Die Gartenlaube (1856)/Heft 39
(Schluß.)
Maria Gamkow war gleichfalls keinen Augenblick ungewiß darüber, daß es sich um ein großes Unglück für ihre Freundin handle. Sie vergaß ihren eignen Schmerz.
„Wie helfen wir? Auch ich bin ohne Geld; mein Vater kann über die erforderliche Summe nicht verfügen.“
„Sie sprachen von einer Erbschaft Theresens, die sie täglich erwarte?“
„Einen Theil derselben.“
„In baarem Gelde?“
„In Banknoten.“
„Sie sind wie baares Geld. In welcher Weise erwartet sie die Zusendung?“
„Mit der Post. Es wäre möglich, daß sie schon angekommen ist.“
„Wie weit ist Vornholz von hier?“
„Drei Meilen.“
„Fräulein, schreiben Sie ein paar Zeilen an Therese – oder nicht an sie; sie würde sich zu viel ängstigen und vielleicht ohne Noth. Schreiben Sie an Grauburg zwei Zeilen, daß er noch heute einen amtlichen Besuch zu erwarten habe, er möge sich darauf vorbereiten. Das wird genügen. Senden Sie ihm den Zettel durch einen reitenden Boten; ich werde Reise und Geschäft so viel als möglich aufhalten; unterdeß kann er zur Post und wenn er dort nichts findet, zu einem Banquier eilen.“
Sie schickte sofort nach einem Boten, und schrieb das Billet.
Ich verließ langsam ihre Wohnung. Beim Abschiede hatte sie mir noch gesagt, daß der Vicepräsident der Regierung, der Chef der Commission, zu den erbittertsten Feinden des Herrn von Grauburg gehöre, die dieser sich früher durch seinen Uebermuth zugezogen.
Ich fand bei dem Präsidenten den Kassenrath der Regierung und den Doktor Feder. Der Präsident hatte das Aussehen eines vornehmen Ladestocks; der Kassenrath sah aus, wie ein alter zu einem Menschen gewordener Silbergroschen, klein, dünn, abgeschabt, das Gesicht von schmutzigem Kupfer und grauer Silberplattirung; der Doktor Feder glich vollständig einer tückischen Katze. Hätte ich noch einen Zweifel über das Geschäft der Commission haben können, durch den Anblick dieser drei Personen wäre er mir gelöst worden.
„Sie kommen sehr spät, Herr Rath,“ empfing mich ziemlich vornehm der Präsident.
Die Impertinenz ärgerte mich.
„Ich stehe erst von diesem Augenblicke an unter Ihrem Befehle, Herr Präsident.“
Er erwiederte nichts, sondern forderte uns nur auf, ihm zu folgen; zu welchem Geschäfte, sagte er nicht, ich hatte auch keine Lust, ihn danach zu fragen. Vor der Thür standen zwei angespannte Reisewagen und neben jedem ein Regierungsexecutor. Der Präsident stieg in den einen Wagen, zu ihm setzte sich der Kassenrath. Zu mir sagte er: „Ich bitte in dem zweiten Wagen Platz zu nehmen, mit dem Herrn Doktor Feder.“
Ich wurde ärgerlicher.
„Herr Präsident, gehört der Herr Doktor Feder zu der Commission?“
„Ja.“
„In welcher Eigenschaft?“
„Wozu die Frage?“
„Darf ich um Antwort bitten?“
Er besann sich.
„Er begleitet die Commission als Secretair.“
„Herr Präsident, ich vertrete bei der Commission die Justiz, und bin außerdem, was meine Person anbetrifft, nicht gewohnt, mich mit Subalternbeamten zusammenwerfen zu lassen.“
Der Kassenrath entsetzte sich, der Demagogenfänger wurde leichenblaß, der Präsident feuerroth.
„Sie wollen nicht mit dem Herrn Doktor fahren?“
„Nein.“
„In meinem Wagen ist kein Platz mehr.“
„Herr Präsident, ich muß Ihren Anordnungen Folge leisten, aber nur so weit Gesetz und Anstand es mir gestatten. Es ist mir nicht anständig, von Ihnen auf gleiche Linie mit einem Ihrer Subalternbeamten gestellt zu werden.“
„Der Herr Doktor Feder ist kein Subalternbeamter.“
„Er versieht heute bei der Commission einen Subalterndienst.“
Der Präsident wurde verlegen. Keiner der beiden Wagen hatte einen Rücksitz; es konnten jedesmal nur zwei Personen darin sitzen. In seinem Wagen konnte er nach dem Vorgefallenen mich nicht aufnehmen; mit dem Doktor schien er gleichfalls nicht fahren zu wollen; andererseits drängte ihn Eile.
„Ich werde mich über Sie beschweren, Herr Rath.“
„Zu einer Beschwerde haben Sie immer das Recht, Herr Präsident.“
„Sie sind unter meine Befehle gestellt; Sie verfahren subordinationswidrig.“
„Ich werde mein Verfahren verantworten.“
[518] Wie ich nicht nachgab, so gab auch er nicht nach; doch stieg er wieder aus.
„Auerbach,“ befahl er einem der Executoren, „bestellen Sie Extrapost für den Herrn Oberlandesgerichtsrath. Eilen Sie!“
Wir begaben uns in seine Wohnung zurück, stumm, mit feindlichen Blicken einander messend. Es ist ein eigenes Leben, das Beamtenleben. Der Mensch muß ganz in dem Beamten zurücktreten, hatte mir einmal der Vater Theresens gesagt.
Ich war damals eben Auscultator geworden, und noch voll von Studentenansichten und Jugendextravaganzen. Es wurde davon gesprochen, daß ein junger Mann, der sich als Student feig benommen und den wir deshalb in Verruf erklärt hatten, bei demselben Gerichte als Auscultator eintreten werde. Ich erklärte in einer Gesellschaft laut, daß man solch einen Menschen nicht an dem Tische der Auscultatoren und Referendarien dulden dürfe. Der junge Mann kam zwar nicht, aber der Präsident ließ mich rufen und sagte mir: „wenn er kommt, und Sie verziehen nur eine Miene gegen ihn, so werde ich Sie aus dem Dienste entlassen. In dem Beamten muß der Mensch ganz aufgehen.“
Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Postwagen kam. Ich hatte durch mein Benehmen den Aufenthalt nicht beabsichtigt, aber meine Freude über ihn war kein Amtsverbrechen. Wir stiegen wieder ein; der Präsident mit dem Kassenrath, ich allein, der Doktor Feder allein. Die beiden Executoren setzten sich auf den Bock des Präsidentenwagens.
„Schwager,“ sagte ich beim Abfahren laut zu dem Postillon, „Sie fahren unmittelbar hinter dem Wagen des Herrn Präsidenten.“
Er fuhr so. Auch dieser Uebermuth meiner feindlichen Stimmung sollte zu einem Aufenthalte beitragen.
Es war ein klarer Wintertag mit einem gelinden Froste. Es hatte nicht allein den Tag zuvor stark geschneit, sondern früher schon war viel Schnee gefallen. Wir fuhren auf einer Chaussee, die wenig befahren war; der Schnee lag unregelmäßig, aber doch überall hoch, der Frost hatte ihn mit einer Kruste bedeckt. Die Pferde mußten diese bei jedem Tritte durchschneiden, wobei sie sich die Füße verletzten. Wir hatten kaum den vierten Theil des Weges zurückgelegt, als eins der Postpferde vor meinem Wagen hinkte. Der Postillon fluchte, aber er konnte nur im Schritt fahren; der Kutscher des hinter mir fahrenden Doktor Feder fluchte noch mehr, aber er wagte nicht, an mir vorbeizufahren, denn er war Zeuge meiner Unterredung mit dem Präsidenten gewesen. Der Doktor hatte vollends nicht den Muth, ein Wort zu sagen, und so mußte er langsam hinter mir herfahren. Nach einer Weile fuhr auch der Wagen des Präsidenten langsam, so daß wir ihn einholten. Man hatte darin den Aufenthalt bemerkt, der mein Fuhrwerk traf. Die einträchtige Commission durfte sich nicht trennen. Die drei Wagen fuhren wie in einem Leichenzuge. Der Weg ging durch unbewohnte Haide, und es war daher an Relais nicht zu denken. Auf der Hälfte des Weges begegnete uns ein Schlitten; er flog mit rasender Eile an uns vorüber, und darin saß ein einzelner, in einen Pelz gehüllter Herr; ich erkannte in ihm trotz der Eile und trotz der Umhüllung den Herrn von Grauburg.
Es wurde mir schwer und doch auch wieder leicht um das Herz. Schwer, da ein Defect seiner Kasse jetzt völlig gewiß war; leicht, denn er mußte Hoffnung und Mittel zur Rettung haben. Unsere langsame Leichenfahrt kam ihm dabei zu Hülfe. Möchte sie zu einer Leichenfahrt für die Hoffnungen des nichtswürdigen Menschen hinter mir werden, wünschte ich in meinem Innern.
Es war schon völlig dunkel geworden, als die Wagen hielten. Einer der Executoren öffnete den Schlag meines Wagens.
„Wo sind wir?“ fragte ich ihn.
„Auf der Domaine Vornholz.“
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel mehr gehabt, daß wir dort seien. Der Name gab mir dennoch einen Stich in das Herz, und trüb gestimmt verließ ich den Wagen.
Wir befanden uns auf einem weitläufigen, länglich viereckigen Hofe. der rund umher mit Gebäuden umgeben war; an dem obern Ende desselben, unmittelbar vor einem breiten und hohen schloßähnlichen, mit Thürmen versehenen Hause. Deutlich konnte ich die Umrisse an dem hellen Sternenhimmel sehen. Das Haus lag still und dunkel da, nur zwei Fenster in einem hohen Parterre, wahrscheinlich zu einem und demselben Zimmer gehörig, waren erleuchtet. Zu diesem Hause führte eine Freitreppe, vor deren Stufen die Wagen angehalten hatten.
Es regte sich nichts bei unserer Ankunft, weder in dem Hause oder Schlosse, noch in den andern Gebäuden, selbst nicht auf dem Hofe, wir waren also von den auf der Domaine anwesenden Personen nicht erwartet; auch nicht von der unglücklichen Frau, der eine schreckliche Stunde, vielleicht wie sehr leicht die völlige Vernichtung ihres ganzen, ohnehin bisher so spärlichen Lebensglückes harrte. Sie ahnete nichts davon; sie träumte vielleicht gerade jetzt von endlichen bessern Tagen, umgeben von ihren Kindern, oder beschäftigt mit der Ausschmückung des Weihnachtsbaumes für die lieben Ihrigen.
Es war Weihnachts-Heiligerabend. Das heimliche, heilige Dunkel war da, in dem tausend und aber tausend glückliche Kinderaugen lachten und leuchteten.
Wir stiegen die Freitreppe hinauf. Einer der Executoren zog an einer großen Glocke neben der Thüre. Sie läutete hell im Innern des Schlosses. Mehrere Hunde schlugen laut an. Bald darauf erhellten sich zwei Fenster zu beiden Seiten der Thüre, und diese wurde geöffnet. Wir traten in die geräumige Halle. Der Diener, der uns geöffnet hatte, ein dem Anscheine nach gewandter Mensch, sah uns verwundert an. Wir kamen also völlig unerwartet.
„Ist der Herr Domainendirektor zu Hause?“ fragte der Präsident den Bedienten.
Meine Reisegefährten hatten also wahrscheinlich den Herrn von Grauburg auf der Chaussee nicht erkannt.
„Der gnädige Herr sind verreiset,“ antwortete der Bediente.
„Bis wann?“
„Ich kann nicht dienen. Die gnädige Frau sind zu Hause.“
Der Präsident wechselte ein paar Blicke mit dem Kassenrath.
„Führe Er uns zu der Kasse.“
„Ich bedauere, die Kasse ist verschlossen.“
„Verschlossen? Und die Beamten?“
„Es ist Weihnachts-Heiligerabend.“
„Aber es ist noch nicht sechs, also noch Bureaustunde.“
„Als der gnädige Herr verreiseten, gaben sie den Beamten für heute Urlaub.“
Der Herr von Grauburg hatte uns also doch wohl erwartet.
„Schließe Er das Kassenzimmer auf,“ befahl der Präsident dem Bedienten.
„Ich bedauere, der gnädige Herr haben den Kassenschlüssel mitgenommen.“
Der Präsident und der Kassenrath wechselten verlegene Blicke.
„Nach meiner unmaßgeblichen Meinung,“ nahm der Doktor Feder das Wort, „dürfte ein Schlosser herbeizuholen sein.“
„In der That,“ sagte der Kassenrath zustimmend.
Der Präsident schien wohl vornehm, aber auch eben so leicht rathlos zu sein, und dann nur Andern folgen zu können.
„Ist ein Schlosser in der Nähe?“ fragte er den Bedienten.
Ich glaubte, lange genug geschwiegen zu haben.
„Herr Präsident,“ fragte ich, „gehört die Gewaltmaßregel, die Sie scheinen ausführen lassen zu wollen, zu den amtlichen Geschäften der Commission, der ich zugeordnet bin?“
„Gewissermaßen,“ antwortete er nicht vornehm.
„So muß ich für den Augenblick gegen sie protestiren. Sie haben noch nicht die Güte gehabt, auch nur mit einem einzigen Worte mich von dem Geschäfte der Commission in Kenntniß zu setzen. Bevor ich es nicht kenne, kann ich an keinem einzigen Akte Theil nehmen, viel weniger an einem Gewaltakt.“
„Sie haben Recht, Herr Rath. Bedienter, führe Er uns in ein Zimmer.“
Der Bediente öffnete ein Zimmer seitwärts in der Halle.
„Haben Sie die Güte, einstweilen in das Zimmer des gnädigen Herrn einzutreten. Ich werde weitere Befehle der gnädigen Frau einholen.“ Er verließ uns.
Wir befanden uns in einem comfortabeln, fast elegant eingerichteten Arbeitszimmer. Der Herr von Grauburg war überall Lebemann. Es herrschte große Ordnung in dem Zimmer. Nur einzelne ältere Akten lagen offen. Alle andern Geschäftspapiere schienen in den zahlreichen Schränken eingeschlossen zu sein. Die Schlüssel waren nicht da.
Der Bediente kam nach wenigen Augenblicken zurück.
„Die gnädige Frau läßt um die Namen der Herren bitten.“
„Wir haben mit dem Herrn Domainendirektor Geschäfte. Frage Er die gnädige Frau, wenn der Herr zurückkommt.“
[519] Der Bediente ging wieder; schnell kehrte er zurück.
