Die Gartenlaube (1890)/Heft 4

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Halbheft 4.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Flammenzeichen.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Rojanow zog den Riemen seiner Flinte fester und deutete auf einen kleinen, halb verwachsenen Pfad, der ungefähr die Richtung einhielt, in welcher Fürstenstein lag. Er schlug ihn ohne weiteres ein, entschlossen, seine Führerrolle zu behaupten, denn das Abenteuer begann ihn zu reizen.

Seine Schutzbefohlene war allerdings schön genug, um ihm diese Begegnung interessant zu machen. Das reine, zarte Oval des Gesichtes, die hohe, klare Stirn, von mattschimmerndem blonden Haar umgeben, die Linien der Züge, das alles war von vollendetem Ebenmaße; aber es lag etwas Erkältendes in der strengen Regelmäßigkeit dieser Formen, das durch einen Zug energischer Willenskraft, der deutlich hervortrat, eher gesteigert als gemildert wurde. Die junge Dame konnte höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein, aber sie besaß nichts von jenem unsagbaren Reiz, der diesem Alter eigen zu sein pflegt, nichts von jener Heiterkeit und Unbefangenheit, die ein junges, noch von keinem Schatten des Lebens berührtes Wesen so lieblich erscheinen läßt wie eine Blume, die sich eben erst dem Lichte erschließt. Die großen blauen Augen blickten so kalt und ernst, als hätte sie nie ein Mädchentraum verklärt, und derselbe stolze, kalte Ernst verrieth sich in der Haltung und der ganzen Erscheinung. Es ging wie ein kühler Hauch aus von dieser hohen, schlanken Gestalt, deren einfache, aber gewählte Kleidung zeigte, daß sie den höheren Ständen angehörte. – Rojanow hatte Zeit und Muße genug, sie zu betrachten, während er, bald vor, bald hinter ihr schreitend, die oft tief niederhängenden Zweige zurückbog oder vor einer Unebenheit des Bodens warnte. Bequem war dieser schmale Waldpfad allerdings nicht und für die Toilette einer Dame erwies er sich auch nicht vortheilhaft. Ihr Kleid blieb mehr als einmal an dem Gestrüppe hängen, der Schleier ihres Hutes wurde bei jeder Gelegenheit von den Gebüschen erfaßt und festgehalten, während der moosige Boden sich stellenweise als sehr feucht und sumpfig zeigte. Das wurde zwar alles mit vollster Gelassenheit ertragen, aber Hartmut fühlte es doch, daß er mit seiner Führerschaft keine besondere Ehre einlegte.

„Ich bedaure, Ihnen einen so unbequemen Weg zumuthen zu müssen, mein Fräulein,“ sagte er artig. „Ich fürchte wirklich, Sie zu ermüden; aber wir sind mitten im tiefsten Walde, und da hat man überhaupt keine Wahl.“

„Ich ermüde nicht so leicht,“ war die ruhige Antwort, „und ich frage wenig nach den Unbequemlichkeiten eines Weges, wenn er nur zum Ziele führt.“

Die Bemerkung klang etwas ungewöhnlich in dem Munde eines jungen Mädchens; Rojanow schien das auch zu finden und er lächelte ein wenig spöttisch, als er wiederholte:

„Wenn er nur zum Ziele führt! Ganz recht, das ist auch meine Ansicht; aber Damen

Fastnachtssingen in der Neumark.
Zeichnung von E. Henseler.

[102] pflegen gewöhnlich anderer Meinung zu sein. Sie wollen über alle Unebenheiten sanft hinweg geleitet und getragen sein.“

„Alle? Es giebt auch Frauen , die es vorziehen, allein zu gehen, ohne sich wie ein Kind leiten und führen zu lassen.“

„Vielleicht als Ausnahme! Ich preise den Zufall, der mir das Glück zutheil werden läßt, eine so reizende Ausnahme –“

Hartmut war im Begriffe, ein sehr keckes Kompliment auszusprechen, verstummte aber plötzlich, denn die blauen Augen richteten sich mit so strafendem Ausdrucke auf ihn, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarb.

In diesem Augenblick verfing sich der Schleier der jungen Dame wieder in ein dorniges Gezweige, das ihn unerbittlich festhielt. Sie blieb stehen, aber noch hatte ihr Begleiter kaum die Hand ausgestreckt, um das zarte Gewebe zu befreien, als sie es mit einer raschen Wendung des Kopfes losriß. Der Schleier blieb in Fetzen an den Zweigen hängen, aber die Hilfe war vollständig überflüssig geworden.

Rojanow biß sich auf die Lippen, dies Abenteuer entwickelte sich ganz anders, als er erwartet hatte. Er hatte geglaubt, bei einem jungen schüchternen Wesen, das sich seinem Schutze anvertraute, den Liebenswürdigen spielen zu können, in jener kecken, siegesgewissen Art, die ihm den Frauen gegenüber zur zweiten Natur geworden war, und nun wurde er gleich bei dem ersten Versuche durch einen bloßen Blick in seine Schranken zurückgewiesen, man machte ihm sehr deutlich klar, daß er hier nur der Führer zu sein hatte und nichts anderes. Wer und was war denn eigentlich dies Mädchen, das mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren schon die vollendete Sicherheit einer großen Dame zeigte und sich so unnahbar zu machen wußte? Er beschloß, um jeden Preis darüber ins klare zu kommen.

Jetzt endete der schmale Pfad, sie traten auf eine Lichtung hinaus und jenseit derselben begann wieder der Wald. Es war für jemand, der noch so wenig mit der Gegend vertraut war wie Hartmut, nicht leicht, hier den Führer zu machen, aber er hätte jetzt vollends nicht seine Unkenntniß eingestanden. Anscheinend mit voller Sicherheit hielt er die einmal eingeschlagene Richtung fest und wählte einen der Holzwege, die den Forst durchkreuzten. Endlich mußte man doch an eine Stelle gelangen, die einen freieren Ausblick bot und es möglich machte, sich zurechtzufinden.

Der breitere Weg gestattete jetzt ein ruhiges Nebeneinandergehen, und Hartmut benutzte das sofort, um die Unterhaltung anzuknüpfen, die bisher, da man mit fortwährenden Hindernissen zu kämpfen hatte, nicht möglich gewesen war.

„Ich habe bisher versäumt, mich Ihnen vorzustellen, mein gnädiges Fräulein,“ begann er. „Mein Name ist Rojanow, ich bin augenblicklich in Rodeck als Gast des Fürsten Adelsberg, der wohl den Vorzug genießt, Ihr Nachbar zu sein, da Sie in Fürstenstein wohnen?“

„Nein, ich bin gleichfalls nur als Gast dort,“ erklärte die junge Dame. Die fürstliche Nachbarschaft schien ihr ebenso gleichgültig zu sein wie der Name ihres Begleiters, jedenfalls fand sie es nicht für nöthig, nun auch den ihrigen zu nennen, sondern nahm die Vorstellung mit jener stolzen, vornehmen Bewegung des Hauptes entgegen, die ihr eigen zu sein schien.

„Ah, dann leben Sie vermuthlich in der Residenz und haben das schöne Herbstwetter zu einem Ausfluge benutzt?“

„Ja wohl!“

Das klang so einsilbig und abweisend wie nur möglich, aber Rojanow war nicht der Mann. sich abweisen zu lassen. Er war es gewohnt, daß seine Persönlichkeit sich überall Bedeutung und Wichtigkeit erzwang, zumal bei den Frauen, und empfand es fast als eine Beleidigung, daß dieser oft erprobte Eindruck hier versagte. Aber das gerade reizte ihn, ein Gespräch zu erzwingen, das offenbar nicht gewünscht wurde.

„Sind Sie von Ihrem Aufenthalte in Fürstenstein befriedigt?“ hob er wieder an. „Ich war noch nicht dort und habe das Schloß nur aus der Ferne gesehen, aber es scheint die ganze Umgegend zu beherrschen. Es gehört freilich ein eigener Geschmack dazu, um diese Landschaft schön zu finden!“

„Und dieser Geschmack ist nicht der Ihrige, wie es scheint.“

„Wenigstens liebe ich nicht die Einförmigkeit, und hier hat man ja überall denselben Blick. Wald und Wald und nichts als Wald – es ist bisweilen zum Verzweifeln!“

Es klang wie verhaltener Groll in den Worten, die armen deutschen Wälder mußten es entgelten, daß sie mit ihrem Rauschen und Wehen den Zurückgekehrten peinigten, sodaß er schon einige Male auf dem Punkte gestanden hatte, ihnen zu entfliehen. Er konnte es nicht ertragen, dies ernste, einförmige Lied aus alter Zeit, das die Wipfel ihm zuflüsterten. Seine Begleiterin hörte freilich nur den Spott in der Bemerkung.

„Sie sind ein Ausländer, Herr Rojanow?“ fragte sie ruhig.

Ueber Hartmuts Stirn flog wieder der finstere Schatten, einen Augenblick lang zögerte er mit der Antwort, dann erwiderte er kalt:

„Ja. mein gnädiges Fräulein.“

„Ich dachte es mir, Ihr Name wie Ihr Aussehen verräth es, und da ist auch ihr Urtheil begreiflich.“

„Jedenfalls ist es ein unbefangenes Urtheil,“ sagte Hartmut, gereizt durch den Vorwurf, der in den letzten Worten lag. „Ich habe ziemlich viel von der Welt gesehen und kehre jetzt eben aus dem Orient zurück. Wer den Ocean kennt in seiner strahlenden, durchsichtigen Bläue oder seinem mächtigen Sturmestoben, wer den Zauber der Tropenwelt genossen und sich an ihrer Farbengluth und ihrem Lichte berauscht hat, dem erscheinen sie doch nur kalt und farblos, diese ewig grünen Waldestiefen, diese ganzen deutsehen Landschaften überhaupt!“

Das mitleidige Achselzucken, mit dem er schloß, schien seine Begleiterin endlich aus ihrer kühlen Gelassenheit zu bringen. Es flog wie ein Ausdruck des Unwillens über ihre Züge und in ihrer Stimme verrieth sich eine gewisse Erregung, als sie antwortete:

„Das ist wohl einzig und allein Sache des Geschmackes. Ich kenne, wenn auch nicht den Orient, doch den Süden Europas; diese sonnendurchglühten, farbenleuchtenden Landschaften berauschen im Anfange – ganz recht – und dann ermüden sie. Es fehlt ihnen die Frische, die Kraft, man kann darin wohl träumen und genießen, aber nicht leben und schaffen. Doch wozu uns darüber streiten, Sie verstehen eben unsere deutschen Wälder nicht.“

Hartmut lächelte mit unverkennbarer Genugthuung. Es war ihm nun doch gelungen, die eisige Zurückhaltung seiner Genossin zu durchbrechen. All seine Liebenswürdigkeit war wirkungslos an ihr abgeglitten, aber er sah jetzt, daß es doch irgend etwas gab, was Leben in diese schönen kalten Züge rufen konnte, und fand einen eigenen Reiz darin, es hervorzurufen. Wenn er dabei verletzte – gleichviel, es machte ihm Vergnügen.

„Das klingt wie ein Vorwurf, den ich leider hinnehmen muß,“ sagte er mit unverhehltem Spott. „Möglich, daß mir dies Verständniß fehlt, ich bin eben gewohnt, einen anderen Maßstab an die Natur wie an die Menschen zu legen. Leben und schaffen? Es kommt nur darauf an, was man so nennt. Ich habe jahrelang in Paris gelebt, diesem mächtigen, blendenden Mittelpunkte der Civilisation, wo das Leben in tausend Strömen wogt und fluthet. Wer es gewohnt ist, sich von diesen brausenden Wogen tragen zu lassen, der kann sich nicht mehr in enge, kleinliche Verhältnisse finden, in all die Vorurtheile und Pedanterien, in das ganze Philisterthum, das hier in diesem braven Deutschland ‚Leben‘ genannt wird.“

Der verächtliche Nachdruck, den er auf die letzten Worte legte, hatte etwas Herausforderndes und erreichte auch seinen Zweck. seine Begleiterin blieb plötzlich stehen und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, aber aus den bisher so kalten blauen Augen sprühte ein Blitz flammenden Zornes. Sie schien eine heftige Entgegnung auf den Lippen zu haben, bezwang sich aber. Sie richtete sich nur zu ihrer vollen Höhe empor und ihre Antwort klang in eisig stolzer Abwehr:

„Sie vergessen, mein Herr, daß sie zu einer Deutschen reden – ich erinnere Sie daran!“

Hartmuts Stirn färbte sich dunkelroth bei dieser herben Zurechtweisung, und sie galt doch nur dem Fremden, dem Ausländer, der die Rücksichten des Gastes vergaß. Wenn dies Mädchen ahnte, wer so zu ihr sprach, wenn sie wüßte – eine heiße, brennende Scham wallte plötzlich in ihm auf, doch er war Weltmann genug, sich augenblicklich zu fassen.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte er mit einer leichten, halb spöttischen Verneigung. „Ich glaubte, wir tauschten nur allgemeine Ansichten aus, bei denen das Recht der freien Meinung gewahrt bleibt. Ich bedaure, Sie verletzt zu haben, mein Fräulein.“

[103] Eine unnachahmlich stolze und verächtliche Bewegung ihres Hauptes zeigte ihm, daß er gar nicht die Macht besaß, sie zu verletzen, sie zuckte kaum merklich die Achseln.

„Ich will Ihre Meinung durchaus nicht beeinflussen, aber jedenfalls sind unsere Standpunkte in dieser Sache so verschieden, daß wir wohl besser thun, das Gespräch abzubrechen.“

Rojanow bezeigte gleichfalls keine Lust, es fortzusetzen. Jetzt wußte er freilich, daß diese kalten blauen Augen aufflammen konnten, er hatte es ja gewollt und erzwungen, aber die Sache endete doch anders, als er gedacht hatte. Er streifte mit einem halb feindseligen Blick die schlanke Gestalt an seiner Seite, und dann verloren seine Augen sich wieder grollend in die eben noch so bitter geschmähten grünen Tiefen des Waldes.

Sie hatte doch etwas seltsam Bestrickendes, diese Waldeinsamkeit, die der erste leise Hauch des Herbstes durchwehte, jener Hauch, der noch kein Entblättern und Verwelken bringt, sondern die Landschaft nur in seine tieferen Farben taucht. Nur hier und da schimmerte es goldig und röthlich aus den Gebüschen hervor, aber die Waldgründe ruhten noch frisch und duftig im grünen Dämmerlicht. Unter den Wipfeln der hundertjährigen Bäume, die sich leise schwankend zu einander neigten, lagerten tiefe, kühle Schatten, dann wieder that sich eine Waldwiese auf, ganz überfluthet von dem Sonnengolde, das leuchtend und schimmernd auf all den Blumenkelchen lag, die sich hier noch dem Lichte öffneten, und bisweilen blinkte in der Ferne der Spiegel eines stillen, kleinen Gewässers auf, das einsam, wie verloren mitten im tiefen Forste lag. Dazu tiefe Stille ringsum, nur das leise, leise Rauschen der mächtigen Wipfel und das Summen und Singen der tausend Insekten, die auf den Sonnenstrahlen zu schweben schienen, all jene geheimnißvollen Stimmen, die sich nur in der Einsamkeit regen, das süße, träumerische Lied des Waldes. Er lockte und winkte unwiderstehlich mit dieser Melodie, mit seinen grünen Tiefen, die sich endlos ausdehnten, immer weiter und weiter, als wollten sie die beiden, die einmal in ihren Bann gerathen waren, darin festhalten für immer.

Da tauchte plötzlich ein ganz unerwartetes Hinderniß vor ihnen auf. Von einer dicht bewachsenen Anhöhe rauschte und schäumte es hernieder, ein breiter Waldbach suchte sich mit lustigem Ungestüm seinen Weg zwischen Gebüschen und Felsgestein. Rojanow hemmte seinen Schritt und musterte mit einem raschen Blick die Umgebung, wo nirgends ein Steg oder ein Uebergang zu entdecken war, dann wandte er sich zu seiner Gefährtin.

„Ich fürchte, wir kommen hier in eine unangenehme Lage, der Bach verlegt uns vollständig den Weg. Er ist sonst mit einiger Vorsicht leicht zu überschreiten, die moosigen Steine da auf dem Grunde bilden eine ziemlich bequeme Brücke, aber der gestrige Regen hat sie vollständig überfluthet.“

Die junge Dame war gleichfalls stehen geblieben und schien nach irgend einem Uebergange zu suchen.

„Sollte es nicht dort unten möglich sein?“ fragte sie, den Bach abwärts deutend.

„Nein, dort ist das Wasser noch tiefer und reißender, wir müssen hier an dieser Stelle hindurch. Selbstverstandlich nicht Sie, mein Fräulein, Sie erlauben mir wohl, daß ich Sie hinübertrage.“

Das Anerbieten wurde mit voller Artigkeit und Zurückhaltung gestellt, aber die Augen Rojanows blitzten triumphirend auf dabei. Jetzt rächte ihn der Zufall an dieser Unnahbaren, die nicht einmal seine Hilfe dulden wollte, um ihren Schleier aus der Dornhecke zu befreien. Jetzt mußte sie sich dieser Hilfe bedingungslos anvertrauen, auf seinen Armen mußte sie sich hinübertragen lassen an das andere Ufer, es blieb ihr keine Wahl. Er trat auf sie zu, als sei die erbetene Erlaubniß selbstverständlich, aber sie wich zurück.

„Ich danke, Herr Rojanow.“

Hartmut lächelte mit einer Ironie, die er sich gar nicht Mühe gab zu verbergen. Jetzt war er Herr der Lage und dachte es zu bleiben.

„Befehlen Sie, daß wir umkehren?“ fragte er. „Es ist ein Umweg von mehr als einer Stunde und hier sind wir in wenigen Minuten drüben. Sie dürfen sich unbesorgt meinen Armen anvertrauen, der Uebergang ist ganz ungefährlich.“

„Das glaube ich auch,“ war die ruhige Antwort, „und deshalb werde ich ihn allein versuchen.“

„Allein? Das ist unmöglich, mein Fräulein!“

„Durch einen Waldbach zu schreiten? Ich halte das für keine besondere Heldenthat.“

„Aber das Wasser ist tiefer als Sie glauben, Sie werden vollständig durchnäßt und überdies es ist wirklich unmöglich.“

„Ich bin nicht verweichlicht und erkälte mich nicht so leicht. Bitte, gehen Sie voran, ich werde folgen.“

Das war deutlich genug und klang so befehlend, daß ein Widerspruch nicht möglich war. Hartmut verneigte sich schweigend und schritt durch das Wasser, das seinen hohen Jagdstiefeln allerdings nicht viel anhaben konnte. Es war in der That ziemlich tief und ziemlich reißend, so daß er Mühe hatte, auf den Steinen festen Fuß zu fassen. Um seine Lippen spielte ein leiser Hohn, als er jetzt drüben stand und seine „Schutzbefohlene“ erwartete, die so hochmüthig jeden Schutz abwies. Mochte sie nun allein den Uebergang wagen, das wilde Wasser würde ihr schon Angst machen, sie konnte sich nicht dagegen behaupten und mußte ihn schließlich doch zu Hilfe rufen, trotz all ihres Sträubens.

Sie war ihm ohne Zögern gefolgt und stand bereits im Wasser, gegen welches die ebenso zierlichen als dünnen Stiefelchen nicht den geringsten Schutz gewährten und das überdies empfindlich kalt war. Die junge Dame schien das aber kaum zu empfinden, mit beiden Händen ihr Kleid aufraffend, schritt sie vorsichtig und langsam, aber vollkommen sicher vorwärts bis zur Mitte des Baches.

Hier aber, inmitten der schäumenden, reißenden Fluth gehörte der feste Tritt eines Mannes dazu, um stand zu halten, der schmale, zarte Frauenfuß suchte vergebens nach einem Stützpunkte auf den glatten Steinen. Die hohen Absätze der Stiefel waren dabei ebenso hinderlich wie das Kleid, dessen Saum von den Wellen erfaßt wurde. Die muthige Spaziergängerin verlor augenscheinlich die bisherige Sicherheit, sie strauchelte einige Male, schwankte und blieb endlich stehen; dabei flog ein rathloser Blick nach dem Ufer hinüber, wo Rojanow stand, entschlossen, nicht eher die Hand zu rühren, als bis sie geängstigt um Hilfe rufen werde.

Sie mochte diese Absicht in seinen Augen lesen, und das schien ihr auf einmal die versagende Kraft zurückzugeben. Einen Augenblick lang stand sie unbeweglich,, aber jener energische Ausdruck in ihren Zügen trat dabei in voller Schärfe hervor: dann glitt sie plötzlich von den überflutheten Steinen, die trotzdem noch eine Art Uebergang bildeten, in das fußtiefe Wasser, wo sie nun allerdings auf dem Grunde des Baches sofort festen Boden gewann und unbeirrt dem Ufer zuschreiten konnte. Hier ergriff sie statt der dargebotenen Hand Hartmuts einen Baumast und schwang sich auf das Trockene.

Sie selbst war freilich stark durchnäßt, das Wasser rieselte von ihrem Kleide, das sie ebenso rücksichtslos preisgegeben hatte wie die Fußbekleidung, aber sie wandte sich mit voller Gelassenheit an ihren Begleiter:

„Wollen wir unseren Weg nicht fortsetzen? Es kann nicht mehr weit bis Fürstenstein sein.“

Hartmut erwiderte keine Silbe, aber es wallte etwas wie Haß in ihm auf gegen diese Frau, die lieber in die kalte Fluth glitt, ehe sie sich seinen Armen anvertraute. Der stolze, verwöhnte Mann, dessen blendende Eigenschaften ihm alle Herzen gewannen, fühlte um so schärfer die Demüthigung, die ihm hier aufgezwungen wurde; er war nahe dran, diese ganze Begegnung zu verwünschen.

Sie gingen weiter; Rojanow warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den nassen, schweren Saum des Gewandes, das neben ihm den Boden streifte und dort eine feuchte Spur zurückließ; im übrigen aber wandte er seine ganze Aufmerksamkeit der Umgebung zu, die allerdings jetzt etwas lichter zu werden schien. Dieses Waldesdickicht mußte doch endlich einmal ein Ende nehmen!

Seine Voraussetzung erfüllte sich in der That: er hatte Glück gehabt mit seiner Führerschaft, die eigentlich nur aufs Gerathewohl eingeschlagene Richtung war die rechte gewesen. Nach ungefähr zehn Minuten standen sie auf einer kleinen Anhöhe, die einen freien Ueberblick gewährte. Dort drüben, über einem Meer von Baumwipfeln, tauchten die Thürme von Fürstenstein auf, während sich ein ziemlich breiter Fahrweg, den man deutlich mit den Augen verfolgen konnte, bis an den Fuß des Schloßberges schlängelte.

[104]

Feierabend.
Nach dem Gemälde von F. Defregger.

[105] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [106] „Dort ist Fürstenstein!“ sagte Hartmut, indem er sich zum erstenmal wieder an seine Begleiterin wandte. „Es ist freilich noch etwa eine halbe Stunde entfernt.“

„O, das macht nichts aus,“ unterbrach sie ihn rasch. „Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Führung; aber der Weg ist ja jetzt nicht mehr zu verfehlen, und da möchte ich Sie nicht weiter bemühen.“

„Wie Sie befehlen, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Rojanow kalt. „Wenn Sie Ihrem Führer hier den Abschied ertheilen wollen, so wird er sich Ihnen nicht ferner aufdrängen.“

Der Vorwurf wurde verstanden, die junge Dame mochte es wohl selbst fühlen, daß ein Mann, der sie stundenlang durch den Wald geführt hatte, doch wohl eine andere Verabschiedung beanspruchen konnte, wenn sie es auch für nöthig fand, ihn in gemessener Entfernung zu halten.

„Ich habe Sie wirklich schon allzu lange in Anspruch genommen,“ entgegnete sie einlenkend. „Aber da Sie sich mir vorgestellt haben, Herr Rojanow, so muß ich Ihnen zum Abschiede wohl auch meinen Namen nennen – Adelheid von Wallmoden.“

Hartmut zuckte leise zusammen und eine fliegende Röthe färbte sein Antlitz, während er langsam wiederholte:

„Wallmoden?“

„Ist Ihnen der Name bekannt?“

„Ich glaube ihn früher einmal gehört zu haben; aber das war in – in Norddeutschland.“

„Sehr wahrscheinlich, denn das ist meine und meines Gatten Heimath.“

In Rojanows Zügen malte sich unverkennbare Ueberraschung, als das vermeintliche junge Mädchen sich ihm als Frau zu erkennen gab, aber er verneigte sich mit aller Artigkeit.

„Dann bitte ich um Verzeihung, gnädige Frau, wegen der fälschlichen Anrede. Ich konnte nicht ahnen, daß Sie vermählt seien; jedenfalls habe ich nicht die Ehre, Ihren Herrn Gemahl auch nur dem Namen nach zu kennen, denn der Herr, der mir damals genannt wurde, stand schon in vorgerückten Jahren. Er gehörte der Diplomatie an und hieß, wenn ich nicht irre, Herbert von Wallmoden.“

„Ganz recht, mein Gemahl ist gegenwärtig als Gesandter an dem hiesigen Hofe beglaubigt. Doch er wird schon in Sorge sein wegen meines Ausbleibens, ich darf nicht länger säumen. Noch einmal meinen Dank, Herr Rojanow!“ Damit neigte die junge Frau flüchtig grüßend das Haupt und schlug den abwärts führenden Weg ein.

Hartmut stand unbeweglich und sah ihr nach; aber es lag eine fahle Blässe auf seinem Antlitz. Also doch. Er hatte kaum den Fuß auf deutschen Boden gesetzt, da begegnete ihm schon ein Name und eine Beziehung aus alter Zeit, die ihm mindestens peinlich war.

Herbert von Wallmoden, der Bruder der Frau von Eschenhagen, der Vormund Willibalds und der Jugendfreund – Rojanow brach jäh und plötzlich ab in der Gedankenreihe, denn es senkte sich wie ein scharfer, schmerzender Stachel in seine Brust. Als wollte er etwas von sich werfen, so richtete er sich empor, und wieder zuckte der herbe, verletzende Spott um seine Lippen, der ihm so meisterhaft zu Gebote stand.

„Er hat wenigstens Carriere gemacht, der Onkel Wallmoden,“ murmelte er halblaut, „und Glück scheint er auch gehabt zu haben. Er muß längst schon graue Haare tragen und erobert damit noch eine junge schöne Frau. Freilich, ein Gesandter ist unter allen Umständen eine Partie, und Adelheid von Wallmoden ist zur Excellenz geboren. Also daher die kühle Vornehmheit, die es gar nicht der Mühe werth hält, sich zu anderen Sterblichen herabzulassen! Vermuthlich die diplomatische Schule des Herrn Gemahls, der seine Auserwählte eigens für diese Stellung erzogen hat! Nun, das ist ihm ja trefflich gelungen!“

Seine Augen folgten noch immer der jungen Frau, die bereits am Fuß der Anhöhe war, aber jetzt grub sich eine tiefe Falte in seine Stirn.

„Wenn ich hier irgendwo mit Wallmoden zusammentreffe, und das wird vielleicht nicht zu vermeiden sein, so erkennt er mich zweifellos. Wenn er ihr dann die Wahrheit mittheilt, wenn sie erfährt, was geschehen ist, und mich wieder anschaut mit diesem Verachtungsblick“ – er stampfte in wild ausbrechender Wuth mit dem Fuße und lachte dann bitter auf.

„Pah, was kümmert das mich! Was weiß dies blonde, blauäugige Geschlecht mit dem trägen, kalten Blute von dem glühenden Freiheitsdrange, von dem Sturm der Leidenschaften, vom Leben überhaupt! Mögen sie den Stab über mich brechen! Ich scheue diese Begegnung nicht – ich werde ihr stand zu halten wissen.“

Und mit stolzem Trotze den Kopf zurückwerfend, wandte er der schlanken Frauengestalt, die noch auf dem Fahrwege sichtbar war, den Rücken und schritt wieder in den Wald hinein.




Im Hause des Oberforstmeisters hatte sich das geplante Familienfest, zu dem Wallmoden und seine Gattin eigens eingetroffen waren, die Verlobung des Majoratsherrn von Burgsdorf mit Antonie von Schönau, programmmäßig vollzogen.

