stückchen Erde für sich in Anspruch nimmt. Denn hier verbrachte am Ausgange des vorigen Jahrhunderts der „Turnvater Jahn“ als akademischer Bürger der Halleschen Universität einen vollen Sommer. Welche äußere Gründe ihn auch bewogen haben, in diese freiwillige Verbannung zu gehen, für uns hat dieser eigenartige Abschnitt eines vielbewegten Menschenlebens ein ganz besonderes Interesse deshalb, weil er die germanische Urwüchsigkeit des „alten Jahn“ bereits in dem Jünglinge ankündigt. Jahn war ein ausgesprochener Gegner des studentischen Duells und lebte deshalb mit den Landsmannschaften in steter Fehde, bei welcher seine gute Faust und ein tüchtiger „Ziegenhainer“ sein Wehr und Waffen waren. Er wurde endlich von den Verbindungen in Verruf erklärt und wenn er diese akademische Vogelfreiheit auch nicht fürchtete, so sehnte er sich doch, den unausgesetzten Raufereien aus dem Wege zu gehen, und zog sich deshalb in das unwirthsame Felsennest zurück, ohne jedoch auch hier den Belästigungen völlig zu entgehen. Sein Versteck war einer der Landsmannschaften bekannt geworden, mehrere Mitglieder derselben beschlossen, den Geächteten in seiner Höhle aufzusuchen, um ihm „die Reitpeitsche zu geben“, d. h. ihn mit diesem Geräthe zu züchtigen. Jahn hatte sich jedoch in unbestimmter Vorahnung auf Ueberraschungen eingerichtet und auf dem Felsen über seiner Höhle an einzelnen Punkten Steine zusammengehäuft. Sein wachsames Auge entdeckte auch rechtzeitig die heranschleichenden Feinde; er schwang sich unbemerkt um den Felsenvorsprung herum und als jene nun in die Höhle eindrangen, fanden sie dieselbe leer; hoch über dem Eingange aber stand der „wilde Jahn“, der ein wohlgezieltes Feuer auf sie eröffnete und sie derartig in die Enge trieb, daß sie schließlich um freien Abzug förmlich kapituliren mußten.

Nach dieser energischen Abwehr blieb der junge Einsiedler unbelästigt. Er soll dann den ganzen Sommer hindurch so ausschließlich hier gehaust haben, daß er nur zur Beschaffung des Nothwendigsten von Zeit zu Zeit nach Kröllwitz hinüberschwamm, wo er, wie man erzählt, ein kleines Ackergrundstück gepachtet hatte, das ihm seinen Bedarf an Kartoffeln lieferte. Wieviel hiervon auch der Legende angehören mag, jedenfalls steht soviel fest, daß Jahn längere Zeit hindurch in dieser Höhle gewohnt und hier den ersten grundlegenden Gedanken zu seinem werthvollsten Werke, dem „Deutschen Volksthum“, gefaßt hat.

Selbstverständlich wird die „Jahnshöhle“ von den zahlreichen Turnerfahrten, welche die Stadt Halle berühren, mit ähnlicher Pietät wie das Haus und das Grab des Turnvaters in Freiburg a. d. U. aufgesucht. Vor wenigen Wochen erst hielten an Bord einer kleinen Flotille 700 Turner des Nordostthüringischen Turngaues vor der Höhle und veranstalteten an der denkwürdigen Stätte eine eindrucksvolle Gedächtnißfeier. Seit der freundlichen Ausstattung dieses so romantisch gelegenen Punktes ist auch seine Anziehungskraft und das Interesse an ihm mehr und mehr im Wachsen begriffen, so daß man sich schon jetzt mit dem Gedanken trägt, diese Schöpfung der ehrenden Erinnerung mit einem Standbilde des „Vater Jahn“ zu krönen.