„Die gnädige Frau erwartet den gnädigen Herrn in spätestens einer Stunde. Sie bedauert zugleich, den Herren nur dieses Zimmer anweisen zu können; außer den Familienstuben ist im Schlosse kein Zimmer geheizt.“
„Ich bin der gnädigen Frau verbunden.“
Der Bediente entfernte sich. Der Präsident wandte sich an mich.
„Ich erlaube mir jetzt, Sie von dem Gegenstande unseres Geschäfts in Kenntniß zu setzen. Der Domainendirektor von Grauburg verwaltet eine bedeutende Kasse, in der die Einnahmen der Domainenrentmeister des Bezirks zusammenfließen. Es sind schon seit einiger Zeit Anzeigen einer unordentlichen Verwaltung geeigneten Orts angebracht. Gestern hatte der Herr von Grauburg in der Stadt eine erhebliche amtliche Einnahme. Unmittelbar darauf hat er im Spiele eine große Summe Geldes verloren. Das Regierungspräsidium, dem hiervon die Anzeige wurde, mußte daraus Veranlassung zu einer außerordentlichen Kassenrevision nehmen. Bei der Wichtigkeit der Sache, bei dem dringenden Verdachte einer Veruntreuung, mindestens einer großen Unordnung, die eine gerichtliche Untersuchung hervorrufen könnte, erscheint es zugleich erforderlich, den Thatbestand sofort unter gerichtlicher Mitwirkung zu erheben. Daher Ihre Zuziehung, Herr Rath, zu den Verhandlungen, die wir nunmehr beginnen werden.“
Wort für Wort, was ich geahnt, was ich gewußt hatte.
„Darf ich mir vorher eine Frage erlauben, Herr Präsident?“
„Was wünschen Sie?“
„Von wem ist Ihnen die Anzeige des Spielverlustes des Herrn von Grauburg geworden?“ Ich warf einen durchdringenden Blick auf den Doktor Feder.
Der Mensch erblaßte, und unterbrach den Präsidenten, der mir antworten wollte.
„Gehört das zur Sache?“ fragte er.
Ich antwortete nicht, und hielt mich nur an den Präsidenten.
„Ich weiß nicht, Herr Präsident, wie weit Sie Ihrem Secretair das Recht eingeräumt haben, statt Ihrer zu antworten. Jedenfalls kann dadurch mein Recht nicht beeinträchtigt werden, meine Instruktion wie meine Information nur von Ihnen zu erhalten.“
Der Präsident zeigte sich mehr und mehr als ein eben so schwacher und unwissender, wie vornehmer Mann. Es gibt sehr viele solche Präsidenten. Der anmaßende Polizeiagent durfte gegen ihn doppelt anmaßend sein. Der Präsident wurde doppelt verlegen.
„Was bedürfen Sie noch zu Ihrer Information?“
„Den Namen des Denuncianten gegen den Herrn von Grauburg.“
„Aber wozu das, mein Herr?“
„Herr Präsident, räumen Sie mir das Recht ein für ein Verfahren, dem ich durch mein Mitwirken gerichtlichen Glauben verschaffen soll, vollständige Aktenkenntniß zu verlangen?“
„Ich kann Ihnen das nicht bestreiten.“
„So bitte ich um Antwort, oder um Mittheilung der schriftlichen Denunciation.“
Der Präsident konnte mir nicht mehr ausweichen. Er zögerte noch. Der Doktor Feder nahm die volle Frechheit des geheimen Polizeiagenten zusammen.
„Ich war es, der sich zu der Anzeige verpflichtet hielt.“
„Ist der Doktor wirklich der Denunciant, Herr Präsident?“
„Von ihm rührt die Anzeige her.“
„Ein Denunciant ist Ankläger, gar geheimer Ankläger; er kann nicht zugleich amtlich in der Sache verhandeln.“ Der Präsident wurde wieder blos vornehm.
„Das habe ich zu verantworten, Herr Rath.“
„Bitte um Verzeihung; ich habe hier darüber zu wachen, daß keine Ungesetzlichkeit des Verfahrens vorgenommen wird. Ich werde auf keinen Fall hier amtlich mit dem Herr Doktor Feder wirken.“
Ich war unbestreitbar in des Gesetzes und in meinem vollen Rechte. Auch der Doktor Feder sah das ein.
„Gut,“ sagte er. „Herr Präsident, ich werde Ihnen keine Verlegenheiten bereiten, und verzichte auf das Führen des Protokolls; dieser Herr wird dadurch seinen Zweck nicht erreichen, wenn er, wer weiß, aus welchen Gründen, das Geschäft der hohen Commission vereiteln will. Der Herr Regierungskassenrath kann das Protokoll führen.“
„So ist es,“ bestätigte der Kassenrath.
Ich war indessen noch nicht zufrieden mit der Demüthigung, die ich dem Menschen bereitet hatte. Ich leugne es nicht, meine Seele war erfüllt von Haß gegen den Bösewicht, der das Glück einer Familie vernichten wollte.
„Herr Präsident, ich muß Sie auch noch um die Entfernung des Herrn Doktor Feder bitten.“
„Herr Rath, Sie werden anmaßend.“
„Wenn ich es bin, so bin ich es für das Gesetz. Das Gesetz kennt und duldet keine amtlichen Verhandlungen in Gegenwart Dritter; über die Zuziehung und Zulassung von Zeugen und Denuncianten existiren sogar specielle Vorschriften.“
Es war mir wieder nichts einzuwenden. Der Präsident konnte nur etwas kleinlaut sagen:
„Aber, mein Herr, Sie haben gehört, daß kein anderes Zimmer im Schlosse geheizt ist. Wohin soll er?“
„Ein Bedientenzimmer wird geheizt sein.“
Der Polizeispion zitterte vor Wuth.
„Noch hat hier die amtliche Verhandlung nicht begonnen,“ sagte er.
„Ist das auch Ihre Meinung, Herr Präsident?“ fragte ich rasch, indem mir plötzlich ein Gedanke einkam.
„Gewiß.“
„So darf ich mich beurlauben, bis die amtliche Verhandlung beginnt. Ich bitte, mich, wenn Sie anzufangen befehlen, aus dem Zimmer der gnädigen Frau rufen zu lassen; ich habe mit ihr zu sprechen.“
Die Wuth des Doktor Feder verwandelte sich in Hohn.
„Ah, das war es! Durchschauen Sie den Plan, Herr Präsident?“
„Herr Rath,“ rief der Präsident, „Sie werden Ihres Amtseides eingedenk sein.“
„Ich bin kein Verräther.“
Ich verließ das Zimmer, und die drei Herren blieben allein. Mochten sie unter der Glut ihres Zornes ausschwitzen, was sie wollten. Eine ungesetzliche Maßregel, die sie beschlossen oder ausführten, brauchte ich ohnehin nicht anzuordnen, einer gesetzlichen konnte ich nicht entgegentreten; auch nicht, wenn eine gewaltsame Erbrechung der Kassenstube und der Kasse vorgenommen wurde. Sie waren in ihrem vollen Rechte, da der Domainendirektor sich entfernt und die Schlüssel nicht zurückgelassen hatte. Es drängte mich zu etwas Anderem. Ich mußte die unglückliche Frau sehen und zugleich versuchen, ob ich in irgend einer Weise retten könne, ohne den Pflichten meines Amtes untreu zu werden. Wie? darüber war ich allerdings selbst noch im Unklaren.
Ich trat in die Halle, an der das Zimmer lag; sie war schwach durch eine Flurlampe erleuchtet. Ich suchte einen Bedienten, um mich bei der Frau des Hauses anmelden zu lassen, fand aber Niemanden, und öffnete daher auf gut Glück eine Thür, welche in eine erleuchtete Stube führte. Eine Dame trat mir entgegen.
„Sie sind es?“ rief sie mir entgegen.
Die Frau von Grauburg stand vor mir, aber nicht mehr die schöne Therese und stolze Präsidententochter; sie war alt geworden und konnte wohl kaum dreißig Jahre zählen; ihre Gestalt war zusammengefallen und erschien mir wie eine Frau tief in den Vierzigen, die dieses Alter unter Gram und Sorgen erreicht hat. Ihr bleiches Gesicht hatte sich belebt, als sie mich erkannte. Meine Anwesenheit, die sie nicht geahnt hatte, schien sie mit einer plötzlichen Hoffnung zu erfüllen.
„Sie hier? Mir fällt ein schwerer Stein vom Herzen.“
Ich konnte, ich durfte ihr keine Hoffnung machen.
„Leider bin ich hier.“
Ihr Gesicht wurde bleicher, als es vorher gewesen war.
„O Gott! Sie sind Criminalbeamter!“
„Ich bin es. Aber fassen Sie Muth, Therese; lassen Sie uns überlegen; ich werde Alles thun, was ich, ohne meine amtliche Pflicht zu verletzen, verantworten kann; davon seien Sie überzeugt.“
„Das bin ich. Aber wer sind die Herren, die mit Ihnen hier sind?“
„Die Kassenbeamten der Regierung.“
[520] „Ich ahnete diese Kassenvisitation! Mein Mann ist nicht hier; er hatte einen reitenden Boten erhalten und fuhr eilig zur Stadt, nur von wichtigen Geschäften sprechend, die ihn riefen; anscheinend gleichgültig, aber jetzt erst sehe ich die Unruhe, die er zu verbergen suchte.“
„Hat er Ihnen gar nichts anvertraut?“
„Nichts! Er that es nie. Glauben Sie an Defecte in der Kasse?“
„Ich fürchte sie. Wie steht es mit Ihrer Erbschaft? Wenn erwarten Sie den Eingang derselben?“
„Schon gestern; heute oder morgen müssen die Gelder bestimmt eintreffen.“
„Morgen wäre es zu spät. Sind Sie nicht im Besitze anderer Geldsummen?“
Sie erröthete.
„Ich habe weiter nichts, als das Wirthschaftsgeld, und dies ist beinahe verausgabt; ich habe davon für die Weihnachtsfreude der Kinder angeschafft.“
„Bis wann kann Ihr Mann aus der Stadt zurück sein ?“
„Er fuhr um ein Uhr fort, und jetzt haben wir halb sechs; wenn seine Geschäfte ihn nicht so lange aufhalten, so kann er um sieben Uhr zurück sein, also in anderthalb Stunden.“
Ich sann über ein Mittel nach, Aufenthalt zu gewinnen; denn es kam Alles darauf an.
„Lassen Sie die Herren hierher zu einer Tasse Thee bitten.“
Sie eilte zu der Klingel.
„Die Herren sind der Regierungspräsident, der Kassenrath und der Doktor Feder.“
„Der?“
Sie zog, wie mit Abscheu, die Hand von der Klingel zurück.
„Wir gewinnen Aufenthalt,“ sagte ich.
Die Arme zog an der Klingel, als wenn diese ihr Rettungsanker wäre, und als der Bediente erschien, trug sie ihm die Einladung der Herren auf.
Die Glocke hatte aber gleichzeitig noch etwas Anderes in das Zimmer gerufen.
Durch eine Seitenthür stürzten drei Kinder mit fröhlichen, lachenden Augen herein. Das Christkindchen, das Christkindchen! riefen sie; aber enttäuscht, still und verlegen blieben sie an der Thüre stehen.
Ich sah mich jetzt erst näher in dem Zimmer um. Die Mutter war mit dem Aufputzen des Weihnachtsbaumes für die Kinder beschäftigt gewesen, als ich eintrat. Der frische Tannenbaum stand schon in der Mitte der Stube und war mit Schmelzketten, seidenen Bändern, silbernen Aepfeln und goldenen Nüssen behangen. So weit war die Mutter mit ihrer Vorbereitung gekommen, während schon die fremden Leute in ihrem Hause waren, und sie schon ahnete, was deren plötzliches Erscheinen bringen werde.
Wie mochte das Mutterherz gebangt und gezagt, wie mochten die Hände gezittert haben, als sie den Baum schmückte. Die blühenden, fröhlichen Kindesgesichter hatten gewiß noch nicht vor ihrem feuchten Auge gestanden. Die Geschenke für die Kinder standen und lagen noch ungeordnet auf den Stühlen umher, und wenn auch sie geordnet waren, sollten die Kleinen hereinkommen. Der Ton der Glocke sollte sie rufen; er hatte sie zu früh gerufen; verlegen standen sie nun vor dem Baume, in dessen Zweigen die Lichter noch nicht brannten, und vor dem bekümmerten, ängstlichen Gesichte der Mutter. Das war keine Weihnachtsfreude.
Aber herrliche Kinder waren es. Marie Gamkow hatte Recht gehabt. Zwei Knaben von ungefähr acht und drei, und ein Mädchen von sechs Jahren; Alle gesund, frisch und blühend.
„Es ist noch zu früh, Kinder,“ sagte die Mutter.
„Ja, ja,“ bemerkte verständig der ältere Knabe, „es ist ja auch noch nicht sechs Uhr, und der Vater ist noch nicht zurück.“
Klug setzte das Mädchen hinzu: „Und vor sechs Uhr hat das Christkindchen auch keine Zeit.“
Der Bediente kehrte zurück.
„Die Herren ließen danken, sie seien beschäftigt.“
Die Frau vom Hause wies ihn an, den Herren den Thee in das Zimmer zu bringen, in dem sie sich befanden. Sie entfernte sich mit ihm, um draußen etwas zu besorgen. Die Kinder ließ sie bei mir.
„Erzählt dem Onkel; er ist ein Freund Eurer Mutter.“
Das Mädchen kam sogleich zutraulich zu mir.
„Wir schenken den Eltern auch etwas zu Weihnachten,“ sagte sie geheimnißvoll.
„Therese, Du sollst nicht plaudern,“ drohete keck der Knabe von drei Jahren.
„Mir könnt Ihr es schon sagen, Kinderchen, ich verrathe nichts. Was schenkt Ihr denn den Eltern? Zuerst Du, kleine Therese?“
„Ich habe ein Gedicht auswendig gelernt.“
„Und Du, mein kleiner Bursch? Wie heißt Du?“
„Gustav heißt er,“ rief das Mädchen; „er kann nicht lernen, er ist noch zu klein.“
„Aber,“ fiel trotzig der Kleine ein, „ich bringe das Versprechen, daß ich artig nun sein und Dich nicht mehr schlagen will. Das ist mein Geschenk. Die Mutter sagt, es sei ihr das Liebste.“
Ich wollte mich an den ältern Knaben wenden; das Geschwätz mit den Kindern sollte die große Unruhe zerstreuen, die mich immer mehr und mehr ergriff; aber da kehrte Frau von Grauburg heftig zitternd zurück.
„Man hat einen Schlosser kommen lassen,“ sagte sie; „er ist so eben eingetroffen.“
Sie war so erschöpft, daß sie sich nicht mehr halten konnte und auf das Sopha setzen mußte; eine furchtbare Blässe bedeckte ihr Gesicht; die Kinder flogen erschrocken zu ihr.