Das junge Paar wußte ja längst, daß es für einander bestimmt war, und war auch vollkommen einverstanden damit. Willibald huldigte als guter Sohn noch immer der Ansicht, daß die Wahl seiner künftigen Lebenshrgährtin einzig Sache seiner Mutter sei, und hatte geduldig gewartet, bis sie es für gut fand, ihn zu verloben; aber es war ihm doch sehr angenehm, daß er gerade Bäschen Toni heirathen sollte. Er kannte sie seit seinen Kinderjahren, sie paßte so vortrefflich zu ihm in all ihren Neigungen und, was die Hauptsache war, sie machte gar keine Ansprüche an die Romantik einer Verlobung, die er beim besten Willen nicht hätte befriedigen können. Toni ihrerseits bewies wirklich den Geschmack, den Frau Regine ihr zutraute. Willy gefiel ihr recht gut, und die Aussicht, Herrin auf dem stattlichen Burgsdorf zu werden, gefiel ihr noch besser – kurz, es war alles vollkommen in Ordnung.

Das Brautpaar befand sich augenblicklich im Empfangszimmer, wo der Flügel stand, und Antonie unterhielt ihren Verlobten mit ihrem Klavierspiel, auf Veranlassung des Vaters, denn sie selbst hielt die Musik für eine sehr langweilige und überflüssige Sache. Aber der Oberforstmeister hatte darauf bestanden, seine Tochter solle zeigen, daß sie nicht nur wirthschaftlich erzogen sei, sondern auch in der Pension etwas gelernt habe. Er ging mit seiner Schwägerin draußen auf der kleinen Terrasse auf und nieder, ursprünglich mit der Absicht zuzuhören; statt dessen zankten sie sich aber, obgleich sie von einem ganz friedlichen Gespräch über das Glück ihrer Kinder ausgegangen waren, und diesmal schien der Streit sehr heftiger Natur zu sein.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich von Dir denken soll, Moritz,“ sagte Frau von Eschenhagen mit hochrothem Gesicht. „Du scheinst gar keine Empfindung für das unerhört Unpassende dieser Bekanntschaft zu haben. Wie ich Dich frage, wer denn diese Jugendfreundin Tonis, die in Waldhofen erwartet wird, eigentlich ist, giebst Du mir mit der ruhigsten Miene zur Antwort, sie sei Sängerin und seit kurzem am Hoftheater angestellt! Eine Komödiantin! Eine Theaterprinzessin! Eins von jenen leichtsinnigen Geschöpfen –“

„Aber Regine, so ereifere Dich doch nicht so!“ unterbrach sie der Oberforstmeister ärgerlich. „Du thust ja, als ob das arme Ding schan mit Haut und Haar verloren wäre, weil es auf der Bühne aufgetreten ist!“

„Das ist sie auch!“ eiferte Regine. „Wer einmal in dies Sodom und Gomorrha gerathen ist, der ist nicht mehr zu retten, der geht zu Grunde darin.“

„Recht schmeichelhaft für unser Hoftheater!“ meinte Schönau trocken. „Uebrigens gehen wir doch allesammt hinein.“

„Als Zuschauer! Das ist etwas anderes, und ich bin überhaupt immer dagegen gewesen. Willy hat nur sehr selten in das Theater gehen dürfen und nur in meiner Begleitung, und während ich meine Mutterpflicht in gewissenhafter Weise erfülle, meinen Sohn behüte vor jeder Berührung mit solchen Kreisen, giebst Du seine künftige Frau ihrem vergiftenden Einflusse preis. Es ist himmelschreiend!“

Sie erhob die Stimme sehr laut, theils aus Entrüstung, zum Theil aber auch, um sich verständlich zu machen, denn die musikalische Produktion in dem Zimmer, dessen Glasthüren weit offen standen, war etwas lärmender Natur. Die junge Dame hatte einen ziemlich harten Anschlag und ihre Vortragsweise erinnerte einigermaßen an die Arbeit einer Axt in hartem Holze. Ihre Zuhörer hatten zwar alle drei starke Nerven, aber ein leises Gespräch wurde dabei doch zur Unmöglichkeit.

[107] „So laß Dir die Sache doch erst erklären,“ beschwichtigte der Oberforstmeister. „Ich habe Dir ja schon gesagt, daß es sich hier um einen Ausnahmefall handelt. Marietta Volkmar ist die Enkelin unseres alten, braven Doktors in Waldhofen. Er hatte das Unglück, seinen Sohn in der Blüthe des Lebens zu verlieren, die junge Witwe folgte ihrem Manne schon im nächsten Jahre, und das Kind, die kleine Waise, kam zu dem Großvater. Das war gerade, als ich vor zehn Jahren nach Fürstenstein versetzt wurde. Doktor Volkmar wurde mein Hausarzt, seine Enkelin die Spielgefährtin meiner Kinder, und weil es mit der Schule in Waldhofen sehr schwach bestellt war, bot ich ihm an, die Kleine an dem Unterricht meiner Kinder theilnehmen zu lassen. Daher schreibt sich diese Jugendfreundschaft. Später, als Toni noch auf zwei Jahre in die Pension und Marietta zu ihrer musikalischen Ausbildung in die Stadt kam, hörte der tägliche Verkehr natürlich auf, aber Marietta besucht uns regelmäßig, wenn sie in den Ferien zu ihrem Großvater kommt, und ich sehe nicht ein, weshalb ich das verbieten soll, so lange das Mädchen brav und ordentlich bleibt.“

Frau von Eschenhagen hatte der Auseinandersetzung zugehört, ohne ihre strenge Richtermiene fahren zu lassen, und jetzt lachte sie spöttisch auf.

„Brav und ordentlich beim Theater! Man weiß ja, wie es da zugeht; aber Du scheinst das ebenso leicht zu nehmen wie dieser Doktor Volkmar, der so ehrwürdig aussieht mit seinen weißen Haaren und es zuläßt, daß seine Enkelin, daß eine junge, ihm anvertraute Seele den Weg des Verderbens wandelt.“

Herr von Schönau machte eine ungeduldige Bewegung.

„Regine, Du bist sonst eine vernünftige Frau, aber in diesem Punkte hast Du nie Vernunft annehmen wollen. Das Theater und alles, was dazu gehört, war bei Dir von jeher in Acht und Bann gethan. Dem Doktor ist der Entschluß nicht leicht geworden, das weiß ich, und wenn man wie wir im warmen Neste sitzt und seine Kinder reichlich versorgen kann, soll man nicht so ohne weiteres den Stab brechen über andere Eltern, die sich mit bitteren Sorgen herumschlagen. Volkmar plagt sich mit seinen siebzig Jahren noch Tag und Nacht, aber die Praxis bringt ihm wenig ein, denn unsere Gegend ist arm, und nach seinem Tode bleibt Marietta ganz mittellos zurück.

„So hätte er sie Erzieherin oder Gesellschafterin werden lassen sollen, das ist ein anständiges Brot.“

„Aber ein Brot, daß Gott erbarm! Man weiß es ja, wie die armen Dinger behandelt und ausgenutzt werden. Wenn ich ein Kind, das mir ans Herz gewachsen ist, dem Lose preisgeben soll, und es wird mir dann von allen Seiten gesagt, daß das Mädchen Gold in der Kehle hat und eine glänzende Zukunft ihr gewiß ist, dann lasse ich sie auch zur Bühne gehen, darauf verlaß Dich.“

Dies Geständniß schlug dem Fasse den Boden aus. Frau Regine stand einen Augenblick ganz starr vor Schrecken, dann sagte sie feierlich:

„Moritz – mich schaudert’s vor Dir!“

„Meinetwegen! Wenn es Dir Vergnügen macht, so laß Dich’s schaudern! Aber wenn Marietta wie sonst nach Fürstenstein kommt, so werde ich sie nicht zurückweisen, und ich habe auch nichts dagegen, wenn Toni zu ihr nach Waldhofen geht. Punktum!“

Herr von Schönau schrie gleichfalls ziemlich laut, denn seine Tochter schlug jetzt auf die Tasten, daß die Fensterscheiben klirrten und die Saiten des Flügels in ernstliche Gefahr geriethen. Der Oberforstmeister beachtete das freilich in der Hitze des Streites so wenig wie seine Schwägerin, die jetzt mit voller Schärfe erwiderte:

„Nun, dann ist es wenigstens ein Glück, daß Toni bald heirathet. Dann hat diese Freundschaft mit der Theaterprinzessin ein Ende, darauf gebe ich Dir mein Wort. In unserem ehrbaren Burgsdorf werden solche Gäste nicht geduldet, und Willy wird seiner Frau auch den Briefwechsel nicht gestatten, der jetzt in voller Blüthe zu stehen scheint.“

„Das heißt, Du wirst ihn nicht gestatten,“ spottete der Oberforstmeister. „Willy hat ja überhaupt nichts zu verbieten oder zu erlauben, der ist nur der gehorsame Diener seiner Frau Mama. Es ist eigentlich unverantwortlich, wie Du den Jungen, der doch nun Bräutigam ist und bald Ehemann werden soll, noch immer unter der Fuchtel hast.“

Frau von Eschenhagen richtete sich beleidigt auf.

„Ich glaube, ich bin mir meiner Verantwortlichkeit mehr bewußt als Du. Willst Du mir vielleicht einen Vorwurf daraus machen, daß ich meinen Sohn in kindlicher Ehrfurcht und Liebe erzogen habe?“

„Ach was, es giebt einen Punkt, wo die Liebe aufhört und das Maltraitiren anfängt! Du hast den Willy schon ganz dumm gemacht mit Deiner ewigen Bevormundung, nicht einmal den Heirathsantrag durfte er auf eigene Hand machen. Als Dir die Geschichte zu lange dauerte, fuhrst Du wie gewöhnlich dazwischen. ‚Wozu denn die Umstände, Kinder? Ihr sollt Euch haben und wollt Euch haben, die Eltern sind einverstanden, meinen Segen habt Ihr, also gebt Euch einen Kuß, dann ist die Geschichte abgemacht!‘ Das ist Dein Standpunkt. Ich habe auch kindliche Ehrfurcht vor meinen Eltern gehegt, wenn sie mir aber bei meiner Brautwerbung so dazwischen gekommen wären, dann hätten sie etwas sehr Unkindliches zu hören bekommen. Und der Junge, der Willy, nahm das ganz ruhig hin; ich glaube, er war noch obendrein froh, daß er seiner Braut keine Erklärung zu machen brauchte.“

Die Erregung der beiden war wieder bis zum Siedepunkte gestiegen und es war ein Glück, daß der musikalische Lärm drinnen sich jetzt so steigerte, daß man sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte. Fräulein Antonie hatte wenigstens Kraft in den Händen und schien dies für die Hauptsache zu halten, ihr Spiel klang genau so, als ob ein Regiment Soldaten zur Attacke stürmte. Jetzt wurde es auch ihrem Vater zu arg, er brach plötzlich das Gespräch ab und trat in das Zimmer.

„Nun, Toni, Du brauchst den neuen Flügel nicht gerade entzweizuschlagen,“ sagte er ärgerlich. „Was spielst Du denn da eigentlich?“

Toni saß am Flügel und arbeitete im Schweiße ihres Angesichtes; nicht weit von ihr, auf einem kleinen Sofa, saß ihr Bräutigam, den Kopf auf den Arm gestützt und die Augen mit der Hand beschattend, anscheinend ganz versunken in die Musik. Bei der Frage ihres Vaters wandte die junge Dame sich um und sagte in dem gewohnten schläfrigen Tone:

„Ich spiele den ‚Janitscharenmarsch‘, Papa. Ich dachte, es würde Willy Vergnügen machen, da er auch Soldat gewesen ist.“

„So? Er hat aber zufällig bei den Dragonern gestanden,“ brummte Schönau und trat zu seinem künftigen Schwiegersohn, der die zarte Aufmerksamkeit seiner Braut doch nicht recht zu würdigen schien, denn er gab kein Zeichen des Beifalls.

„Willy, was sagst Du denn dazu? – Willy, hörst Du nicht? – Ich glaube wahrhaftig, er ist eingeschlafen!“

Die Voraussetzung erwies sich leider als richtig. Willy war, während der Janitscharenmarsch über die Tasten donnerte, süß und sanft entschlummert und schlief so fest, daß er auch jetzt nicht erwachte. Das schien selbst seiner Mutter zu stark, die gleichfalls eingetreten war; sie ergriff ihn derb am Arme.

„Aber Willy, was soll denn das heißen? Schämst Du Dich denn gar nicht?“

Der junge Majoratsherr, von allen Seiten geschüttelt und gescholten, wachte jetzt endlich auf und blickte schlaftrunken um sich.

„Was – was soll ich? Ja, es war sehr schön, liebe Toni.“

„Das glaube ich!“ rief der Oberforstmeister mit einem zornigen Auflachen. „Gieb Dir keine Mühe weiter mit Deinem Spiel, mein Kind. Komm, wir wollen Deinen Herrn Bräutigam ruhig ausschlafen lassen. Aber gute Nerven hat er, das muß man sagen!“

Damit nahm er den Arm seiner Tochter und verließ mit ihr das Zimmer, wo sich nun der ganze mütterliche Zorn über den armen Willibald ergoß. Frau von Eschenhagen, schon gereizt durch das vorhergehende Gespräch, schonte ihren Sohn durchaus nicht, aber sie rechtfertigte dabei nur zu sehr die Vorwürfe ihres Schwagers, sie schalt den Bräutigam und baldigen Ehemann aus wie einen Schulknaben.

„Das übersteigt denn doch alle Begriffe!“ schloß sie in voller Entrüstung. „Dein seliger Vater war auch nicht sehr für das Courmachen; wenn er mir aber zwei Tage nach der Verlobung eingeschlafen wäre, während ich ihn mit meinem Klavierspiel unterhielt, dann hätte ich ihn sehr unsanft geweckt. Jetzt gehst Du augenblicklich zu Deiner Braut und entschuldigst Dich bei ihr, sie hat ganz recht, wenn sie sich gekränkt fühlt.“

Damit ergriff sie ihn bei den Schultern und schob ihn nach [108] der Thür. Willy nahm das de- und wehmüthig hin, denn er war selbst ganz erschrocken über seinen unzeitigen Schlummer, aber er konnte doch nicht dafür, daß er so müde und die Musik so langweilig war. Ganz zerknirscht trat er in das Nebenzimmer, wo seine Braut, doch etwas gekränkt, am Fenster stand.

„Liebe Toni, sei mir nicht böse,“ begann er stockend. „Es war so heiß und Dein schönes Spiel hatte etwas so Beruhigendes –“

Toni wandte sich um. Es war ihr doch neu, daß der Janitscharenmarsch, zumal in ihrer Vortragsweise, beruhigend wirke, als sie aber die zerknirschte Miene des Bräutigams sah, der wie ein armer Sünder dastand, siegte ihre Gutmüthigkeit und sie streckte ihm die Hand hin.

„Nein, ich bin Dir nicht böse, Willy,“ sagte sie herzlich. „Ich mache mir ja auch nichts aus der dummen Musik. Wir wollen etwas Gescheiteres anfangen, wenn wir in Burgsdorf sind.“

„Ja, das wollen wir!“ rief Willibald, freudig die dargebotene Hand drückend, denn bis zu einem Handkusse hatte er sich noch nie verstiegen. „Du bist so gut, Toni!“

Als Frau von Eschenhagen bald darauf eintrat, fand sie das Brautpaar in vollster Eintracht und in ein äußerst lehrreiches Gespräch über die Milchwirthschaft vertieft, die in Süddeutschland etwas anders betrieben wurde als in Burgsdorf. Das war ein Thema, bei dem Willy nicht einschlief, und seine Mutter beglückwünschte sich im stillen zu dieser vortrefflichen Schwiegertochter, die so gar keine unbequeme Empfindlichkeit zeigte.

Uebrigens fand der junge Majoratsherr sofort Gelegenheit, sich für die bewiesene Nachsicht dankbar zu zeigen. Toni klagte, daß eine Sendung, die sie bestellt hatte und für den Abendtisch nothwendig brauchte, nicht in ihre Hände gelangt sei. Sie war auf der Post in Waldhofen rechtzeitig eingetroffen, aber wie es schien, mit einer falschen Adresse. Man hatte sie dem Boten nicht ausgehändigt, dieser war inzwischen von dem Oberforstmeister anderswohin geschickt worden und von den anderen Leuten augenblicklich niemand verfügbar, während doch die Zeit drängte. Willibald erbot sich daher, die Sache persönlich in Ordnung zu bringen, und das Anerbieten schien seiner Braut sehr willkommen zu sein.

Waldhofen war die bedeutendste Ortschaft in der Umgegend, trotzdem aber nur ein kleines Städtchen. Es lag etwa eine halbe Stunde von Fürstenstein entfernt und bildete eine Art Mittelpunkt für die überall zerstreuten Dörfer und Weiler des „Waldes“.

Während der Nachmittagsstunden, in denen sich kein Mensch auf der Straße befand, sah es recht öde und langweilig aus, das fand auch Herr von Eschenhagen, der über den Marktplatz schlenderte, wo sich die Post befand.

Er hatte die Angelegenheit, welche ihn nach Waldhofen geführt hatte, bereits erledigt und auch einen Boten gefunden, der die Kiste nach dem Schlosse trug. Da die Straßen des stillen kleinen Ortes aber nichts Interessantes boten, so bog er in einen Heckengang ein, der hinten an den Gärten der Häuser entlang geradeswegs auf die Landstraße führte. Der Weg war zwar etwas sumpfig und der gestrige anhaltende Regen hatte ihn stellenweise ganz grundlos gemacht, aber Willibald fragte als Landmann nicht viel nach solchen Dingen, sondern schritt unbekümmert vorwärts.

Er befand sich in einer äußerst behaglichen Stimmung; es war doch ein angenehmes Gefühl, Bräutigam zu sein, und er zweifelte durchaus nicht daran, daß er mit seiner guten Toni eine sehr glückliche Ehe führen werde.

Da kam ihm ein Wagen entgegen, der sich nur mühsam durch den sumpfigen Boden arbeitete und offenbar Reisende brachte, denn zwischen den Hinterrädern war ein großer Koffer festgeschnallt und das Innere schien auch noch verschiedenes Reisegepäck zu bergen. Willibald konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß man gerade diesen Heckenweg benutzte, der in seinem jetzigen Zustande für ein Fuhrwerk äußerst beschwerlich war, statt in die Straßen einzubiegen, und der Kutscher schien gleichfalls sehr unzufrieden damit zu sein. Er hatte sich umgewendet und verhandelte mit den Reisenden, die vorläufig nicht sichtbar waren.

„Jetzt geht es aber wirklich nicht weiter, Fräulein. Ich habe es ja vorher gesagt, wir kommen hier nicht durch, die Räder bleiben im Schlamme stecken – jetzt haben wir die Bescherung!“

„Es ist ja nicht mehr weit,“ ließ sich eine helle Stimme aus dem Inneren des Wagens vernehmen. „Nur noch einige hundert Schritte, versuchen Sie es doch!“

„Was nicht geht, das geht nicht!“ versetzte der Kutscher mit philosophischer Ruhe. „Durch den Sumpf da vorn kommen wir nicht, wir müssen umkehren.“

„Ich will aber nicht durch die Stadt fahren.“ Die helle Stimme hatte einen ganz entschiedenen Anflug von Trotz. „Wenn es durchaus nicht weiter geht, so halten Sie, ich werde aussteigen.“

Der Kutscher hielt, der Schlag wurde geöffnet, und eine leichte, zierliche Gestalt sprang aus dem Wagen. so geschickt, daß sie mit einem Satze über den Schlamm hinweg eine höher gelegene trockene Stelle erreichte. Dort blieb sie stehen und blickte prüfend um sich. Da aber der Weg gerade hier eine Biegung machte, ließ er sich nur zum kleinsten Theile übersehen.

Die junge Dame schien das sehr mißfällig zu bemerken; da fiel ihr Blick auf Herrn von Eschenhagen, der von der anderen Seite kam und eben die Biegung erreicht hatte.

„Bitte, mein Herr, ist der Weg zu begehen?“ rief sie ihm zu.

Er antwortete nicht sogleich, denn er war noch ganz starr vor Verwunderung über den ebenso gewagten als graziösen Sprung. Das flog ja wie eine Feder durch die Luft und stand doch fest und sicher auf den Füßen.

„Hören Sie denn nicht?“ wiederholte das Fräulein ungeduldig. „Ich frage, ob der Weg gangbar ist.“

„Ja – ich bin ihn gegangen,“ sagte Willibald, etwas aus der Fassung gebracht durch die sehr diktatorisch klingende Frage.

„Das sehe ich, aber ich habe keine Wasserstiefel wie Sie und kann nicht mitten durch den Sumpf waten. Ist es möglich, da an den Hecken entlang zu kommen? Mein Gott, so antworten Sie doch!“

„Ich – ich glaube wohl, drüben ist es etwas trockener.“

„Nun, dann will ich es wagen. Kehren Sie um, Kutscher, und geben Sie mein Gepäck auf der Post am Markte ab, ich werde es abholen lassen! Halt! Den kleinen Handkoffer da nehme ich mit, reichen Sie ihn mir herüber!“

„Aber der Koffer ist zu schwer für Sie, Fräulein,“ wandte der Kutscher ein, „und ich kann die Pferde nicht allein lassen.“

„Nun, dann trägt ihn mir der Herr dort! Es ist ja nicht weit bis zu unserem Garten. Bitte, mein Herr, nehmen Sie den Koffer, den kleinen da auf dem Rücksitz, mit dem schwarzen Lederüberzuge – so beeilen Sie sich doch!“

Der kleine Fuß trat ungeduldig auf den Boden, denn der junge Majoratsherr stand mit offenem Munde da. Er begriff es weder, daß eine Wildfremde so ohne weiteres über ihn verfügte, noch daß ein so junges Mädchen in dieser Weise befahl und kommandirte; bei den letzten sehr ungnädig klingenden Worten aber kam er schleunigst herbei und nahm den bezeichneten Koffer, was das Fräulein ganz selbstverständlich zu finden schien.

„So!“ sagte sie kurz. „Also, Sie fahren nach der Post, Kutscher, und nun hinein in die Sümpfe von Waldhofen!“

Sie nahm das graue Reisekleid auf und schritt dicht an den Hecken hin, wo der Weg etwas höher und trockener war. Willibald, von dem gar keine Notiz genommen wurde, trottete mit dem Koffer hinterher. Er hatte noch nie etwas so Zierliches gesehen wie diese schlanke, leichte Gestalt, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, und er beschäftigte sich angelegentlich damit, diese Gestalt zu betrachten, da er sonst nichts zu thun hatte.

Das junge Mädchen hatte etwas ungemein Anmuthiges und Graziöses in den Bewegungen, wie in der ganzen Erscheinung, aber das Köpfchen mit dem krausen dunklen Haar, das sich unter dem Hute hervordrängte, wurde mit unverkennbarem Selbstbewußtsein getragen. Das Gesicht war ziemlich unregelmäßig in seinen Formen, aber allerliebst mit den schelmischen dunklen Augen und dem kleinen rosigen Munde, um den ein Zug von Trotz lag, und die beiden Grübchen im Kinn machten es vollends reizend. Der graue Reiseanzug war trotz seiner Einfachheit doch äußerst geschmackvoll und trug allen Anforderungen der Mode Rechnung – zu den biederen Kleinstädtern von Waldhofen gehörte die junge Reisende offenbar nicht.

Der Weg zeigte sich jenseit der Biegung wirklich etwas trockener, doch mußte man fortgesetzt den schmalen Wall benutzen, auf dem die Hecken standen, und bisweilen über nasse Stellen hinwegspringen. Dabei ließ sich nun allerdings keine Unterhaltung führen und Willy dachte auch nicht daran, sie einzuleiten, er trug geduldig seinen Koffer und nahm es ebenso geduldig hin, daß seine [109] Begleiterin sich gar nicht weiter um ihn kümmerte, bis sie nach etwa zehn Minuten an der niedrigen Pforte eines Gartens standen.

Die junge Dame beugte sich über die Staketen des Pförtchens und schob einen von innen angebrachten Holzriegel zurück, dann wandte sie sich um.

„Ich danke, mein Herr! Bike, geben Sie mir jetzt mein Gepäck!“

Das Köfferchen war trotz seines geringent Umfanges doch ziemlich schwer, viel zu schwer für die kleinen Hände, die danach griffen. Willibald bekam plötzlich einen Anfall von Ritterlichkeit, die sonst gar nicht seine Sache war, und erklärte, er werde den Koffer bis in das Haus tragen, was mit einem kurzen gnädigen Kopfnicken angenommen wurde. Sie schritten durch den kleinen, aber sehr sorgfältig gepflegten Garten bis zu einem alten einfachen Hause und traten durch die Hinterthür in den dämmerig kühlen Hausflur, wo ihr Erscheinen sofort bemerkt wurde. Eine alte Magd stürzte eiligst aus der Küche herbei.

„Fräulein! Fräulein Marietta! Sie kommen heute schon? Ach, welche Freude wird –“

Sie kam nicht weiter, denn Marietta flog auf sie zu und drückte ihr die Hand auf den Mund.

„Still doch, Babette! Sprich leise, es soll ja eine Ueberraschung sein! Ist der Großpapa zu Haus?“

„Jawohl, der Herr Dokor ist im Studierzimmer. Wollen Sie hineingehen, Fräulein?“

„Nein, ich schleiche mich in das Wohnzimmer, setze mich ganz leise an das Klavier und singe ihm sein Lieblingslied. Vorsichtig, Babette, daß er uns nicht hört!“

Sie huschte leicht und lautlos wie eine Elfe nach der andern Seite des Hauses und öffnete die Thür eines zu ebener Erde gelegenen Zimmers; Babette, die in der Ueberraschung und Freude über die Ankunft ihres Fräuleins gar nicht bemerkte, daß noch jemand in dem halbdunklen Hausflur stand, folgte ihr. Die Thür blieb weit offen, man hörte, wie vorsichtig ein Deckel zurückgeklappt und ein Stuhl gerückt wurde, dann begann ein leises Präludiren, dünne, zitternde Klänge, die offenbar einem alten, ehrwürdigen Spinett entlockt wurden, aber es klang wie Harfenton, und nun erhob sich eine Stimme, hell und süß wie Lerchengesang und jubelnd wie dieser.

Das dauerte freilich nur wenige Minuten, dann wurde hastig die gegenüberliegende Thür aufgerissen und ein alter Mann mit weißen Haaren erschien auf der Schwelle.

„Marietta! Meine Marietta, bist Du es wirklich?“

„Großpapa!“ klang es jubelnd zurück, der Gesang brach plötzlich ab und Marietta hing an des Großvaters Halse.

„Du böses Kind, wie Du mich erschreckt hast!“ schalt er zärtlich. „Ich erwartete Dich ja erst übermorgen und wollte Dir bis zur Bahnstation entgegenkommen, da höre ich plötzlich Deine Stimme im Wohnzimmer, ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen.“

Das junge Mädchen lachte fröhlich auf wie ein ausgelassenes Kind.

„Ja, die Ueberraschung ist gelungen; gelt, Großpapa? Ich bin ja eigens deswegen den Gartenweg gefahren und richtig mit dem Wagen im Sumpfe stecken geblieben. Ich kam zur Hinterthür herein und – was willst Du denn, Babette?“

„Fräulein, der Kofferträger ist noch da,“ sagte die alte Magd, die jetzt erst den Fremden bemerkt hatte, „soll ich ihm ein Trinkgeld geben?“

Der junge Majoratsherr stand noch immer da mit dem Koffer in der Hand, jetzt aber wandte sich auch Doktor Volkmar um und rief erschrocken.

„Mein Gott – Herr von Eschenhagen!“

„Kennst Du den Herrn?“ fragte Marietta, ohne besondere Verwunderung, denn ihr Großvater kannte ja in seiner Eigenschaft als Arzt ganz Waldhofen und dessen Nachbarschaft.

„Allerdings! Aber Babette, so nimm dem Herrn doch den Koffer ab! Ich bitte um Entschuldigung, ich wußte nicht, daß Sie schon mit meiner Enkelin bekannt seien.“

„Nein, wir kennen uns nicht im mindesten,“ sagte das junge Mädchen, „willst Du mir den Herrn nicht vorstellen, Großpapa?“

„Gewiß, mein Kind – Herr Willibald von Eschenhagen auf Burgsdorf –“

„Tonis Bräutigam!“ fiel Marietta fröhlich ein. „O, wie komisch, daß wir uns so kennen lernen mußten, mitten im Sumpfe! Wenn ich das gewußt hätte, dann würde ich Sie nicht so schlecht behandelt haben, Herr von Eschenhagen. Ich ließ Sie ja wie einen wirklichen Kofferträger immer hinter mir drein laufen! Aber weshalb sagten Sie denn nicht ein Wort?“

Willibald sagte auch jetzt nichts, sondern blickte stumm auf die kleine Hand, die sich ihm vertraulich entgegenstreckte. Da er doch aber fühlte, daß er irgend etwas thun oder sagen müsse, so ergriff er das rosige Händchen und drückte und schüttelte es kräftiglich mit seiner Hünenfaust.