Bibliotheken für Arbeiter. Unter den Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter nehmen die in vielen Fabriken errichteten Bibliotheken eine beachtenswerthe Stellung ein. Ueber die Grundsätze, nach welchen die Bücher für dieselben gewählt werden sollen, ist viel geschrieben worden. Wir wissen so ziemlich genau, was für solche Bibliotheken geeignet ist, und besitzen eine Reihe von Musterkatalogen. Erst in neuerer Zeit trat man aber der Frage näher, was von den Arbeitern begehrt wird. Man vermerkte, wie viele Male ein Buch im Laufe des Jahres gelesen wurde, und fand so die Geschmacksrichtung der Arbeiter einer bestimmten Gegend. Dr. Julius Post veröffentlichte neuerdings einige solche Zusammenstellungen, unter denen die des Fabrikanten Heye in Gerresheim die beachtenswerthesten sein dürften. Besonders beliebt sind unter den Gerresheimer Arbeitern: Gerstäcker (der Band wurde 18 mal gelesen), Cooper (30 mal), Bonnet, Hauff, Höcker, Hoffmann, Horn, Nieritz, Otto, Fritz Reuter, Schmidt, Smidt und Ottilie Wildermuth. Auch die Märchen erfreuten sich eines starken Zuspruchs. So wurden Schwab 39 mal, Rübezahl 20 mal, Andersens Märchen 20 mal gelesen. Endlich fand Herr Heye bei seinen Arbeitern eine besondere Vorliebe für Reisebeschreibungen, denn Kane wurde 20 mal, Cook von Müller 27 mal, Cook von Redenbacher 13 mal gelesen. Bei der Erweiterung der Bibliothek wurde darum dieses Bedürfniß berücksichtigt und eine Anzahl Werke über Afrika angeschafft. Man traf damit das Richtige; denn in zwei Monaten wurden der „Tigerfürst von Abessinien“ 12 mal, „In Kamerun“ 9 mal, „Sklavenjagd im Sudan“ 9 mal gelesen.

Die Wahl des Titels ist für das Buch nicht gleichgültig; auch hier zeigte sich der Einfluß des Titels recht deutlich. Werke mit wenig besagenden Titeln oder solchen, hinter denen moralisirende Absichten vermuthet werden konnten, wurden wenig oder gar nicht verlangt, wie dies z. B. dem „Pfarrer Plebanus“ von Ottokar Schupp erging, der trotz seines kriegerischen Inhalts keinmal verlangt wurde, während der „Hexenmüller in der Wisper“ von demselben Verfasser 10 mal gelesen wurde. – Das Fortsetzen solcher „Erhebungen“ ist sehr zu wünschen. Aus dieser Statistik kann man viel lernen und Buchhändler und Schriftsteller werden gewiß mit der Zeit die Winke benutzen, die sich für sie daraus ergeben. *

Das Zeitalter der Revolution. Unter den vielen Werken, welche die französische Revolution und ihre Zeit behandeln, wüßten wir kaum eines, das bei wissenschaftlicher Gründlichkeit so das Bedürfniß des gebildeten Laien im Auge behält, als „Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und des Befreiungskrieges“ von W. Oncken (Berlin, G. Grotesche Verlagsbuchhandlung). Es umfaßt in weitem Rahmen die politischen und gesellschaftlichen Ursachen der großen Bewegung, aber auch, und hierin erblicken wir ein Hauptverdienst des schönen Werkes, den ganzen geistigen Hintergrund der Zeit in Frankreich wie in Deutschland. Diderot und die Encyklopädisten, Montesquieu, Voltaire und Rousseau treten ebenso in lebensvoller Schilderung vor uns hin, wie der junge Goethe und Schiller sammt Lessing, Klopstock und den übrigen geistigen Führern der Zeit. In großen übersichtlichen Zügen giebt Oncken die Ereignisse in Paris, den Emporstieg der französischen Armee, ihre Feldzüge, den gleichzeitigen Zustand der übrigen europäischen Länder, Bonapartes Siegesflug und endlich das erschütternde, heilig ernste Aufraffen und Zusammenstehen Deutschlands zum Sturz des Welteroberers. Kerngestalten wie Fichte, Gneisenau, Arndt stehen hier in begeisterter Schilderung vor uns. Oncken faßt den großen Stoff zu einem Gesammtbild so energisch und wirkungsvoll zusammen, daß jeder um ein gutes Stück weitergekommen ist, der dieses Buch aufmerksam gelesen hat. Eine Fülle von lehrreichen Bildern, möglichst immer in zeitgenössischer Darstellung, Facsimiles und Plänen beleben den Text und geben die nothwendige Anschauung.

In Deutschland, wo es doch sonst nicht an geistigem Leben fehlt, ist bis heute das Lesen geschichtlicher Bücher bei der Jugend, bei Männern nicht gelehrten Berufs und bei Frauen auffallend vernachlässigt. Dies mag wohl in der strengen Fassung vieler berühmten Geschichtswerke seinen Grund haben. Aber gerade für dieses große gebildete Publikum ist das Onckensche Werk höchst empfehlenswerth. Br.