„Was fehlt Dir, Mutter? Bist Du krank? Du zitterst.“
Sie nahm alle ihre Kraft zusammen. „Es ist nichts,“ sagte sie; „es war kalt draußen; kehrt jetzt in Eure Stube zurück, denn um sechs kommt das Christkindchen, und das bescheert nur, wenn die Kinder nicht dabei sind.“
Die Thür des Zimmers öffnete sich, und der Bediente trat mit einem der beiden Executoren ein.
„Der Herr Präsident lassen den Herrn Rath bitten; das Geschäft soll sofort beginnen.“
„Ich komme.“
Der Bediente und Executor entfernten sich wieder.
„Es ist zu spät,“ jammerte die unglückliche Frau. „Er ist so leichtsinnig, und hat gewiß Defecte. Die Gesetze sind streng, ich kenne sie. Es ist vorbei, vorbei in dem letzten Momente! Ich hatte so viel, so lange Jahre gelitten, heute sollte das Ende der Leiden und der Angst kommen. Ich hatte mich so gefreut, denn heute sollte die Erbschaft eintreffen; sie sollte ein Weihnachtsgeschenk für ihn, für uns Alle sein; sie sollte allen unsern Sorgen ein Ende machen. O, noch eine, eine Stunde! Zu spät! Es ist vorbei!“
Der Dienst rief mich, der unerbittliche Dienst.
„Vertrauen Sie auf Gott, Therese!“
Ich mußte fort. Sie lag einer Ohnmacht nahe im Sopha. Die Kinder standen mit ihren bleichen Gesichtern um sie, die vor wenigen Augenblicken noch so fröhlichen, lachenden Gestalten. Hinter ihnen stand der Weihnachtsbaum mit den glitzernden Schmelzketten, den flatternden Seidenbändern, den blanken Aepfeln, den goldenen Nüssen und den bunten Wachskerzen; aber die bunten Kerzen brannten noch nicht; die Zweige des Baumes hingen finster und traurig herab. Es war Alles in Traum und Finsterniß. So mußte ich die Arme verlassen; das Herz wollte mir brechen. Ich blickte unmittelbar darauf in das höhnisch grinsende Gesicht des Doktor Feder.
Man war während meiner Abwesenheit nicht unthätig gewesen. Nicht nur ein Schlosser mit seinem Handwerkszeuge, auch der Rendant und der Controleur der Kasse waren durch die Executoren herbeigerufen. Man begab sich in das Kassenzimmer; der Doktor Feder mußte zurückbleiben, aber sein höhnischer Blick begleitete uns. Das Zimmer lag neben der Arbeitsstube des Herrn von Grauburg; es war verschlossen, und auf Befehl des Präsidenten sprengte der Schlosser das Schloß. Wir traten in das Zimmer.
„Zeigen Sie die Kasse,“ befahl der Präsident dem Rendanten.
Der Beamte führte uns nach dem Ende des Zimmers. In einer starken, vorgebauten Mauer befand sich eine eiserne Thür.
„Hier,“ sagte der Beamte.
„Die Schlüssel?“
„Der Domainendirektor führt sie allein.“
„Sie sind nicht hier?“
„Der Herr Domainendirektor trägt sie stets bei sich.“
„Schlosser, sprengen Sie die Thür.“
Der Schlosser sprengte die Thür. Es dauerte eine ziemliche Weile. Die Minuten verflossen mir wie Sekunden.
[521]
„Die Kassenbücher?“ fragte der Präsident den Rendanten weiter.
„Sie befinden sich in der Kasse.“
„Wer führt sie?“
„Ich und der Controleur.“
„Bis wann sind sie geführt?“
„Bis heute Mittag ein Uhr, wo wir das Lokal verließen.“
„Ist der Kaufpreis der Domaine Dalhausen schon gebucht?“
„Es war die letzte Post heute.“
„Mit wie viel?“
„Mit zehntausend Thalern; es war eine Abschlagszahlung.“
„Es müssen zwölftausend sein,“ flüsterte der Kassenrath dem Präsidenten in’s Ohr.
Ich erbebte, als ich diese Worte vernahm.
„Ist die Summe zur Kasse gekommen?“ fragte der Präsident weiter.
„In meiner und des Controleurs Gegenwart.“
„In welchen Münzsorten?“
„In Gold.“
Der Präsident wandte sich an mich.
„Herr Rath, haben Sie noch Fragen an die Beamten zu stellen?“
„Nein.“
„Herr Regierungsrath, sehen Sie die Bücher nach.“
Der Rendant zog die Kassenbücher aus dem Kassengewölbe hervor; der Kassenrath sah sie ein.
„Schließen Sie die Bücher vorschriftsmäßig ab,“ sagte er zu den beiden Kassenbeamten.
Der Rendant nahm sein Kassabuch, der Controleur sein Controlebuch. Sie rechneten, um den Abschluß zu machen. Ich sah nach meiner Uhr; es war halb sieben. Der entscheidende Augenblick nahete; noch war Rettung möglich, denn die Bücher waren
[522] noch nicht abgeschlossen, und der Bestand der Kasse noch nicht nachgezählt; erschien der Domainendirektor jetzt noch mit dem Gelde, das aller Wahrscheinlichkeit nach in der Kasse fehlte, so konnte er es noch offen, vor der ganzen Commission in die Kasse legen, ohne daß man ihn eines Verbrechens zu zeihen vermochte. Es lag nur eine Unordnung vor, die höchstens mit einer Verwarnung, einem Verweise zu rügen war. Nach wenigen Minuten war es zu spät.
Die beiden Kassenbeamten rechneten eifrig; der Präsident und der Kassenrath sahen ihnen ungeduldig zu; ich trat an das Fenster und horchte in den stillen, dunklen Abend hinein, nur nach einem einzigen Peitschenknall, nach dem Schnauben eines Pferdes und dem Schnarren eines Schlittens auf dem Schnee. Es blieb aber Alles still; kein Laut um mich her; draußen nur tiefes, stilles Dunkel; in dem Zimmer nur die still rechnenden und ungeduldig harrenden Beamten, und neben an, zwanzig Schritte weiter, jenseits der dicken Mauer die unglückliche Frau, umgeben von den traurigen Kindergesichtern.
Die Kassenbeamten hatten ihre Arbeit vollendet; der Rendant legte sein Buch dem Controleur, und der Controleur das seinige dem Rendanten zur Durchsicht und Vergleichung vor. Die beiden Bücher stimmten; jeder der Beamten unterschrieb nun den Abschluß des Andern. Der Kassenrath sah die Abschlüsse nach.
„Die Bücher sind in Ordnung,“ sagte er zu dem Präsidenten.
Der Präsident wandte sich wieder an mich.
„Herr Rath, ich ersuche Sie, Einsicht von den Büchern zu nehmen.“
Ich durchsah die Bücher genau, und rechnete lange, aber wahrlich nicht absichtlich, um noch einen letzten Aufenthalt zu gewinnen; meine Aufmerksamkeit war mehr draußen nach der Straße hin, als auf die Bücher gerichtet, gegen meinen Willen. Die Zahlen verschoben sich immer vor meinen Augen.
„Ich bitte, beeilen Sie sich,“ sagte der Präsident.
Ich nahm mich zusammen. Die Bücher waren in Ordnung; die Abschlüsse stimmten; ich gab sie dem Kassenrath zurück.
„Ich finde nichts zu erinnern.“
„So nehmen wir den Kassensturz vor.“
Die Kasse war in einer musterhaften äußerlichen Ordnung, Der Rendant hatte dafür gesorgt. Wie die Bücher sauber gehalten waren und jedes in sich, und alle miteinander stimmten, so waren auch die Geldbestände übersichtlich, in einer fast symmetrischen Ordnung in dem Gewölbe nebeneinander gelagert. Der Rendant holte die einzelnen Packete, Beutel und Rollen hervor und legte sie vor den Visitationscommissarien auf den Tisch. Die Packete enthielten Kassenanweisungen, die Beutel Silbergeld, die Rollen Gold. Auf jedem Stücke war die Summe des Inhaltes verzeichnet. Der Kassenrath zog die Summen nach diesen Bezeichnungen zusammen; ich folgte seiner Berechnung mit banger Erwartung. Die Summe stimmte genau mit dem Betrage, der nach den abgeschlossenen Büchern in der Kasse vorhanden sein mußte; es fehlte kein Pfennig. Den beiden Kassenbeamten sah man es an, wie es ihnen leichter um das Herz wurde. Mir wurde das meinige schwerer. Nur zehntausend Thaler waren aus dem gestrigen Domainenverkaufe zur Kasse gebracht. Zwölftausend Thaler hatten nach der Versicherung des Kassenrathes vereinnahmt werden sollen. War nun jene Versicherung richtig, so konnte diese Uebereinstimmung nur durch falsche Eintragung in die Bücher herbeigeführt sein. Fälschungen oder Unvorsichtigkeiten in den Kassenbüchern oder Belägen zum Zweck der Verdeckung eines Defectes oder Veruntreuung zog nach dem Gesetze eine Verlängerung der durch den Defect verwirkten Zuchthausstrafe, um die Hälfte der Dauer nach sich.
Der Präsident und der Kassenrath wechselten sprechende Blicke.
„Wo befinden sich die Dokumente über den gestrigen Domainenverkauf?“ fragte der Präsident den Rendanten.
Der Beamte zeigte auf eine verschlossene Truhe. „Der Herr Domainendirektor pflegt dergleichen Papiere hier zu bewahren.“
„Der Schlüssel?“
„Der Herr Domainendirektor trägt ihn mit dem Kassenschlüssel bei sich.“
„Schlosser, öffne Er die Truhe.“
Ward dieselbe geöffnet, so war Alles vorbei; ein Vergleich der Verkaufsdokumente mit den Büchern mußte sofort die Fälschung der letzteren und somit zugleich den Defect in der Kasse ergeben; von einem Versehen, von einer bloßen Unordnung konnte dann gar nicht mehr die Rede sein.
Der Schlosser wollte das Oeffnen der Truhe beginnen.
Ich horchte mit der äußersten Anstrengung nach dem Fenster und der Straße; kein Laut ließ sich vernehmen; mich faßte eine furchtbare Angst; sie hätte nicht größer sein können, wenn es sich um mich selbst, um meine eigene Rettung gehandelt hätte. Ich fühlte nur den einen, unwiderstehlichen Trieb zu retten. Wer auf den Criminalbeamten den Stein werfen will, der bedenke, daß ich damals erst achtundzwanzig Jahre zählte und seit kurzer Zeit Criminalbeamter war, und bedenke noch manches Andere, was auch in dem menschlichen Herzen eines Criminalbeamten vorgehen kann, meinetwegen sogar, daß ich auch heute noch so handeln würde; ein allerdings leichtsinniger, gewissenloser Beamter sollte gestürzt werden, aber von Schurken und aus den niederträchtigsten Motiven. Mit ihm sollte eine unschuldige Familie als Opfer fallen.
„Herr Präsident,“ sagte ich, „ich bitte, zunächst die Geldpackete und Rollen öffnen und nachzählen zu lassen.“
„Es wird später geschehen, mein Herr.“
„Nach der Ordnung der Kassenvisitation müßte es jetzt geschehen.“
„Ist eine gesetzliche Nichtigkeit damit verbunden, wenn es später geschieht?“
„Nein,“ antwortete ich.
„Also! Oeffne Er, Schlosser.“
„Wozu diese Gewalt? Ich finde sie nicht motivirt, da doch Kasse und Bücher stimmen.“
„Aber nicht Bücher und Beläge.“
„Wo wäre das ausgesprochen?“
„In den Akten. Nach diesen sind gestern zwölftausend Thaler Kaufgelder eingezahlt, und die Bücher sprechen nur von zehntausend; also fehlen zweitausend Thaler.“
„Nach welchem Stücke der Akten, wenn ich bitten darf?“
„Nach der Anzeige.“
„Nach der Denunciation!“ sagte ich verächtlich.
„Auf Grund dieser Denunciation sind wir hier, mein Herr.“
„Leider!“
Mein „leider“ konnte das Recht des Präsidenten nicht bestreiten. Der Schlosser öffnete die Truhe. In demselben Augenblicke flogen schnaubend Pferde unter dem Fenster vorbei; ein Schlitten rauschte über den Schnee: nach einigen Sekunden hielt er vor dem Hause. Der Präsident und der Kassenrath griffen Beide in die Truhe hinein, rissen Papiere hervor und wühlten darin. Die Hausthür wurde aufgerissen; es stürzte Jemand in das Haus.
„Hier,“ rief der Präsident. Er hielt ein Dokument empor.
„Zwölftausend Thaler sind eingezahlt. Zweitausend fehlen.“
„Zweitausend fehlen,“ wiederholte der Kassenrath, indem er in das Papier sah.
Der Präsident legte mir das Papier hin.
„Ueberzeugen Sie sich, Herr Rath, daß nach diesem Originaldokumente und dem Befunde der Bücher und der Kasse ein Defect von zweitausend Thalern und eine Fälschung der Bücher um diese Summe feststeht!“
Das Dokument war klar. „Ja,“ sagte ich langsam, „wenn die Zählung des Geldes kein anderes Resultat ergibt.
Während der Präsident fragte und ich antwortete, hatte sich die Thür des Zimmers geöffnet; als ich das letzte Wort gesprochen hatte, war sie wieder zugeschlagen. Ich glaubte, den Herrn von Grauburg in der Thür gesehen zu haben; eingetreten war Niemand. Ich stand wie verwirrt und betäubt da. Ein Schuß unmittelbar vor dem Zimmer weckte mich aus meiner Betäubung.
Ich sprang aus dem Zimmer in die Halle. Auf den Steinen lag der Domainendirektor von Grauburg mit zerschmettertem Gehirn. Er hatte durch den Schuß seinem Leben ein Ende gemacht. Er hatte die Erbschaft seiner Frau erhoben, und führte das Geld in Banknoten bei sich; ein Packet mit zweitausend Thalern lag neben ihm. Er war um eine Minute zu spät gekommen.
Ich eilte in das Zimmer Theresens. Sie lag ohnmächtig an der Erde; die Kinder standen weinend ihr zur Seite; neben ihnen lag der umgestürzte Weihnachtsbaum.
Die unglückliche Frau ist todt. Ihre Kinder sind brav geworden. Marie Gamkow wurde von dem Polizeispion befreit, welcher später Geheimerath wurde.