„Au!“ rief die junge Dame, indem sie entsetzt zurückwich. „Sie haben ja einen fürchterlichen Händedruck, Herr von Eschenhagen! Ich glaube, Sie haben mir die Finger zerbrochen.“

Willibald wurde dunkelroth vor Verlegenheit und stotterte eine Entschuldigung. Glücklicherweise mischte sich aber jetzt der Doktor ein und bat ihn, näher zu treten.

(Fortsetzung folgt.)




Ungedruckte Briefe Fritz Reuters.


II.

Unerschöpflich ist Reuter in immer neuen humoristischen Wendungen, und ob nun die häuslichen Ereignisse, die Landwirthschaft, die Nachbarn ihm die Stoffe geben, immer weiß er ihnen eine originelle Seite abzugewinnen. In dem nachfolgenden dritten Briefe bietet ihm die Schreibweise der ländlichen Arbeiter, in deren Briefen das „und daß wir noch recht gesund sind“ oft in komischer Weise sich wiederholt, Gelegenheit zu scherzhafter Nachahmung.

 „Thalberg, den 19. Oktober 1849.

Lieber Fritz!

Damit ich es nicht wieder vergesse: Großmutter läßt grüßen und daß wir noch recht gesund sind und daß heute die Waade[1] nach Schmiedenfelde geschickt ist und wir noch keine Krämpfe in den Waaden haben und noch recht gesund sind; daß die Cholera in Treptow angefangen hat aufzuhören und daß sie auch da noch recht gesund sind und daß Adam und seine Frau hier gestern gewesen sind und sich ersterer wieder sehr unreinlich aufgeführt hat[2] mit Erbrechen und das andere, so daß seine Frau ihm hat das Maul verbieten müssen; wo ich dann durch allerlei Fragen ihn immer wieder aufstachelte, in seinen schmutzigen Expektorationen fortzufahren, und Mutting[3] anstiftete, einen großen Teller voll Obst auf den Tisch zu setzen, damit die Frau Eva mit allerlei verbotenen Gelüsten geplagt wurde, was mir auch prächtig gelang; und daß ich viel Obst aß und noch recht gesund bin. Auch daß die Kinder alle noch recht gesund sind. Auch die Tagelöhner mit Weibern und Kindern. H.[4] hat sein Erntefest gegeben, außer mir und Piper[5] war keiner geladen; überhaupt ist H. sehr gnädig gegen mich. Zum Geburtstage desselben kommen alle seine Verwandten, aber keiner aus der Umgegend wird gebeten werden; auch wird ihr Erscheinen nicht gewünscht; er denkt, wie er sich ausdrückt, später eine Herrengesellschaft en form zu geben. – Die Kartoffeln sind gestern herausgekommen und hereingekommen. Ueber unser Haus ist ein großer Frieden und eine heilige Ruhe gekommen; alles geht still und feierlich bei uns zu; Mutting hat mir dies erklärt, sie meinte: weil Henriette[6] gesetzt worden ist, d. h. auf einen Stuhl als Schneiderin, und weil ‚dei Ketelflicke von Mariek Strutzen ut’n Hus is‘. Unsere Hanne hat’s nicht mehr da, wo sie’s sonst hatte, sondern nun auf den Augen; sie behauptet, ein Fell auf denselben zu haben, was sehr traurig wäre, nicht sowohl für sie, sondern auch für die Welt, weil durch so ein Fell ebenso wenig von außen hinein als von innen [110] hinaus zu sehen wäre und die Welt also den Anblick der schönen Augen verlöre.

Ich weiß nicht, ob Ihr dort in jenen Gegenden auch die merkwürdige Erscheinung habt, daß die Welt verkehrt geht: wir stehen hier um acht Uhr des morgens auf, weil es früher noch ganz dunkel ist, und gehen im Schummerabend zu Bett. Da ich nun weiß, daß Deine Uhr ganz richtig geht, weil Du sie ja erst kürzlich gestellt hast, bin ich auf die Vermuthung gekommen, daß die Sonne nicht mehr richtig geht, wenigstens hier nicht, im Demminer Kreis. Ich schlage Dir vor, Deine Uhr an die Berliner Sternwarte zu verkaufen, ich weiß, man sucht dort eine, die der Sonne das Widerpart halten kann, weil man vermuthet, die Sonne sei zu den Demokraten übergegangen. Du kannst ein schön Stück Geld dafür lösen, was sehr gut wäre, da das Deine unter meiner Verwaltung verteufelt schnell Abschied nimmt; aber wir leben auch danach! Dein Wein ist hier in Thalberg noch nicht angekommen[7], er konnte es auch füglich nicht gut, da wir (eine kleine Gesellschaft von 16 Personen, die ich zu Golreider[8] geladen hatte) ihn schon in Treptow ausgetrunken haben.

Das neue Eisen ist hier und das alte ist auch hier und der Töpfer[9] ist nicht hier; der Kerl heißt Erdmann und ich glaube, es ist nicht viel Verlaß auf ihn, weil auf alle irdischen Dinge kein Verlaß ist und ein Töpfer mit Namen Erdmann doch ein sehr irdisches Ding ist.

Nachdem ich Frühstück gegessen habe, fahre ich fort. Dein Sohn M.[10] schreit ganz hübsch, er bildet seine Kehle wirklich bewundernswerth aus und ich habe stets das Glück, Zeuge seiner Kehlübungen zu sein, denn sowie er brüllt, hat sich Mine[11] es zur Pflicht gemacht, ihn mir zu präsentiren; überhaupt bin ich mehr Zeuge der Schmerzen Deiner Kinder als ihrer Freuden, was gewiß für mich ein günstiges Zeugniß ist, weil darin die Ueberzeugung meines Mitgefühls enthalten ist. Ich freue mich auch sehr darüber; es ist sehr erquicklich, so unter Schreien und Thränen umherzuwandeln, es stimmt das Herz zu absonderlicher Milde. –

Vorgestern war Leisten wirklich bei mir zum Kaffee, blieb auch zum Abendbrod, wo wir uns einen Braten von dem besagten Hammel zeugten[12] und, um den Proceß im Gange zu erhalten, eine kleine Bowle Ananaskardinal von Selleriewurzeln machten; was wir wohl heute Abend und wahrscheinlich später noch einmal wiederholen möchten, da er jetzt erst dabei ist, mir zu erzählen, was Schrader zu ihm gesagt hat, und gewiß das, was er zu Schrader gesagt hat, doppelt so viel Zeit erfordert. Uebrigens war seine Darstellung sehr klar und einleuchtend, vorzüglich was die mecklenburgische Justiz-Kanzelley betraf, über deren Geschäftsgang er mir viele neue Aufschlüsse gemacht hat.

So, lieber Fritz, nun weiß ich nichts mehr, als daß alles beim Alten ist und heute der letzte Weizen gesäet wird. Alles ist wohl auf und die rothen Röcke der beiden Mädchen[13] sind eben aus dem rothen Rock Deiner Gemahlin fertig und geboren worden. Papenthin und Höpper lassen Dir ihre besten Grüße und Tessin und dessen junge Braut ihre beste Empfehlung[14] vermelden und daß sie noch recht gesund sind.

Sollte dieser Brief etwas zu sentimental für Deinen Geschmack sein, so schiebe es gütigst auf den unglücklichen Umstand, daß ich in Liebe zu einer der Schneidermamsells gerathen bin, die unsere Einsamkeit durch ihre Gegenwart verschönen. Liebliches Geschöpf! wenn mein Fritz Dich erst sieht! Alles, selbst kleine Unregelmäßigkeiten, dienen dazu, ihre Schönheit in ein helleres Licht zu setzen; gestern hatte sie das Unglück, einen Hammel[15] an ihrem Kleide zu haben, er kam mir vor, wie ein Goldrahmen, in den ein schönes Bild gefaßt ist. Oh, Oh, Oh!!!

Sollte Dein Bruder Ernst nicht in Moifall zu Hause sein, so grüße ihn nicht von mir, sondern seine liebe Frau und sage ihr gefälligst, daß ich mich sehnte, sie wiederzusehen, und sage ihr soviel Süßes, als sie irgend mag und Dein altes vertrocknetes ledernes Herz herauszugeben vermag.

Madame Peters, ich empfehle mich Ihnen in Gehorsam und Unterwürfigkeit! Herr Peters, kommen Sie bald und theilen Sie das Glück.

Ihres ergebensten

F. Reuter.

Am Mittwochen schicke ich den Wagen.“


Die nun folgenden Briefe sind während eines Aufenthaltes in der Wasserheilanstalt Stuer geschrieben, die Reuter von Thalberg aus besuchte. Auch diese Kur in der Wasserheilanstalt hat Spuren in seinen Dichtungen hinterlassen. Wir würden schwerlich die humorvollen Berichte Bräsigs in der „Stromtid“ finden, wenn Reuter nicht aus eigener Erfahrung hätte schöpfen können.

Er war dorthin gegangen, um Heilung von einem quälenden Leiden zu finden, das ihn um so mehr drückte, als es seine Verheirathung mit Luise, die ihm gerade in diesem Jahre ihr Jawort gegeben hatte, ins Unbestimmte hinauszuschieben drohte; er war zugleich besorgt um die Gesundheit seiner geliebten Braut, welche in jener Zeit, glücklicherweise irrthümlich, für brustleidend gehalten wurde, und trübe genug mag es oft in seinem Herzen ausgesehen haben. Dennoch begegnen wir in seinen Briefen dem sprudelndsten, oft auch derbsten Humor, der ihm dann wieder selber unbegreiflich erscheint, aus dem er sich selber einen Vorwurf macht.

„Stuer, den 10. Nov. 1847.

Mein lieber Fritz!

Ich habe Dir versprochen zu schreiben und bin jetzt bereit, sothanes Versprechen zu halten; seit dem 5. d. M. erst hier, wirst Du einsehen, wie bereitwillig dies geschieht. Ueber die beiden Fälle, über Großmamas Unwohlsein und dem Asthma des p. Krüger muß ich jedoch noch schweigen, weil mein Aufenthalt hier zu kurz ist, um ein gediegenes Urtheil fällen zu können und ich ungern den Vorwurf auf mich laden wollte, zu einer Sache gerathen zu haben, die sich nachher nicht bewährte. Nur soviel für dies Mal …[16]

Du fragst mich nun wohl, wie es mir hier geht und wie es hier aussieht? Nun, die Gesellschaft ist sehr angenehm . . . Das Essen ist gut und reichlich, nur wird Abends und Morgens nur kalte Milch gegessen oder getrunken. (Es herrscht ein heiterer und gemüthlicher Ton, der nur dadurch auffällt, daß man sich hier zu allerlei krankhaften Erscheinungen Glück wünscht, daß man folgende Fragen aneinander richtet: Wie viel Geschwüre haben Sie jezt? Was macht Ihr Schorf? Was macht der Ausschlag an Ihren Beinen? Haben Sie heute noch zu arbeiten? [d. h. zu baden, zu douchen, zu schwitzen, zu brausen, zu sitzen]).[17] Hat nun einer so ein kleines Geschwür, wie ein 4schillingsstück groß, so wird er beneidet, hat er eins wie ein Taubenei, so wird er glücklich gepriesen, ist ihm das Heil widerfahren, mit einem von der Größe eines Hühnereis begnadigt zu werden, so wird er stolz und sieht auf die andern mit Hohnlächeln herab, und ist er gar von der Göttin der Wasserheilkunst mit einem schorfigen Ausschlag über den ganzen Körper gesegnet, so wagt keiner in ehrfurchtsvoller Scheu, ihm zu nahen, gleichsam, als wäre er ein übernatürliches Wesen, oder weil er – zu sehr stinkt. Bis dato kann ich natürlicher Weise noch nicht solche Auszeichnungen aufweisen und bin gehöriger Weise unglücklich darüber; aber man hat sich die möglichste Mühe gegeben, mir Muth einzusprechen. Ich lasse mir des Morgens, sowie ich aus dem Bette komme, 6 Grad kaltes Wasser über den Kopf gießen, sitze hernach des Tages zweimal, jedesmal 10 Minuten, in ebensolchem Wasser, wo mir denn ungefähr so zu Muthe ist, als Deiner E.[18], wenn sie einen tüchtige P . . . voll gekriegt hat; trage Tag und Nacht einen kalten, nassen Gürtel von 2 Handtüchern um den bloßen Leib und werde schon in dieser Woche täglich meinen Nachmittagsschlaf in einem nassen Laken halten müssen, vielleicht werde ich auch später die Annehmlichkeit von nassen Strümpfen probiren und die Süßigkeit eines armdicken Wasserstrahls von der Höhe von 20 Fuß kosten; doch sind dies bis jetzt noch sehnsüchtige [111] Wünsche. – Pindarus singt, Wasser ist das Ursprüngliche, hier ist es aber A und O; Anfang und Ende. Die große Wasserfrage in Lutheri Katechismus: Wasser thut’s freilich nicht, ist hier umgeändert und heißt: Wasser thut’s freilich! – Alle meine Poesie ist im Wasser ersäuft und von alten Gedichten, die ich sonst citiren konnte, ist mir nur der Vers geblieben: An der Quelle saß der Knabe etc. (Mein ganzer Lebenslauf ist Wasser, ich werde damit begossen, wie ein Pudel, werde darin ersäuft, wie junge Katzen, sitze darin wie ein Frosch und saufe es wie ein Ochs.) – Aber nun des Scherzes genug, die Hauptsache ist, daß alle ohne Ausnahme sehr mit ihrer Kur zufrieden sind, daß man sich bei allen diesen Geschichten, die einem total widersinnig Vorkommen, gut befindet und daß man sich leicht daran gewöhnt. Schon mit dem zweiten Male war ich an den Kram gewöhnt und empfinde nichts Unangenehmes, als daß meine Zeit so sehr zersplittert ist und ich die Absicht, hier etwas zu schreiben, am Ende aufgeben muß.[19] Nur klagen alle Patienten über Schlaflosigkeit, wovon ich jedoch bisher noch nichts an mir bemerkt habe.

Nun grüße mir alle die Deinigen, Deine liebe gute Frau und Großmama vor allen. Denke daran oft, mein bester Freund, daß ich Dich nie vergessen und bis zum letzten Athemzug voller Dankbarkeit und Liebe bin
Dein F. Reuter. 

Schreibe auch einmal, wenn auch kurz.

Solltest Du Gelegenheit haben, durch Adam vielleicht vom Pastor K. eins von meinen Büchern, das ich ihm geliehen habe: Die chemischen Briefe von Liebig, erhalten zu können, so bist Du wohl so gut, es mir zu schicken oder in Stavenhagen abzugeben, damit es mir von dort geschickt würde.“




Brief aus Stuer ohne Datum. 

 „Mein alter Fritz!

Wenn ich Dich überhaupt noch mit dem Titel sr. königlichen Majestät, des hochseligen Königs Friedrich II. von Preußen anrede, so geschieht es nur, weil ich Deine notorische Faulheit im Schreiben bemitleide und in Großmuth entschuldige; „liebes Kamehl“ oder „verehrter Theekessel“ würden beiweitem passendere Anreden gewesen sein und hätten sogar vielleicht einen besseren Erfolg, d. h. Antwort zur Folge gehabt. – Doch was hilft aller Zorn, was hilft alles Predigen bei einem eingewurzelten chronischen Uebel, wie das Deine; Du würdest doch nicht schreiben und deshalb ist es besser, daß ich es thue, damit doch wenigstens noch irgend ein noch so unbedeutender Fußsteig existire, auf welchem meine Gedanken zu Dir spazieren und Dir meine Aufwartung machen. Du wirst aus dem Ton meines Briefes ersehen, daß mir das Baden nicht alle gute Laune weggewaschen hat und daß die Kälte mich nicht eingeschrumpft hat. Alles, was man mir von Geschwüren, von Ausschlag, von Stinken und dergl. Annehmlichkeiten prophezeit hat, ist nicht eingetreten und man ist zu dem beruhigenden Resultat gelangt, daß ich keinen Krankheits- und Giftstoff im Leibe habe, kurz, daß man nicht etwas Rechtes mit mir aufstellen kann und daß ich ein Normalmensch bin, wovon Du und Deine verehrte Frau Gemahlin gewiß schon längst überzeugt seid. Sollten in meinen Briefen Dir fremde, nicht verständliche medizinische Ausdrücke aufstoßen, so bitte ich Dich, darüber nachzulesen in: Adam, praktischer Arzt zu Treptow a. T., erster und vorzüglichster Theil, Pathologie für Laien; ferner: Hafergrütz-Diätetik von demselben; und noch weiter: Monographie der Psora von demselben; wo Du dann alles leicht verstehen wirst und nebenbei viel Unterhaltung haben wirst. –

Nicht wahr? ich bin ein Narr, einen ernsthaften Brief an einen ernsthaften Mann mit solchen Thorheiten anzufüllen; zumal ich weiß, daß bemeldeter Mann von Geschäften geplagt ist, weil dies gewöhnlich seine bedrängteste Zeit im Jahr ist, da er wohl noch nicht zugesäet hat;[20] ich will mich daher etwas ernster in der Unterhaltung zeigen und als Landmann mich genauer nach Deinen landwirthschaftlichen Verhältnissen erkundigen.[21] Also: Zugesäet hast Du wohl noch nicht? Das schadt auch nicht! Gott ist in den Schwachen mächtig und der Kalender prophezeit noch bis zu Neujahr offen Wetter. – Wie viel Kühe glaubst Du wohl in diesem Frühjahr aufheben[22] zu müssen und von wo beziehst Du jetzt nur Milch zum Kaffee, vielleicht vom Nachbar Hilgendorf? – Daß Du eine eigene Grube für gefallenes Vieh hinter dem Schafstall angelegt hast, halte ich sehr gut für die Kompostbereitung, bin jedoch der Ansicht, daß der Tod Deiner Schweine vom zu vielen Fressen herrührt, denn für jedes Schwein täglich ein verhungerter Hammel ist doch zu viel; übrigens lasse doch die noch lebenden Schafe auf den Roggen gehen, wenn der schon so weit sein sollte, daß sie dort etwas finden; die erste Noth muß doch immer zuerst gekehrt werden und, wie Du selber sagst, das Schaf hat einen vergoldeten Fuß. Das wäre denn so das, was die Außenwirthschaft beträfe, die Häuslichkeit ist wohl nicht so glänzend bestellt, doch man kann ja auch nicht überall groß sein. Daß Du in der Kinderzucht das Möglichste und Vortrefflichste leistest, ist mir hinlänglich bekannt, doch möchte ich Dich darauf aufmerksam machen, daß Dir die Feinheit, das Exquisite darin abgeht; gefreuet habe ich mich, daß Du daran gedacht hast, E.[23] zu Weihnacht einen Fächer und Glacehandschuhe und A.[24] ein Schnürleib zu schenken, wenn Du nun noch etwas Pomade, Schminke, Eau de Cologne etc. zufügst, so kann aus den Töchtern etwas Bedeutendes werden; kaufe ihnen doch bei Gelegenheit auch das neueste Komplimentirbuch und vor allem ein Collier, dann wirst Du sie auch bald an den Mann haben.

Nun lebe wohl und antworte, verehrtester Kuchen, damit ich doch erfahre, ob Ihr nicht etwa todt seid. Erlauben Sie, verzeihen Sie, wat is dat för’n oll dämlich Gerehr?[25]
Dein F. Reuter.“ 




Peters’ Schwiegermutter leidet an Gicht und Reuter äußert sich ausführlich darüber, ob ihr die Benutzung der Wasserheilanstalt Stuer zu empfehlen sei. Interessant dürften in diesem Briefe Reuters Ansichten über Heilung mit Wasser und über Medicin im allgemeinen sein.

„Stuer, den 19. Nov. 1847. 

 „Mein lieber, guter Fritz!

Du wirst aus meinem Briefe, der, wenn ich nicht irre, an demselben Tage von mir an Dich gerichtet ist, an welchem Du an mich schriebst, gesehen haben, daß ich Dich und Deine Aufträge nicht vergessen habe. Jetzt, da ich Deinen Brief vom 10. d. M. erhalten habe, auch schon längere Zeit hier bin, um sicherere Beobachtungen machen zu können, kannst Du auf zuverlässigere Nachrichten mit Recht hoffen. – Meine Ansicht von der Wasserkur ist in Hinsicht des allgemeinen die folgende: Viele Krankheiten, die beinahe unmöglich von Aerzten geheilt werden können, werden hier geheilt; die Schuld mag dabei durchaus nicht an den Aerzten liegen, darüber will ich nicht reden, weil ich es nicht verstehe, wohl aber liegt sie sehr häufig in den Lokalitäten und den Verhältnissen der Patienten. Mit aller Mühe von Deiner und Deiner lieben Frauen Seite werdet Ihr nicht imstande sein, Großmama vor jeder Aufregung und Anstrengung zu bewahren, Ihr werdet nicht imstande sein, sie täglich zu bestimmten Stunden zum Spazierengehen zu bewegen, Ihr werdet ihr nicht immer eine durchaus passende Diät geben können, wenn auch noch so ängstlich dafür gesorgt wird, Ihr werdet ihr nicht die regelmäßigen Bäder verschaffen und sie zum regelmäßigen Wassertrinken anhalten können. Dies ist jedoch hier der Fall und dies ist meiner Ansicht nach im allgemeinen das vorzüglich Lobenswerthe der Wasserkur. Was nun das Specielle der Kur betrifft, so richtet sich die Behandlung nach dem Uebel, und hier kann ich nur Tatsachen berichten, die von mir theils selbst gesehen, theils von anderen glaubwürdigen Personen hier mir erzählt sind. Die Aufzählung von Einzelheiten würde zu nichts nützen, deshalb beschränke ich mich darauf, Dir zu sagen, daß hier eine ganze Anzahl von Gichtischen geheilt worden sind, daß jedoch die Kur [112] langsam geht, vorzüglich bei älteren Leuten. Gewöhnlich ist der Verlauf einer solchen Kur, die in Baden, Schwitzen, Tragen von nassen Umschlägen, Sitzbädern, Fußbädern etc. besteht, zuerst mit einer zufriedenstellenden Besserung, später mit allerlei Geschwüren an mancherlei Stellen des Körpers, Ausschlag, zuweilen über den ganzen Körper; hernach vielleicht von[26] einer bedeutenden Verschlechterung des Befindens und wiederholtem Ausschlag verbunden, bis dann diese Ausscheidungen geheilt und der Kranke geheilt entlassen wird. Das Baden selbst, das Schwitzen und alle die einzelnen Prozeduren sind Kinderspiel, man gewöhnt sich sehr bald daran, schlimmer ist der Zustand, wenn die Geschwüre und der Ausschlag kommen, wo dann auch sehr über Schlaflosigkeit geklagt wird; indessen versichern alle, daß man bei aller Schlaflosigkeit doch nicht erschöpft sei. Wie Du siehst, kann durch alle diese Zwischenfälle die Kur sehr in die Länge gezogen werden. Ich für meine Person muß erklären, daß ich noch nie so auf dem Damme gewesen bin, wie jetzt, obgleich ich die Kur jetzt vielleicht am schärfsten gebrauche. Ausschlag habe ich noch nicht, werde ihn aber wohl kriegen. – – – Essen und Trinken ist gut, und ich meine, die Kranken langen zu! Deine Frau kann sich freuen, wenn ich wiederkomme, die Wurst wird nicht sauer und die Spickgans nicht zu alt werden.

Mein lieber Fritz, Du bist ein verständiger Mensch und wirst gewiß mich soweit kennen, daß ich das Beste zu thun glaube, wenn ich zurathe, Du wirst aber auch nicht so ungerecht sein und mir Vorwürfe machen, wenn es sich nicht zum guten wenden sollte; das steht in Gottes Hand! Daß ich nicht ein alberner Nachbeter neu aufgekommener Wahrheiten bin, weißt Du, und noch heute habe ich dreist in Gegenwart von Leuten, die die Wasserheilkunst in den Himmel erheben und die übrige Medizin verdammen, die letztere allein gegen fast alle in Schutz genommen, ich bin von allen der kühlste Verehrer der Wasserkur, vielleicht weil ich der zuletzt angekommene bin, darum wird mein Rath kein übertriebener sein, und mein Rath ist, schicke Deine Mutter hierher. – – – Grüße meine liebe Freundin, Deine gute Frau, und sage ihr, wenn ich nach Th. käme, würde der Kaffeetopf Ruhe vor mir haben, den wird man hier ab. Lebe wohl und schreibe an Deinen Freund. F. Reuter.“ 




Zum hundertjährigen Todestage Kaiser Josefs II.

Das Dichterwort „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“ findet in vollem Maße auf den unglücklichen Fürsten Anwendung, der nach einer kaum zehnjährigen Regierung voll der höchsten Entwürfe und des edelsten Thatendrangs bitter enttäuscht auf einsamem Krankenlager dahinsiechtc. Als er nach der langen Herrschaft seiner zielbewußten, kraftvollen Mutter Maria Theresia im besten Mannesalter auf den Thron kam, rühmten begeisterte Vorkämpfer der neuen Zeitrichtung ihn als den Beglücker der Menschheit, als den Erretter seines Volkes aus weltlichem und geistlichem Drucke. Dann aber erhoben sich Stimmen, die sein Wirken mit dem Philipps II. von Spanien und Albas verglichen, ihn im Hinblick auf seine Reformen und die Aufhebung der alten Landesverfassung in den österreichischen Niederlanden als den Mörder der in heißen Kämpfen errungenen niederländischen Freiheit brandmarkten. Und ähnlich standen sich die Meinungen der Parteien auch nach seinem Tode gegenüber. In den Zeiten, da Napoleons I. eherne Hand schwer auf dem habsburgischen Kaiserstaate lastete, errichtete man ihm als dem Schirmherrn der Größe Oesterreichs ein Denkmal auf dem Josefsplatze in Wien, österreichische Dichter verherrlichten ihn noch in den stürmischen Jahren 1848–1850, als die künstlich zusammengefügte Monarchie in den Fugen krachte, und selbst in den jüngsten Tagen hat sein Andenken die edelsten Verfechter des Deutschthums in dem Kampfe der Nationalitäten zu muthigem Ausharren und zuversichtlicher Hoffnung gestärkt. Dagegen stehen die nichtdeutschen Bewohner des österreichischen Kaiserstaates ihm zumeist nicht bloß kühl und zurückhaltend, sondern geradezu feindlich gegenüber, ein Grund mehr für uns Deutsche, seinen Namen in Ehren zu halten.