Hermann Langer †. Einer der hervorragendsten Förderer des deutschen Männergesanges, ein Meister des gemüthvollen Humors, eine der volksthümlichsten Gestalten der deutschen Sängerfeste ist am 8. September in Hermann Langer aus dem Leben geschieden. Als der jugendliche Alte Anfang Juli d. J. seinen 70. Geburtstag feierte, durfte man annehmen, daß ihm noch eine Reihe von Jahren beschieden sein würde – es ist anders gekommen: sein Liedermund verstummte, der durch den Zauber seiner Persönlichkeit fesselnde, allgemein beliebte Sängerführer ruht im Schoße der Erde und den zahlreichen Blumenkränzen und Palmenzweigen, die sein Grab schmücken, möge sich der Immortellenkranz anreihen, der von dieser Stelle aus im Geiste auf seine Ruhestätte niedergelegt wird.

Hermann Langer wurde am 6. Juli 1819 in Höckendorf bei Tharandt geboren. Da er schon frühzeitig Neigung für die Musik an den Tag legte, empfing er von seinem Vater, dem Organisten und Schullehrer des Dorfes, Anleitung im Klavier- und Orgelspiel. Wegen des Violinunterrichts mußte er allwöchentlich nach dem 2 Stunden entfernten Dippoldiswalde wandern, und zwar wird erzählt, daß der Knabe unterwegs barfuß ging, um seine Stiefel zu schonen, und daß er als Wegzehrung nur eine trockene Semmel und einen Sechser erhielt. Auch einige Jahre später, als der zehnjährige Hermann an Stelle seines Vaters schon den Gemeindegesang leitete und in den benachbarten Dörfern als Organist oder bei kleinen Musikaufführungen als Solist mitwirkte, wanderte der junge Sänger noch manchmal als Barfüßler von einem Orte nach dem andern. Vom 12. Jahre bis zur Konfirmation befand sich der Knabe bei dem Kantor Löbner in Oschatz, der ihn im Violinspiel weiter ausbildete. Als die Konfirmationszeit vorüber war, sehnte sich der Strebsame nach der Fürstenschule in Grimma. Damit war aber sein Vater nicht einverstanden; dieser meinte, sein Sohn wolle zu hoch hinaus und es genüge, wenn er später ebenfalls ein einfacher Volksschullehrer werde. Der 15jährige Hermann beugte sich vor dem Machtspruche, verzichtete auf Grimma und ging an das Fiedrichstädter Seminar nach Dresden, wo er u. a. drei Jahre lang Musikunterricht durch Kantor Munde empfing.

Als Seminarist mit zur Verstärkung des Hoftheaterchors verwendet, fand der jugendliche Sänger Geschmack an dem Bühnenleben und sein Sinnen und Trachten ging dahin, sich gänzlich der theatralischen Laufbahn zu widmen; der mit einer schönen weichen Tenorstimme begabte Jüngling wurde in diesem Entschluß durch die Kammersänger Risse und Babnigg bestärkt, die ihn im Verein mit dem Kapellmeister Rastelli ausbildeten, aber der Vater wollte nichts davon wissen und versagte mit Entschiedenheit seine Zustimmung. Als gehorsamer Sohn verzichtete Hermann auf die weitere Verfolgung der Theaterpläne und wandte sich mit um so größerem Ernste seinen Studien zu. Nachdem er einige Zeit lang als Hauslehrer gewaltet hatte, bezog er 1840 die Universität zu Leipzig, wo ihm insbesondere auch der Unterricht und die Gunst Mendelssohns zu gute kam. Unterm 8. Juli 1840 meldete er sich zur Mitgliedschaft bei dem akademischen Sängerverein „Paulus“. Drei Jahre später, am 14. Juli 1843, wurde ihm die Leitung dieses Vereins übertragen, außerdem fand er Anstellung als Organist an der Universitätskirche und als Gesanglehrer an mehreren Schulen. Im Jahre 1859 wurde er zum Ehrendoktor der philosophischen Fakultät, bald nachher zum Dozenten an der Universität mit dem Titel Lector publicus und ihm Jahre 1882 zum Professor ernannt; als aber im Jahre 1887 seine Ernennung zum Oberrevisor der Kirchenorgeln im Königreich Sachsen erfolgte, verließ er Leipzig und siedelte nach Dresden über. Seine musikalisch-litterarische Thätigkeit bestand in der Herausgabe verschiedener Hefte des „Repertoriums für Männergesang“, der „Musikalischen Gartenlaube“ (8 Bände), eines „Unterrichts im Gesange“ und in mehreren selbst komponirten und harmonisirten Chorliedern, von welch letzteren besonders „Das Lieben bringt groß Freud’“ in den Liedertafeln sehr oft gesungen wird. Außer bei dem Pauliner Sängerverein, den er 44 Jahre leitete und zu vorzüglichen Leistungen und hohem Ansehen führte, war er über 25 Jahre lang [708] Dirigent des „Zöllnerbundes“ und nahezu 25 Jahre erster Musikdirektor des „Leipziger Gausängerbundes“; im September 1864, also vor nunmehr 25 Jahren, wurde er als Mitglied in den Gesammtausschuß des „Deutschen Sängerbundes“ gewählt, in welchem er der Musikkommission für die Herstellung des Bundesliederbuches angehörte.