Unter den hundert Kriegern, welche im Laufe d. J. öffentlich von der Königin im St. Jamespark mit der Krim-Medaille decorirt wurden, erfreute sich Sergeant Thomas Dawson einer besonders respektvollen Verbeugung Victoria’s. Er ist einer der vielen entstellten Helden untern Ranges, deren unerschrockene Tapferkeit und Ausdauer die englische Armee mit Ruhm bedeckte, während die Helden obern Ranges Alles thaten und unterließen, sie mit Rasen zu decken. Er ist der tapfere Garde-Grenadier, der unter dem Herzog von Cambridge und General Bentinck Wunderdinge des Muthes that, bis er am 5. November 1854 in dem dicken Nebel und dem Gebalge der Bataille bei Inkerman zum Invaliden geschossen ward.
Schmieriger, schleimiger Boden mit Schluchten und zackigen Höhen, Nebel, so dicht, daß man nicht 2 Ellen weit sehen konnte, dazu Pulverdampf und schießende, Steine werfende, mit Fäusten packende und mit Fäusten gepackte Feinde von allen Seiten. In einer solchen Atmosphäre trieb Dawson seine Hand voll Leute am rechten Ende der zweiten Division einen zackigen Hügel hinauf, den zwei Abtheilungen Russen dicht besetzt hatten und vertheidigten. Er gewann diesen Hügel durch Kugeln und Bayonnette hindurch. Die Russen wurden zuletzt im wirklichen Faustkampfe hinabgestürzt. In diesem furchtbaren Gemetzel zerschmetterte ihm eine Kugel den linken Arm. Kampfunfähig geworden, hatte er nur mehr Muße, dem entsetzlichen Gebalge unter Leichen und Verstümmelten hervor zuzusehen. Mitten im Gemetzel fragte ein Soldat den andern: „Wie gefällt Dir das, Bill?“
„Oh, ich weiß kaum. Bis jetzt bin ich verdammt glücklich gewesen.“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, stürzte er rücklings, von einer Kugel durchbohrt, auf die zackigen Felsen.
„Also das haben wir nun davon,“ röchelte er und starb.
Ein schwer Verwundeter brummte unzufrieden: „Ich scheere mich nicht so viel um meine eigne Verwundung, aber das ärgert mich, daß ich mitten in der Sache aufhören muß. Es ist, als hätt’ ich einen spannenden Roman bis zur Mitte gelesen und Jemand hätt’ ihn mir aus der Hand gerissen.“
Einmal sah Dawson folgende Kette: Einer seiner Kameraden ward von einem Russen mit einem Steine niedergeschlagen. Er sprang auf, packte den Russen bei der Gurgel und stürzte ihn rücklings den Felsen hinunter. Ein Russe, der das sah, schleuderte den Engländer hinterher; in demselben Augenblicke ward der Russe von einem Bayonnet durchbohrt und der Engländer, der dies gethan, von einer Kugel mitten durch den Kopf getroffen.
Dawson ward bald hinunter geschleppt und in einen jener fürchterlichen Karren gepackt, in welchen die Engländer ihre Verwundeten über Stock und Stein fortzumartern pflegten. Auf dem Wege nach Balaklava mußte er sich an der einen Seite des Wagens festklammern, um den zerschmetterten Arm nicht noch hundert Mal auf’s Neue zerquetschen zu lassen. In Balaklava ward der zersplitterte Arm abgesägt und er nach Scutari verschifft, wo er unter der Pflege der barmherzigen „Nachtigallen“ bald genaß.
„Sie retteten manches Leben,“ sagte er, „denn der Soldat ist zu brav, als daß er in Gegenwart dieser sanften und heroischen Damen so schwach sein sollte, zu sterben.“
Dawson war seit 1839 Soldat, ein Jahr lang Korporal und zwei Jahre Sergeant. Vom Anfange an theilte er alle Schrecken und Schicksale der Krimarmee und war einer der Tapfersten an der Alma, bei Balaklava und Inkerman, außerdem mehr als 50 Nächte in den Schanzgräben unter Schnee-, Wasser- und Kugelregen.
In seiner Heimath ward er von einem lieben Weibe und einer kleinen Tochter empfangen und erfreute sich außer mancher Ehrenbezeugungen officieller und privater Art, auch einer guten Photographirung durch den berühmtesten Photographen Englands, Mr. Mayall, im Kreise seiner Familie. Das Bild ward im polytechnischen Institut ausgestellt, wo es allgemein und auch der Königin so gefiel, daß sie sich eine Copie für ihr Portefeuille ausbat.
Wir geben hier dieselbe Copie, ein Bild, das aus sich selbst verständlich ist und zu Herzen spricht, abgesehen davon, daß es als künstlerisch gelungenes Genrebild zugleich auch zu den technisch besten in der Sphäre der Photographie gerechnet wird. In England existiren davon Hunderte von Nachbildungen in Stahl, Stein und Holz.
Sind die klimatischen Verhältnisse eines Landes oder einer Gegend so, daß der Sommer lang und warm genug ist, um selbst in den weniger schönen Jahrgängen die Trauben bis zum Herbste zur völligen Reife zu bringen, so läßt sich ihr Saft bei zweckmäßiger Behandlung allerdings jedes Jahr in guten oder vortrefflichen Wein umwandeln. In dem größten Theile von Deutschland, der Schweiz, einem Theile von Frankreich etc. wird jedoch der Weinstock in Gegenden gepflanzt, deren Sommerwärme nur selten hinreichend ist, um den Trauben die gehörige Reife zu geben; so daß diese in je zehn Jahren durchschnittlich etwa zwei bis drei Mal ganz reif, in den übrigen Jahren nur zum Theil oder gar nicht reif werden. Trotzdem ist es aber durchaus nicht wünschenswerth, daß der Weinbau in diesen ungünstiger liegenden Ländern aufgehoben werde, da sich der Weinstock mit einem kargen, fettigen oder thonigen Boden begnügt, auf welchem unsere meisten anderen Kulturpflanzen nicht gedeihen könnten. Es bliebe also das Land, dessen geordnete Weinberge uns jetzt ein so schönes Zeugniß menschlichen Fleißes und menschlicher Thätigkeit ablegen, größtentheils brach und wüst, würde nur der Sammelplatz von verschiedenem Unkraut. Die Arbeit und Mühe, welche die Winzer auf die Pflege ihrer Weinstöcke verwenden, ist eine unglaubliche. Jeder Weinstock muß vierzehn Mal jährlich in die Hände genommen, gedreht und gewendet, vom Unkraute befreit, und auf das Beste gewartet und gepflegt werden. Aber dennoch zerstört ein kühler, regnerischer Sommer die gerechten Hoffnungen auf Lohn für so viel Mühe, und kaum reicht der Ertrag des gewonnenen schlechten Mostes oder sauren Weines hin, um das kümmerlichste, ärmlichste Leben zu fristen. Folgen sich nun vollends mehrere schlechte Jahrgänge, so vermag sich der kleine Winzer nicht mehr zu erhalten; er ist gezwungen, sein geliebtes, gepflegtes Stück Land zu verlassen, oder sich seinen oft unbarmherzigen Gläubigern als Leibeigener zu verschreiben. Soll daher der Weinbau in diesen nördlichen Ländern fortbestehen, und wie es zu wünschen ist, noch erweitert werden, so ist allerdings das erste dringenste Bedürfniß, den Winzer zu heben und ihm einen bestimmten Lohn für seine Mühe zu sichern und dies ist möglich.
Nur der Saft ganz reifer Trauben enthält die Hauptbestandtheile: Wasser, Säuren und Zucker in einem für die Weinbildung günstigen, richtigen Verhältnisse. In dem Safte der unreifen Trauben herrscht dagegen die Säure im Vergleiche zum Zucker so vor, daß es unmöglich ist, daraus ohne Zusatz anderer Körper einen guten, gesunden Wein zu erzielen. Man erhält ein saures Getränk, eine schlechte Brühe, die Mund und Magen unvorteilhaft zusammenzieht, daher natürlich keinen Werth hat, und höchstens von einzelnen anspruchslosen Menschen getrunken wird, weil sie „Wein“ heißt. Nur in den Kellern mancher großer Weinhändler und Weinspeculanten wird der schlechteste Most auf wunderbare (?) Weise zu gutem „ganz reinem unvermischtem Naturwein.“ Hier scheint ein zauberischer Hauch, der durch den Keller strömt, die Säure abzustumpfen und zum Theil in Süßigkeit und Weingeist zu verwandeln. In jenen Kellern geschehen demnach wenigstens scheinbar noch Wunder, deren Enthüllung [524] aber nicht schwierig ist; denn wir sprechen es noch einmal aus: „Der Saft unreifer Trauben kann ohne Zusatz gewisser Substanzen unmöglich in guten Wein verwandelt werden.“
Fragen wir aber, ob es möglich und zweckmäßig ist, die Ungunst der Witterung, die sich bei der Entwicklung der Trauben fühlbar macht, auf künstliche Weise auszugleichen und aus ungereiften, sauren Trauben einen guten Wein zu bereiten, so können wir diese Frage entschieden bejahen. Es ist nur unbegreiflich, daß es noch nothwendig ist, von einer entgegengesetzten Meinung sprechen zu müssen. Schon im vorigen Jahrhundert sind in mehreren Ländern hierauf bezügliche, allerdings nur unvollkommene Anleitungen gegeben worden. In Deutschland empfahl Döbereiner im Jahre 1822 den sauren Most durch Wasser zu verdünnen, mit Zucker zu versetzen und gähren zu lassen; nach ihm sprachen sich viele andere praktische und gelehrte, intelligente Männer theils für alleinigen Zuckerzusatz, theils für Zucker- und Wasserzusatz zugleich aus. In Frankreich hat man ähnliche Mittel benutzt; man hat nach Maupin’s Vorschlag den zu süßen Most durch Wasser verdünnt, nach Chaptal, dem berühmten Minister Napoleons I.[WS 1], den zu sauren Most mit Zucker versetzt, ein Verfahren, welches man jetzt das Chaptalisiren nennt. Auch die Engländer sind der Weinbereitungskunst nicht fremd geblieben. Ihre Johannisbeer und Stachelbeerweine waren längst berühmt, und halten den Vergleich mit den besten Traubenweinen aus. Auch hat dort z. B. Dr. Macculoch gelehrt, selbst aus ganz unreifen, noch harten Trauben, durch richtigen Zusatz von Zucker und Wasser den vortrefflichsten Wein zu bereiten. Alle die gegebenen Vorschriften waren deshalb ungenügend, weil sie nicht auf die vielen Verschiedenheiten des Mostes verschiedener Gegenden und verschiedener Jahrgänge Rücksicht nahmen. Sie waren noch zu roh und empirisch, um in allen Fällen ein günstiges Resultat zu sichern. Nur einzelne kenntnißreichere Leute vermochten sie daher mit Vortheil anzuwenden. Dieser Mangel ist aber jetzt durch die ausgezeichneten rastlosen Untersuchungen von Dr. L. Gall in Trier glücklich und gänzlich beseitigt worden. Gall hat daher das Verdienst, zuerst ein wirklich praktisches, allgemein anwendbares Verfahren zur Weinbereitung und Weinveredelung gelehrt zu haben. Er theilte seine wichtigen Erfahrungen in verschiedenen Schriften auf ganz uneigennützige Weise mit; denn ihn beseelte und leitete der aufrichtige Wunsch, dadurch zur Besserung der äußerst bedenklichen Existenz der Winzer beitragen zu können. Allein sein edles Bestreben stieß besonders anfangs, bevor die Wahrheit und Richtigkeit seiner praktischen Lehren allgemeiner bekannt und als beachtungswerth befunden worden, auf einen unglaublichen Widerstand. Viele große Weinhändler, die sich eines ähnlichen Verfahrens längs bedient hatten, um aus jeder sauren Brühe, die sie dem armen Winzer mit wenigem Gelde bezahlten, edlen Wein zu bereiten, sahen ihre geheimen Kellerkünste plötzlich öffentlich und klar mitgetheilt. Sie mußten befürchten, daß nun auch ohne ihr Zuthun guter Wein dargestellt werde, und dann im Preise sinke; sie befürchteten, daß ihr Mammonshaufen, an welchem die Seufzer und Thränen manches Armen hängen, nun nicht mehr so schnell wachsen könne. Gall hatte in ein böses Nest gestochen, und nichts blieb von den Gestochenen unversucht, um den kühnen Mann zu bestrafen und namentlich seine Lehren unschädlich zu machen.
Zunächst wurden die Winzer, deren Tyrannen und Gesetzgeber die Weinhändler in mehreren Gegenden sind, aufgewiegelt, Man stellte ihnen vor, daß die Gall’schen Lehren den deutschen Weinbau untergraben und vernichten würden; man drohte ihnen mit Verpfändung ihrer verschuldeten, den schönen Naturwein liefernden Grundstücke, sobald sie nur die geringste Lust zum „Gallisiren“ (so wird jetzt das Gall’sche Verfahren genannt) zeigen würden. Was kann aber ein armer, unglücklicher Schuldner gegen seine gestrengen mächtigen Gläubiger thun? Es entstand eine wahre Empörung, wie man sie in einem so aufgeklärten Jahrhundert nicht mehr für möglich halten würde; eine Empörung, hervorgerufen durch den niedrigsten, schmutzigsten Eigennutz einiger reicher und deshalb mächtiger, zum Theil sogar hochgestellter Leute. Dieselben Leute bestellten aber nichtsdestoweniger große Ladungen von Zucker, angeblich, um Früchte damit zu verzuckern. Diese Männer, an der Spitze landwirthschaftlicher Vereine stehend, verdammten die Gall’schen Lehren, aber ohne ihr Urtheil zu begründen. Sie schienen es nicht zu wagen, die Naturweine mit den nach der Gall’schen Methode veredelten Weinen zu vergleichen; denn sie wußten wohl, daß die gallisirten Weine überall, wo solche Vergleiche angestellt wurden, den Sieg über die Naturweine errungen hatten. In Rheinbaiern waren sie mächtig und schamlos genug, um die Fässer einiger armen Leute, die ihre Weine gallisirt hatten, zu versiegeln, zwanzig Monate mit Beschlag zu belegen und nachdem sich, trotzdem daß das nöthige Auffüllen derselben nicht gestattet wurde, nach der Eröffnung derselben ihr Inhalt als feuriger mundender Wein erwies, die Weinveredler hart zu bestrafen. Mit einem Worte, die Leute, welche besonders befürchteten, durch die Gall’schen Lehren in ihrem eigennützigen Wirken beschränkt und beeinträchtigt zu werden, ließen bis zum heutigen Tage kein Mittel unversucht, um die Verbreitung derselben zu verhindern. Allein wie ein unaufhaltsamer mächtiger Strom wälzten sich die Gall’schen Lehren von einem Weinberge zum andern, von einem Lande zum andern. Die rechtschaffenen Praktiker anerkannten einstimmig ihre Vortrefflichkeit, die Wissenschaft erklärte ihre Wahrheit und Nichtigkeit, und siegreich erglänzte überall der Erfolg des Wahren über dem Schmutze der Dummheit und Schlechtigkeit. Aus allen Weinbau treibenden Ländern kamen die günstigsten Berichte, erscholl der Jubel, daß man nun auch in schlechten Jahren vor Verlusten gesichert sei, daß man um sein Geld guten, genießbaren, gesunden Wein trinken könne. Gall hatte in der That viele Angriffe der verschiedensten Art auszuhalten; er wurde verhöhnt, verspottet und auf jede mögliche Weise gereizt; doch er ließ sich nicht abhalten, verfolgte sein begonnenes Werk mit großer Energie, an seinem Grundsatze festhaltend, daß man das Gute und Nützliche so oft sagen und wiederholen müsse, bis es nicht mehr nothwendig sei. Oft wurde er bitter, und man machte ihm seine Bitterkeit zum Vorwurfe; allein wer so verfolgt und angegriffen wird, kann wahrlich nicht anders werden, er müßte denn ein zweiter Hiob sein.