Wir können das Wirken Josefs II. nur im Zusammenhange mit der Regierung seiner Mutter begreifen, ist es doch in vieler Hinsicht nur die rücksichtslose Fortführung ihres vorsichtig und einsichtsvoll begonnenen Werkes. Die große Fürstin, deren männliche Festigkeit und unbeugsame Zähigkeit schon in ihrer äußeren Erscheinung sich kundgiebt, hatte es verstanden, den buntgemischten, vielsprachigen Kaiserstaat zu einer fast einheitlichen Monarchie umzugestalten, wobei ihr das Beispiel ihres großen Gegners Friedrich II. oft den Weg gezeigt hat. Als sie zum Beginn ihrer Regierung im Kampfe mit Frankreich, Preußen und Bayern um den Bestand ihrer Herrschaft rang, wußte sie durch ihr unverzagtes Auftreten und durch kluge Rücksichtnahme alle Stämme ihres Reiches – auch die Ungarn, welche so oft den Feinden Habsburgs den Weg ins Herz der Monarchie gebahnt hatten – zu ihrem Schutze zu vereinigen und den gefahrvollen Streit nur mit dem Verluste einer Provinz zu enden. In dem siebenjährigen Ringen mit Friedrich dem Großen um die Vorherrschaft im Deutschen Reiche standen wiederum die Volksstämme diesseit und jenseit der Donau für sie in Waffen, und als der Hubertusburger Friede geschlossen war, nutzte sie die letzten siebzehn Jahre ihrer Herrschaft, um den Wohlstand und die freie Bewegung ihres Volkes zu heben, die lähmenden Einflüsse im geistigen und kirchlichen Leben zu mindern, ihre Herrschaft nach außen hin zu vergrößern und durch mächtige Bundesgenossen zu sichern. Aber wie sehr auch das Staatswohl sie zu manchen Maßregeln nöthigte, die den Anhängern der alten Zeit schmerzlich ins Fleisch schnitten, so blieb sie aus Ueberzeugung wie aus Berechnung eine treue Förderin der katholischen Interessen. War doch die gemeinsame Religion vor allem das einigende Band des österreichischen Völkergemisches. Nach wie vor war der beste Grund und Boden in den Händen der Kirche, eine Unzahl von Klöstern und Stiften entzog dem Gewerbe, Handel und Ackerbau tüchtige Kräfte, die Steuerbefreiung der Geistlichen machte eine um so stärkere Belastung des Bürger- und Bauernstandes nöthig, die Fronden und andere Zwangsleistungen schmälerten noch die freie Zeit des schwer geplagten Landmannes. Wenig bedeutete die Verminderung der kirchlichen Festtage, die Maria Theresia auf den Rath ihres Ministers Kaunitz verfügte, und selbst die theilweise Aufhebung der Leibeigenschaft am Ende ihrer Regierung, die uns den wohlthätigen Einfluß ihres Sohnes Josef – den Maria Theresia 1765 zum Mitregenten der österreichischen Monarchie ernannt hatte – wahrnehmen läßt, brachte zunächst nur geringe praktische Vortheile. Auch die altererbten Vorrechte der Provinzen, die Vielheit des Rechtes, der Verfassungen, die hemmenden Schranken der Binnenzölle, die Fesseln der Erwerbsfreiheit und Eheschließung, die Unterdrückung der Glaubens- und Preßfreiheit, die Greuel der Folter- und Marterjustiz, der schwerfällige und willkürliche Prozeßgang und so viele andere Uebelstände aus grauer Vorzeit blieben bestehen. Nicht ohne Grund fürchtete die staatskluge Regentin, daß die Wegnahme dieser zum Theil morschen Stützen des Staatsbaues das gesummte, schwankende Gefüge zu Fall bringen könnte.

Bis zum Tode seiner Mutter (29. Nov. 1780) hatte Josef immerhin nur geringen Einfluß auf Regierung und Verwaltung; höchstens das Militärwesen Oesterreichs erfreute sich seiner umgestaltenden, verbessernden Fürsorge. Es fehlte dem Kaiser sogar an einer völlig ausreichenden Vorbildung zum Herrscheramte, denn von verschiedenen Erziehern in ungleichartiger Weise gebildet, auf seinen weiten Reisen durch Europa wohl mannigfaltigen, aber flüchtigen Eindrücken ausgesetzt, konnte er sich nie so umfassende Kenntnisse und Erfahrungen erwerben, wie sie seinem großen Zeitgenossen Friedrich II. als Staatsmann und Philosophen zu Gebote standen. Mit Begeisterung, aber ohne tieferes und selbständiges Eindringen hatte er die Lehren der französischen Aufklärung, ihre Hauptgrundsätze der Glaubens- und Preßfreiheit, der Staatsallmacht in weltlichen und geistlichen Dingen, der Beseitigung aller unnatürlichen Schranken des Ackerbaus, Handels und Verkehrs in sich aufgenommen. Jetzt, nach langem Harren, zum Beherrscher des mächtigen Kaiserstaates geworden, wollte er ohne Zaudern die Gedanken eines Voltaire und Rousseau in die Wirklichkeit übertragen.

[113]

Kaiser Josef II.
Nach einem im Verlag von Artaria u. Comp. in Wien erschienenen Kupferstich von John, ausgeführt nach dem Original-Porträt von Füger.

[114] Das Wohl des gesammten Staates und die einheitliche Verwaltung der bisher durch Eifersüchteleien, Vorurtheile und Verkehrsschranken getrennten Provinzen wurde sein Hauptaugenmerk. Die Binnenzölle wollte er aufheben, dagegen, entsprechend den damals herrschenden volkswirthschaftlichen Ansichten, Oesterreich durch Grenzzölle vor dem Wettbewerb des Auslandes sichern. Ein für die ganze Monarchie geltendes Justiz- und Verwaltungssystem, eine von oben her gelenkte, sich streng gliedernde und abstufende Beamtenschaft, das Deutsche als Amtssprache sollten die Vielheit der provinziellen und ständischen Rechte, Gewohnheiten, Behörden und Sprachen verdrängen.

Kein Wunder, daß die in ihren altererbten Vorrechten Gekränkten erst durch stillen Widerstand, dann durch offene Widersetzlichkeit diesen Einheitsplänen entgegenarbeiteten, daß die Selbständigkeitsgelüste der Ungarn von dem amtlichen Gebrauche des Lateins nicht lassen, auf den Besitz der Krone des heil. Stephan, welche Josef II. nach Wien bringen ließ, und die Krönung des neuen Herrschers zum König von Ungarn nicht verzichten wollten! Begreiflicher noch, daß die Vlamen und Wallonen in Belgien, die sich ohnehin nie als Oesterreicher gefühlt hatten, den Aufhetzereien der gekränkten Geistlichen und Edelleute, sowie den Umsturzgedanken radikaler Geister Gehör gaben und die letzten Jahre der Regierung Kaiser Josefs durch offene Empörung und Losreißung von der habsburgischen Monarchie noch mehr erschwerten.

Die Beamtenschaft, seit lange an einen gemächlichen, bequemen Schlendrian gewöhnt und im geheimen den hohen Plänen des Kaisers unzugänglich, konnte den sich überstürzenden Anforderungen des neuen Dienstes nicht folgen – und selbst strenge Strafen und Drohungen mit Amtsentsetzung waren den mangelnden Fähigkeiten und dem bösen Willen gegenüber machtlos.

Man darf übrigens dem edlen Monarchen nicht den Vorwurf machen, daß er mit einem Male das Bestehende hätte wegfegen wollen, vielmehr ging er in seinen Reformen allmählich und schrittweise vor. So führte er die Preßfreiheit zwar im Grundsatze ein, verbot aber alle unsittlichen und religionsfeindlichen Schriften, wirkte namentlich der Verbreitung von Flugschriften durch Forderung von Bürgschaftssummen und Stempelabgaben entgegen und suchte auch die Zeitungen, Theaterstücke u. a. in ihrer freien Richtung einzuschränken. Wenn er Schmähschriften gegen seine eigene Person geradezu für straffrei erklärte, so stand ihm das Beispiel Friedrichs II., der solche Pamphlete des bequemeren Lesens halber niedriger hängen und öffentlich verkaufen ließ, vor Augen, aber er übersah, daß seine Stellung keine so unbestritten feste war wie die seinem großen Zeitgenossen. Wie die Preßfreiheit, so sollte auch die Glaubensfreiheit keine unbeschränkte sein. Die katholische Religion blieb die staatlich allein anerkannte, die anderen Konfessionen waren nur geduldet, und kleineren Sekten befahl der Kaiser, in die größeren Religionsgemeinschaften einzutreten. Als er an die Aufhebung der überflüssigen Klöster ging, beschränkte er sich zunächst auf die völlig zwecklosen, weder dem Unterrichte noch der Seelsorge noch der Krankenpflege dienenden Stiftungen, sorgte für Entschädigung der obdachlos gewordenen Mönche, für die nützliche Verwendung des frei gewordenen Einkommens zur Errichtung von Schulen, Hospitälern, bäuerlichen Niederlassungen.

Die Geistlichkeit sollte, wie der weltliche Beamtenstand, ganz von ihm abhängen, darum verbot er die Bekanntmachung päpstlicher Erlasse ohne kaiserliche Genehmigung, ließ dem heranwachsenden Klerus eine einheitliche, zeitgemäße Bildung in staatlichen Generalseminarien geben und suchte den Zusammenhang der Priester mit Papst und Kurie zu beseitigen oder doch zu lockern. Wie der Volksunterricht, der dem Kaiser ganz besonders am Herzen lag, so sollte auch die Einwirkung auf das Familienleben den Geistlichen thunlichst entzogen werden; daher wurde die Ehe für eine staatliche Einrichtung erklärt und die heutige Civilehe wenigstens vorbereitet, der Gottesdienst, die kirchlichen Feste, Prozessionen etc. kamen unter die Oberaufsicht des Staates. In diesem Bestreben, auch Kirche und Klerus in den einheitlichen Staatsgedanken einzufügen, ließ er sich durch den Widerspruch des Papstes und das Widerstreben der hohen Geistlichen nicht irre machen, auch eine Reise des Papstes Pius VI. nach Wien änderte nichts an der Richtung des kaiserlichen Verfahrens. Natürlich fanden diese religiösen Neuerungen den Beifall aller Geistlichen, die von den Gedanken der Aufklarung erfüllt oder durch den Druck der Kurie in ihrer Selbständigkeit gehemmt waren, namentlich die nun besser ausgestattete und unabhängiger gestellte Weltgeistlichkeit jauchzte ihnen zu. In einem Augenblicke offener Hingebung soll sogar Papst Pius geäußert haben, er würde als Herrscher von Oesterreich auch nicht anders handeln. Widerspruch fand Kaiser Josef nur bei denjenigen Geistlichen, deren Einkünfte und Rechte im Staatsinteresse geschmälert werden mußten.

Von gleich eigensüchtigen Beweggründen war der Widerstand geleitet, den die Befreiung der schwergedrückten Bauern, die theilweise Aufhebung der Zunftrechte, die Beseitigung der grausamen Härte der Justiz bei Edelleuten, Bürgern und Beamten fand. Gerade diese wohlthätigsten Neuerungen schnitten zu sehr in das Geldinteresse und die alte Gewohnheit ein, um von den zunächst Geschädigten geduldig ertragen zu werden.

Auch hier trug Kaiser Josef den Verhältnissen Rechnung, soweit sein kaiserliches Ansehen und das Staatswohl keine Nachtheile erlitten. Der Widerstand der Ungarn gegen die neuen Justizgesetze und Verwaltungsnormen bestimmte ihn zum Maßhalten und zu einschränkenden Erlassen, selbst die Stephanskrone gab er wieder zurück. Eine gleiche Schonung der belgischen Unzufriedenen machte ihm der revolutionäre, staatsfeindliche Charakter der in Brüssel und anderen Orten auftretenden Bewegung unmöglich.

Was die letzten Jahre seiner Regierung mit Mißerfolgen und Demüthigungen erfüllte, das war seine unheilvolle äußere Politik.

Nachdem sein Plan, Bayern mit Oesterreichisch-Belgien zu vertauschen und dem habsburgischen Staate in Süddeutschland eine erdrückende Uebermacht zu gehen, an Friedrichs II. Widerstande und der diplomatischen Einsprache Rußlands gescheitert war, ging er einen unvorsichtigen und nachtheiligen Vertrag mit der russischen Herrscherin, Katharina II. ein, um dem preußischen König seine einzige Bundesgenossin zu entziehen. Der Eroberungssucht der nordischen Macht dienend, nahm er 1788 und 1789 an einem ungerechten, verlustreichen Kriege gegen die Türkei theil, während es im Innern seines Reiches, in Ungarn, gährte und in Belgien eine Niederlage der österreichischen Truppen und offene Lossagung der Unterthanen erfolgte und zugleich Preußen und England eine drohende Haltung gegen die Eroberungspläne Josefs einnahmen.

Die Strapazen des türkischen Feldzuges, der Unwille über die in Belgien erlittene Demüthigung und den Widerstand der Ungarn, die ihm Geld und Truppen zur Kriegführung versagten, warf die ohnehin erschütterte Gesundheit des edlen Fürsten gänzlich zu Boden. In dem Gefühle, daß seine hohen Entwürfe mißlungen seien, sein Leben ein verfehltes gewesen, von seinem Bruder Leopold und seinem Minister Kaunitz in den letzten Kämpfen mit körperlichen und seelischen Leiden verlassen, starb er in der fünften Morgenstunde des 20. Februars 1790.

Sein Reich hinterließ er an der Ost- und Westgrenze, in Ungarn und Belgien, im Aufruhr und in einem Kriege, der die finanziellen Kräfte des Staates zerrüttete; aber was er für das Wohl seines Volkes gethan hatte, blieb auch unter seinen Nachfolgern bestehen. Ueber seinem Grabe schlugen die Sturmwellen der französischen Revolution zusammen, die mit den gewaltthätigsten Mitteln das niederriß, was selbst der Macht eines Kaisers unbezwingbaren Widerstand entgegengestellt hatte. Die Entrüstung, welche die Unthaten des französischen Jakobinerthums später in ganz Europa hervorriefen, gab den Anhängern der alten Zustände neuen Vorwand, das Andenken des „kirchenfeindlichen“ Herrschers zu schmähen, während edeldenkende Volksfreunde ihn als „Schützer der Menschheit“ verherrlichten. In seinem Volke aber, in den niederen Schichten vor allem, draußen auf dem Land unter den Bauern, da lebte er fort als der „gute Kaiser Josef“. Ihm liehen diese einfachen Gemüther alle Tugenden einer vollkommenen Obrigkeit und eines warmfühlenden Herrn, und tausend Geschichtchen hielten sein freundliches Bild in ihrem Herzen lebendig. Sie vergaßen es ihm nicht, daß er einem von ihnen den schweren Pflug aus der Hand genommen und selber durch die harte Scholle geführt hatte. R. Mahrenholtz.     




[115]

Quitt.

Roman von Theodor Fontane.
(Fortsetzung.)

In der großen Stube des Gerichtskretschams hatte man den Todten auf eine Tischplatte gelegt und ihn bis hoch hinauf mit neu abgebrochenem Gezweige bedeckt; nur Brust und Kopf waren frei. Klose trat heran und hatte vor, mit der Protokollaufnahme zu beginnen. Aber der Marsch im Sonnenbrand war doch so beschwerlich gewesen, daß er davon Abstand nehmen und nicht bloß um der andern, sondern auch um seiner selbst willen ein kurzes Ausruhen in einer kühlen schattigen Rebenstube vorschlagen mußte, welche Pause dann freilich von der draußen harrenden Menge sofort dazu benutzt wurde, in den bis dahin abgesperrten Saal vorzudringen. Auch Lehnert war unter denen, die sich herzudrängten, blieb aber in Nähe der Thür und mied es, vor das Angesicht des Todten zu kommen.

In der kühlen schattigen Nebenstube hatte sich inzwischen alles zusammengefunden, was zur Obrigkeit gehörte, Fragen und Vermuthungen aller Art, wie sich denken läßt, waren ausgetauscht worden, und als schließlich auch einige Gerichtspersonen von Arnsdorf und Giersdorf her erschienen, trat Klose von der Rebenstube her wieder in den Saal und sagte: „Wir wollen nun anfangen. Ich werde Fragen stellen und drüber wegsehen, daß hier ihrer viele sind, die besser draußen wären und geduldig abgewartet hätten, ob wir ihrer Aussage vielleicht bedürfen werden. Zunächst aber geben wir dem Todten das Wort. Sein Blut verklagt seinen Mörder. Er hat aber auch gesprochen, als er noch bei Leben war, und seine letzten Worte halte ich hier in Händen.“

Und der alte Gerichtsmann zog ein Notizbuch aus der Tasche, das er unmittelbar nach Auffindung des Todten zu sich gesteckt und gleich danach, am ersten Rastplatz schon, einer flüchtigen Einsicht unterzogen hatte.

Dies ist Opitz’ Notizbuch,“ fuhr er fort. „Als Opitz wußte, daß er in aller Einsamkeit sterben müsse, hat er mit schwerer Hand seinen letzten Willen hier eingeschrieben. Alles nur kurz und abgerissen und Blutstropfen dazwischen.“

Alles drängte bei diesen Worten näher, und die zu hinterst standen, hoben sich auf die Fußspitzen, um kein Wort zu verlieren.

„Die Kräfte verlassen mich,“ so begann jetzt der alte Gerichtsmann aus Opitz’ Notizbuch vorzulesen. „Geschossen bin ich um die neunte Stunde . . . Wenn ich sterben sollte, eh’ ich gefunden werde, so wisse man, daß ich von einem Wilddiebe geschossen bin, der war ganz nahe mit Doppelflinte, wahrscheinlich ein Böhmischer, ziemlich groß in braunem Rock und Hut und falschem Bart .. . Eltern und Geschwister, lebet wohl, und Du, meine gute Frau, der ich viel abbitte, lebe wohl! Ich bitte den Herrn Grafen, daß er Euch versorge, da ich mein Blut in seinem Dienst vergossen habe . . . Lebet wohl; Gott sei mir gnädig! Betet für mich! Ich habe große Schmerzen. Guter Gott, erbarme Dich meiner. Herr Graf, sorge für die Meinigen, ich habe mein Blut für Dich vergossen . . . Ich schreie so sehr und habe mein Gewehr abgeschossen, daß man mich höre, aber kein Mensch hört mich. O Gott, erlöse mich! Betet für mich und denket nicht auf Rache . . . Gott vergebe meinem Mörder und erbarme sich meiner . . . Meine Leiden sind groß.“

Als Gerichtsmann Klose diese seine Vorlesung geschlossen und das Notizbuch wieder zu sich gesteckt hatte, ging ein Gemurmel durch den Saal. Es war das Gemurmel der Theilnahme, der Zustimmung, des Erschüttertseins. Opitz war wenig beliebt gewesen und unter denen, die da standen, Männer und Frauen, waren viele, die seinen Tod mehr als einmal gewünscht hatten; aber nach Anhörung dieser Worte regte sich doch das Mitleid. Und daß er so sehr für seine Frau bat, für dieselbe Frau, der er viel Herzeleid angethan hatte, der er nun aber auch abbat, das versöhnte mit ihm, und eine der Frauen sagte: „Wer das gedacht hätt’.“

Der alte Gerichtsmann unterbrach diese dem Todten so günstige Stimmung nicht, und erst als sich die Erregung gelegt hatte, nahm er die Verhandlung wieder auf: „Und nun frag’ ich nach dem Mörder! Wer war es? In dem Notizbuch heißt es, daß es ein Böhmischer war . . . Ich glaube nicht, daß es ein Böhmischer war; ich glaube, daß wir ihn hier auf unserer Seite suchen müssen und daß er, wenn wir alles sehen könnten, was sich klug verbirgt, daß er vielleicht in diesem Saale zu finden wäre.“

Während Klose so sprach, sah er absichtlich nur auf den Todten und vermied es, weil er nicht vor der Zeit den ganz bestimmten Ankläger machen wollte, nach der Stelle hinzusehen, wo Lehnert stand. Aber seine Vorsicht war nicht mehr von nöthen; inmitten der Aufregung, welche durch die Vorlesung der Notizbuchblätter hervorgerufen worden war, hatte sich Lehnert aus dem Saal entfernt, unbekümmert darum, ob sein Verschwinden auffallen werde oder nicht.


13.

Vom Gerichtskretscham aus bis zum „Goldenen Frieden“ war die Dorfstraße leer, und erst als Lehnert an dieser Stelle links einbiegen und auf dem mehrerwähnten Schlängelpfade nach dem tiefer gelegenen Wolfshau hinunter wollte, sah er Frau Opitz auf eben diesem Schlängelpfade herankommen und trat seitab in den Schatten eines hier stehenden Schuppens, um nicht gesehen zu werden. Frau Opitz sah ihn auch wirklich nicht und schritt ihrerseits auf den Gerichtskretscham zu, wo sie, wie man ihr in Wolfshau gesagt hatte, den Todten finden würde. Jeder war erschüttert, als sie hier in den Saal trat und dem Todten das Haar aus der Stirn strich und ihn küßte, und wenn sich schon vorher ein Stimmungsumschlag zu Gunsten Opitz’ gezeigt hatte, so vollends jetzt. Die Männer hielten wohl noch zurück, aber die verheiratheten Frauen fuhren mit dem Schürzenzipfel nach dem Auge, wenn sie nicht geradezu schluchzten und weinten. Einige drängten sich an die nun Verwitwete heran und baten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, wobei sie hoffen mochten, noch ’was Besonderes zu hören. Die gute Frau war aber entweder zu schwach oder wollte sich nicht von dem Todten trennen, jedenfalls nahm sie statt der Anerbietungen ihrer Wolfshauer Nachbarsleute lieber das Anerbieten der Kretschamwirthin an und setzte sich zu dieser in die Küche. Das geschäftige Treiben hier that ihr wohl und zerstreute sie, denn sie hatte den Hausfrauensinn, der sich auch in diesem Augenblicke nicht verleugnete.

Drinnen im Saale war mittlerweile das Bild ein anderes geworden. Es gab nichts mehr zu hören und zu sehen, und so verliefen sich die bloß aus Neugier Herzugeströmten, und nur die, die wegen des Protokolls pflichtmäßig zu bleiben hatten, blieben noch und suchten sich über einige fragliche Punkte zu einigen. Die That selbst lag klar vor. Aber die Frage „wer“ blieb durchaus unentschieden und wurde durch Opitz’ Aufzeichnungen, der auf einen „Böhmischen“ gerathen hatte, mehr verwirrt als aufgeklärt.

„Es war kein Böhmischer,“ wiederholte Gerichtsmann Klose, der seinen ohnehin starken Verdacht gegen Lehnert durch das plötzliche Verschwinden desselben nur noch bestätigt sah, „es war kein Böhmischer, und wenn ich Bestimmung zu treffen hätte, so brächen wir in dieser Minute noch auf, um Lehnert Menz in Verhaft zu nehmen. Alles deutet auf ihn, auf ihn und keinen andern. Er hat Sonnabend sechs Uhr Wolfshau verlassen, ist das Gehänge hinaufgestiegen, und die Schulkinder haben ihn gesehen. Um acht Uhr muß er oben gewesen sein, um neun Uhr ist es geschehen, um zehn Uhr war er auf der Hampelbaude. Niemand anders ist im Wald oben betroffen worden. All das sagt genug. Zudem wissen wir, daß er noch von 1870 her einen Span mit Opitz hatte, und als vorhin alles, was draußen war, in den Saal drängte, hat er immer im Hintergründe gestanden, statt mit in vorderster Reihe zu stehen, wie doch sonst wohl seine Art ist; und als das Notizbuch von mir vorgezeigt und sein Inhalt verlesen wurde, da hat er’s nicht ertragen können und ist davongegangen. Das alles hat mir den Beweis gegeben. Und ich wiederhole, der, der diesen Mord auf seine Seele geladen hat, ist kein anderer als Lehnert Menz.“

Die Mehrzahl stimmte zu. Nur der jüngere Gerichtsmann, der in einer Art Eifersucht gegen den alten Klose war, unterhielt allerlei Zweifel, oder gab es wenigstens vor, und brachte diese Zweifel auch zum Ausdruck. Alles, was eben gesagt worden, sei, seiner Ansicht nach, viel zu schwach, um darauf hin eine Verhaftung vornehmen zu können. Es lasse sich schlechterdings nicht sagen, niemand anders sei oben im Gebirge gewesen, im Gegentheil, man wisse nie, wer oben gewesen und wer nicht. Lehnert [116] Menz sei gescheit und umsichtig, und gerade, daß er auf der Hampelbaude vorgesprochen und genächtigt habe, das beweise sein gutes Gewissen. Auch daß er sich hier im Saal immer an der Thür gehalten und die Vorlesung der letzten Worte kaum abgewartet habe, spreche nicht so sehr gegen ihn, als es scheine, wohl aber spreche das für ihn, daß er der erste gewesen sei, der auf Hilfe gedrungen habe. Ja, rasche Hilfe, das sei das einzig Richtige gewesen, und er für seine Person beklage jetzt aufrichtig, daß man nicht gleich gestern abend diese Hilfe geleistet habe. „Mondschein war. Und vielleicht hätten wir ihn um Mitternacht noch am Leben gefunden.“

Auch diese Rede wurde beifällig angenommen, was den alten Klose sichtlich verstimmte, und weil man sich, wie das so leicht geschieht, infolge dieser immer persönlicher werdenden Fehde nicht recht einigen konnte, stand man eben auf dem Punkt, die Frage nach der Täterschaft vorläufig wenigstens ganz fallen zu lassen, als der Grenzaufseher und gleich nach ihm der junge Forstgehilfe, die man beide zu weiterer Nachforschung an Ort und Stelle zurückgelassen hatte, voll großer Aufregung eintraten. Sie waren erschöpft, denn es war immer schwüler geworden; trotzdem ließ sich unschwer von ihrer Stirn lesen, daß sie gute Botschaft brachten und ihr Suchen nach einem Anhaltspunkte nicht vergeblich gewesen war.

„Nun, Ihr Herren,“ empfing sie der alte Klose mit der ihm eigenen Gemüthsruhe. „Was bringt Ihr? Aber erst einen Cognac und dann Euren Bericht. Eine Bärenhitze! Maywald, wir wollen Thür und Fenster aufmachen. So! Nun herangerückt! Und nun, Ihr Herren, was giebt es?“

Der Grenzaufseher, welcher der ältere war, nahm zunächst das Wort und erzählte mit vieler Anschaulichkeit, wie sie, nach Ausmessen der Fußspuren – denn ’was anderes habe sich nicht finden lassen wollen – nahe dran gewesen seien, unverrichteter Sache wieder umzukehren, als sein Kamerad, und hierbei wies er auf den jungen Forstgehilfen, eines angebrannten Papierstückchens ansichtig geworden sei, das an der abgestochenen schmalen Lehmwand des Weges geklebt habe. Dies Papierstückchen sei, wie sie gleich vermuthet, ein Schußpfropfen gewesen, was sie denn bestimmt habe, dasselbe sorglich auseinander zu fallen und zu glätten. Hier sei es und könne vielleicht zur Entdeckung des Thäters führen; denn es sei, wie leicht zu sehen, kein gewöhnliches Stück Zeitungspapier, sondern ein Stück von einem alten Kalender, und der Monat sei noch halb und die Jahreszahl 1816 noch ganz deutlich zu lesen. Er glaube, daß das wichtig sei; denn in demselben Hause, drin man einen alten Kalender von 1816 finde, werde man muthmaßlich auch den Mörder zu suchen haben.

Alles war unter diesem Berichte des Grenzaufsehers in Aufregung gerathen, weil jeder fühlte, daß die nächste Stunde schon das Geheimniß aufklären müsse. Natürlich war eine Haussuchung nöthig, und zur Frage stand nur noch das eine, bei wem damit begonnen werden solle.

„Bei wem anfangen?“ fragte der Alte.

„Bei Lehnert Menz,“ antwortete der Forstgehilfe.

„Gut! Und wann?“

„In dieser Minute noch. Denn er hat viel Freundschaft hier herum, und erfährt er, was wir Vorhaben, oder wohl gar, wonach wir suchen, so wandert der Kalender in den Ofen oder er selber in die Welt. Er hat es schon lange vor.“

Alle waren einverstanden. Nur einige wenige blieben im Kretscham zurück, der Rest aber ging auf Wolfshau zu.

Bei der großen Hitze, die herrschte, zog man es vor, die ganz in greller Sonne liegende Chaussee zu vermeiden und lieber von dem hochgelegenen Kretscham aus gleich nach links hin bergab zu steigen, um hier, im Schatten der Berglehne, den Weg an der Kühlung gebenden Lomnitz hin zurückzulegen. Unterwegs wurden einige wieder unsicher und Zweifel ließen sich hören, die, wenn sie nicht geradezu von dem jüngeren Gerichtsmann ausgingen, so doch wenigstens durch eben diesen genährt wurden. Ein halbverbrannter Papierpfropfen sei gefunden worden, so viel stehe fest, aber dieser Papierpfropfen brauche keineswegs aus dem Gewehre des Wilddiebs zu stammen. Auch Opitz habe geschossen, wenn nicht im Kampf, worüber sich vielleicht streiten lasse, so habe er doch jedenfalls ein paar Noth- und Signalschüsse abgegeben, was aus seinen eigenen Aufzeichnungen hervorgehe. Solcher Aeußerungen wurden hinten im Zuge mehrere laut, aber an der Spitze der Kolonne, wo neben Klose der aus Erdmannsdorf herbeigekommene Gendarm Brey marschirte, hielt man an der einmal gefaßten Meinung fest und war nur einigermaßen überrascht, als man im Näherkommen an das Inselchen und seine Stellmacherei Lehnert Menz gewahr wurde, welcher unter der Thür stand und damit beschäftigt war, ein paar überhängende Rosenzweige mit Bast wieder zurück an den Stamm zu binden.

So wenigstens schien es. Er stand abgewandt und sah sich bei seiner Arbeit erst um, als er den Tritt der Herankommenden auf der kleinen Bohlenbrücke hörte. Daß er zusammenfuhr und sich verfärbte, sah niemand. Entschlossen ging er dem Trupp bis an den Brückensteg entgegen und begrüßte den alten Gerichtsmann.