In allen diesen Stellungen hat er in erfolgreicher Weise für die Veredlung des volksthümlichen Männergesanges gewirkt, entsprechend den Worten, die er gelegentlich der Bannerweihe des Zöllnerbundes am 19. Juli 1863 an die Sängerschaft richtete: daß man den Gesang als Volksbildungsmittel, als Förderer des deutschen Einheitsgedankens betrachten und daß man den musikalisch fragwürdigen, niedrigen Erzeugnissen der Männergesangslitteratur mit Entrüstung aus dem Wege gehen möge! Diesem musikalischen Glaubensbekenntniß, dem er bei verschiedenen Gelegenheiten Ausdruck gab, blieb er allezeit treu; er erwarb sich durch zähes Festhalten an demselben ein Verdienst, das für alle Zukunft mit goldenen Lettern in die Geschichte des deutschen Männergesanges eingetragen bleiben wird. Heinrich Pfeil.

Zimmerpflanzen im Oktober. Die Hauptarbeit im Oktober ist das Einbringen der Pflanzen in das Winterquartier. Wenn die kalten windigen Tage kommen, so ist es Zeit, die größeren Grünpflanzen in das Haus zu schaffen, vorläufig in ein etwa vorhandenes, bedecktes Gartenhaus, im Wohnhause selbst in das Treppenhaus, in Vorsäle oder dergl. Hat man auch im Sommer einzelne Wohnräume mit Pflanzen geschmückt, so entferne man daraus diejenigen, welche nicht immer im warmen Zimmer bleiben können, und kaufe in Ermangelung passenden Ersatzes unter den vorhandenen Vorräthen neue dazu an. Kleine Blumen, welche bereits im Schutze von Mistbeetkästen stehen, lasse man, bis stärkere Kälte eintritt, noch darin. Hat man die Einrichtung eines bloß zur Ueberwinterung bestimmten Blumenzimmers, so stelle man allmählich die kleinen Pflanzen auf, halte aber den Raum einstweilen noch luftig und kühl.

Wer gerne im Winter viele blühende Stöcke hat, pflanze nun aus dem Garten die geeigneten ein. Es sind besonders Monatsveilchen, Berg- oder Alpenvergißmeinnicht in verschiedenen Sorten, Gartenvergißmeinnicht (Omphalodes), großer Enzian (Gentiana acaulis), Spiraea (Hoteia) japonica, Herzblume (Dielytra speciosa) und besonders Maiblumen. Diese Pflanzen zu diesem Zwecke klein zu kaufen, kann ich nicht empfehlen, da man sie außer den Maiblumenkeimen besser blühend kauft. Sträucher, die man im Winter zur Blüthe bringen will, sowie Rosen müssen schon seit Frühjahr in Töpfen stehen, doch kann man mit Blüthenknospen versehene Landazaleen, besonders Azalea mollis und sogenannte Alpenrosen (Rhododendron), noch einpflanzen und bis zum Treiben kühl halten. Die Maiblumen kann derjenige, der im Besitze eines Gartens ist, selbst anziehen, man kann aber blühbare Keime bei jedem Blumenzwiebelhändler kaufen. Wer sie selbst anziehen will, muß so viele anpflanzen, daß alle 3 oder 4 Jahre 1/3 oder 1/4 zum Treiben ausgegraben werden kann. Es sind nur die kurzen dicken Keime blühbar, die spitzigen bringen Blätter.

Das Einpflanzen erfordert eine besondere Behandlung. Man schneidet die Wurzeln ganz kurz, so daß 8–10 Keime in einen Topf von 10–12 cm Weite gehen. Diese Töpfe füllt man zur Hälfte mit Moos, dann setzt man die dicht zusammenstehenden Keime darauf und füllt die Zwischenräume mit feiner Erde aus, die man durch Rütteln und Ziehen zwischen die Wurzeln bringt. Neue Wurzeln bilden diese Treibkeime nicht und die Erde dient bloß dazu, die vorhandenen alten Wurzeln fest und feucht zu halten. Die so fertiggestellten Töpfe stellt man dicht zusammen in das Freie, bis die Erde der Töpfe hart gefriert. Die Gärtner nehmen an, daß das Gefrieren der Treibpflanzen die Treibfähigkeit befördert. Ist das Wetter mehr trocken als naß, so decke man eine Schicht Moos über die Töpfe.