Das ist im Allgemeinen der Standpunkt dieses Gegenstandes, und ich habe denselben hier um so lieber etwas ausführlicher bezeichnet, als ich glaube, daß es zur Fällung eines unparteiischen Urtheils nothwendig ist, diese Verhältnisse zu kennen. Gewiß würde man sich sonst wundern, warum die Gall’schen Lehren, wenn sie so vortrefflich sind, nicht schon einen ganz allgemeinen Anklang gefunden haben. Die Ursache hiervon liegt also nicht in der Sache selbst, sondern in der Abneigung vieler Menschen gegen alles Neue und in dem mächtigen, gehässigen, oft perfiden Widerstande vieler großer einflußreicher Weinhändler. Die Gall’schen Lehren finden nichts desto weniger eine immer größere Anerkennung und steigende Anwendung. Keiner, der dieselben befolgte, hat bis jetzt Ursache gehabt, dies zu bereuen. Sicherlich werden auch die besonders gedrückten kleinen Winzer in Rheinbaiern und an der Mosel bald von ihren Vampyren befreit sein. Die Lehren Gall’s haben vollständig gesiegt. Neun große Traubenzuckerfabriken sind nur in Folge derselben entstanden; sie vermögen kaum alle Bestellungen auf Zucker zum Zwecke der Weinveredelung zu befriedigen, und sind die schlagendsten Beweise des glänzenden Sieges. In England und Frankreich hat man übrigens das Gallisiren sehr bald vollständig zu würdigen gewußt, und zog schon bedeutende Vortheile daraus, als man in Deutschland dasselbe noch kaum einer Beachtung werth hielt. Gall hat seine Verbesserungen auf folgende Ansichten begründet:
„Die Natur liefert keinen Wein, sondern nur Weintrauben. Der Wein entsteht erst durch den chemischen Proceß der Gährung aus dem Moste, ist daher ein Kunstprodukt, d. h. ein Produkt des angewandten Wissens und Könnens des Weinproducenten. Nur die vollkommen reife Traube enthält die Haupterfordernisse: Wasser, Zucker, freie Säuren und Eiweißstoffe in demjenigen Verhältnisse, in welchem sie im Moste vorhanden sein müssen, damit durch die bei der Gährung stattfindende Veränderung der möglichst beste Wein gebildet werde, der je nach der Traubensorte, dem Jahrgang, der Lage und Bodenmischung des Weinberges, sowie der Temperatur des Gährungslokales daraus entstehen kann. Zwischen vollkommen reifen und ungezeitigten Trauben besteht nur der Unterschied, daß letztere jene Haupterfordernisse zur Weinbildung nicht in richtigen Verhältnissen enthalten; denn an und für sich sind der Zucker, das Wasser, die Weinsäure, die Aepfelsäure etc. eben so vollkommen ausgebildet, als im Safte der reifsten und edelsten Beere. Die unreifen Trauben enthalten stets zu wenig Zucker und häufig auch zu wenig Wasser, im Verhältniß [525] zu ihrem Gehalt an freien Säuren. Außerdem enthalten unausgezeitigte Trauben, im Verhältniß zu ihrem Wasser und Zuckergehalt, mehr Aepfelsäure und weniger Weinsteinsäure, welcher letzterer der Traubenwein jenen charakteristischen Weingeruch und Geschmack (nicht mit Blume, Bouquet zu verwechseln) verdankt, welcher ihn von allen anderen Obstweinen unterscheidet und welcher sich desto langsamer und unvollkommener entwickelt, je weniger Zucker der Most enthielt. Setzt man dem Moste von unreifen Trauben an Zucker und Wasser genau zu, was, mit dem Moste von vollkommen reifen Trauben derselben Sorte und aus derselben Weinbergslage verglichen, ihm fehlt, so entsteht aus einem so verbesserten Moste – abgesehen von dem Bouquet, der Blume – eben so vollkommner Wein, als aus reifen Trauben derselben Sorte, desselben Jahrganges und derselben Lage gewonnen werden kann, indem – sofern Weingeist in demselben Verhältnisse wie in einem aus reifen Trauben entstandenen Weine vorhanden ist – durch eine, bei längerem Lagern stattfindende, fortwährende chemische Veränderung die Aepfelsäure der unreifen Trauben in Weinsteinsäure umgebildet wird. Sowie die Traube einer gewissen Wärmemenge zum Reifen bedarf, so muß auch eine gewisse Summe von Wärme dem Moste zugeführt werden, um vollkommenen Wein daraus zu bilden. Empfängt er diese nicht während der ersten Gährung, so begnügt er sich zwar mit Abschlagszahlungen – aber unsere Schuld ist es dann, wenn er bis zu seiner gänzlichen Befriedigung als unvollkommener Wein alljährlich uns mahnt, und, so lange er noch Eiweißstoffe enthält, stets wieder in Gährung geräth, sobald er wieder eine höhere Temperatur erlangt, als diejenige war, bei welcher er seine vorherige Gährung scheinbar beendigte. Die bei der allgemein üblichen Weise, den Most gähren zu lassen, im Weine zurückbleibende Kohlensäure verzögert die harmonische Ausbildung der Weine und dies ist der Grund, warum unsere Weine, gleichviel ob sie aus reifen oder unreifen Trauben gewonnen werden, erst nach vier bis sechs Jahren, viele Rheinweine erst noch später ihre vollkommene Lagerreife erlangen. Die unvollkommene Gährung unserer Weine ist ferner die Ursache, warum dieselben Monate lang nachgähren, ja noch im dritten, vierten und fünften Jahre, beim Eintritt der wärmeren Jahreszeit wieder in Gährung gerathen, sich trüben oder wenigstens wieder „arbeiten“ und selbst in Flaschen noch Niederschläge absetzen. Werden dagegen die Bedingungen einer vollkommenen Gährung vollständig erfüllt, so wird gleich bei der ersten Gährung des Mostes alles ausgeschieden, was unsere Weine, nach der bisherigen Behandlungsweise, erst während einer Reihe von Jahren ablagern können und dadurch ihre Ausbildung in hohem Grade beschleunigt. Sehr edle bouquetreiche Weine werden nur aus vollkommen reifen Trauben erlangt; je sorgfältiger man alle nicht vollkommen reifen, faulen und aufgesprungenen Trauben und Beeren vor dem Keltern beseitigt, desto reicher und duftiger entwickelt sich das Bouquet des werdenden Weines. Auch in den ungünstigsten Jahren erlangt ein Theil der Trauben und Beeren den zur Gewinnung von Bouquetwein nöthigen Reifegrad und gerade in solchen Jahren haben die vollkommen reifen Trauben, zumal wenn mehrere geringe Jahre vorhergingen, einen fast im Verhältniß ihrer Seltenheit höheren Werth.
So wurden im Jahre 1852 in der Pfalz, durch sorgfältigste Auslese der reifsten Trauben und Entfernung aller einzelnen unreifen Beeren, Weine von vorher dort nie gekannter Köstlichkeit erzeugt, welche das Stück, 1000 Litres, mit 4–8000 Gulden bezahlt worden sind. Man glaubte nicht daran denken zu dürfen, auch in geringen und schlechten Jahren die edelsten Trauben und Beeren auszulesen und besonders zu keltern, weil man besorgte, dann aus den übrigen Trauben nur eine sauere ganz werthlose Brühe zu erhalten; zumal da, wenn wenig gute Trauben vorhanden sind, die meisten und edelsten schon während der Lese im Weinberge und im Kelterhause gegessen werden. Die Wahrheit ist jedoch, daß die meisten und gerade die wohlhabendsten Weinproducenten aus mißverstandener Oekonomie sich nicht entschließen konnten, sich es an Auslesekosten und für das Verzichtleisten auf das übliche Traubenessen etwa 20 Thlr. pr. Fuder mehr kosten zu lassen, weil sie im Allgemeinen zu kurzsichtige Rechner sind, um, ohne es aus eigner Erfahrung zu wissen, im Voraus überzeugt zu sein, daß jeder so ausgegebene Thaler sich mit 500 Procent verzinsen würde. Nachdem es nun aber möglich geworden ist, auch aus unreifen Trauben sehr gute, ja wie bereits hundertfältige Erfahrungen bewiesen haben, selbst vorzügliche Mittelweine (im Gegentheil zu Bouquetweinen) zu erzeugen, so ist auch kein Scheingrund mehr vorhanden, um das wenige Gold, welches unsere Weinberge in geringen Jahren bringen, sich ferner in einen Ocean von saurer Brühe verlieren zu lassen. In ungünstigen Jahren ist übrigens der Säuregehalt der Trauben ihr werthvollster Bestandtheil.“
Das sind in gedrängtester Kürze die Ansichten Gall’s, wie er sie selbst niedergeschrieben hat. Nachdem was wir über die Bestandtheile der Trauben, des Traubensaftes und des Weines mitgetheilt haben, ist es nicht schwierig, die Richtigkeit derselben zu erkennen. Es gehört hierzu wahrhaftig nur ein vorurtheilsfreier gesunder Menschenverstand. Die Einwürfe, die man gegen Gall’s Ansichten geltend machen wollte, stammen zum größten Theil aus sehr unklarer oder wenigstens aus höchst befangener Quelle und sind daher keiner Berücksichtigung werth, wenigstens nicht in den Spalten dieses Blattes.
Die hier mitgetheilten Ansichten haben nun Gall zur Entwickelung und Empfehlung folgender Lehren geleitet:
„1) Durch Spätlesen, Vorlesen, Auslesen und Sortiren; dann durch Abstellung des mißbräuchlichen Traubenessens gegen angemessene Lohnerhöhung, die edelsten Trauben und Beeren von den unreifen, faulen und beschädigten zu sondern, um aus jenen auch in den ungünstigsten Jahren höchst werthvolle Bouquetweine zu gewinnen.
„2) Den Gehalt des Mostes der ausgesonderten unreifen Trauben an Zucker und freien Säuren genau zu ermitteln und darnach, mit Rücksicht auf den Raum, den der Zucker, seinem Gewichte nach, in der Flüssigkeit einnimmt, genau zu berechnen, wie viel Zucker und Wasser jedem Moste zuzusetzen ist, um daraus feurige, liebliche, gesunde und haltbare Weine und daher überall willkommene und allgemein verkäufliche Weine zu gewinnen und zwar Weine, wie sie bisher zum Theil mit 100 bis 300 Procent Gewinn verkauft worden sind.
„3) Schon vergohrene, selbst noch fünfzehnjährige, geringe, matt gewordene Weine in den Zustand von gährendem Most zurückzuversetzen, um sie, nach dem nöthigen Zusatz von Zucker und Wasser, aus einer erneuerten Gährung, zu jeder Jahreszeit als eben so gute, gesunde und haltbare Mittelweine hervorgehen zu lassen, wie die unmittelbar aus verbessertem Most entstandenen.
„4) Die Gährung in allmälig bis zu 20° R. erwärmten Lokalen so einzuleiten und vor sich gehen zu lassen, daß aus ausgebessertem geringem Weine sowohl, als aus aufgebessertem geringem Most in drei Monaten fertiger, versendbarer, glanzheller Wein erlangt wird, der keiner störenden Nachgährung mehr unterworfen ist.“
Diese Lehren haben, wie schon erwähnt worden, bei allen gerechten Weinproducenten die vollste Anerkennung gefunden, sind auch sicherlich der wärmsten Empfehlung werth. Dem weinliebenden, weintrinkenden Publikum dagegen rathen wir, sich fortan nicht mehr durch die sogenannten Naturweine der meisten Herren Weinhändler äffen zu lassen. Dieses eingefleischte Vorurtheil „Naturwein“ muß abgestreift werden und wer richtig gallisirten Wein getrunken hat, wird gewiß freiwillig zugestehen, daß das Gallisiren keine Weinschmiererei, sondern eine ganz naturgemäße erlaubte wohlthätige Weinveredelung ist; wohlthätig dem Weinproducenten, der nun seine unreifen Trauben in guten Wein zu verwandeln vermag und ebenso wohlthätig dem Weinconsumenten, der nun für verhältnißmäßig geringeren Preis keinen Rachenputzer, sondern edeln lieblichen Wein zu trinken bekömmt. Uebrigens wissen die Weinhändler am besten, daß wenn sie die Weine jedes rohen Naturmostes verkaufen wollten, sie mit solchen essigsauren Getränken alle ihre Kunden vertreiben würden. Sie anerkennen und betreiben daher im Geheimen die Kunst der Weinveredelung, obschon sie es öffentlich nicht zugestehen wollen, sondern im Gegentheil ihrem Grolle gegen ihren freimüthigen Verräther, Dr. Gall, auf die possirlichste Weise Luft machen. Es ist zu erwarten, daß man bald überall „gallisirten Wein“ zum Verkaufe anbieten wird, wie es der intelligente Gutsbesitzer Balduin Pfeil zu Weinböhla schon seit einiger Zeit mit bestem Erfolge in Dresden thut. Nicht jeder Zusatz zum Moste, aus welchem man genießbaren, [526] mundenden Wein bereiten will, darf somit als Weinfälschung oder Weinschmiererei erklärt werden. Es wird natürlich Niemandem einfallen, den Most vollkommen reifer Trauben mit anderen Stoffen zu versetzen; denn dieser enthält ja alle Bestandtheile in den zur Weinbildung günstigsten Verhältnissen (nur in dem Safte der in sehr heißen Ländern gewachsenen Trauben ist der Zuckergehalt im Verhältniß zum Wasser und zu den Säuren oft zu groß, und es ist dann ein angemessener Zusatz von Wasser und Weinstein sehr vortheilhaft). Wenn man dagegen dem Saft unreifer Trauben, bevor derselbe in Gährung übergeht, so viel Zucker und Wasser zusetzt, als er enthalten würde, wenn die Trauben reif gewesen wären, so ist dies wahrlich ebensowenig eine Schmiererei, als wenn man eine etwas sauer schmeckende Orange mit Zucker bestreut. Anstatt durch die Gährung ein fast unbrauchbares, gehaltloses Getränk zu bekommen, gewinnt man einen Wein, wie wenn die dazu verwendeten Trauben ihre Reife erlangt hätten, einen Wein, welcher sich durch Klarheit und Haltbarkeit vortheilhaft auszeichnet und mit dem Alter beim Lagern ganz außerordentlich an Aroma und Wohlgeschmack zunimmt. Das was uns also Gall gelehrt hat, ist wirkliche „Weinveredelung“ und besonders auch deshalb von unbeschreiblich hohem Werthe, als dadurch gute Mittelweine zu einem so billigen Preise geliefert werden können, daß die wahre „Weinschmiererei,“ deren Kunst sich auf das empirische Zusetzen sehr verschiedener, den Weinen fremder, der Gesundheit oft nachtheiliger Substanzen zum fertigen schlechten Naturwein beschränkt, dadurch von selbst total verdrängt wird, da sie nun nicht mehr so Gewinn bringend ist. Die Weinveredelung muß daher der Weinschmiererei ein schnelles Ende machen, denn sie ist für den Producenten viel vortheilhafter als die letztere.