„Ich weiß, Gerichtsmann Klose, weshalb Sie kommen.“ Dabei zog er den Hut und trat respektvoll bei Seite. Der Angeredete lächelte.

„Nun gut, Lehnert, wenn Ihr wißt, weshalb wir kommen, so werdet Ihr auch nicht erstaunt sein, wenn wir vorsichtig sind und Eure kleine Festung absperren und die Brückenstege besetzen. Ich will Euch und uns wünschen, daß sich schließlich alles als ‚nicht nöthig gewesen‘ herausstellen möge. Vorläufig aber muß ich Euch bitten, voranzugehen und dafür zu sorgen, daß wir Euch im Auge behalten. Im übrigen sollt Ihr, vor der Hand wenigstens, persönlich unbehelligt bleiben, denn es handelt sich nicht um Eure Person, sondern um eine Sache. Wir sind nämlich hier, um Euer Haus nach einem falschen Bart zu durchsuchen“

Der alte Klose sagte das so hin, um den unter Verdacht Stehenden auf eine falsche Fährte zu führen und dadurch sicher zu machen, was auch glückte. Lehnert stieg voran schreitend die Steintreppe hinan, während der Gerichtsmann und der junge Fachgehilfe folgten. Gendarm Brey aber postierte sich vor der Vorderthür und überwachte von dieser seiner Hochstellung aus die durch den anderen Trupp erfolgende Besetzung der beiden Brückenstege.

In der Stube begann inzwischen ein Wehklagen und Geschrei. Die alte Menz warf sich dem Gerichtsmann zu Füßen, küßte dem jungen Forstgehilfen die Hand und schwor und jammerte, daß sie unschuldig sei und von nichts wisse, und daß Lehnert auch unschuldig sei und ein frommes Gemüth habe, was ja der liebe Pastor Siedenhaar bestätigen könne, der ihn auf die Freischule geschickt, weil er immer die Sprüche so gut gelernt und immer neben der Orgel gestanden und am besten gesungen habe. Ja, so sei das Lehnertchen immer gewesen, ein frommes Gemüth und kränke keinen und keine Fliege nich an der Wand. Und was die Leute gesagt haben und was auch Opitz gesagt habe, – Gott hab’ ihn selig, denn er war ein engelsguter Mann, und nun gar erst die Frau, die gab all und jedem, – das sei nicht wahr und alles bloß gelogen, weil es so viel schlechte Menschen gebe, die einem nichts gönnen, und sie seien unschuldig. Und wenn sie vor Gottes Thron stünde und sie sollte es anders sagen, so könnte sie nicht anders sagen, als daß sie unschuldig seien und Lehnert auch, denn er sei immer ein frommes Kind gewesen, und Siebenhaar unten in Arnsdorf . . .

In diesem Augenblicke wurde der junge Forstgehilfe, während die Hände der Frau Menz die Kniee des alten Klose nach wie vor umklammert hielten, einiger an einer Bindfadenschlinge hängender Kalenderblätter gewahr und machte Miene, darauf zuzuschreiten. Lehnert, der mit klugem Auge jeder Bewegung gefolgt war, wußte, daß man ihn jetzt in Händen habe.

„Laß doch, Mutter!“ rief er dieser in erkünsteltem Zorne zu, während er die Knieende vom Boden aufriß, „was erniedrigst Du Dich? Ich will das nicht. Ich kann das nicht mit anseh’n.“

Und die kleine Frau heftig schüttelnd, schob er sie, scheinbar nur um dem Geschrei und Gewimmer ein Ende zu machen, aus die Thür und den Flur zu.

Der mittlerweile ganz an seine Fährte gebannte Forstgehilfe war, ohne für das, was sonst in der Stube vorging, einen Blick zu haben, an die vergilbten Blätter herangetreten und hob sie sammt dem Faden, daran sie hingen, vom Nagel. Und schon das erste, worauf sein Auge fiel, war das, wonach er suchte.

„Wir haben ihn!“ Und triumphirenden Auges an den alten Gerichtsmann herantretend, wies er auf die Jahreszahl oben rechts in der Ecke. „Wir haben ihn!“

Und unter diesen Worten eilte man nach dem Flur hinaus, um Lehnert, dessen Schuld nun klar war, in Verhaft zu nehmen. Aber wo war er? Die Alte lag draußen, in wirklicher oder erheuchelter Ohnmacht, jedenfalls unfähig oder unwillig, auf die stürmisch an sie sich richtenden Fragen Antwort zu geben. Wo war er?

Die Brückenstege waren nach wie vor besetzt, so mußt’ er

[117]

Kaiserin Maria Theresia.
Nach einem Gemälde von W. Camphausen.

[118] denn, wenn nicht ein Wunder geschehen war, im Hause selbst irgendwo verborgen sein. Und bis unter das Dach hin wurde nun jeder Winkel und Beischlag untersucht und die Suche bis in Schuppen und Milchkeller fortgesetzt. Man durchwühlte das Heu, die Hobelspäne, selbst in den Rauchfang stieg man hinauf und wurde nicht müde, das oberste zu unterst zu kehren. Alles umsonst. Die Alte wußte nichts. Er war fort.


14.

Sechs Jahre waren hin, und wieder war Sommer, als ein schlank aufgeschossener Mann von Mitte dreißig, der in seinem Aufzuge halb einem Cooperschen Trapper und halb einem Bret Harteschen Kaliforiner aus den Goldfeldern, den „Diggings“ glich, auf einem bequemen Waldpfade zu den Shawnee-Hills emporstieg, einem ausgedehnten, südlich vom Staate Kansas in den sogenannten „Indiair-Territories“ gelegenen Gebirgszuge. Er kam vom Fort Mac Culloch, das er schon tags vorher verlassen, und hoffte noch vor abend in dem an der andern Seite der Shawnee-Hills gelegenen Fort Holmes zu sein, an dessen Befehlshaber er einen Empfehlungsbrief hatte. Der Brief selbst aber lautete:

„. . . Dem Kommandierenden von Fort Holmes empfehle ich den Ueberbringer dieser Zeilen, Mr. Lionheart Menz, aus San Francisko, einen Preußen (aus Silesia) von Geburt, der bei Gelegenheit des letzten Eisenbahnunfalls nach Fort Mac Culloch gebracht und von uns in mehrwöchige Pflege genommen wurde. Er hatte einen Bruch des linken Oberarms erlitten. Mr. Lionheart Menz hat sich hier unser aller Herzen gewonnen. Er war, eh’ er nach San Francisko ging, mehrere Jahre lang in den Diggings, kam daselbst zu Vermögen und hatte vor, von San Francisko nach Portland und von Portland nach Shanghai zu gehen, um daselbst in ein Geschäft einzutreten, als der Zusammenbruch der Neu-Mexiko-Bank ihn fast um sein ganzes Vermögen brachte. Von neuem anzufangen, war er unlustig, und so hat er denn vor, es wieder als Zimmermann zu versuchen, am liebsten, seiner eigenen Angabe nach, in der Brettschneidebranche, weshalb er an den Mississippi will, wahrscheinlich nach St. Louis und, wenn er dort scheitert, nach Milwaukee, Wisconsin. Er ist, wie alle Deutschen, musikalisch, wovon er uns Proben gab, trotzdem ihm die ganze Zeit über nur die rechte Hand zur Verfügung war. Jetzt ist er vollkommen wieder hergestellt, und Ihr werdet zu Spiel und Tanz mehr von ihm haben als wir. Sein eigentliches Instrument ist die Zither, hierlandes wohl schwer zu beschaffen, aber er knipst auch auf der Violine, meistens mit einer Federspule, was allemal eine vorzügliche Wirkung macht. Er hat den Wunsch ausgesprochen, seine Weiterreise, zunächst wenigstens, zu Fuß machen zu dürfen, weil er sich nach so vielen Wochen von Unthätigkeit nach Bewegung und Anspannung sehnt. Wir haben seinem Wunsche gern willfahrt und ihm zwei von unseren Cherokeeleuten als Führer und Träger mitgegeben. Unsere Bitte an Euch geht nun dahin, ihm in Fort Holmes gastlich begegnen zu wollen, mit jenem Entgegenkommen, das Ihr immer übt und das sich in diesem Falle doppelt belohnen wird. Er ist nämlich, von seiner Musik ganz abgesehen, über deutsche Zustände gut unterrichtet, war Anno Siebzig in der Nähe des deutschen Kronprinzen und hat den Einzug in Paris unter Bismarcks Augen mitgemacht. Daß seine Stellung in jenen Tagen eine hervorragende gewesen sei, wird sich kaum annehmen lassen, aber er hat doch den Vorzug, von allem damals Erlebten erzählen zu können. Ich empfehle mich Eurer kameradschaftlichen Geneigtheit.

Henry Wood, Kommandant von Fort Mac Culloch.“

So der Brief, der das, was Lehnert in den letzten sechs Jahren erlebt hatte, kurz erzählte. Ja, so war es gewesen: ein Vermögen war rascher hingeschwunden, als er es erworben hatte. Im übrigen war die Nachricht von dem Bankrott der Neu-Mexiko-Bank, so unvorbereitet sie ihn traf, ohne tiefere Bewegung von ihm aufgenommen worden, weil ihn dieser beinahe völlige Vermögensverlust rasch und mit einem Schlag einem im Lauf des letzten halben Jahres in San Francisko geführten Spekulationsleben entriß, das ihm eigentlich schon widerstand, während er es noch mitmachte. Ja, er sehnte sich aufrichtig danach, an die Stelle des mit deutschen und schweizerischen und vielfach auch mit französischen Abenteurern in den Diggings verbrachten Lebens und des schlimmern in der kalifornischen Hauptstadt wieder ein Leben voll Arbeit treten zu lassen, und die Reise nach dem Osten erschien ihm als der erste Schritt dazu. Selbst der Eisenbahnunfall, der ihn traf, war nicht dazu angethan, ihn anderen Sinnes zu machen. Im Gegentheil, die stillen Wochen in Fort Mac Culloch hatten ihn in diesen seinen Anschauungen nur noch gefestigt, und es war unter einem lange nicht gefühlten Behagen, daß er jetzt frisch und rüstig die Shawnee-Hills hinaufstieg, auf kaum fünfzig Schritt die beiden Cherokees vor sich, die seinen Koffer an einer über ihre Schultern gelegten Stange trugen. Von Zeit zu Zeit sahen sie sich nach ihm um, und ihr freundliches Grinsen, wenn er nach diesem oder jenem fragte, steigerte nur noch die Heiterkeit seiner Seele.

Gegen mittag hatten alle drei, nach mehrmaliger Rast, den Kamm des ziemlich hohen Gebirgszuges erreicht, und Lehnert sah nun weit und frei nach Norden hin. Alles, was da vor ihm lag, war ein wohl an sieben Meilen breites, von der von Galveston kommenden Bahn durchschnittenes Querthal, an dessen entgegengesetzter Seite das Land allmählich wieder anstieg, bis es abermals einen ziemlich hohen, dem diesseitigen Zuge der Shawnee-Hills entsprechenden Bergzug bildete. Dazwischen war wenig Leben. Von den Ortschaften an der Bahn hin waren nur die weiter entfernten sichtbar: Station Darlington und Station Gibson (letztere schon ganz drüben), während sich die verhältnißmäßig nahe gelegene Station Holmes sammt ihrem gleichnamigen Fort verbergen zu wollen schien. Erst als Lehnert die beiden Indianer herbeirief und nach dem Fort fragte, gaben sie seinem Auge die nöthige Richtung, und nun sah er (die Station blieb versteckt) wenigstens die vier gekupferten Thürmchen von Fort Holmes deutlich in der hellen Sonne blinken.

Und ehe noch sechs Uhr heran war, hatte sich Fort Holmes in aller Gastlichkeit aufgethan, trotzdem der mitgebrachte Empfehlungsbrief, und zwar infolge zufälliger Abwesenheit des Kommandanten von Fort Holmes, noch gar nicht seine Schuldigkeit hatte thun können. Als nun aber zwei Stunden später der Kommandierende wieder daheim war und den ausführlichen Brief seines Kameraden Henry Wood von Fort Mac Culloch gelesen hatte, steigerte sich das Entgegenkommen noch um ein Erhebliches, und Aufforderungen von beinah’ dringlicher Natur ergingen an Lehnert, auch in Fort Holmes eine längere Rast nehmen zu wollen. Lehnert aber, den ein ernstliches Verlangen erfüllte, dem vielwöchigen Nichtsthun ein Ende zu machen, blieb nur bis über den zweiten Tag. Am Morgen des dritten nahm er Abschied und schritt vom Fort aus auf das gleichnamige Stationsgebäude zu, das in kaum halbstündiger Entfernung gerade da, wo der Schienenweg aus dem Gebirge trat, in einer halbmondförmigen Ausbiegung am Saum eines Ahornwäldchens lag.

Die kleine Bahnhofsuhr von Station Holmes zeigte neun Uhr früh, als Lehnert daselbst eintraf. In einer Viertelstunde mußte der von Galveston nach dem Norden führende Zug da sein, er kam aber mit erheblicher Verspätung, so daß Lehnert und die wenigen Personen, die mit ihm auf dem Bahnsteige warteten, sich beim Einsteigen beeilen mußten. Die Wagen waren nur schwach besetzt und in demjenigen, in welchem sich’s Lehnert alsbald bequem zu machen suchte, befand sich nur ein einziger Mitreisender, ein junger Mann von achtzehn Jahren, der, wiewohl einigermaßen abweichend von der Mode gekleidet, trotzdem leicht erkennen ließ, daß er einem guten Hause zugehörte. Seine Züge verriethen den Deutschen, während andererseits die Sicherheit und Ruhe seiner Haltung mit gleicher Bestimmtheit zeigte, daß er, wenn auch vielleicht nicht in Amerika geboren, so doch jedenfalls amerikanisch geschult sei. Die Gegend schien er zu kennen. Er las, in die Ecke gedrückt, eine Zeitung und hatte den linken Arm auf eine Ledertasche gestützt, in deren Messingschild, wenn nicht alles täuschte, der Name des jungen Reisenden eingraviert war. Lehnert suchte denn auch das Eingravierte zu lesen, was ihm unschwer glückte. „Tobias Hornbostel“ stand in oberster Reihe, dicht darunter aber in etwas kleinerer Schrift: „Nogat-Ehre, Station Darlington, Indian-Territory.“ Das war beinah’ eine Biographie, mindestens eine volle Adresse. In Lehnert stieg, als er Namen und Ortsangaben entziffert hatte, eine alte Erinnerung auf, und wenn er schon vorher den Wunsch einer Gesprächsanknüpfung gehabt hatte, so steigerte sich dieser Wunsch jetzt bis zu festem Entschluß. Er wollte nur warten, bis der Mitreisende das Zeitungsblatt aus der Hand gelegt haben würde. Das war nun geschehen und Lehnert sagte: „Ihr seid ein Deutscher.“

Der, an den die Frage sich richtete, bejahte mit vieler Freundlichkeit und fragte dann seinerseits, woran er ihn erkannt habe.

„Nichts leichter als das,“ sagte Lehnert. „Du hast das [119] deutscheste Gesicht, das ich all mein Lebtag gesehen habe. Lache nur! Und siehst dabei so klar aus und so gut. Du gefällst mir.“

„Du nennst mich Du?“

„Und Du mich auch,“ fuhr Lehnert fort, „was mir nur beweist, daß ich recht habe. Du bist nicht bloß ein Deutscher, Du bist auch ein Mennonit. Und die Mennoniten nennen sich, glaub’ ich, ,Du’, ganz so wie die Quäker.“

„Daß ich nicht wüßte. Jedenfalls nicht immer.“

„Aber doch oft. Und wenn sie Tobias Hornbostel heißen, dann ganz gewiß. Nicht wahr?“

„Ja, dann gewiß,“ antwortete Tobias und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich sehe, Du hast gute Augen und hast Namen und Ort auf dem Messingschilde gelesen. Und aus ,Nogat-Ehre‘ hast Du den Schluß gezogen, daß ich ein Mennonit sein müsse.“

„Freilich. Aber Du triffst es nur halb. Schon Dein Name Hornbostel hätte mir alles gesagt, auch wenn ich den Ortsnamen Nogat-Ehre gar nicht gelesen hätte. Vor sechs Jahren, als ich eben herübergekommen, war ich in Dakota, wo sie damals die Schwellen und Schienen für die Nord-Pacific-Bahn legten, und in einem Dorfe, das uns wegen seiner Tieflage viel zu schaffen machte – wenn ich nicht irre, nannten sie’s Dirschau –, in eben diesem Dorfe waren Mennoniten, und der Oberste der Gemeinde hieß Hornbostel, Obadja Hornbostel, mir noch deutlich in Erinnerung, weil wir, verzeih’, über den Namen oft scherzten. Und ich weiß auch, daß die Rede davon war, in Obadja Hornbostels Farm einzutreten, wo’s uns jedenfalls besser ergangen wär’, als in unserem fiebrigen Sumpfloch. Aber ich hatte damals noch die Sehnsucht nach den Diggings hin, weil ich ein Narr war und reich werden wollte. Sonst hält’ ich’s wahrhaftig auf der Stelle versucht . . . Obadja Hornbostel, ein hübscher, aber etwas sonderbarer Name.“

„Das war mein Vater.“

Lehnert erschrak fast. „Aber das war ja doch in Dakota, neunhundert englische Meilen von hier.“

„Und ist doch so, wie ich sage. Wir waren erst in Dakota, da bin ich auch geboren, und meine Schwester Ruth auch. Und unsere Mutter ist da begraben. Und wir dachten auch in Dakota zu bleiben. Als aber ein Streit mit der Behörde kam und die klugen Herren, die man uns nach Dakota schickte, so thaten, als ob wir Mormonen seien, oder doch nicht viel anders, da machte der Vater kurzen Prozeß und zog aus wie Abraham, und die ganze Kolonie mit ihm, und diesen Herbst werden es fünf Jahre, daß wir hier sind und eine neue Heimath haben, in der man uns, bis jetzt wenigstens, nicht gestört hat. Erst sollt’ es wieder Dirschau heißen, so wenigstens wollt’ es der Vater, aber schließlich gab er es auf und nannt’ es wie die Gemeinde wollte. Und so wohnen wir denn in ,Nogat-Ehre‘.“

Lehnert sah nachsinnend in die Landschaft hinaus. Erst nach einer Weile nahm er das Gespräch wieder auf und sagte: „Glaubst Du, daß Dein Vater mich brauchen kann?“

Tobias schwieg.

„Du schweigst. Und ich sehe daraus, Ihr seid sehr wählerisch geworden seit Dakota.“

„Nein. Das nicht. Ich überlege nur, wie’s wohl ginge.“

„Das soll Euch keine Sorge machen. Ich habe von Kind auf Schwielen an meinen Händen gehabt und wenn ich sie hatte, war mir immer am wohlsten. Ich will Deinem Vater in der Wirthschaft helfen, pflügen und graben, wenn es sein muß, und das Vieh austreiben. Ich weiß mit Axt und Säge Bescheid und kann Uhren reparieren und Dach decken, mit Schindel und mit Stroh, und einen Stollen in den Berg schlagen. Und ich kann auch die Schreiberei besorgen und werde mich überhaupt schon nützlich machen.“

Toby nickte. Als aber Lehnert gleich danach in Erfahrung brachte, daß man in weniger als einer halben Stunde schon auf Station Darlington eintreffen werde, ließ er das Thema, das er vorläufig als erledigt ansah, fallen und sprach statt dessen von Utah und den Heiligen am Salzsee und zuletzt auch von Kalifornien.

„Kennst Du Kalifornien?“ fragte Toby.

„Nur zu gut! Was ich in vier Jahren in den Diggings erworben, bin ich in vier Monaten in San Francisko wieder los geworden. Aber es ist gut so. Ich habe nie am Gelde gehangen und will nur frei sein. Ist Dein Vater streng? Ein großer Befehlshaber?“

„Er befiehlt nie. Er sagt nur: ,Ich denke, wir machen das so.‘“

Lehnert lachte: „O, das kenn’ ich, das ist die fromme Form, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Uebrigens ist’s mir gleich. Wo Verstand befiehlt, ist der Gehorsam leicht. Bloß der Befehl rein als Befehl, bloß hart und grausam, da kann ich nicht mit, das kann ich nicht aushalten.“

Toby sah ihn groß an. „Das ist recht, was Du da sagst. So denk’ ich auch und so denken wir alle. Und wenn Du so bist, da bin ich auch sicher, Du wirst dem Vater gefallen. Er hat es gern, wenn man frei spricht und eine Meinung hat. Aber eine Form muß es haben, darauf hält er.“

Unter diesem Gespräche hatte man Darlington erreicht, und beide stiegen aus. Ein kleines Ponygefährt war schon vorher bis dicht an das Stationsgebäude herangefahren und ein junges Mädchen von kaum sechzehn Jahren hielt die Zügel in Händen. „Grüß Dich Gott, Ruth!“ rief Tobias schon von weitem. Ein listig dreinschauender junger Cherokee, der den Dienst auf der Station hatte, stand neben dem Gefährt und wartete. Diesem warf das junge Mädchen mit großer Geschicklichkeit die Zügel zu, sprang vom Wagen und war im nächsten Augenblick in herzlichem Gespräch mit ihrem Bruder. Dies Gespräch aber drehte sich um Lehnert und ob man ihn nicht sofort nach Nogat-Ehre mit hinausnehmen solle, was die Schwester von ihrem Bruder Toby zu fordern schien. Und in der That trat dieser noch einmal an Lehnert heran und sprach in dem Sinne, wie’s Ruth gewollt hatte. Lehnert aber wollte, daß Toby erst bei seinem Vater anfrage, und so lehnte er es ab, sofort mitzugehen. Er werde die Nacht im Stationshause zubringen und am anderen Morgen auf die Farm hinauskommen. So sei’s am besten und Toby solle nur vorher schon für ihn sprechen und nichts von dem vergessen, was er ihm gesagt habe.

Damit trennte man sich, und eine Minute später rollte das Ponygefährt wieder in die Landschaft hinein. Toby fuhr jetzt, während Ruth den Arm um des Bruders Schulter gelegt hatte. Der blaue Schleier flog und an einer Biegung des Weges sahen sich beide noch einmal um und grüßten.

„Unschuld . . . “ sagte Lehnert. „Wer Dich hat, hat das Glück.“


15.

Am andern Morgen war Lehnert früh auf. Die Luft war frisch und steigerte das Wohlgefühl, das ihm ein guter und auskömmlicher Schlaf gegeben hatte; trotzdem aber war seine Zuversicht dahin und einem starken Zweifel gewichen, dem Zweifel, ob er, trotz seiner Unterredung mit Tobias, den Schritt auch thun und sich in Nogat-Ehre melden solle. Wie war sein Leben verlaufen? Unter Abenteuer und Gewaltthätigkeit und unter Auflehnung gegen Ordnung und Gesetz. Und er wollte sich bei den Mennoniten verdingen? Ja, wer waren denn die Mennoniten? Damals, als er noch in Dakota lag und abends beim Gin immer nur ein Witzeln über die Mennoniten hörte, die für reich galten und weiter nichts, da hätt’ es vielleicht gepaßt, weil er’s nicht besser wußte. Jetzt aber wußte er, daß es fromme Leute seien, fleißig und wahrheitsliebend und Feinde von Eid und Krieg, und in solche Friedensstätte wollt’ er einbrechen? Das durft’ er nicht; er gehörte nicht dahin, er war eine Störung, und wenn er keine Störung war und den Frieden der Friedfertigen nicht trübte, war er seinerseits der Mann, den Frieden, den er da vorfand, auch nur tragen zu können? Lag es nicht so, daß der Krieg sein einzig Stück glücklich Leben gewesen war? Und was verwarf der Mennonit mehr als den Krieg?

So sinnend, sah er auf das Bahngeleise, das auf kaum zehn Schritt Entfernung hart an ihm vorüber nach Norden führte. War es nicht besser, diesem eisern vorgeschriebenen Wege, wie er’s ursprünglich gewollt hatte, zu folgen?

Er überlegte noch, als er schräg neben der Bahn ein zierliches kleines Fuhrwerk über die Felder kommen sah, und ein zweiter rascher Blick war ausreichend, ihn erkennen zu lassen, wer die Herankommenden seien. Es waren die Geschwister, die gestern auf demselben Feldwege die Heimfahrt nach Nogat-Ehre gemacht hatten, und Ruths Schleier, der auch heute wieder wehte, nahm ihm den letzten Zweifel. Und mit diesem Zweifel fielen auch alle die Bedenken, die seit Stunden auf ihm gelastet hatten, wieder von ihm ab und es stand wieder fest in seiner Seele, daß er’s bei den Mennoniten versuchen müsse. Freudig erhob er sich und ging rasch auf den kleinen Wagen zu, der, eben die Schienen kreuzend,

[120]

Madame Pompadour und Marquis Posa auf dem Maskenball.
Zeichnung von H. Schlitt.

[121]

Madame Pompadour und Marquis Posa am nächsten Morgen.
Zeichnung von H. Schlitt.

[122] mit geschickter Biegung auf den Hof des Stationsgebäudes fuhr. Derselbe junge Cherokee, der schon gestern bei Lehnerts Ankunft bereit gestanden hatte, sprang auch heute wieder dienstfertig hinzu, Tobias aber gab statt seiner der Schwester die Zügel in die Hand, sprang dann ab und begrüßte sich mit Lehnert. „Alles in Ordnung!“ sagte er. „Ich habe mit dem Vater gesprochen und es ist nun an Dir, in unsere Farm einzutreten und sein Hausmeier zu werden. Ob erster oder zweiter, wird sich zeigen. Er ist froh, einen Deutschen mehr in seinem Hause zu haben. Er sagte, die Deutschen seien die besten, auch wenn sie, verzeih, nichts taugten. Und nun erlaube mir, nachzuholen, was ich gestern versäumt habe, Dir meine Schwester Ruth vorzustellen; steig’ auf und setz Dich neben sie. Oder noch besser, wir setzen uns zwei beide auf den Rücksitz und Ruth kutschiert. Sie fährt nämlich wie ein Fahrer, ein Wort, das ich einem Landsmann von Dir verdanke.“

Während Toby noch weiter plauderte, lenkte das Wägelchen in den Feldweg ein, und die Bahn in immer weiter werdendem Abstande neben sich, ging es zwischen den Maisfeldern hin, deren hoher Stand den Wagen sammt seinen Ponies überragte. Schließlich war man aus den Maisfeldern heraus und gelber Raps lag vor ihnen, dessen Duft der Wind ihnen zutrug. Und dazu klangen die Glöckchen, wenn die Shettländer ihre langen Mähnen schlugen, um sich der Bremsen zu erwehren. Lehnert aber sog das alles begierig ein, und es war ihm, als flög er und als wären es alte Zeiten und als thäten sich Heimath und Glück noch einmal vor ihm auf.

„Ist das alles Euer?“ frug er und wies auf die Fruchtfelder links und rechts.

„Ja,“ sagte Toby, „das heißt, es ist alles Mennonitenland, alles Nogat-Ehre. Was aber dem Vater persönlich gehört, unsere Farm, das liegt nach der anderen Seite zu, das sollst Du morgen sehen, da steht es noch besser und der Klee geht bis über die Wagenräder. Du mußt nämlich wissen, der Vater ist ein großer Farmer und Landmann und liest alle Zeitungen und Zeitschriften, und was die Gelehrten anrathen, das schafft er an und scheut kein Geld. Nicht wahr, Ruth?“

Ruth nickte langsam und gravitätisch, ohne sich nach ihnen umzusehen, und Lehnert sah aus der halb komischen Art, in der diese Zustimmung erfolgte, daß Obadja zu den Neuerungsschwärmern gehören müsse. Ueberhaupt könnt’ er wahrnehmen, daß das Gemisch von Offenheit und Heiterkeit, das ihn schon an dem Bruder so angezogen hatte, bei der Schwester noch stärker vertreten war. Von Ernst und Schwerfälligkeit keine Spur; ihr Frohsinn war von jener entzückenden Art, wie die kindlich Gläubigen ihn so oft haben, die nicht anders wissen, als daß Gottes gütige Vaterhand sie jeden Augenblick hält und trägt und schützt, – ein beseligendes Gefühl immer abwesender Gefahr.

Eine kleine Pause war eingetreten, und Toby, dem daran lag, das so glücklich eingefädelte Gespräch auch fortgesetzt zu sehen, nahm es an alter Stelle wieder auf und sagte: „Ja, kein Geld und keine Müh’. Nichts scheut er. Und das alles bei seinen hohen Jahren.“

„Ist er denn schon so alt?“ fragte Lehnert. „Ihr seid ja doch beide noch so jung.“

„Dreiundsiebzig,“ lachte Ruth.