Man kann mit dem Treiben der Maiblumen schon Ende Oktober beginnen. Wer überhaupt vor oder bis Weihnachten blühende Blumen wünscht, kann auch einige Frühtulpen (Duc van Tholl) und Tazetten aus der Grube im Garten nehmen und im warmen Zimmer zu treiben beginnen. Die Behandlung der zu treibenden Blumenzwiebel werden wir im folgenden Monate kennen lernen. Pflanzen, welche im Keller durchwintert werden, wie Fuchsien und Hortensien, stellt man einstweilen in luftige Räume, in welchen es nicht gefriert. H. J.

Heinrich Heines Gedichte – ein Mittel gegen die Seekrankheit. Heines Werke finden wohl so viele Liebhaber, daß sie einer für die See bestimmten Reklame nicht bedürfen. Nachstehende Zeilen sollen ebensowenig Reklame für ein neues Heilmittel sein, sondern lediglich die Mittheilung einer Merkwürdigkeit, die den meisten nicht bekannt sein dürfte.

A. E. Freiherr von Nordenskjöld zählt gewiß zu den größten Seefahrern aller Zeiten; denn er hat nicht allein das Polarmeer befahren, um die „in sieben Sprachen schweigende“ Polarnatur zu erforschen, sondern auch bei der Entdeckung der „nordöstlichen Durchfahrt“ zum erstenmal Asien und Europa umschifft. Trotzdem ist er kein Seeheld; er ist wie wenig andere von dem bleichen Gespenste der Seekrankheit geplagt. T. M. Fries, Professor in Upsala, der Nordenskjöld auf einer seiner Expeditionen im Jahre 1868 begleitete, schrieb seiner Zeit darüber: „Wie kühl Nordenskjöld selbst dieses fatale Mißgeschick läßt, kann man am besten an der Art ersehen, wie er es zu bekämpfen gewohnt ist. Er sucht sich mit Humor darüber hinwegzuhelfen, und während der Nordpolexpedition vom Jahre 1868 waren sein bestes Elixir gegen die Seekrankheit – die Gedichte von Heinrich Heine.“ *

Auflösung der Domino-Patience auf S. 564:




Kleiner Briefkasten.

F. G. in St. Der Erfinder des Schraubendampfers ist der Deutsch-Oesterreicher Joseph Ressel. Näheres über denselben finden Sie in der „Gartenlaube“, Jahrgang 1863, Seite 124.

„Pechvogel“ in R… Die Einigkeit zwischen Eheleuten wird nach Alexius Pedemontanus’ „nützlichen und bewährten Secreten oder Künsten“ ganz einfach dadurch erhalten, daß der Mann ein Krähenherz von einem Männlein, die Frau ein Krähenherz von einem Weiblein bei sich trägt: „so leben sie alle Zeit in guter Einigkeit“. – Wie wenig muß dieses Mittel bis jetzt bekannt gewesen sein, nicht wahr?


Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 689. – Bilder vom Mittelmeer. An der Riviera. Von Woldemar Kaden. S. 694. Mit Abbildungen S. 692, 693, 694, 696 und 697. – Wie entstehen Moden? Von Cornelius Gurlitt. II. S. 698. – Lieder ohne Worte. Illustration. S. 701. – Ein deutsches Mädchen auf dem Kriegspfade. Von Dagobert von Gerhardt (Amyntor) (Schluß). S. 702. – Ferdinand Gregorovius, der Geschichtschreiber des mittelalterlichen Roms und Athens. S. 704. Mit Porträt S. 639. – Blätter und Blüthen: Die Jahnshöhle bei Giebichenstein. S. 707. Mit Abbildung S. 705. – Bibliotheken für Arbeiter. S. 707. – Das Zeitalter der Revolution. S. 707. – Hermann Langer †. Von Heinrich Pfeil. S. 707. – Zimmerpflanzen im Oktober. S. 708. – Heinrich Heines Gedichte – ein Mittel gegen die Seekrankheit. S. 708. – Auflösung der Domino-Patience auf S. 564. S. 708. – Kleiner Briefkasten. S. 708.


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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Siehe des Verf. Artikel „Gartenlaube“ Jahrgang 1884 Nr. 13.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Alphonse Daudet: Fromont jeune et Risler aîné, 1874 (dt. von Claire von Glümer: Fromont junior und Risler senior, 1887 Internet Archive)