Wir haben Bücher und deshalb auch zugängliche Kenntnisse von allen möglichen Ländern und Völkern auf der Erde. Ueberall ist neuerdings irgend Jemand gewesen und hat ein Buch darüber geschrieben. Aber wenn man die überaus reiche Reiseliteratur bei Lichte besieht, finden sich doch noch Lücken, durch welche schwarze Unkenntniß von Vulkanen und Ländern hindurchblickt. Wer weiß z. B. etwas Neues, Authentisches von den ungeheuern Strecken, die sich zwischen Rußland und Indien dehnen? Bis Persien reicht unsere neue Reiseliteratur, und auch von der andern Seite Asiens her, China und sogar Tibet, hat ein französischer Missionär, le Huc, uns aus eigner Anschauung Kunde gebracht. Aber jenseits Persiens? Welche Wüsten und Wiesen, welche Berge und Thäler, welche Schrecken und Despotien dunkeln da vor uns, ehe wir Indien erreichen! Afghanistan, Beludschistan, Kabulistan, Turkestan – wer kennt diese geheimnißvollen Länder und Völker, welche den Zusammenstoß Rußlands und Englands in Asien auseinander halten, aus eigener, neuer Anschauung? Bis jetzt ist nicht einmal Ida Pfeiffer da gewesen. Aber endlich hat sich ein Franzose gefunden, der recht aus vieljährigen Erlebnissen und abenteuerlichsten Reisen unter jenen Völkern zwischen Rußland und Indien ein Buch zusammenzog, das wegen seines Thema’s und seiner Fülle von fabelhaften Strapatzen und Abenteuern seines Gleichen in der Reiseliteratur suchen wird.
Ferrier heißt der Verfasser, ehemals viele Jahre einer der Organisateurs der persischen Armee, die größtentheils von Franzosen auf europäische Manier disciplinirt wurde. Er brachte es bis zum Generaladjutanten der persischen Armee, fiel aber in Ungnade und wurde ausgewiesen. Frankreich sollte ihm Recht verschaffen, that es aber nicht, so daß er sich entschloß, nach Indien zu wandern und dem Potentaten von Lahore, Runschiid Sing, seine Dienste anzubieten. So reiste er durch Persien zunächst nach Afghanistan und zwar über Herat, die Stadt und den Staat, eine eigene kleine orientalische Despotie, die sich bis vor kurzer Zeit zwischen der afghanischen und persischen Despotie selbstständig hielt. Ferrier ward von dem Beherrscher Herats, Yar Mohamed, gastfreundlich aufgenommen. Er galt für einen guten Landesvater, obgleich er durch Erwürgung der vor ihm regierenden Majestät zum Throne und durch Verkauf vieler Hunderte seiner Unterthanen zu Gelde gekommen war. Yar Mohamed hatte schon vorher von dem ihm zugedachten Besuche des berühmten Franzosen gehört und in dem Glauben, daß dieser mit einer geheimen diplomatischen Mission komme, ihm eine feierliche Einholung zugedacht. Ferrier wußte dieser Huldigung, von der er auch vorher gehört, dadurch zu entgehen, daß er, auf der einen Seite seines Kameels hängend und sein Diener auf der andern in afghanischer Verkleidung plötzlich durch das Stadtthor von Herat einritt. Der Thorwächter erfuhr jetzt zugleich, welch’ erhabene Person vor ihm reite und brach in jämmerliches Geheul aus: „Bei Allah, ich bin ein todter Mann! Unser allerhöchster Monarch wird mir den Kopf abhauen. Seine Befehle waren, dem erlauchten Franzosen zwei Stunden weit einen Beamten entgegenzuschicken und ihn bitten zu lassen, seinen Einzug bis zu einer glücklichen Constellation am Himmel zu verschieben, um dann seinen Einzug durch Abfeuerung einer Kanone der Stadt zu verkünden. Ich habe wegen dieser unvermutheten Ankunft des großen Europäers weder das Eine, noch das Andere thun können. Ich bin ein todter Mann!“
Wir erfahren nicht, ob dem Thorwächter der Kopf, den er schon verloren hatte, später von seiner landesväterlichen Majestät abgehauen wurde. Mr. Ferrier wurde mit den ausgesuchtesten Ehren behandelt, da man ihm nicht glaubte, daß er einfach nach Indien gehen wolle, sondern gerade darin eine diplomatische Finte erkannte, seine wahre, hohe, geheime politische Mission zu verbergen. Besonders setzten ihm die Hakim-Baschi d. h. die Doktoren und Aerzte, die in Herat einen hohen Rang einnehmen, mit Gelehrsamkeit und Neugier zu. Sie halten jeden Europäer für einen Doktor und hörten nicht auf, mich über die edle Heilkunst in Europa auszufragen und mit ihren medicinischen Kenntnissen zu prahlen. Sie zeigten ihm mehrere Kräuter aus dem englischen Indien, die viel Apothekerkräfte besaßen, sie wußten nur nicht, welche? Um zu erfahren, wofür sie eigentlich gut seien, hatten sie ihren Kranken davon in steigenden Dosen gegeben, bis sich entschiedene Wirkungen zeigten. (Beinahe so wissenschaftlich, wie unsere alten Erfahrungsärzte!) Wie viel Leute diese Herren Doktoren zu Tode kurirt haben mögen, wurde ihm schrecklich deutlich, als einer derselben, Mirza Asker, eine große Flasche Merkur-Cyanit – ein ganz anständiges Gift – aus der Tasche zog und fragte:
„Wozu ist dies eigentlich gut? Der Dämon der Finsterniß mag es wissen, ich habe es noch nie herausgekriegt. Denn von wenigstens hundert Kranken, denen ich es eingab, wurde blos ein Einziger gesund; und dieser hatte die Medicin ausgebrochen.“
Nach der edeln Heilkunst kam die Alchemie an die Reihe, die Hauptpassion aller Gelehrten von Herat, die Leben und Vermögen opfern, um endlich den „Stein der Weisen“ zu finden. Alle sind überzeugt, daß die Engländer diesen Stein haben und schreiben diesem Steine allein den Reichthum in England zu. Nach ihnen sind alle europäischen Goldmünzen von Eisen, welche mit „Etwas“ bestrichen, dann in „Teufelswasser“ getaucht und so in Gold verwandelt worden. Die Herren Doktoren quälten und baten Ferrier fußfällig, ihnen dieses Geheimniß mitzutheilen oder zu verkaufen. Obgleich er ihnen mit allem Scharfsinne zu beweisen suchte, daß der Reichthum in Europa aus wirthschaftlichen Tugenden, Fleiß, Kenntniß, Handel, Humanität, Civilisation, Recht und Gesetz, und nicht aus Teufelswasser stamme, glaubten sie doch nur erst recht an ihren Aberglauben und bewunderten sein ungeheueres diplomatisches Talent, womit er ihren Bitten und Anerbietungen auszuweichen wisse. – Denn das ist’s [527] gerade, warum, wie Schiller sagt, selbst Götter vergebens mit der Dummheit kämpfen, weil letztere sich durch Belehrung in ihrem Dünkel und Dunkel bestärkt. Wer recht dumm und eingebildet ist, (Beides ist stets beisammen) denkt, wenn er Jemanden gescheidt sprechen hört und ihn belehren will: „Bei mir kommt der schön an! Ich bin nicht der Mann, sich etwas weiß machen zu lassen.“ Und so geht er viel stärker und steifer in seiner Dummheit von dem Gescheidten und schimpft ihn wohl noch gar aus, daß so ein Mensch klüger sein wolle.
So ist’s in Herat. Und ganz aus demselben Grunde kämpfen auch in Europa Götter und Doktoren vergebens gegen die echte, ein- und ausgebildete Dummheit. Wer etwas lernt, weiß immer schon viel, beinahe so viel, wie Sokrates, der auf der höchsten Spitze seiner Weisheit nichts so sicher wußte, als daß er nichts wisse, oder wie Faust, der, nachdem er alle Wissenschaften mit heißem Bemühen durchstudirt hatte, ausrief:
„Und sehe nur ein, daß wir nichts wissen können.“
Nicht wissen ist Wissenschaft, sondern lernen, lernen bis
in alle Ewigkeit.
Ferrier wurde bei aller Auszeichnung in Herat als geheimer Diplomat und Besitzer des Steines der Weisen, des Teufelswassers u. s. w. auch sehr gequält und stets ohne Ausnahme scharf bewacht. Yar Mohamed nannte ihn endlich, nachdem er vergebens alle List und Ränke angewandt, ihm die Geheimnisse und den Stein der Weisen zu entlocken, „Busior puukhti“ („gut gekocht“) einen „mit allen Hunden gehetzten Diplomaten.“ Sertip Lal Mohamed, ein hoher Beamter, in dessen Hause er wohnte und bewacht ward, suchte ihm die Gefangenschaft so angenehm als möglich zu machen und ließ Abends Wein und Bajaderen zu Tanz und andern Belustigungen holen. Wein und Weiber sollten ihm die vermeintlichen Geheimnisse und den Stein der Weisen entlocken, aber der Franzose blieb standhaft und enthaltsam, während die hohen muhamedanischen Herrschaften den koranverbotenen Wein bis zur Besinnungslosigkeit genossen.
Die Schilderung dieser Einzelnheiten und seiner Audienz bei Yar Mohamed sind zu lang und umständlich für Mittheilung in einem übersichtlichen Artikel. Kurz er bekam endlich nach vieler Mühe Erlaubniß, seine Reise nach Lahore fortzusetzen – über Berge, Thäler, Wiesen und Weiden, an Zeltenstädten und Nomadenlagern vorbei, durch Wüsten und Einöden – aber voller Abenteuer für ihn. Endlich kam er nach Balkh, der alten Hauptstadt des einst glorreichen Persiens, glorreich und blühend, als Alexander der Große vor mehr als zwei Jahrtausenden triumphirend einzog, später aber von den mongolischen Verwüstern und Eroberern Dschingis Khan und Timur zerstört, aber immer noch „die Mutter der Städte“ genannt. Obgleich sie jetzt nicht florirt, blühen doch die Gärten und Wiesen um sie her desto üppiger. Aus seinem Zuge über das Paropamisus-Gebirge durch die nomadisirenden Hasarah-Tartaren hindurch bis in die Nähe von Kabul können wir ihm nicht folgen, da der Weg zu lang und für uns mit zuviel kleinen Einzelnheiten bedeckt ist, die wir nur auf vielen kostbaren Spalten wiedergeben könnten.
Wir erwähnen nur, daß die Hasarah-Tartaren in Ferrier den ersten Europäer sahen, daß dieser unweit Kabul unter Stämme kam, die mit einander Krieg führten und ihn nöthigten, umzukehren oder auf einem Umwege (über Kandahar) vorwärts zu kommen. Auf diesem Umwege gerieth er unter die Seherais, einen heidnischen Tartarenstamm von patriarchalischer Einfachheit, Republikaner mit Haut und Haar und von undenklichen Zeiten her. Diese kleine Heidenrepublik mitten unter den grausamsten Despotien ist merkwürdig genug, so daß wir Ferrier darüber sprechen lassen.