„Da muß er sehr spät geheirathet haben.“

Jetzt verdoppelte sich das Lachen. Aber Toby, der wohl fühlte, daß das Lachen Lehnert verlegen machen müsse, gab nun Aufklärung und erzählte, daß der Vater dreimal verheirathet gewesen sei, so daß sie viele Halbgeschwister hätten. Die Kinder der ersten Ehe seien nach Preußen, nach Danzig und Dirschau, zurückgegangen, die der zweiten lebten in Dakota, und sie beide, seien die jüngsten. Ihr ältester Halbbruder sei schon über vierzig Jahre alt und voriges Jahr zum Besuch in Nogat-Ehre gewesen.

In diesem Augenblicke stieg der Boden ein wenig an, und als man oben war, wurde in kleiner Entfernung eine blinkende, langgestreckte, nur hier und da von hohen Pappeln überragte Häuserreihe sichtbar, auf die Ruth jetzt mit der Peitschenspitze hindeutete. „Das ist Nogat-Ehre. Siehst Du’s? In einer Viertelstunde sind wir da. Das letzte Gehöft da, zwischen den zwei Pappeln, das ist unser Haus. Und dann kannst Du sehen, wie wir leben. Es wird Dir schon gefallen. Du siehst so recht aus, als ob Du glücklich und zufrieden sein könntest. Aber ich spreche so, wie wenn wir Dich schon hätten. Und wir haben Dich doch noch lange nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal Deinen Namen . . . Toby, warum hast Du mir seinen Namen nicht genannt?“

Toby lachte. „Weil ich ihn selber noch nicht weiß. Und der Vater hat auch gar nicht danach gefragt. Aber nun wird es freilich Zeit damit, wenn wir nicht mit einem Namenlosen in Nogat-Ehre einfahren wollen.“

„Ich heiße Lehnert Menz.“

„Ein hübscher Name,“ sagte Toby.

Ruth nickte zustimmend. Aber gleich danach schien sie wieder wie wankend und schwankend zu werden und setzte hinzu: „Ja, hübsch. Aber was ist Lehnert? Ist es ein Kalendername?“

„Freilich ist er das. Und Du solltest ihn kennen. Lehnert ist Lienhardt. ,Lienhardt und Gertrud‘ wirst Du doch noch nicht ganz vergessen haben.“

„Nein, gewiß nicht. Es war die schönste Geschichte, die wir als Kinder gelesen haben. Und der Vater kam oft dazu, wenn die Mutter sie vorlas, und wenn Lienhardt und Lehnert ein und dasselbe sind, dann gefällst Du mir noch besser. Und wenn Du so bist wie Lienhardt, denn ich weiß noch, daß er gut war, da wollen wir gute Freunde werden.“


16.

Als Ruth noch sprach, fuhr man über einen Brückenbogen und lenkte jenseit desselben in einen breiten, mit jungen Akazien besetzten Weg ein, zu dessen einer Seite ein von den Bergen kommender Bach schäumte, während sich an der anderen Seite die Gehöfte der Mennonitenkolonie hinzogen. Man war in Nogat-Ehre. So viel Lehnert während der Fahrt durch die lange Dorfstraße wahrnehmen konnte, waren die Gehöfte von ziemlich gleichem Aussehen und bestanden aus einem einstöckigen Fachwerkwohnhaus, das mit breiter Front auf die Straße blickte, während die großen Stallgebäude quer standen und mit ihren Giebeln auf die Straße sahen. Einige hatten vor ihrer Thür eine mit Geisblatt und Pfeifenkraut umsponnene Gitterlaube, von der aus vier oder fünf Steinstufen zunächst auf den Akazienweg und dann bis zum Bach hinabführten, allen Häusern gemeinsam aber war ein von einem Staketenzaun eingefaßter Vorgarten, in dem zwischen Taxus- und Buchsbaumrabatten einige wenige Georginen, meist aber Malven und Sonnenblumen standen, ganz als ob es Gärten aus der Nogat- und Weichselniederung wären.

Lehnert ging das Herz auf beim Anblick der einfachen Anlagen, die den aus Deutschland mitgebrachten Gartentypus mit so viel Vorliebe pflegten, und wandte sich eben, um eine große Glaskugel und ein bemaltes Bienenhaus noch einmal flüchtig zu mustern, als das Ponygefährt auf einen ansteigenden und fast eine Rampe bildenden Kiesweg hinauflenkte und nun vor dem Schwellstein eines nüchtern wirkenden, weitschichtigen Hauses hielt, das zum Unterschiede von den anderen ohne Staketenzaun und Vorgarten war und durch seine Stille, die hohen Fenster und ein paar gothische Holzverzierungen an ein halb kirchliches Gebäude gemahnte.

„Hier sind wir,“ sagte Toby, nahm seiner Schwester die Zügel aus der Hand und wartete, bis ein Knecht (auch hier ein junger Cherokee) vom Hof her erschien, dem er das Gespann über geben konnte. Dann traten alle drei in ein bis hoch hinauf mit Holz verkleidetes Treppenhaus, das durch die ganze Tiefe des Hauses lief. Als man bis an die geradlinig aufsteigende Treppe gekommen war, gab Ruth dem Lehnert zum Abschiede die Hand, wandte sich aber auf der dritten Stufe noch einmal und sagte: „Die Hauptsache nicht zu vergessen, Gott segne Deinen Aus- und Eingang.“ Und nun erst eilte sie rasch ihrer im Oberstock gelegenen Wohnung zu. Toby mußte lächeln, als er sah, wie Lehnert der Erscheinung nachblickte. Dann nahm er seinerseits Lehnerts Arm und sagte: „Nun komm, daß ich Dich zu dem Vater führe!“

Das einen großen Flur bildende Treppenhaus hatte zu beiden Seiten Bänke, sonst war es ein leerer Raum, der, mit Ausnahme des Frontportals, nichts als drei Thüren zeigte, von denen eine kleinere nach dem Hof hinaus ging, während zwei hohe Doppelthüren in die neben dem Treppenhause gelegenen Haupträumlichkeiten führten. Beide Doppelthüren standen in diesem Augenblick offen und gestatteten einen Blick nach rechts hin in einen Betsaal, nach links hin in eine hochgewölbte Halle. Diese Halle – von mächtiger Wirkung, trotzdem sie von kleineren Verhältnissen als der Betsaal war – mußte von jedem, der in Obadjas Wohn- und Arbeitszimmer wollte, durchschritten werden. Auch hier übrigens, in dieser geräumigen Halle, gab sich, ganz so wie draußen im [123] Flur, alles aufs einfachste: nur ein schwerer Eichentisch, um den einige Stühle standen, zog sich durch den nahezu schmucklosen und nur mit einem Geweihkronleuchter ausstaffierten Fest- und Speiseraum, dem ein großer, an der einen Schmalseite befindlicher Silber- und Geschirrschrank zugleich als Anrichtetisch diente. Des weiteren aber lief, quer durch den Raum hin, eine Matte von Kokosfaser auf eine kleine Thür zu, deren gobelinartigen Vorhang Toby jetzt zurückschlug. Und nun ließ er Lehnert Vorgehen und folgte.

Wenn das Treppenhaus schattig und die Halle beinah’ dunkel gewesen war, so war hier alles hell, denn ein breiter Lichtstreifen fiel durch ein Giebelfenster von beträchtlicher Höhe; neben dem Fenster aber und von seinem Lichte halb umschienen, saß Obadja bei der Korrespondenz, die, sorglich von ihm unterhalten, nach den verschiedensten Theilen der Union, besonders aber nach Kansas und Dakota ging. Als er hörte, daß jemand eingetreten war, wandt’ er sich, indem er den Stuhl drehte, der Thür zu, blieb aber sitzen.

„Lieber Vater,“ sagte Toby, „hier bring’ ich Dir Mister Lehnert Menz.“

„Lehnert Menz?“ wiederholte ruhig und freundlich der Alte. „Hab’ ich recht verstanden?“

„Zu Befehl!“ sagte Lehnert.

Obadja lächelte, weil er sich aus lang zurückliegenden Zeiten her dieser militärischen Form der Bejahung erinnerte. „Nun, Mister Lehnert,“ fuhr er fort, „Ihr wollt es also mit uns versuchen? Toby hat mir davon erzählt. Und hat mir auch erzählt, daß sich unsere Wege vor Jahren schon einmal gekreuzt haben. Nehmt einen Stuhl, bitt’ ich, und rückt hier heran und setzt Euch ins Licht, daß ich Euch besser sehen kann. Es geht noch mit allem sonst, des Barmherzigen Gnade sei dafür gepriesen, aber mit dem Sehen will es nicht recht mehr. Und ich sehe doch jedem gern ins Auge. Das Auge sagt noch mehr als die Stimme.“

Lehnert that, wie ihm geheißen, und erwartete nun, daß ein Fragen und Katechifieren beginnen werde, ja mehr, es lag ihm daran, es war geradezu sein Wunsch. All die Zeit über hatte seine That auf seiner Seele gelastet, und er sehnte sich danach, alles herunter zu beichten und in dieser Beichte Trost und Erleichterung zu finden. Aber von dieser Erwartung erfüllte sich nichts und wenn ihm auch nicht entging, daß Obadja, wie zufällig, seine Hand nahm und ihn dann von der Seite her ansah, so könnt’ ihm doch noch weniger entgehen, daß jede unmittelbare Frage nach Leben und Vergangenheit mit Absicht vermieden wurde.

„Ich höre von meinem Sohne Toby,“ nahm Obadja nach einer Weile wieder das Wort, „daß Ihr ein Preuße seid, also, meiner Geburt nach, ein Landsmann von mir und jedenfalls ein Landsmann meiner zwei ältesten Sohne, die diesem neuen Lande wieder den Rücken gekehrt haben und lieber drüben sind als hier. Und vielleicht haben sie recht gethan. Denn die Freiheit, deren wir uns hier rühmen und freuen, ist ein zweischneidig Schwert und die Gewaltherrschaft der Massen und das ewige Schwanken in dem, was gilt, erfüllen uns, so sehr ich die Freiheit liebe, mit einer Unruhe, die man da nicht kennt, wo feste Gewalten bestehen. Ordnung und Arbeit, worauf es ankommt, die sind in dem Lande drüben, drin wir beide geboren wurden, recht eigentlich zu Haus, und um dieser Tugenden und vor allem auch um der Nüchternheit willen sind mir die Preußen die liebsten und sind mir die nutzbarsten Mitarbeiter an meinem Werk.“

Hier unterbrach sich Obadja, wie sich Prediger in ihrer Predigt unterbrechen, um nach einiger Zeit einen neuen Anlauf zu nehmen, und Lehnert schwieg, weil er fühlte, daß jetzt ein Uebergang kommen müsse. Und der kam denn auch wirklich.

„Die nutzbarsten Mitarbeiter,“ wiederholte Obadja. „Und das gilt auch von dem guten Mister Kaulbars, der jetzt meiner gesammten Wirtschaft als ein Verwalter und Hausmeier vorsteht. Er ist ein ehrlicher Mann, ohne Lug und Trug, ein treuer Arbeiter und prompt in der Erfüllung seiner Pflichten und hat, was ihn meinem Herzen am nächsten stellt, die rechte Freud’ und Lust an dem Segen Gottes als solchem, und eine Ernte zu Grunde gehen zu sehen, das wurmt ihn und quält ihn, auch wenn jeder Halm versichert ist. Es ist ihm nicht um den Gewinn bloß, es ist ihm um den Segen, den er nicht missen will. Ja, so ist dieser Mister Kaulbars, den ich, so lang ich noch in der Arbeit steh’, in Ehren zu halten gedenke. Aber Euer Landsmann ist ein Eigensinn und ein Besserwisser, der sich dem neuen Lande, drin er nun lebt, nicht anbequemen und alles nach der Weise seiner alten Heimath anordnen und regeln will. Er gehorcht wohl, weil er im Gehorsam erzogen ist, aber es ist ein todter Gehorsam, und ein todter Gehorsam ist unfruchtbar, nicht bloß in Herz und Seele, sondern auch auf dem Arbeitsfelde draußen, und so schädigt er mich, ohne es zu wollen, und mindert mein Gut. Dem will ich abhelfen, da will ich Wandel schaffen, und dessen verseh’ ich mich von Euch. Ich hab’ in Eurem Auge gelesen und ich kenne Euch nun: Ihr habt einen Ehrgeiz und es lastet was auf Eurer Seele, das hat Euch bis diese Stunde durch die Welt getrieben und ich sehe das Zeichen auf Eurer Stirn. Aber ich weiß auch, daß Ihr ein tapferes Herz habt und einen Edelsinn, der sich nicht verleugnet, wo Liebe ihn pflegt. Und diese Liebe soll Euch werden. Getröstet Euch dessen. Keiner, der unter dieses Dach getreten, ist ungetröstet von dannen gegangen. Im Namen dessen, der die Liebe war, ruf’ ich Euch zu: ‚Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Lehnert Menz, Deine Last soll von Dir genommen werden. Ich segne Dich . . . ‘“

Und Lehnert fühlte, während er den Kopf neigte, wie die Hand Obadjas seinen Scheitel berührte.


17.

Nebenan, in der großen Halle, war inzwischen für Lehnert ein Frühstück aufgestellt worden, und zwar durch Frau Rosalie Kaulbars in Person, die nicht nur alles Nöthige selbst herzugetragen, sondern dem eingerichteten Frühstückstisch auch noch eine der preußisch-heimischen Art entsprechende Ausschmückung gegeben hatte. So kam es, daß sich, um gleich die Hauptsache zu nennen, um die Kufe mit saurer Milch ein blühender Lindenzweig legte. Eier in der Schale sammt Schinken vervollständigten das einfache Mahl, dem Frau Kaulbars anfänglich, einigermaßen aus der Rolle fallend, auch noch eine halbe Wassermelone beigegeben hatte, bis der zufällig anwesende Mister Kaulbars gegen solche Zusammenstellung Verwahrung eingelegt hatte. „Was denkst Du denn eigentlich, Röse? Soll er hier gleich mit Kullern und Schneiden anfangen?“

Als Lehnert aus Obadjas Zimmer trat, hatte sich das Ehepaar, um nicht neugierig zu scheinen, aus der Halle in die Wirthschaftsräume des abgetrennt stehenden Quergebäudes zurückgezogen. Statt ihrer waren Ruth und Toby da, mit ihnen Uncas, ein wundervoller, schwarz- und weißgefleckter Neufundländer, der seine Herrin Ruth auf Schritt und Tritt zu begleiten pflegte.

„Stören wir Dich, wenn wir uns zu Dir setzen?“ fragte Toby, indem er Lehnert an die Schmalseite des Tisches führte, wo gedeckt war.

Lehnert suchte nach einer Antwort, aber er fand sie nicht. Das war mehr Liebe, als er sich in seinem ganzen dreiunddreißigjährigen Leben zusammenrechnen konnte. Er legte die Hand auf die Stuhllehne, drin ein Kleeblatt eingeschnitten war, und faltete die Hände zum ersten Male seit vielen Jahren.

Die Geschwister schwiegen und sahen ihm bewegt zu. Als sie aber wahrnahmen, daß er sich wieder gesammelt hatte, sagte Toby: „Nun also, Lehnert, wir bleiben und leisten Dir Gesellschaft. Sieh nur, Uncas schließt auch Freundschaft mit Dir. Nicht wahr, Ruth, das bedeutet was? Er hält nicht gleich zu jedem.“

Lehnert nahm, von der Milch und brach dann, um sie sich vorzustecken, einige Blüthen von dem Lindenzweig ab, und Ruth sah wohl, daß ihn dieser Zweig ganz besonders erfreut hatte.

„Das dankst Du dem Mister Kaulhars und seiner Frau,“ sagte Ruth. „Die sagten, das, sei so Sitte drüben. Und da habe ich den Zweig gepflückt und um die Milchkufe gelegt, aber die Wahrheit zu gestehen, mit halber Freude. Denn die Kaulbarse, besonders er, wollen alles preußisch machen, und wenn ich denke, daß Du auch ein Landsmann von ihnen bist, so beschleicht mich eine kleine Furcht, daß wir hier eine preußische Kolonie werden.“

„Das hat gute Wege,“ lachte Lehnert, „ich habe das Alte drüben gelassen.“

Sie plauderten noch ein Stückchen weiter über die Anhänglichkeit an die alte Heimath, die jeden bewußt oder unbewußt dahin leite, auch in der Fremde nach den vertrauten Formen und Gebräuchen der Heimath zu streben.

Als Lehnert mittlerweile sein Mahl beendet hatte, wandte sich Ruth an den Bruder und sagte: „Nun aber ist es Zeit, Toby, daß wir Mister Lehnert auf sein Zimmer führen.“

Alle drei stiegen treppauf, wobei Toby führte.

Der Oberstock war von ganz anderer Einrichtung, als das [124] im wesentlichen nur aus Treppenhaus, Betsaal und Halle bestehende Erdgeschoß, und wenn dieses letztere, mit Ausnahme von Obadjas Wohnzimmer, lediglich kirchlichen oder gelegentlich gesellschaftlichen Zwecken diente, so gehörte das, was eine Treppe hoch lag, dem häuslichen Leben, der Gemütlichkeit, der Familie. Beide Hälften des Oberstockes, zwischen denen ein großer quadratischer Flur lag, waren durch einen schmalen Mittelgang wieder in eine Reihe Vorder- und Hinterzimmer geteilt, von denen alle linksseitigen von Ruth, Toby und ihrer alten polnischen Dienerin Maruschka bewohnt wurden, während alles an der entgegengesetzten Seite Gelegene die Gast- und Fremdenzimmer umschloß. Eines derselben war für Lehnert bestimmt morden und lag dem Zimmer gegenüber, das von Monsieur L´Hermite bewohnt wurde.

Als man oben war, ging Ruth, sich verabschiedend, nach links hin den Gang, hinunter, während Toby Lehnerts Hand nahm und ihn nach der anderen Seite hin auf einen in Dämmerlicht liegenden Korridor zuführte. Nur am Ende desselben war ein Lichtschein. Dieser kam aus Monsieur L´Hermites Zimmer, das meist offen stand und dem Korridor nicht bloß einiges von seiner Helle, sondern, nicht eben zur Freude der anderen Hausbewohner, auch viel von dem „Korporal“ mittheilte, der beständig darin geraucht wurde. Lehnert warf, als er bis heran war, einen Blick in das Zimmer hinein und sah einen hageren Mann von Mitte der fünfziger, mit Zwickelbart und Käppi, der, an einem Schraubstock beschäftigt, eben in scharfem Profile sichtbar wurde. Auch L´Hermite sah von der Arbeit auf und schob das Käppi nach hinten, was einen Gruß bedeuten, aber auch bloße Neugier sein konnte. Weiter darüber nachzudenken, verbot sich, denn Toby hatte die gerade gegenübergelegene Thür geöffnet und trat ein, während Lehnert folgte.




(Fortsetzung folgt.)


Roberts erste Liebe.

Eine Faschingsgeschichte von Hans Arnold.
Mit Zeichnungen von R. Gutschmid.


Die Welt stand im Zeichen des Pfannkuchens! Der Fastnachtsdienstag winkte in allernächster Nähe, und groß und klein wurde von einer unbezwinglichen Sucht ergriffen, sich zu maskiren!

Auch das Haus des Doktors Rademann entging der allgemeinen Epidemie nicht, - ja sie trat dies Jahr sogar in ein ernsteres Stadium! Hatten sich bisher die Kinder des Hauses damit begnügt, alte Hüte von der Mutter aufzusetzen, den Pelz des Vaters verkehrt umzunehmen, oder höchstens, als besonders ausgesuchtes Vergnügen, sich ihre gegenseitigen Kleider anzuziehen und mit einer einzigen Larve, die allen gemeinsam gehörte und aus unbekannten Zeiten stammte, die Wohnung zu durchrasen, überzeugt, ganz unkenntlich zu sein, so war in diesem Jahr eine Einladung zum Kindermaskenball an die Familie ergangen und soeben erst angenommen worden.

Die verspätete Zusage - sehr kurz vor dem festlichen Tage - hatte ihren Grund in dem durchaus gerechtfertigten Abscheu des Vaters gegen Kinderbälle in jeder Form - ein Abscheu, der von seiner Frau theoretisch so lange aufs tiefste geteilt wurde, als die Versuchung, ihre Kinder zu maskieren, nicht praktisch an sie herangetreten war.

Das Fünkchen weiblicher Eitelkeit aber, welches im Herzen jeder Mutter schlummert, war bei dem Gedanken, Robert, Tony und Minchen in Charakterkostümen glänzen zu sehen, zu verzehrender Flamme aufgelodert, in der die Einwände des Gatten wie Flor verbrannten und zu nichts wurden.

Das zweite Hinderniß war schwieriger zu besiegen gewesen. Robert, der Quartaner, befand sich in dem Stadium, in welchem Jungen alle Versuche, ihre äußeren Reize durch Toiletenkünste zu erhöhen, für etwas Unmännliches und Verächtliches ansehen, und die freundliche Einladung zum „Kindertänzchen“, wie in diesem Fall der Kunstausdruck hieß, hatte bei dem Erstgeborenen des Hauses ein dumpfes Wutgeheul zur Folge: „Ich gehe nicht - fällt mir gar nicht ein!“

Der Vater war auf Roberts Seite, erstens aus den bereits vorher erwähnten pädagogischen Grundsätzen überhaupt, und zweitens, weil er nach seiner ungalanten Bemerkung der Ansicht war: „Meine Mädel sind von Natur Affen - das liegt in der Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechts - warum ich mir aber den Jungen künstlich zum Affen machen lassen soll, das sehe ich nicht ein!“

Wenn uns nun jemand fragt, wie Roberts moralischer Widerstand gegen das "Vergnügen" schließlich gebrochen wurde, so müssen wir allerdings beschämt bekennen, daß sich sein männliches Herz gegen Bestechungsversuche nicht gestählt erwies, und daß die verlockende Verheißung eines neuen Taschenmessers mit zwei Klingen, wie Robert deren durchschnittlich zwölf im Jahr mit Entzücken zu bekommen und mit Thränen zu verlieren pflegte, seine Abneigung gegen gesellige Freuden überwand, so daß auch er seine Persönlichkeit in den Dienst des Karnevals stellte.

Die Frage der Kostümirung erregte demnächst noch einen „Sturm im Wasserglase“. Der Vater hielt sein Portemonnaie mit Hartnäckigkeit zu, da er für dergleichen Unsinn keinen Pfennig übrig zu haben behauptete, und die Doktorin mußte mit allem Scharfsinn, der weiblichen Herzen zu Gebote steht, aus dem Vorhandenen Neues zu schaffen suchen. Die Wahl der Verkleidung wurde denn diesem „Vorhandenen“ durchaus angepaßt.

Robert sollte auf Rechnung eines großen Filzhutes, der von Generation zu Generation als auffällig beiseite geschoben worden war, als Fuhrmann erscheinen - ein Kostüm, das um so leichter zu beschaffen war, als ein biederes Nachthemd, mit rothwollenem Band besetzt, und ein Paar lederne Schulunaussprechliche den übrigen Anzug vervollständigten. Da Robert noch die Stallpeitsche in der Hand trug, so war die historische Treue des Kostüms auffallend - wer sich einen Fuhrmann anders gedacht hatte, der konnte uns eben aufrichtig leid thun und mußte sich mit seiner Enttäuschung abfinden, so gut er es imstande war.

Minchen war mit ähnlich einfachen Hilfsmitteln zu einem Bauernmädchen umgewandelt worden, wobei ihr das Vorhandensein eines alten, schwarzen Sammetmiederchens mit goldenen Knöpfen, in dem die Mutter vor etwa fünfundzwanzig Jahren als Bäuerin auf einem Polterabend geglänzt hatte, ein bedeutendes Uebergewicht über ihre Geschwister verlieh.

Was endlich Tony, die Fünfjährige, betraf, so hatte man aus einem Stück Möbelkattun, das sich noch vorfand, einen herrlichen Hanswurstanzug für sie geschneidert, der, mit Schellenkappe und Pritsche vervollständigt, Tony zum Glanzpunkt der Familie erhob.

Die Mutter, mit dem stolzen Gefühl: „und ich, die all dies Herrliche vollendet“ - putzte eben ihre Gesellschaft an, die sich nach kindlicher Sitte bei grellem Tageslichte in den Ballsaal begeben sollte.

Robert war sich äußerst peinlich in seiner Maske und nahm jeden ihm vom Dienstpersonal oder den Schwestern geschenkten Blick lächelnder Bewunderung als tödliche Beleidigung auf, die er durch wütendes Anrennen mit gesenktem Kopf rächte, so daß der Vater ihm die Versicherung gab, als zorniger Ziegenbock würde er sich viel naturgetreuer machen wie als Fuhrmann, da ein solcher sich gesitteter zu betragen pflege.

Minchen stand in seliger Selbstversunkenheit vor dem Spiegel und betrachtete ihr eigenes Bild, wobei nur düstere Zweifel ihre Seele bewegten, ob sie nicht „was um den Hals“ haben müßte - eine Anmaßung, welcher die Mutter durch die mehr kühnen als begründeten Worte: „Bäuerinnen haben nie etwas um den Hals!“ ein schnelles und beschämendes Ende bereitete.

[125] Robert, der es trotz seiner anscheinenden Uebellaune nicht erwarten konnte, bis man „losging“, wie er sich ausdrückte, beschwor inzwischen die Mutter um Verhaltensmaßregeln für seine Schwestern.



Dieselben sollten sich verpflichten, auf dem Maskenball sich gar nicht um ihn zu kümmern, namentlich nicht Minchen. „Das kenne ich!“ setzte der Jüngling düster hinzu, „die fürchtet sich dann und schämt sich, und dann küßt sie mich! Da gehe ich sofort nach Hause! Wenn sie nicht verspricht, daß sie mich gar nicht anrührt, gehe ich nicht mit!“

Minchen mußte denn einen körperlichen Eid schwören, sich jeder geschwisterlichen Zärtlichkeit streng zu enthalten, widrigenfalls sie von den Freuden der Geselligkeit ausgeschlossen werden würde. Und Tony? Tony war bereits in ihr keckes Hanswurstkostüm gehüllt, die Mutter gab ihr Anweisungen, daß sie ganz wohl, ohne der Schicklichkeit ins Antlitz zu schlagen, die Festgenossen mit der Pritsche etwas klopfen dürfe – da wurde Tony plötzlich von furchtbarer, jäher Angst vor dem Maskenball, vor dem ersten Ausflug in die Welt ohne Mutter und Kinderfrau befallen – sie erbleichte, erklärte schluchzend, sie habe Leibweh, und kroch als weinender, menschenscheuer Hanswurst mit allen Kleidern ins Bett, wo sie bei jedem Versuch, sie zu den Ballfreuden zu bereden, laut heulte, so daß der Mutter schließlich nichts anderes übrig blieb, als sie von dem Besuch des Maskenfestes zu entbinden.



Denn ein in Thränen schwimmender Hanswurst hätte doch einen zu wenig charakteristischen Eindruck gemacht!

Etwas niedergeschlagen über diesen Zwischenfall zogen denn nun die beiden Großen ab und traten zur Minute - bei Kindern gilt zu spät kommen noch nicht für fein! - in den Saal.

Ein Versuch Minchens, ihren Bruder in diesem bangsamen Augenblick an der Hand zu führen, war von diesem als Vertragsbruch durch einen tüchtigen Puff geahndet worden, und so standen denn die Kinder, etwa zwanzig an der Zahl, sich stumm und bekniffen gegenüber, während die kleinen Wirthe, selbst etwas scheu, zwischen ihren Gästen herumgingen und jeden derselben durch die Frage: „Als was bist Du denn?“ in tödliche Verlegenheit setzten, da keiner sich selbst zu charakterisiren wünschte.

Die Eleganz der Masken war übrigens durchschnittlich dieselbe; nur einige etwas größere Mädchen waren zierlicher gekleidet, und unter diesen zeichnete sich eines, ein etwa dreizehnjähriges Fräulein, durch allerliebste Rokokotracht, gepuderte Perücke und ein frisches, niedliches Gesichtchen aus, das unser Robert, trotz seiner allgemeinen Weiberscheu, einen tiefen Eindruck machte, so daß er die kleine Altfranzösin mit seinen Augen auf Schritt und Tritt verfolgte und innerlich beständig die Frage erwog, ob er wohl mit ihr tanzen dürfte, – ein Zweig der Ausbildung, der bei ihm bisher auf der äußerst kindlichen Stufe möglichst lauten Trappens mit beiden Stiefeln zugleich stand.