„Die Seherais sind der Bedeutung ihres Namens nach „Bewohner der Ebene“ und bilden eine Republik, die nach ihrer eigenen Tradition folgenden Ursprung hat. Sie wurden von dem großen Eroberer Dschingis Khan hier übrig gelassen und haben seitdem die Unterjochungsversuche jedes Feindes tapfer zurückgeschlagen. Dies erschien mir sofort sehr glaubwürdig, da ihre fruchtbare Ebene, durch Berge und Wüsten geschützt, sehr schwer zugänglich ist und ihnen der Boden Alles liefert, was sie in ihrer patriarchalischen Einfachheit und Härte brauchen. Sie haben etwas von dem Islam gehört und schwören zuweilen bei Ali und dem Propheten Mohamed, verehren aber, wie die alten Perser, einen Gott des Guten und des Lichts, Khoda (Gott) und einen Beherrscher des Bösen und der Finsterniß, Shaitan (Satan). Sie beten niemals, halten kein Thier für unrein und essen Alles. Fern von Civilisation und Städten leben sie natürlich, hart und wild, was uns Civilisirten zuerst widerlich erscheint, aber bald angenehm wird, wenn man sieht, wie gesund, kräftig, anspruchslos, zufrieden und glücklich sie in ihrer König-, Kultur- und Steuerlosigkeit sind.“
Ferrier ward von dem Präsidenten dieser Republik, Timur Beg, rauh, aber herzlich empfangen. Ein Dreißiger, beinahe bartlos, kurz, aber in jeder Muskel ein Herkules. Er ließ ein Mahl bereiten, das trefflich mundete, eben so der Apfelwein, in welchem sich der Herr Präsident so gütlich that, daß er bald zusammenfiel und fürchterlich schnarchte. Jetzt zog sich Ferrier mit seinen Begleitern zurück, begleitet von den Damen, die bei Tische aufgewartet hatten. „Die Aufmerksamkeit dieser Damen ging weiter,“ schreibt Ferrier, „als ich irgendwo erlebt hatte. Erst wuschen sie uns die Füße und dann nöthigten sie uns zu einer Generalwäsche. Kurz sie wuschen und badeten und bürsteten uns auf das Sorgfältigste vom Kopfe bis zum Fuße, und zwar auf die ungenirteste Weise mit der größten Unbefangenheit. Die mir zur Aufwartung gegebene Dame ließ mir keine Ruhe vor lauter Aufmerksamkeit und obgleich ich stets allen Sitten und Gebräuchen, unter welche ich kam, Genüge leistete, bat ich sie doch am folgenden Morgen, ihren neuen Versuch, mich zu scheuern und zu bürsten, gefälligst aufzugeben und mich lieber noch ein Bischen schlafen zu lassen. So kam ich diesmal davon. Ich glaubte, mir sei diese Ehre allein zu Theil geworden. Aber hernach klagte mir mein Diener, daß ihn die Damen ebenfalls tüchtig gescheuert und selbst des Präsidenten Tochter geholfen habe. Diese Sitte erstreckt sich in Div pissar (dem Hauptorte der. Republik) auf alle gastfreundlich aufgenommenen Freunde als Pflicht aller Damen.“
Später wurde ihm freilich der Kopf ganz anders gewaschen. Bald nach seinem ersten Versuche, wieder vorwärts zu kommen, ward er arretirt und nach Herat zurücktransportirt, dann auf einem andern Wege wieder aufgehalten, von Ort zu Ort escortirt, in Gefängnisse geworfen und mißhandelt, von einem andern Stamme wieder einmal wie ein Gott angebetet u. s. w., so daß er eine Menge der seltsamsten Dinge, Menschen und Zustände, von denen wir bisher nichts wußten, genau kennen lernte und uns damit bekannt macht. So lesen wir merkwürdigere Geschichten in seinem Buche, als je in einem Romane vorkommen, von Turcomanen, Usbeken und Beludschen, ihren Bazars, Kaffeehäusern, Lagern, Reisekaravanen, Festungen, Palästen, Gefängnissen, Hirten und Schäferinnen, Soldaten, Zigeunern, Gaunern und Räuberbanden und allen möglichen seltsamen Lebensverhältnissen der Völker, die sich vom arabischen Meere und persischen Meerbusen bis zu den chinesischen Gebirgen ausdehnen. Mehrere dieser Völker und Stämme wurden bisher noch von keinem Europäer besucht und beschrieben, so daß das Buch außer seinen sonstigen Verdiensten auch in geographischer und ethnographischer Beziehung einen großen Werth hat. Manche Erlebnisse unter diesen Völkern klingen so fabelhaft, daß wir Bedenken tragen würden, daran zu glauben, wenn sie nicht von einer so guten Autorität kämen. Hören wir von den Beludschen:
„Die Bewohner von Beludschistan haben wegen der Nähe des Meeres Manches von Europäern gehört, aber so mit Aberglauben und Barbarei gemischt, daß nichts von unserer Civilisation daran wieder zu erkennen ist. Im Wunder über unsere Macht, Intelligenz und Reichthümer glauben sie nicht nur steif und fest, daß wir Gold machen könnten, sondern auch unsere Körper, Kleider, Meubels und Häuser dieses kostbare Metall enthalten. Ein englischer Arzt, Forbes, wagte sich vor einigen Jahren allein unter die Beludschen und bis in die Residenz des Khans Ali, Namens Nassuur. Der Khan ermordete ihn im Schlafe und hing dessen Körper vor seinem Zelte auf, wo er ihn unaufhörlich waschen und abspülen ließ.
„Ihr werdet sehen,“ sagte er zu seinem Volke, „daß dieser Hund von einem Ungläubigen sich bald in lauter Gold verwandeln wird.“
„Nachdem er den todten Körper 14 Tage lang gewässert und gewaschen hatte, ohne zu seinem Erstaunen Gold daraus werden zu sehen, ließ er das Wasser, womit der Gemordete gewaschen worden war, kochen, um das Gold durch Hitze auszutreiben. Als
[528]Indem wir heute das in Nr. 35 versprochene authentische Portrait Fremont’s liefern (nach einem newyorker Original gefertigt), verweisen wir bezüglich des Abconterfeiten auf den ausführlichen Artikel der bezeichneten Nummer.
dies auch ohne Wirkung blieb, kam der Khan auf den pfiffigen Gedanken, daß der Doktor aus Bosheit das Gold seines Körpers vorher in seine Kleider habe ausschwitzen lassen. Er ließ also nun diese in kleine Stückchen zerschneiden (eben so die im Koffer aufgefundenen Bücher) und in den Mörtel mischen, von welchem er sich ein Haus bauen ließ. Als er uns diese Geschichte erzählte (denn Ferrier besuchte ihn auch, freilich nur unter dem Schutze eines mächtigen Empfehlungsschreibens), versicherte er, daß er mit Bestimmtheit hoffe, sein Haus werde sich mit der Zeit mit einer Schicht von Gold überziehen. Mit großer Freimüthigkeit fügte er hinzu, daß er glücklich sein würde, wenn er mit mir einen zweiten Versuch der Art machen könne.“
Unser Gast fühlte sich bei dieser Versicherung nicht sehr wohl und machte, daß er fortkam. Er reiste um den See Seistan herum und hatte dabei Gelegenheit, die Beludschen näher kennen zu lernen.
„Diese Nomaden führen ein Leben, wie die wilden Thiere und streifen eben so grausam durch die Wüsten ihres Landes. Gesetze, Arbeit, Handel, Unterordnung u. s. w. sind ihnen ganz unmöglich. Sie sind frei, wie das Vieh und stolzer auf ihre Verbrechen, wie wir auf Tugenden. Nur ein Gesetz kennen und halten sie eisern streng, das der Rache. Die Blutrache erbt sich, wenn nicht gestillt, durch ganze Geschlechter fort und bricht am Ende aus, wenn auch vorher scheinbar lange gesühnt durch einen Piir (Priester) oder gar durch Heirath. Nach Menschenaltern noch lauert einmal ein Erbe der Rache in einem Verstecke und schneidet dem Nachkommen eines alten Feindes lautlos und lächelnd den Hals durch, nachdem er vielleicht Jahrzehende lang vergebens, aber mit der größten Ausdauer gelauert hatte. Zwei Beludschen verschiedenen Stammes oder durch ein Blutrachegesetz „verbunden,“ haben bei der ersten Begegnung, wenn sie sich auch nie vorher sahen, einen merkwürdigen Instinkt, dies zu wittern. Sie sprechen nicht, verrathen keine Leidenschaft, sondern betrachten sich eine Zeit lang schweigend. Dann fallen sie plötzlich über einander her und beißen, zerreißen sich gegenseitig mit den Zähnen oder ersticken sich durch ruhiges, lautloses Eindrücken und Festhalten der Kehle. Einer bleibt allemal todt, sehr oft zerreißen sich Beide. Dabei hört man keinen einzigen Laut.“
„Die Beludschen nennen sich Muhamedaner, bekümmern sich aber nicht um den Koran, sondern haben ein eigenes, sinnloses, barbarisches Gemisch von Islam, Christenthum und Heidenthum als eigene Religion. Sie halten Mohamed für einen großen Propheten, aber über ihm steht Piir Kisri, der gleich nach dem höchsten Gott kommt. Sie schwören nur bei Piir Kisri, wenn sie ehrlich sprechen. Die Beludschen sind Tiger unter Menschen, feurig, leidenschaftlich, ungeheuer stark und von feiner, schöner Körperform, scharf und grausam in ihren Physiognomien, ohne Gefühl für Entbehrungen und deshalb von einer Ausdauer auf Märschen, die rein an’s Wunderbare grenzt. Wie das Kameel, laufen sie vierundzwanzig Stunden hinter einander unter ihrer brennenden Sonne, ohne einen Schluck Wasser oder irgend etwas Nahrung zu genießen. Für Wasser unter dem Boden haben sie dabei die feinste Witterung, und graben selten tiefer als drei Fuß, wenn sie es brauchen. Sie laufen in der Regel mit dem besten Pferde um die Wette, wenn’s darauf ankommt, halten’s aber länger aus, so daß schon oft ein Beludsche zwei bis drei Pferde hintereinander überdauerte. Aber diese unbändige Kraft bricht vor dem Geschrei eines Vogels, dem Anblick einer Schlange auf dem Wege oder einer Heerde Affen in zwei Abtheilungen. Bietet sich ihnen ein solcher Anblick, bringt sie, diese sinnlosen Sklaven des Aberglaubens, keine Macht der Erde mehr vorwärts. Sie bleiben liegen, bis die Sonne unter- und wieder aufgegangen ist, „um dem Schicksale Zeit zu lassen, seinen feindlichen Entschluß zu ändern.“ Ihre Hauptbeschäftigung ist Stehlen, doch rauben und plündern sie auch mit der wunderbarsten List und Kaltblütigkeit, so daß sie ihr Leben um der größten Kleinigkeit willen auf’s Spiel setzen. Auf ihren Dromedaren zu Zweien, Rücken gegen Rücken sitzend, um die Gegend stets nach beiden Seiten zu durchspähen, [529] durchstreifen sie die Grenzen von Afghanistan, und unternehmen Streifzüge bis in’s Innere von Persien. Sie unternehmen Exkursionen, um ein Taschentuch, eine Lumpe, irgend eine werthlose Kleinigkeit zu erwischen.“
Weil Jeder geschäftsmäßig stiehlt, brauchen selbst die besten Freunde auf der Reise, Brüder, selbst Vater und Sohn, die größten Vorsichtsmaßregeln gegen einander. Sie schwören Beide bei Piir Kisri, daß sie hundert Ellen von einander schlafen und sich nicht vor aufgehender Sonne erheben wollen. So schlafen Vater und Sohn auf der Reise in ehrerbietiger Entfernung. Aber mit scharfem Ohr hören sie mitten im Schlafe das leiseste Geräusch und sehen, ob Vater und Sohn gegenseitig den Schwur bei Piir Kisri doch brechen wollen. Auch machen sich die Beludschen in Konsequenz des Stehlens und der Habsucht gegenseitig gern todt. Einmal erschlug Einer den Andern wegen eines Kleides, das nicht mehr werth war, als etwa einen Thaler. Stehlen, Rauben, Morden, Verbrechen aller Art, um sich dadurch etwas anzueignen, ist ihre Religion. Ihr Dogma lautet: „Vor einigen tausend Jahren vertheilte Gott die Güter der Erde unter die Menschen, und ließ sich von bösen Geistern bereden, den Beludschen nichts zu geben, als einen trocknen, heißen, unfruchtbaren Boden. Wir müssen nun Gottes üble Vertheilung ausgleichen und selbst nehmen, was wir kriegen können.“ Wilde Nomaden können dies als ihre Naturreligion betrachten. Offenbart und Besseres mitgetheilt ward ihnen bis jetzt nicht. Dies fiele vielleicht auf einen guten Boden, denn sie sind nicht ohne gute Eigenschaften und Talente. Namentlich ist ihre Gastfreundschaft gegen Fremde etwas werth, obgleich man ihnen nicht so trauen kann, wie andern nomadischen Stämmen. Die Europäer sind nach ihrer Mythologie Abkömmlinge böser Geister und des Teufels, mit dessen Hülfe sie Gold machen, Schätze graben und das „böse Auge“ auf Andere werfen können.
Wir müßten das ganze Buch Ferrier’s übersetzen, wenn wir alles Interessante, Neue und Abenteuerliche daraus mittheilen wollten. Hier genüge, was wir gegeben, zur Bildung einer Vorstellung von jenen fernen, unbekannten Gegenden und Menschen, die ausgeschlossen von dem Blutumlauf der modernen Kultur, in bloßen Naturzuständen und Wildheit, in Aberglauben und muhamedanischem Despotismus verwahrlost sind und der Zeit warten, wenn Rußland und das indische England über sie hin zusammengestoßen sein und diese Völker und Staaten unter sich getheilt haben werden.
Rettung von hundertundzwanzig deutschen Auswanderern.
Hoch klingt das Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang!
Der letzte Winter und der letzte Frühling zeichneten sich in trauriger Weise durch eine große Anzahl von Schiffbrüchen und andern Unfällen auf dem Meere aus. Wir auf dem festen Lande, mitten in Bequemlichkeiten und unter Genüssen, die wir zum Theil der Seefahrt verdanken, können uns kaum eine genügende Vorstellung von den Gefahren machen, die auf dem Meere lauern, noch viel weniger von den muthigen und aufopfernden Thaten, die gar oft geschehen zur Rettung Verunglückter und meist nicht einmal zu allgemeiner Kenntniß gelangen. Eine solche Heldenthat wollen wir hier erzählen, und sie wird die Leser um so mehr ergreifen, da es viele deutsche Brüder waren, die durch einen entschlossenen Mann dem schrecklichsten Tode entrissen wurden.
Es war eine finstere Sturmnacht, als Richard Holmes, der Zolleinnehmer im Hafen von Cape May, einem sehr gefährlichen Punkte der Küste der Vereinigten Staaten, durch das mächtige Brausen des Windes aus dem Schlafe geweckt wurde. Während er sich aufrichtete und auf das Tosen des Sturmes und des Meeres horchte, glaubte er aus weiter Ferne her zu wiederholten Malen den dumpfen Donner von Kanonenschüssen zu hören, die er für Nothsignale hielt. Er stand sofort auf, kleidete sich an und eilte an die Küste. Die Nacht aber war so finster, daß er auf dem Meere draußen gar nichts erkennen konnte, aber mehrmals noch, nach kurzen Pausen, und deutlich vernahm er Schüsse. Rasch entschlossen, weckte er in den nächsten Häusern einige Männer. Mit ihnen bestieg er ein zu solchen Zwecken bestimmtes bereit liegendes Boot, nahm einen Kompaß mit sich und wagte sich hinaus in die Nacht, auf das stürmische Meer.
Die Männer ruderten tüchtig und nur durch den Kompaß und den dumpfen Kanonendonner geleitet, steuerten sie hinaus auf das offene Meer. In dem Tosen des Sturmes aber, in dem lauten Klatschen, mit dem die Wogen an das Boot und die Ruder schlugen, konnten sie die einzelnen Kanonenschüsse nur undeutlich vernehmen, und da sie gegen die hoch sich heranwagenden Fluten zu kämpfen hatten, also sehr langsam vorwärts kamen, wußten sie lange nicht, ob sie auf dem rechten Wege wären und das Schiff erreichten, das die Nothsignale gab. Nach zwei Stunden indeß klangen die Schüsse vernehmlicher, und endlich konnten sie sogar kurz vor dem Knalle das Aufblitzen des Pulvers durch den dichten Regen und den hochaufspritzenden
[530] Schaum hindurch erkennen. Dieser Anblick gab den Männern frischen Muth, sie ruderten mit erneuter Kraft, und schon zeigte sich ihnen in der Ferne, wenn auch kaum erkenntlich, in der Morgendämmerung die dunkele riesige Gestalt eines Schiffes. Als sie noch näher kamen, überzeugten sie sich, daß dasselbe auf die Seite geworfen worden war, die Wellen schäumend und spritzend an ihm sich hinaufbäumten und zum Theil schon über das Verdeck hinwegschlugen. An jeder Stelle des Deckes, die eine Möglichkeit von Schutz zu gewähren schien, standen Männer und Weiber dicht zusammengedrängt bei einander und klammerten sich in Verzweiflung an Balken und Taue fest, damit sie von den darüber stürzenden Fluten nicht mit hinweggespült würden. Das Schiff lag auf einer Art Bank, zum Theil festgehalten durch den Anker, welchen die Mannschaft niedergelassen hatte, ehe sie aufgefahren waren. In dieser Lage war es von den anstürmenden Wogen auf die Seite gedrückt worden; es hob und senkte sich mit dem Steigen und Fallen der Flut, und jeden Augenblick war zu befürchten, daß es in Trümmer zerschlagen werde.