Die Chokolade, diese Krone jedes Kinderfestes, war eben gebracht worden, und die Masken nahmen gesittet an einem langen Tisch Platz, wobei die von der Herrin des Hauses mit Rücksicht auf die Schonung der Toilette angebotenen und vertheilten Servietten sich bei den verschiedenen Zerlinen, Räubern und Spanierinnen etwas grotesk ausnahmen.

Nachdem das Mahl in schweigender Förmlichkeit eingenommen worden war – die heitere Konversation pflegt bei Kindern stets erst nach dem Essen zu beginnen! – wurde im andern Zimmer eine Polonaise gespielt, und die Knaben wurden freundlich aufgefordert, sich je eine Dame zu wählen – eine Zumuthung, die unserem Robert wenigstens den Angstschweiß austrieb, da alle solche Entschlüsse jedem Jungen zwischen acht bis fünfzehn Jahren entsetzlich sind.

Er hielt sich denn auch scheu und verlegen zurück, sah seine reizende Rokokodame mit einem großen, als Fischer verkleideten Obertertianer – der noch dazu im Latein Vorletzter war! – abschweben und erlebte selbst das Furchtbare, daß er den richtigen Augenblick ganz versäumte und von der Wirthin zu seiner eigenen Schwester geführt wurde, die ebenfalls sitzen geblieben war, und mit der er nun, wie ich vermuthe, beiden nicht zum Hochgenuß, zähneknirschend Polonaise tanzen mußte – ein bitterer Hohn auf seine Absicht, sich gar nicht um die Geschwister zu bekümmern.

Als dieser Tanz überstanden war und eine muntere Polka die kleine Gesellschaft durcheinander wirbelte, brach allgemeine Heiterkeit los.

Ein kleiner, etwa vierjähriger Junge, der als Nonne verkleidet war, vergaß ganz seiner weiblichen und geistlichen Würde und schlug unverdrossen Purzelbäume. Ein spanischer Grande und ein Konditor, die sich als erbitterte Klassenfeinde schon lange nach einer Gelegenheit sehnten, ihren Gefühlen Luft zu machen, prügelten sich mit wahrer Wonne in einer Ecke sattsam durch, und nur ein armer, kleiner Gnom in braunem Futterkattun vergoß Thränen, da sein angeklebter Flachsbart ihm durchschnittlich [126] fünf Mal in der Minute los ging, wieder angpicht wurde und wieder los ging, Schließlich rief der wohlgemeinte Rath: „Laß ihn doch ganz weg!“ eine wahrhaft verzweifelte Stimmung bei dem unglücklichen Besitzer hervor, da er diesen Bart als Hauptgrund und Zweck des ganzen Maskenballs angesehen hatte.

Während solchergestalt alles mit verschiedenen Empfindungen und Zerstreuungen beschäftigt war, stand unser Robert in der Fensternische und kämpfte innerlich die verzehrendsten Kämpfe. Sein jugendliches Herz war von dem ersten Pfeil des Liebesgottes getroffen worden, und er hätte Welten – vielleicht sogar das verheißene Taschenmesser! – um einen Hopser mit der Rokokodame gegeben, die schon ganz regelgerechte Pas zu machen verstand und beständig mit einem oder dem andern Jungen sich im Kreise drehte.

Daß Robert der Erkorenen seines Herzens nur ungefähr bis an die Schulter reichte, steigerte seine Leidenschaft womöglich noch.



Zum Entschluß konnte er aber nicht kommen, er stand und stand, den günstigsten Augenblick abwartend, und wies jede andere sich ihm darbietende Gelegenheit zum Tanzen mit männlicher Rauhheit und der einzigen Silbe „weg!“ ab, mit der er sich ihm freundlich nahende junge Damen wie Brummfliegen verscheuchte. Zum kräftigeren Ausdruck seiner Gefühle riskirte er wohl sogar auch einen kleinen Schubs, wenn die Tanzlustigen sich durch die erste Abweisung nicht gleich einschüchtern ließen. Sein Antheil an den Freuden des Tages blieb daher, vom reichlichen Kuchengenuß abgesehen, ein ziemlich negativer, während Minchen, an deren Wiege die Grazien nicht gestanden – hoffen wir, weil sie vor dem Zudrang der Musen keinen Platz gefunden hatten. – als fröhliches Elefantenkalb unbefangen mit den andern, schlimmstenfalls auch mit sich selbst im Kreise sprang.

Daß der Abend nicht zu Ende ging, ohne daß Robert den Riesenentschluß ausführte, seine Flamme zum Reigen zu führen, und daß diese auch mit einem kühlen: „Meinetwegen!“ sein Flehen erhörte, verdient hervorgehoben zu werden, wie denn Robert die feste Absicht faßte, sich dessen der Mutter gegenüber zu rühmen. „Ich habe mit der Hübschesten getanzt!“

In diesem Entschluße wurde er freilich im Verfolge seiner Ballunterhaltung wieder schwankend, die nur darin bestand, daß die Schöne, nachdem er zweimal mit ihr ohne jede Ahnung von den Forderungen der rhythmischen Künste halb durch die Stube gehopst war, ihm einen kleinen Stoß vor die Brust gab und mehr wahr als zart bemerke: „Du Schafskopf, Du kannst ja gar nicht tanzen!“

Vernichtet zog sich Robert zurück und fühlte sich wirklich zur schwärzesten Weltverachtung geneigt, als in dem Augenblick die Musik schwieg und in die allgemeine plötzliche Stille hinein das Dienstmädchen des Hauses mit weithin vernehmlicher stimme rief: „Die kleinen vom Herrn Doktor Rademann werden abgeholt!“ Auf diese schmachvolle Aufforderung hin mußte sich Robert mit Minchen im Bunde der Dame des Hauses empfehlen und als „Kleiner“, „Abgeholter“ noch den nagenden Zweifel im Busen mit forttragen, ob „der Schwarz“, der Dämon der Quarta, der seinem Charakter ganz untreu als schuldloser Schäfer erschienen war, diese unsterbliche Blamage mit angehört habe und Roberts sociale Stellung in der Klasse durch Wiedergabe derselben vernichten würde.

Die derbe Rokokofee hatte ebenfalls das Schreckliche nicht vernommen, – das war ein Trost! Sie stand fächerschlagend und eifrig plaudernd mit einem Schornsteinfeger, der zu Ostern sitzen geblieben und daher nur aus unbegreiflicher väterlicher Nachsicht auf den Ball gelangt war, in einer Fensternische und übersah unsern Robert vollständig. O Bitterkeit und doch Süßigkeit der ersten Liebe!

Als die beiden kleinen Masken mit einer Menge Gewinne aus einer Lotterie zu Hause angelangt waren und dieselben vor den staunenden Blicken der Eltern ausgekramt hatten, die diesen Luxus für „rechten Unsinn“ erklärten, begann Minchen mit schnatternder Geläufigkeit alle Erlebnisse des Balles mitzuteilen, wobei verschiedene: „Siehst du, Tony!“ der kleinen Schwester die Unklugheit ihres Verzichtes auf weltliche Vergnügungen klar machen mußten.

Die Geschwister opferten übrigens auf dem Altar der Geschwisterliebe einige Gewinne – Minchen ein angebissenes Zuckerschaf und Robert einen likörgefüllten Bonbon – eine That, der er jeden Nimbus der Großmuth sofort durch den Zusatz raubte. „Solche esse ich nicht!“

„Nun, habt Ihr denn auch getanzt?“ erkundige sich die Mutter, die mit gerechtem Stolz auf ihre Ballkinder blickte.

Minchen bejahte eifrig und wichtig, während Robert sich mit einem Achselzucken und Erröthen begnügte, welches dem Scharfblick der Mutter bedeutungsvolle innerliche Erlebnisse verriet.

„Wer war denn die Hübscheste?“ frug sie scheinbar unbefangen.

„Die Große!“ brachte Robert mit Entschiedenheit hervor.

„Wie hieß sie denn?“ forschte die Mutter weiter.

„Ich glaube, Neumann,“ bekannte Robert erröthend, dessen einzige Unterhaltung mit seiner „ersten Liebe“, wie wir wissen, nicht so ermuthigend war, daß sie ihn zu Fragen nach den Personalien der Angebeteten hätte berechtigen können. –

Die nächste, sichtbare Folge der erwachten Neigung war, daß die Wände und die weißlackirten Fensterbretter in Roberts Stube verschiedene kunstvolle N in deutscher und lateinischer Schrift zeigten. Roberts Leidenschaft, den theuren Namen nach dem Vorgang des bekannten Liedes „in alle Rinden“ einzuschneiden, ging sogar noch weiter: als der Klassenlehrer den Liebenden wegen mangelhaft gelernter Vokabeln zu der schmachvollen Strafe des „Eckestehens“ verdammte, versüßte dieser sich den schmerzlichen Augenblick dadurch, daß er in die Wand der bewußten Ecke ein etwas mißgebornes Herz einkratzte, worin sein und der vornamenlosen Neumann Anfangsbuchstaben prangten.

Die Eltern nahmen von der zarten Neigung ihres Lohnes, die so jeder Nahrung von außen entbehrte – er hatte „die Neumann“ seit dem Maskenabend nie wieder gesehen! – weiter keine Notiz, nach dem bewährten Grundsatz, daß solcher Blödsinn am ersten ein Ende nimmt, wenn man sich gar nicht darum kümmert.

Nur der Vater legte bei einer besonders abscheulich ausgefallenen Schularbeit den Finger roh an die blutende Wunde, indem er dem erziehlichen Kopfstück noch die verbitternde Bemerkung hinzufügte: „Wenn das die Neumann wüßte!“ eine Aeußerung, die, da der betrübende Fall „vor der Minchen“ erörtert wurde, Robert mit rebellischer Empfindung gegen das Oberhaupt der Familie erfüllte.

Das von den Eltern vorausgesehene Ende der Leidenschaft sollte in schneller und unerwarteter Weise hereinbrechen.

Robert ging an einem schönen Wintertag nach der Schlittschuhbahn von der Mutter, Minchen und Tony begleitet, die ihn [127] in einem besonders kraftvollen „Bogens“ auf dem Eise bewundern sollten. Er hielt sich natürlich etwas abseits von den Seinigen, da eine Mutter und gar Schwestern zu besitzen zwar innerhalb der vier Wände des Hauses ganz angenehm und schätzenswerth sein kann, sich aber zu einem beschämenden Gefühl zu steigern pflegt, wenn man „Bekannten“ begegnet.

Die etwas gereizte Frage der Mutter, was denn eigentlich daran so blamabel sei, erwiderte Robert mit der überraschenden Eröffnung ; „Nun, wenn zum Beispiel der Schwarz dann fragt: ‚Das waren wohl Deine Schwestern?’ da schäme ich mich zu Tode!“ - ein räthselhafter innerer Vorgang, dessen Berechtigung von der Mutter nicht anerkannt würde.

Die Folge war also, daß Robert die Breite der Fahrstraße zwischen sich und die Seinigen legte und so unbefangen aussah, als gingen sie ihn gar nichts an.

Er beglückwünschte sich innerlich um so mehr über sein Verfahren, als eine Gruppe von Damen sich der Mutter zugesellte, die ebenfalls Söhne auf dem Eise zu bewundern wünschten und dieselben sogar zum Theil mit sich führten.

Zu Roberts sprachloser Empörung winkte die Mutter ihn jetzt heran, sein Inkognito grausam vernichtend: „Komm nur, Junge, warum hast Du Dich denn so?“ worauf er zögernd näher schlich.

„Die Jungen können ja zusammen gehen, Frau Neumann,“ wandte sich die eine der Damen an die andere, mit dem theuren Namen Roberts Herz zu schnelleren Schlägen bringend: am Ende konnte er hier gar mit dem Bruder der Angebeteten in wünschenswerthe Beziehungen treten!

Die Mutter wandte sich auch nach ihm um und warf ihm einen lächelnd verständnißvollen Blick zu. In dem Augenblicke erhob der von Frau Neumann mit den formlosen Worten „Das ist Meiner!“ gekennzeichnete Junge seine Stimme, sah Robert mit einem frischen, freundlichen Gesicht an, das diesem unwürdig bekannt vorkam, und sagte lachend: „Ach, das ist ja der, der neulich mit mir tanzen wollte und nicht konnte!“

Das war das Ende von Roberts erster Liebe. Die Rokokodame war ein Tertianer - die Neumann war der Neumann und Robert war der Blamirteste unter allen Schuljungen des 19. Jahrhunderts!

Wie er den vernichtenden Schlag auffaßte, den die Mutter nicht unterlassen konnte; durch ein herzliches Gelächter zu feiern, das kann man sich wohl denken! Er machte kurz auf dem Absatz kehrt, rannte, Schlittschuhfreuden und alles vergessend, schnurstracks nach Hause und schloß sich in seine Stube ein, wo er den ganzen Nachmittag dazu verwendete, alle N von der Wand und den Fensterbrettern viel sorgfältiger abzukratzen, als er sie hingemalt hatte.

Das Stillschweigen seiner Schwestern aber sicherte er sich in der zarten Weise, daß er ihnen freundlich ankündigte: „Wer jemals noch ein Wort von der Neumann zu mir sagt, der mag's nur probiren - den schlage ich einfach todt!“

Da nun die beiden jungen Damen zu dieser Erfahrung keine besondere Lust verspürten, so wurde Roberts erste Liebe bald im Schoßes der Familie mit Stillschweigen übergangen, - und wenn sie zu seinem Polterabend einmal wieder auftauchen sollte, so wird er bis dahin wohl ruhiger darüber denken gelernt haben!





Ein Widerschein der französischen Revolution.
Von F. A. v. Winterfeld.

Ideen „schweben in der Luft“, sagt man, und man bezeichnet damit nicht immer ihre Haltlosigkeit, ihre mangelhafte Begründung, sondern noch mehr die geflügelte Natur, wie sie den Kindern der Lüfte eigen ist. Unbekümmert um räumliche Schranken überfliegen sie die Lande, unfaßbar, ungreifbar sind sie da, mit ihrem erstickenden Wehen frisches Leben in müde, gedrückte Geister zu ergießen oder auch mit dem Gluthhauch der Leidenschaft Schrecken und Verderben zu verbreiten.

Der hundertste Jahrestag der französischen Revolution hat vielfach der geschichtlichen Forschung Veranlassung gegeben, den Spuren dieser Riesenumwälzung im Reiche der Geister auch in die Gegenden zu folgen, die vom eigentlichen Schauplatze der weltgeschichtlichen Begebenheiten weitab liegen, und es bietet ein höchst merkwürdiges Schauspiel, zu beobachten, wie unter dem Einfluß der gährenden Zeitideen überall die Flämmchen der politischen Aufregung emporzucken, wenn sie auch nirgends so zum erheerenden Brande zusammenlodern wie in Frankreich.

Von diesem Gesichtspunkte aus verdient auch ein Ereigniß Beachtung, das vor etwa einem Jahrhundert im damaligen Kurfürstenthum Sachsen sich zutrug, der sächsische Bauernauf-, oder wie man es jetzt wohl mit einem neuerdings geläufig gewordenen Ausdrucke bezeichnen würde, Bauernausstand.

Die Lage des Bauernstandes im Kurfürstenthum Sachsen war auch in den Landestheilen, in welchen die Leibeigenschaft nicht herrschte - in der Oberlausitz bestand sie bis 1832 - eine keineswegs leichte und erfreuliche. Frondienste, Zinsen, Lieferungen und Steuern erschwerten dem Landmann den Kampf ums Dasein und erregten - jedoch, wie wir sehen werden, nicht ohne Anregung von außen - einen allgemeinen Ausbruch seiner Unzufriedenheit.

Im August des Jahres 1790 verweigerten plötzlich die Bauern der Lommatzscher Pflege fast einmüthig die Leistung der Frondienste und Erbzinsen. Die Auflehnung war nicht wider den Staat, sondern wider die Gutsherren gerichtet, denn die Bauern erklärten, sie wollten die kurfürstlichen, nicht aber ferner die gutsherrlichen Abgaben und Dienste leisten. Die einzelnen Dorfschaften waren durch eine feste Organisation und geregelte Verpflichtungen mit einander verbanden. Diebstahl und Plünderung wurde zwar nicht geduldet, jedoch trug man kein Bedenken, die Gutsherren mit sanfter Gewalt zu allerlei schriftlichen Zugeständnissen wie Erlaß der Fronden und sogar Abtretung von Feldern und Wiesen zu nöthigen.

Als man nachforschte, woher der Geist des Aufstandes und der Widersetzlichkeit plötzlich über die sonst so friedlichen Bauern gekommen war, stellte sich folgendes heraus: Im Sommer 1790 war von unbekannter Seite eine geschriebene Aufforderung an das gräflich Bünausche Städtchen Lauenstein gelangt und dort verbreitet worden, die Einwohner möchten sich bereit halten, sich an die 10 000 Mann anzuschließen, welche nach Pillnitz ziehen würden, um den Kurfürsten „im Triumph mit fliegenden Fahnen und unter klingendem Spiel“ von dort nach Dresden zu führen. Wie man sieht, war es auf eine Nachahmung, der Vorgänge abgesehen, welche sich wenige Monate früher in der französischen Hauptstadt abgespielt hatten, als der Pariser Pöbel am 6. Oktober 1789 Ludwig XVI. von Versailles nach Paris entführte.

Dann sollte der Kurfürst, wie es weiter in dem Aufruf hieß, folgenden Forderungen seine Bestätigung geben: 1. Absetzung aller derjenigen, welche Sachsen unglücklich machten, und Einziehung ihrer Güter. 2. Errichtung einer Nationalgarde zu Fuß und zu Pferde. 3. Umänderung des Acciswesens. 4. Beschränkung der Rittergutsbesitzer, „damit sie Sachsen nicht zu einer Wüste und Einöde machten“. 5. Verbot des Wildhegens. 6. Entfernung aller Rechtspraktikanten, sofern sie nicht eine wirkliche Bestallung hätten. 7. Bessere Einrichtung des Kultusministeriums. 8. Aufhebung der Fleisch- und Tranksteuer. - Jeder der Mitziehenden sollte sich für einige Tage mit Lebensmitteln versehen. Die Sammelplätze seien Dohna und Liebstadt. Die Orte, welche sich nicht anschlössen, sollten geplündert werden.

Auch in diesen Forderungen, von denen manche vielleicht nicht ganz unberechtigt waren, entdeckt man ohne Mühe das französische Vorbild, so namentlich in dem Verlangen der Errichtung einer Nationalgarde. Bekanntlich waren die „gardes francaises“, nachdem sie sich bei der Einnahme der Bastille betheiligt hatten, in die „gardes nationales“ umgewandelt worden.

Als Verfasser und Verbreiter des Aufrufes wurde ein sonst nicht übel beleumundeter Mann Namens Geißler aus Liebstadt ausfindig gemacht. Nachdem die Aerzte erklärt hatten, daß er unter der Einwirkung einer fixen Idee gehandelt haben müsse, wurde er als irrsinnig behandelt und in die Irrenanstalt zu Torgau gebracht, jedoch nach einigen Jahren wieder entlasten, da er sich durchaus vernünftig betrug. Jedenfalls war die Kunde von den Vorgängen in Frankreich zu ihm gedrungen und hatte

[128] seine Einbildungskraft derartig entflammt, daß er den Versuch wagte, etwas Aehnliches in Sachsen in Scene zu setzen.

Der Zeitpunkt für den Ausbruch der Unruhen war für die Bauern nicht ungeschickt gewählt: gerade zur Erntezeit geriethen die Gutsherren durch die Verweigerung der Frondienste in die größte Verlegenheit, wie sie die Ernte einbringen sollten. Manche von ihnen ließen sich daher zur Nachgiebigkeit herbei, nur damit der reiche Erntesegen nicht auf den Feldern umkomme. Uebrigens behaupteten die Bauern, es geschehe alles mit Vorwissen des Kurfürsten, und es wurde dies anfänglich theilweise um so eher geglaubt, als die Regierung sich erst ziemlich spät entschloß, wider dieses Treiben einzuschreiten. Erst als es zur Mißhandlung kurfürstlicher Beamten, zur Entwaffnung militärischer Posten und zur gewaltsamen Befreiung Verhafteter gekommen war, ergriff die Regierung ernste Maßregeln. Sie beauftragte eine aus dem Kanzler v. Burgsdorf und den Justizräthen v. Brand und v. Watzdorf zusammengesetzte Kommission mit der Untersuchung der Vorgänge und mit der Herstellung der Ordnung, indem sie ihr zugleich ein aus fünf Bataillonen Infanterie und acht Schwadronen Kavallerie bestehendes Truppencorps unter dem Oberbefehl des Generals von Boblick, der sein Hauptquartier erst in Meißen, dann in Lommatzsch hatte, zur Verfügung stellte. Da die Bergleute in Freiberg ebenfalls die Arbeit einstellten und eine drohende Haltung annahmen, so wurde auch dorthin ein Truppenkommando entsendet.

Die Kommission begann ihre Thätigkeit damit, daß sie am 20. August eine scharfe Aufruhrvermahnung erließ und dann zur Untersuchung in den einzelnen Ortschaften schritt.

Zu größeren Kämpfen kam es nicht. Bei Pinnewitz wurden die Bauern, welche Miene machten, Widerstand zu leisten, unter großer Heiterkeit der Kavalleristen mit flacher Klinge auseinandergesprengt, wobei acht verhaftet wurden. Bei Burgstädtel trieben 30 Kürassiere unter dem Lieutenant von Lichtenhain 1200 Bauern, die sich mit Steinwürfen und Knütteln zur Wehre setzten, auseinander.

Auch auf dem Rittergute Hirschstein bei Meißen, dem Besitzthum des Kabinettsministers Grafen Loß, hatten die Bauern, um ihren Gutsherrn zum Nachgeben zu zwingen, die ihnen obliegenden Dienstleistungen eingestellt. Sein Amt nöthigte den Grafen, in Dresden zu wohnen, und dort hätten sich ihm die Streikenden nur mit bescheidenen Bitten nähern können, nicht aber mit gebieterischen Forderungen. Um ihn in ihre Gewalt zu bekommen, ließen sie ihm daher eine schriftliche Aufforderung zugehen, er möge sich am 20. August in Hirschstein einfinden, widrigenfalls „er sehen werde, wie es seinem Gute ergehen würde.“

Trotzdem erschien der Graf nicht, dafür aber die obengenannte Kommission nebst 200 Mann Infanterie und 80 Dragonern. Kurz bevor sie Hirschstein erreichten, ertönte plötzlich ein Böllerschuß in den Weinbergen, wahrscheinlich als Warnungszeichen, worauf eine Anzahl Leute, welche sich bei Hirschstein versammelt hatte nach allen Seiten auseinanderstob, vermuthlich um die verschiedenen Gemeinden zu warnen, daß sie sich fern hielten.

Da kein einziger Bauer im Schlosse zu Hirschstein erschien, so wurden alle dazu gehörigen Gemeinden zu möglichst zahlreichem Erscheinen eingeladen, weil der Kanzler im Auftrage des Kurfürsten ihnen etwas mitzutheilen und außerdem im Namen des Gutsherrn mit ihnen zu verhandeln habe.

Die Bauern fanden sich jedoch nur langsam und zögernd ein. Als der Kanzler, der warten wollte, bis eine größere Anzahl beisammen war, die bereits Erschienenen befragte, wie sie auf solche Dinge hätten kommen können, antwortete ein alter Bauer: „Das wissen wir selber nicht recht. Es muß doch wohl Gottes Wille sein, daß die Bauern auch einmal frei werden sollen; sonst wäre es wohl nicht so geschwind und so einstimmig zugegangen, wie wenn alles längst verabredet gewesen wäre.“

Endlich waren die Vertreter der sämmtlichen Gemeinden da und die eigentlichen Verhandlungen konnten beginnen. Der Schauplatz derselben war der Hof des reizend auf einem jäh zur Elbe abfallenden Granitfelsen gelegenen Schlosses Hirschstein, das nach der Flußseite hin eine weite entzückende Aussicht in das Elbthal gewährt. Auf der der Elbe entgegengesetzten Seite befindet sich der geräumige Hof, von welchem aus zwei ziemlich hohe Treppen von Sandstein zu einem großen, mit einer Balustrade umgebenen Altan führen. Auf diesen Altan stellte sich der Kanzler, hinter sich einen Infanteriedoppelposten mit geladenem Gewehr. Unten vor dem Altan stellten sich die Bauern mit abgezogenen Hüten auf. Der äußere Eingang zum Schloßhof wurde stark mit Soldaten besetzt. In demselben hielten abseits einige berittene Dragoner. Die ganze Scene muß nicht ohne malerischen Reiz gewesen sein.

Nun hielt der Kanzler in gütigem Ton eine lange bewegliche Anrede, in welcher er namentlich hervorhob, wie sehr es den Kurfürsten schmerze, die Truppen, welche nur wider äußere Feinde bestimmt seien, gegen die eigenen bethörten Landesknder verwenden zu müssen. Er stellte den Bauern die Unbilligkeit und Ungereimtheit ihres Verlangens dar, sich von den ererbten und überkommenen, gesetzlich festgestellten Leistungen und Lasten einseitig frei machen zu wollen.

Dann machte er die Befugnisse der Kommission bekannt, welche, je nach Befinden, die strengsten Strafen, ja selbst die des Todes, verhängen könnte, und schloß mit den Worten: „Gelobt mir durch Handschlag, lieben Leute, daß Ihr Euere Dienste, wie Ihr sie bisher geleistet, ohne Zögern wieder aufnehmen und der Euch vorgesetzten Obrigkeit wie vordem gehorchen wollt. Versetzt mich nicht in die traurige Nothwendigkeit, von der mir übertragenen Gewalt Gebrauch machen zu müssen. Gebt den übrigen verblendeten und verirrten Unterthanen ein gutes Beispiel. Ist dies Euer ernstlicher, ‚freier‘ Wille, so antwortet mit einem lauten Ja.“

Dieses „Ja“ erfolgte einstimmig, aber nicht eben laut, sondern vielmehr ziemlich kleinlaut, denn das Aufgeben ihrer geträumten Hoffnungen mochte den armen Leuten doch etwas schwer werden. Erst 42 Jahre später sollte im Wege der Gesetzgebung die Ablösung der bäuerlichen Lasten erfolgen. Uebrigens hielt die kurfürstliche Regierung selbst streng darauf, daß die Bauern von den Gutsherren nicht über das gesetzliche Maß hinaus bedrückt wurden.

Nun stiegen die Bauern einzeln die eine Treppe zum Altan hinauf, gaben dem Kanzler zur Bekräftigung ihres Versprechens den verlangten Handschlag und gingen dann die andere Treppe wieder hinunter. Bis dahin war alles gut gegangen. Als aber der Kanzler jetzt verlangte, die Bauern sollten diejenigen nennen, welche sie zur Arbeitseinstellung und zum Widerstand angestiftet hatten, weigerten sie sich insgesammt, dies zu thun.

„Nun, wenn Ihr die Rädelsführer nicht namhaft machen wollt, so will ich es selbst thun, damit Ihr seht, daß uns nichts verborgen ist,“ sagte darauf der Kanzler und nannte die Namen von drei Bauern, die sofort verhaftet wurden.

Die Uebrigen, die darüber in die Seele hinein erschraken, ermahnte er, sie sollten, wenn sie gegründete Beschwerden hätten, dieselben gehörigen Ortes anbringen, aber nicht zu sträflicher Selbsthilfe schreiten. Die Regierung werde jederzeit darauf achten, daß ihnen kein Unrecht geschehe.

Darauf fragte er die Bauern, ab sie wider ihren Gutsherrn Klage zu führen hätten. Sie verneinten dies einmüthig, beschwerten sich aber vielfach über dessen Pächter. Als sie dabei alle durcheinander sprachen, sagte der Kanzler: „Kinder, laßt alles ordentlich aufsetzen und schickt es mir. Habt aber Geduld, denn auf einmal kann nicht allen geholfen werden!“

Darauf wurden die Bauern mit nochmaliger Ermahnung entlassen, die drei Verhafteten aber auf die Wache gebracht.

Den vor dem Schloßthore lagernden Truppen wurde von den Offizieren der Hergang mitgetheilt, damit sie die fortgehenden Bauern nicht etwa verhöhnten und belästigten. Die Soldaten zeigten sich sehr erfreut darüber und kamen den Bauern mit ihren vollen Feldflaschen entgegen; der schwere Tag aber schloß in Friede und Freundschaft mit unzähligen Hochrufen auf den Kanzler und den Kommandanten, als diese den Soldaten und Bauern ein paar Tonnen Bier spendeten.

Bereits am 12. September konnte der größte Theil der Truppen zurückgezogen, die Kommission aber am 13. November aufgelöst werden. Von etwa 200 Verhafteten wurden 34 auf ein bis zwei Jahre auf den Königstein geschickt. Diejenigen Bauern aber, welche allen Verführungen und Drohungen zum Trotz die Theilnahme an der Arbeitseinstellung verweigert hatten, erhielten besondere Belohnungen.

So endete diese harmlose Parallele zu den weltbewegenden Erschütterungen bei unserem westlichen Nachbar. Ein Geschlecht, das die Lehre aus jener Zeit der fürchterlichen Krämpfe zog, hat geschieden zwischen Gutem und Bösem, zwischen Berechtigtem und Unberechtigtem, was in der revolutionären Bewegung des letzten Jahrhunderts lag, es hat auch den Bauern aus der Lommatzscher Pflege ihr Recht und ihre Freiheit gebracht.




[129]

Odaliske.
Studienkopf von Tito Conti.

[130]
Blätter und Blüthen.

Deutschlands merkwürdige Bäume. Die Kaditzer Linde. Etwa anderthalb Stunden unterhalb Dresdens liegt auf dem rechten Elbufer das schmucke Dorf Kaditz. Es ist alter Kulturboden, auf dem es steht; noch heute zeigt sich der slavische Ursprung in dem Aeußern der Ortschaft, die Häuser kehren der breiten Hauptgasse die Giebel zu, die theilweise fromme Sprüche aufweisen, und viele Eingangsthüren prangen in buntem Farbenschmuck. Ungefähr in der Mitte des Dorfes liegt die hübsche Kirche; zwischen ihr und dem Pfarrhause, mitten unter grünbewachsenen und steingeschmückten Grabstätten aber erhebt sich die weitberühmte Kaditzer Linde.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Kaditzer Linde.

Der staunenswerthe Baumkoloß hat 11 Meter Stammumfang; das Innere des Stammes ist völlig hohl und deshalb sind seit lange Stützen nothwendig geworden. An der einen Seite ist die Rinde herausgebrochen; die Stütze war morsch geworden, die Rinde konnte den starken Ast nicht mehr tragen und wurde mit diesem fortgerissen. Besonders merkwürdig ist nun, daß sich innen ringsum die Rinde neu gebildet hat. An der Bruchstelle hat man vor 15 Jahren ein Gitter angebracht, um den Eintritt in die Höhlung des Stammes zu verhindern. Denn die Dorfbewohner, insbesondere die respektlose Jugend, benutzten den hohlen Raum zu allerhand Unfug. Neuerdings ist noch ein Schloß vorgelegt worden, zu welchem man den Schlüssel in der angrenzenden Pfarrei erhalten kann. Doch bedarf es dessen nicht, da man die Höhlung, welche Platz genug für Tisch und Stühle bietet, von außen bequem überblicken kann.

Das Alter des ehrwürdigen Baumes wird auf 1000 Jahre angegeben; leider fehlt aber jeder historische Anhaltspunkt, und eine Berechnung nach Jahresringen ist bei der jetzigen Stammruine völlig ausgeschlossen. Jedenfalls hat der Baum in der Geschichte des Ortes eine große Rolle gespielt und von jeher die Bedeutung einer geweihten Stätte gehabt. Hierzu stimmt die Anlage der Kirche unmittelbar daneben. Bekanntlich stand in jedem Dorf in Sachsen, schon lange vor Karl dem Großen, eine heilige Linde und vor derselben war das „Weichbild“ (Wicbild, d. h. das Ortsbild oder Ortszeichen) aufgestellt. Die Linde mitten im Dorf bezeichnete den Platz, wo man sich abends versammelte und Angelegenheiten der Gemeinde besprach, hier fanden sich die jungen Leute an den Festtagen zum Tanz. Wie man erzählt, soll die Kaditzer Linde auch als Pranger für klatschsüchtige Weiber und ähnliche Missethäter gedient haben. In der That findet sich in geringer Höhe über dem Erdboden am Stamm ein eingewachsenes Stück Eisen, das als Rest des Halseisens bezeichnet wird. Die böszüngigen Frauen saßen, den Hals im Eisen, an den Stamm gelehnt, während die Kirchenbesucher an ihnen zum Gottesdienst vorübergingen. Doch ist darüber etwas Urkundliches nicht erhalten und wir können uns nur mit dem Wunsche trösten, daß es sich wirklich so verhalten haben möge!

O. Z.




Stanleys Briefe über Emin Paschas Befreiung. Keine der afrikanischen Expeditionen der Neuzeit wurde von der gesammten Welt mit so großem Antheil verfolgt wie die Expedition Stanleys zur Befreiung Emin Paschas. Lange Zeit hindurch war das Schicksal beider Helden dieses Dramas ungewiß und die Welt in Europa und Amerika wurde lediglich durch „afrikanische Gerüchte“ beunruhigt, welche bald Stanley todt sagten, bald ihn und Emin in der Gefangenschaft der Mahdisten schmachten ließen. Da kamen die ersten Briefe von Stanley an und mit wachsender Spannung konnte man den Gang der Ereignisse bis zur glücklichen Ankunft an der Ostküste verfolgen. Stanley und seine Offiziere haben in Afrika fleißig geschrieben, die Sammlung der Briefe ergiebt ein kleines Buch von 8 Druckbogen. Der Inhalt dieser Briefe ist in den Tageszeitungen wiedergegeben worden, aber die Wiedergabe selbst erstreckte sich naturgemäß auf so lange Zeiträume und war mitunter so unvollständig, daß J. Scott Keltie, Bibliothekar der Königlichen Geographischen Gesellschaft in London, gewiß vielen einen guten Dienst erwies, als er die Briefe sammelte und als ein Buch herausgab. Dieses ist im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig auch in deutscher Uebertragung erschienen und bietet uns die beste Auskunft über die Schicksale und geographischen Erfolge der Expedition, die beste Auskunft, bis Stanley selbst sein Werk über die Expedition geschrieben haben wird. Was nun die Hauptfrage, die Befreiung Emins selbst, anbelangt, so sind die Briefe reich an werthvollen Auskünften, aber ebenso reich an Räthseln. Doch gewinnt es den Anschein, daß der Hauptpunkt in den Gegensätzen zwischen Stanley und Emin in der Würdigung der Länder am oberen Nil von seiten beider liegt. Für Stanleys Auffassung ist die Instruktion bezeichnend, die er am 18. Januar 1889 brieflich seinem Offizier Jephson, der bei Emin weilte, ertheilt: „Seien Sie freundlich und gut gegen ihn (Emin)“, schreibt Stanley, „wegen seiner vielen Tugenden, lassen Sie sich aber nicht auch von der verderbenbringenden Fascinirung erfassen, welche das Gebiet des Sudan in den letzten Jahren für alle Europäer gehabt zu haben scheint. Sobald sie seinen Boden betreten haben, scheinen sie in eine Wirbelströmung gezogen zu werden, welche sie hinabsaugt und mit ihren Wogen bedeckt. Das einzige Mittel, ihr zu entgehen, ist, allen Befehlen von auswärts blind ergeben und ohne zu fragen, zu gehorchen.“

An einer anderen Stelle schreibt Stanley an denselben Offizier: „Ich bemerkte, daß ich Ihre Briefe ein halbes Dutzend mal gelesen hätte, und bei jedesmaligem Lesen änderte sich meine Ansicht von Ihnen. Zuweilen glaube ich, daß Sie halb Mahdist oder Arabist, dann daß Sie Eminist sind.“ Diese und ähnliche Stellen lassen uns annehmen, daß der „Gegensatz“ zum großen Theil derselbe war, der auch zwischen Gordon und der englischen Regierung geherrscht hat. Ob noch andere Fragen dabei eine wichtige Rolle spielten, und welcher Art diese Fragen waren, das kann niemand aus den Briefen herausklügeln. Die Mühe dürfte auch wenig lohnen. Das bedeutsame Aktenmaterial, welches in den Briefen enthalten ist, wird ja bald vervollständigt werden; denn wie wichtig auch die vermeintlichen Interessen der Engländer in der Aequatorialprovinz sein mögen, sie sind kein Staatsgeheimniß der hohen Politik, welches Jahrzehnte lang verschwiegen wird. Es ist zu hoffen, daß, selbst wenn der Stumme von Bagamoyo nicht so bald im stande sein sollte, Aufklärung zu geben, die Reisewerke Stanleys und seiner Gefährten in nächster Zeit genügendes Licht über diese Fragen verbreiten werden. Einen bleibenden Werth werden aber diese Briefe für die geographische Forschung behalten; hier werden die wichtigen Fragen der Nilseen unter dem frischen unmittelbaren Eindruck erörtert, und stets wird es einen hohen Genuß gewähren, zu lesen, wie nach und nach Vermuthungen geklärt werden und ein einziger kühner Vorstoß eine ganze Reihe sinnreicher Kombinationen über den Haufen wirft.

*




Fastnacht in der Neumarkt. (Zu dem Bilde S. 101.) Wie alle Volksfeste, so wird auch Fastnacht in den verschiedenen deutschen Landschaften mit verschiedenen Bräuchen gefeiert. Die Armuth ist überall erfinderisch, wenn es gilt, die festliche Stimmung der Begüterten zu benutzen. So ist es in der Neumark eine alte Sitte, daß die Kinder armer Leute am Fastendienstag, wie unser Bild zeigt, mit einem „Fastnachtspieß“ von Haus zu Haus gehen. Dies Geräthe, mit welchem die jungen Sänger sich ausrüsten, besteht aus einem anderthalb bis zwei Fuß langen, oben zugespitzten Stock mit mehreren kreuzweis stehenden, spitzen Querhölzern. Die kleinen Stadtwanderer singen halb, halb sprechen sie den folgenden Vers:

„Fastelabend ist hier,
Sechs Dreier zu Bier,
Sechs Dreier zu Speck,
Geh’ gleich wieder weg.

5
Da oben in der Firste,

Da hängen drei Würste:

Die lange gieb mir,
Die kurze behalt’ dir.
Schneid’ weg, schneid’ weg,

10
Schneid’ ein groß Stück Speck,

Schneid’ Raum, schneid’ Raum,
Schneid’ nicht in ’n Baum.“

Es ist dies bloß einer von vielen Versen, aber er genügt, um Wurst und Speck an den Spieß der Kinder zu zaubern. Früher gingen auch [131] die Kinder wohlhabender Eltern zu Nachbarn und Verwandten mit dem Spieß und waren stolz darauf, recht viel Fastenbrezeln, Würste u. dergl. mit nach Hause zu bringen.




Feierabend. (zu dem Bilde S. 104 u. 105) In der ganzen europäischen Kulturwelt ist keine Stunde geeigneter, das vertraute Leben und Treiben des Volkes unter sich zu beobachten, als die Stunde des Feierabends an einem Sommertage. Da lebt das Volk im Freien; es athmet auf von des Tages Mühen und Plagen; mit der süßen wohlverdienten Rast nach saurer Arbeit kommt ein frohmüthiges Gefühl über den Menschen, und der Schimmer des Humors vergoldet ihm die Dinge.

In solchen Stunden läßt sich auch am besten erkennen, wie hundertfach schattirt und durch kleine Besonderheiten ausgezeichnet des Volkes Arbeitsleben ist. Ein schönes Beispiel dafür liefert uns wieder das Bild von Meister Defregger, welches wir heute bringen. Dasselbe hat einen bestimmten landschaftlichen und wirthschaftlichen Hintergrund. Im Herzen von Tirol, wo das Pusterthal und das Eisachthal zusammentreten, liegen üppige Bergwiesen hoch oben an den Alpengehängen. Vielstündige steile Bergwege trennen sie von den Bauernhöfen, zu welchen sie gehören, und doch ist ihr Graswuchs so reichlich, daß der Bauer ihr Heu nicht entbehren mag. So bleibt nichts übrig, als daß, meistens um den Tag des heiligen Laurentius (Anfang August), die ganze Bevölkerung des Bauernhofes, mit Ausnahme der Bäuerin und der kleinen Rinder, mit Sensen und Heugabeln bewehrt auf ein paar Tage nach jenen Bergwiesen hinauswandert, um dort oben zu mähen, das Heu zu trocknen und es dann, je nach der Beschaffenheit des Weges, entweder auf dem Rücken oder auf nachgeschleiften Fichtenzweigen bis zum nächsten fahrbaren Sträßchen herab zu befördern. Die Mäher bringen die Nächte während dieser Arbeitszeit in den Heustadeln zu; da man aber in diesen Stadeln (Scheunen) wegen der Feuersgefahr kein Feuer anzünden darf, haben sie eine eigene „Kochhütte“, die in kunstlosester Weise aus unbehauenen Baumstämmen zusammengefügt ist. Diese Kochhütte, ein alpines Speisezimmer, bildet den Versammlungsplatz für die Mäher, wo sie von der Tagesmühe rasten, während eine alte Magd im rußigen Kessel die Polenta oder die Milchsuppe für die Gesellschaft bereitet. Vortrefflich ist dem Künstler die Feierabendstimmung in Haltung und Gesichtern der kleinen Gesellschaft gelungen, meisterhaft aber auch die Individualisirung der einzelnen Köpfe. Man glaubt es ordentlich zu hören, wie der etwas einfältig aussehende Mensch auf dem Holzklotze, der sich in täppischer Weise bemüht, seinen Hut mit Alpenblumen und Vogelfedern zu schmücken, von der übrigen, ihm geistig überlegenen Gesellschaft geneckt wird – sei es nun wegen seiner „Schönheit“ und „Klugheit“ oder wegen seiner „Erfolge“ bei den Schönen des Dorfes. Wer je bei dem frohen und kraftvollen Volke der Berge herumgewandert ist, erkennt auf den ersten Blick, wie glücklich mitten aus dem Leben dieses Volkes unser Bild gegriffen ist: aber auch der, dem diese Freude nie zu theil ward, fühlt heraus, wie einfach, gutherzig und schalkhaft zugleich die Menschen sind, die da droben hausen.

M. H.


Heizung der Personenzüge. Die Ueberheizung eines Eisenbahnwagens hat bekanntlich für die Gesundheit des Reisenden größere Nachtheile zur Folge als eine ungenügende Heizung. Bei den jetzigen Heizmethoden tritt das erstere Uebel leider nicht selten ein. Aus den über die Heizung der Personenzüge erlassenen Bestimmungen ist zwar zu erkennen, daß die Eisenbahnverwaltungen den Anforderungen in Bezug auf das Wohlbefinden der Reisenden Rechnung tragen wollen, indessen fehlt es bei den heutigen Betriebseinrichtungen an den nothwendigsten Prüfungsmitteln. Es ist nämlich angeordnet, in der Zeit von Anfang Oktober bis Ende April zu heizen, wenn die äußere Temperatur auf +5° R. sinkt. In den Monaten Dezember bis Februar soll nur ausnahmsweise nicht geheizt werden, überhaupt darf, wenn einmal mit Heizen angefangen wurde, eine Unterbrechung nur dann stattfinden, wenn in drei aufeinanderfolgenden Nächten die Temperatur nicht unter +5 R. gesunken ist. In den Wagen ist eine mittlere Wärme von 8° R. anzustreben, welche anscheinend niedrige Temperatur im Hinblick auf die wärmere Winterkleidung der Reisenden vollständig genügt.

Unterwegs haben die Zugführer die Aufsicht zu führen, auch etwaige Beschwerden der Reisenden wegen zu geringer oder zu starker Heizung nach Möglichkeit zu berücksichtigen. Zur Prüfung solcher Beschwerden fehlt aber den Zugführern ein Thermometer in ihrer Ausrüstung. Es bleibt deshalb zum mindesten anzuordnen, daß jeder Zugführer einen Wärmemesser mit sich führe, den er auf Anfordern der Reisenden in die Wagen zu reichen hat. Noch besser wäre es freilich, wenn sich die Eisenbahnverwaltungen entschließen könnten, in jeder Wagenabtheilung ein solches Instrument aufzuhängen, damit sich die Reisenden jederzeit von der Temperaturhöhe überzeugen und namentlich den schädlichen Einflüssen einer Ueberheizung, wenn nicht anders, dann durch rechtzeitige Lüftung, selbst begegnen können.

Das Ziel der Wünsche ist freilich eine Heizeinrichtung mit selbstthätiger Wärmeregulirung.





Um eine Stunde. (Zu den nebenstehenden Abbildungen von F. Wittig.) Die Massenhaftigkeit und die dringende Eile des Verkehrs, in den Millionenstädten schafft immer schwierigere Aufgaben und immer erstaunlichere Mittel zu ihrer Bewältigung. Kernpunkt der letzteren ist, daß niemals Zeit verloren werde; was die Stunde bringt, muß schleunigst weggearbeitet werden, denn schon drängt die nächste Stunde mit neuen Massen und neuen Lasten.

Berliner Straßenpostwagen.

In Berlin wurden bis vor kurzem die Briefe, welche auf den einzelnen Postämtern zur Einlieferung kamen, durch kleine in einer bestimmten Reihenfolge bei den einzelnen Aemtern anfahrende Kariolwagen abgeholt und auf das Hauptpostamt verbracht. Die Fahrt, welche ein solcher Kariolwagen zu machen hatte, dauerte je etwa eine Stunde und so lange ruhten die Briefe unberührt und unbearbeitet in ihrem dunklen Verlies. Das aber bedeutete einen Zeitverlust, der sich mit den Grundsätzen einer auf der Höhe ihrer Aufgabe stehenden Postverwaltung nicht vertrug. So kam man auf den Gedanken, für die Abholung der Briefe von den einzelnen Postämtern eigene große Wagen herzustellen, in welchen nicht nur die Masse der Briefe selbst, sondern auch ein Beamter Platz findet. Dessen Aufgabe ist es dann, während der Fahrt die in Empfang genommenen Briefe rasch mit gewandter Hand zu sortiren und je nach ihrer Adresse in die einzelnen Fächer seines Wagens zu vertheilen; ist er an der letzten der ihm zugewiesenen Postanstalten vorüber und hat er auch die von ihr erhaltenen Briefe nach Maßgabe ihres Bestimmungsorts vertheilt, dann packt er den Inhalt seiner Fächer in Packete, welche er fertig zur sofortigen weiteren Versendung auf dem Hauptpostamt abliefert. Dort nimmt er alsbald die für die Postämter seines Bezirks bestimmten Briefpackete entgegen und begiebt sich von neuem auf die Fahrt.

Berliner Straßenpostdienst.

Von unseren Abbildungen zeigt die obere die äußere Ansicht eines solchen „Straßenpostwagens“, wie sie seit 1. November 1889 durch die Straßen Berlins fahren, während uns die untere einen Blick in das Innere thun läßt. Rechts und links an den Langseiten befinden sich die Fächer für die Briefe, eine aufschlagbare Klappe dient zum Schreiben, auf dem Boden lagern fertige Briefbeutel. Ein Feldstuhl und ein Korb vollenden die Einrichtung des Wagens. Die mit den, Sortiren betrauten Beamten müssen eine große Gewandtheit besitzen, um fertig zu werden, denn es bleiben ihnen von einem Postamt zum andern nur wenige Minuten. An der Außenseite des Wagens bemerken wir auch den Briefeinwurf, der von dem Publikum für eilige Sendungen benützt werden kann.

Der Zeitgewinn, welcher durch die neue Einrichtung erzielt wird, beläuft sich wie gesagt durchschnittlich auf eine Stunde. Für eine ziemliche Anzahl Sendungen aber ergiebt sich eine Beschleunigung der Bestellung um volle 12 Stunden, insofern sie noch abends vor Schluß der Post zur Ablieferung gelangen, anstatt erst am andern Morgen.

Es ist kein Zweifel, daß diese Einrichtung der Straßenpostwagen, mit welcher unsere Reichspostverwaltung bahnbrechend vorgegangen ist, bald auch in anderen Großstädten Nachahmung finden wird.



Kleiner Briefkasten.

F. Schl. m Gr. Gerau. Ein Null ouvert forcé gibt es nach der „Allgemeinen Deutschen Skatordnung“ nicht, denn danach ist auch im Null ouvert vom Spieler die Karte sofort, nicht erst nach dem ersten Stiche aufzudecken. Die letztere Spielweise ist eine Abschwächung der Null ouvert, welche allerdings durch die Skatbücher Verbreitung gefunden hat, aber jetzt in Mitteldeutschland nur selten zur Anwendung kommt und auch in den Skatvereinen Nord- und Westdeutschlands bereits aufgegeben ist. Null wird nach der „Allgemeinen Deutschen Skatordnung“ zu 20 und Null ouvert zu 40 berechnet.

O. Gr. in Königsberg i. Pr. Dafür gibt es keine Bestimmungen. Der Offizier übt seine Disziplinarstrafgewalt innerhalb bestimmter Grenzen ganz nach eigenem Ermessen und auf seine Verantwortung aus.

K. N. in Nassau. Sie haben uns die Frage vorgelegt: „Wenn wir uns alle Meere der Erde ausgetrocknet dächten, wie lange müsste es regnen, damit sich die Meeresbecken wieder füllen könnten, bis der Meeresspiegel seine gegenwärtige Höhe wieder erreichte?“ Darauf müssen wir zunächst antworten: „Wenn alle Meere trocken sein würden, so würde es gar nicht regnen, denn die Wasserdämpfe, welche von den Meeren ausgedünstet werden, bilden die Quelle von Regen und Schnee.“ Ohne Zweifel aber haben sie Ihre Frage so gemeint, wie groß das Verhältniß der athmosphärischen Niederschläge auf der Erde zu dem gesammten Meerwasser ist, d.h. wie lange es regnen müßte, bis die Menge des Regenwassers der des gegenwärtig vorhandenen Meerwassers gleichkäme. Diese Frage hat man wiederholt zu beantworten versucht. Nach Krümmels Schätzungen beträgt die gesammte Wassermasse des Meeres etwas mehr als 3 Millionen Kubikmeilen; die Höhe der Niederschläge auf dem Festlande im Durchschnitt 1m jährlich. Würde nun die gesammte auf dem Festlande fallende Regenmenge dem Meere zugeführt werden, so würde das Meerwasser in 9500 Jahren erneuert sein; rechnet man die Verdunstung in den Flüssen u. s. w. ab, so ergiebt sich für die Erneuerung des Meerwassers ein Zeitraum von 15 000 Jahren.


[132]

Allerlei Kurzweil.


Schachaufgabe Nr. 2.
Von W. Steinmann †.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.

Räthselhafte Inschrift.

Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.


Homonym. Auflösung der Aufgabe auf S. 100:

Was mit „das“ auf schwanken Wellen
Giebt dem Fahrzeug Kurs und Richtung,
Bringt mit „die“ dem Zahler immer
In den Beutel große Lichtung.


Kapselräthsel.

Kennst du den Fisch? Sobald ein Lama er
Voll Appetit hat in sich aufgenommen,
Kreucht auf der Welt er als Reptil umher,
Das schon so mancher Zecher hieß willkommen.
  Paul Möbius.

Auflösung des Räthsels auf S. 100:
Tarent – Natter
Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 100:
0 Anfang – Anhang.
Auflösung des Homonyms auf S. 100:
0 Kiefer.
Auflösung des Logogryphs auf S. 100:
0 Sporn – Sport.

1. Tara, ara 4. Tatra,
2. Uri, Tara 5. Turin,
3. Wage, ara 6. Wange.


Räthseldistichon.

Findest im Weinberg du mich, da werd’ ich dich nimmer erfreuen;
0 Hast du die Zeichen versetzt, schufst eine Stadt du aus mir.

 
Auflösung des Scherzbilderräthsels auf S. 100:
0 Wahlbeeinflussung.


Magisches Kreuz.  
Auflösung der Dechiffriraufgabe auf S. 100:

Die Buchstaben dieser Figur
lassen sich so ordnen, daß
die drei langen senkrechten
und die ihnen entsprechenden
wagerechten Reihen bezeichen:
1. einen Baum,
2. einen gefährlichen Fisch,
3. einen schwedischen Hafen
an der Ostsee.

Willst du glücklich sein im Leben,
Trage bei zu andrer Glück;
Denn die Freude, die wir geben,
Kehrt in’s eigne Herz zurück.

Marie Calm.
Auflösung des Anagramms auf S. 100:

Erbsen + a = Benares, Paris + h = Saphir, Granat + a = Tanagra,
Regan + s = Angers, Dante + v = Advent, Anis + e = Asien, Pensa + r = Aspern,
Banner + i = Bernina, Alboin + n = Libanon, Loch + r = Chlor,
Nimes + o = Simeon, Erben + m = Bremen.
Ahasver in Rom.




Ein unentbehrliches Familienbuch, ein bewährter Rathgeber in gesunden Tagen und ein treuer Helfer in der Noth!
In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Das Buch vom gesunden und kranken Menschen.
Von Professor Dr. Carl Ernst Bock.

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In diesem berühmten Buche, welches für alle Zeiten ein unübertreffliches Muster klarer, leichtfaßlicher und im besten Sinne des Wortes volksthümlicher Darstellung bleiben wird, ist dem größeren Publikum ein Werk geboten, worin es eingehend über den Bau des menschlichen Körpers, die Verrichtungen seiner einzelnen Organe, sowie über den Gesundheits- und Krankheitszustand derselben unterrichtet und über eine vernünftige naturgemäße Pflege des Körpers im gesunden und kranken Zustande belehrt wird.

Die neue vierzehnte Auflage ist von dem durch seine populär-medicinischen Arbeiten bekannten Herausgeber Dr. med. von Zimmermann, einem Schüler Bock’s, wiederum auf das Sorgfältigste durchgesehen und den Fortschritten der stetig und rastlos sich entwickelnden Wissenschaft entsprechend mit zahlreichen Zusätzen, Berichtigungen und Ergänzungen versehen worden.

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kroner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Schleppnetz zum Fischen.
  2. Der Hausarzt Adam drückte sich nach Art mancher Mediziner über menschliche Zustände und Gebrechen etwas offen aus, was seiner jungen Frau oft peinlich wurde.
  3. Peters’ Schwiegermutter.
  4. Nachbar auf Tetzleben, der sich als wohlhabender Gutsbesitzer Reuter gegenüber etwas aufgeblasen zu benehmen pflegte und deswegen oft von ihm verspottet wurde.
  5. Pfarrer in Tetzleben.
  6. Die Wirtschafterin.
  7. Die Bemerkung beruht lediglich auf scherzhafter Erfindung.
  8. Gastwirth in Treptow.
  9. Der nach dem vorigen Briefe aus Neubrandenburg bestellt worden war.
  10. Zweiter Sohn, damals ein Jahr alt.
  11. Kindermädchen.
  12. „Sich zeugen“ ist verhochdeutscht aus dem Plattdeutschen „sich tügen“, s. v. a. sich etwas Angenehmes gestatten.
  13. Der beiden Töchterchen.
  14. Spöttisch gemeinte Grußbestellung von unbrauchbaren Tagelöhnern.
  15. Nasser, erdiger Rand, der sich zuweilen bei feuchtem Wetter am unteren Saume der Frauenkleider bildet.
  16. Reuter kommt in dem Briefe vom 19. November 1847 (vergl. S. 111) auf das Leiden der Großmama und den für sie in Aussicht genommenen Aufenthalt in der Kaltwasserheilanstalt zurück.
  17. Die hier und weiter unten in Klammern gesetzten Stellen sind auch von Adolf Wilbrandt abgedruckt.
  18. Dreijähriges Töchterchen.
  19. Es ist interessant, daß Reuter sich schon damals ernstlich mit dem Gedanken an schriftstellerische Thätigkeit trug, während das erste Buch von ihm erst zu Weihnachten 1852 erschien.
  20. Scherzhaft gemeint. Die Herbstaussaat war um die Zeit längst beendet und Peters war dafür bekannt, daß er die Bestellung sehr beeilte.
  21. Es folgen jetzt erst recht „Thorheiten“. Das Jahr 1847 war ein Nothjahr, in welchem namentlich das Vieh durch Futtermangel litt. In Thalberg war indeß alles in gutem Stande, und Reuter richtet nun allerlei scherzende Fragen und Rathschläge an den Freund.
  22. Weil sie so matt sind, daß sie nicht ohne Hilfe aufstehen können.
  23. Dreijähriges Töchterchen.
  24. Zweijähriges Töchterchen.
  25. Gerede.
  26. wörtlich