Holmes brachte sein Boot so nahe an die geneigte Seite des Schiffes (vor dem Winde), daß er die Leute darauf anrufen und sie auffordern konnte, ein Tau von dem Ende der großen Raa herabzulassen. Die große Raa ist eine dicke Stange, welche horizontal oben an dem Hauptmaste liegt. Da das Schiff nach der Seite lag, so mußte ein am Ende dieser Raa befestigtes Tau in einiger Entfernung von dem Schiffsrumpfe gerade herunter auf das Wasser hängen. Die Leute hörten und thaten, was ihnen gesagt wurde. Mittels dieses Taues gedachte Holmes zunächst auf das Schiff zu gelangen, das auf keine andere Weise zu ersteigen war. Freilich war es schon gefährlich, diesem herabhängenden Taue sich zu nähern, weil es, von dem Sturme getrieben, mit ungeheurer Wucht hin und her schwankte und das Meer unten peitschte. Holmes ließ sein Boot gerade unter dies Tau steuern, und obwohl es um ihn her schlug und ihn ein Schauer überlaufen mußte, wenn er sich sagte, er müsse aus dem Boot springen, das Tau erfassen, sich mit ihm weit umherschleudern lassen und dabei an demselben ziemlich hoch hinaufklettern, wich er doch vor dem Unternehmen nicht zurück. Nach einigen vergeblichen Versuchen, das Tau zu erfassen, hielt er es mit aller Kraft fest, das Boot wich unter ihm hinweg und er hing frei in der Luft.
Jeder von uns wäre in der schwankenden Lage unrettbar verloren gewesen; etwas Anderes ist es bei einem erprobten Seemann, denn sobald ein solcher, in welcher Schwierigkeit und Gefahr es auch sein mag, ein Tau, das an einem Ende vollkommen fest gemacht ist, mit seiner Eisenfaust erfaßt, ist für seine persönliche Sicherheit nichts mehr zu fürchten. Auch Holmes wußte und fühlte jetzt, als das Boot unter ihm hinweggeglitten war und er frei über dem wüthenden Meere in der Luft schwebte, daß für ihn die Gefahr geendet sei. An dem Tau emporzuklettern, bis er die Raa oben erreichte, von der Raa an den Mast zu steigen und dann in dem Takelwerk hinunter auf das Verdeck, war etwas, zu dessen Ausführung nur gewöhnliches Matrosengeschick und gewöhnlicher Schiffermuth gehörte. Es geschah demnach in wenigen Augenblicken, und bald stand er auf dem Verdeck. Da aber hatte er seinen ganzen Muth und seine ganze Energie zusammen zu nehmen, um sich durch den Anblick des Entsetzens und Elendes, das sich ihm darbot, nicht überwältigen zu lassen.
Alle drängten sich um den, ihnen wie vom Himmel gesandten Fremden, in dem sie ihren Retter sahen, und horchten gespannt auf das, was er ihnen zu sagen haben werde. Er theilte ihnen mit, daß ihr Schiff auf einer schmalen Bank oder Barre festsitze, die parallel mit der Küste laufe, daß sich aber zwischen dem Schiffe und der Küste tieferes Wasser finde. Deshalb rieth er ihnen, das Ankertau zu kappen, weil er erwarte, daß das Schiff von den so gewaltig andrängenden Wogen über die Bank hinweg in tieferes Wasser und dann schnell an die Küste werde getrieben werden, wo sich wahrscheinlich Mittel finden dürften, die Leute zu retten.
Nach dem empfohlenen Plane wurde gehandelt. Man kappte das Ankertau; das Schiff wurde in der That sofort über die Barre hinweggehoben und von dem Sturme dahin gejagt, so daß die Leute darauf in eine andere Art von Angst geriethen, und von Neuem verzweifelnd laut aufschrieen. Zu lenken und zu regieren war das Schiff nicht mehr; man mußte es treiben lassen, wie und wohin Wind und Flut es jagen würden. Es wurde aber an die Küste einer der dort liegenden, langen schmalen Inseln geworfen, wo in der Sturmbrandung die Wogen von Neuem über ihm zusammenschlugen.
Nach vieler Mühe und Anstrengung gelang es der Mannschaft, mit Hilfe des Bootes, in welchem sich die Freunde des muthigen Holmes befanden, das stets in der Nähe geblieben war, ein Tau von dem Schiffe an das Land zu bringen, und mittels dieses Taues wurde dann ein Rettungsboot trotz der heftigen Brandung von der Küste an das Schiff und von dem Schiffe an die Küste gezogen. Auf diese Weise gelang es auch, die ganze Mannschaft und sämmtliche Passagiere zu retten. Als sich Alle am Lande befanden, wurde von Raaen und Segeln ein Zelt aufgebaut, das zwar nichts weniger als Bequemlichkeit, aber doch einigen Schutz für die ganze Gesellschaft gewährte. Die Passagiere waren, 120 an der Zahl, deutsche Auswanderer, meist ziemlich bemittelte Leute, die von ihrer Habe freilich wenig oder nichts gerettet hatten, aber für die Erhaltung ihres und der Ihrigen Leben dem muthigen Holmes aus tiefstem Herzensgründe dankten.
Der Aufenthalt Lord Byron’s in Venedig ist bekannt, sammt den mancherlei Extravaganzen, deren Grund in seiner Eigenthümlichkeit lag. Die nachfolgende Begebenheit ist wohl im Allgemeinen weniger bekannt.
Lord Byron war, als guter Sohn Albions, ein Freund der See, und wenn er sich eine Zeit lang in Gallerien, Sammlungen, Bibliotheken, Palästen und auf der Piazzetta herumgetrieben, war ihm die Fahrt auf den stagnirenden Kanälen Venedigs so zuwider, daß er ein wahres Heimweh nach der See und ihrem belebenden, frischen Athem oder einem Bade in ihren Wellen hatte.
Alle Seeleute Venedigs kannten ihn so gut, wie die Gondoliere, und wenn er nach einem Boote rief, waren zehn zu seiner Verfügung. Seine Freigebigkeit hatte ihm bei dieser Sorte von Leuten einen so klangvollen Namen gemacht, wie seine Poesie in höhern Kreisen.
Die kleine Insel Sabioncello, nahe bei Ragusa, war sein Lieblingsplätzchen, wohin er sich, begleitet von der Gräfin Luiccolli und einigen Freunden, gar oft in einer Barke begab, geführt von einigen bewährten Seeleuten. Die Gräfin zeichnete dann, jeder der andern Begleiter that, was ihm beliebte, und Lord Byron setzte sich im Schatten eines Baumes nieder und schrieb, was ihm sein Genius eingab. Das war aber nicht der ausschließliche Zweck solcher Fahrten. Im Bereiche der dalmatinischen Küsten, näher oder entfernter dem Lande, liegen kleine, grüne, mitunter bewaldete Inselchen. Auch diese waren häufig das Ziel der Lustfahrten Lord Byron’s und seiner Freunde, um dort zu jagen und zu angeln.
Die Insel Grossa minore ist fast nur eine Klippe, gar nicht bewaldet, an einigen kleinen Stellen nur mit Büschen bewachsen und spärlich mit Grün bedeckt, die etwa eine halbe englische Meile lang, und auch nicht breiter ist. In der Mitte der Insel befindet sich eine schöne klare Quelle, um die herum einige Büsche so hoch aufgeschossen sind, daß sie dürftigen Schatten gegen die glühenden Sonnenstrahlen bieten können. Die kleine Gesellschaft beschloß einst hier Mittag zu halten, vorher aber die Fische zum Mahle selbst zu fangen. Das Meer ist bei Grossa minore sehr fischreich. Es währte daher nicht lange, so hatten sie eine hinlängliche Anzahl gefangen. Die Schiffer waren beschäftigt gewesen, dürres Holz zu lesen, mit dem sie nun ein Feuer anfachten, damit die köstlichen Fische zum Mahle bereitet werden konnten. Nie hatte es der Gesellschaft besser gemundet, als hier in der frischen Morgen- und Seeluft, und nach mehreren froh verlebten [531] Stunden brach sie auf, um nach dem Fahrzeuge zu gehen, und Venedig wieder zu erreichen.
Wer aber beschreibt die Verlegenheit Aller, als sie eben kaum noch ihr Boot in der Ferne schwimmen sahen? – Die Schiffer hatten es leichtfertig nur auf den Strand gezogen, aber nicht weit genug, und die Flut hatte es losgespült und davon getragen. – Wäre es näher gewesen, man hätte es noch schwimmend erreichen können, allein daran war unter diesen Umständen nicht zu denken. Es war zu weit entfernt. Das Schlimmste aber war, daß die Klippe Grossa minore etwa zwanzig englische Meilen von Sabioncello entfernt, und keine der umliegenden Inseln bewohnt ist, daß die Mundvorräthe nicht mehr zu einem Mahle ausreichten, daß für die Nacht kein Schutz vorhanden war und – daß die Küstenstriche selten befahren werden. Nun hätte freilich die See ihre Reichthümer an Lebendigem geboten, sie vor dem Hungertods, zu schützen, aber es fehlte an Brennmaterial, sie genießbar zu machen. Sie hatten wohl auch Pulver und Gewehre, aber auf der Barke lagen die Vorräthe für eine ganze Woche, die die Gesellschaft hatte auf den Inseln hin und wieder verleben wollen; da lagen die Wolldecken, die Hängematten, die Mäntel u. s. w. – und das Alles war weg und für immer und sie saßen auf der Klippe, ohne Schutz gegen Sonne und Nachtkälte und ohne Aussicht, bald erlöst zu werden. Das war in der That nicht sehr lustig, am allerwenigsten für die Gräfin Luiccolli, welche mit zur Gesellschaft gehörte. Natürlich gab es lange und bleiche Gesichter – nur der Lord lachte aus Herzensgrunde, denn das war ja doch einmal ein Abenteuer, welches ihm als Würze der alltäglichen Gewöhnlichkeit diente, und einmal ein Bischen innerlich und äußerlich aufregte. Jetzt erwachte erst in ihm eine volle Thätigkeit.
Ein langes Ruder aus dem desertirten Boote wurde aufgerichtet, und der feine Shawl der Gräfin als Nothflagge daran befestigt, obwohl der Lord nicht ohne innerliche Lust voraussah, daß die erste beste Brise das feine Gewebe in tausend Fetzen reißen würde. Aus zwei Mänteln, welche glücklicher Weise zwei etwas feine Kavaliere mit an’s Land genommen, den noblen Leichnam gegen kühle Lüftlein zu schützen, bildete er ein Zelt für die Gräfin, indem er die Herren davon unterhielt, wie ungemein erquickend nach einem heißen Tage eine eisig kalte Nacht und starker Thau sei, wie es doch gastronomisch ungemein interessant sein müsse, zum unverfälschten Naturleben zurückzukehren, und nicht nur Muscheln, sondern auch Fische roh zu verspeisen, und dergleichen mehr. „Ein Tod,“ fuhr er fort, „wie ihn jeder gemeine Venetianer dahin stirbt, ist auch durch sein Ordinäres wenig interessant; aber der Hungertod auf einer schattenlosen Klippe, begleitet von Halbgebratenwerden in der Sonne und Halberfrieren in der Nacht, ist denn doch in jeder Beziehung etwas, das nicht Jedem begegnet.“ Mit solchen Gesprächen jagte er eine Gänsehaut über die andere den edeln Kavalieren, den tapfern Nachkommen heldenkühner Vorfahren über den feinen Leib, und brachte ihr von feiner Pomade duftendes Haar zum Sträuben. Ein Glück, daß die von dem Schrecken erschütterte Gräfin unter dem Mantelzelte schlief, und also der Tortur entging, in welche der Lord seine Gefährten spannte. Sie baten ihn endlich inständigst, nachzulassen, und er erbarmte sich der Helden des jungen Italiens, die, wie er sarkastisch bemerkte, mehr von Atalanta gelernt, als von irgend einem Helden der mythischen Zeit, einer spätern zu geschweigen.
Von Zeit zu Zeit wurden Schüsse abgefeuert, um Fahrzeuge auf die Verlassenen aufmerksam zu machen. Dies erhielt den Muth der Italiener aufrecht, zumal die Vorräthe an geistigen Getränken, die sie noch hatten, innerlich nachhalfen; als aber zwei Tage und zwei Nächte trost-, hoffnungs- und rettungslos hingegangen waren, und auch nicht die entfernteste Aussicht war, gerettet zu werden – da kamen Lord Byron’s Bilder vom Hungertode allmälig zur Geltung und Kavaliere wie Bootsleute überließen sich ihrer Verzweiflung. Nur die Gräfin richtete sich an dem Muthe Lord Byron’s auf, der sich indessen im Geheimen seiner Seele nicht verhehlen konnte, trotz aller humoristischen Auffassung, trotz aller Sarkasmen, mit denen er seine Leidensgenossen überschüttete, sei ihre Lage eine keineswegs im rosigen Lichte erglänzende. Was sollte bei längerer Dauer aus ihnen werden? Der Hungertod rückte mit grausigem Grinzen an sie heran, und es war Noth, daß irgendwie auf Rettung gedacht wurde, da kein Segel in den Bereich ihres Signals kam, das dem Gesetze der Vergänglichkeit jeden Tag ein Fragment seines Leibes zum Opfer gab, wenn die Brise wehte. Was würde daraus, wenn eine scharfe Bora ihr Spiel damit beginnen sollte? – Auf die Dauer vermochte die Gesundheit der Männer selbst dem wechselnden Einfluß von glühender Tageshitze und scharfer Nachtkälte nicht zu widerstehen, da sie, wie die Wilden ferner Länder unter Gottes Sternen sommerlich gekleidet, übernachten’ mußten, und vor Frost oft Zähneklappern zum Besten gaben, daß es eine Art hatte und als musikalisches Intermezzo selbst Lord Byron keine Handhabe zu Scherzen mehr bot, um so weniger, als er selbst als mitagirender Musiker thätig im Chore war.
Die allerernstesten Berathungen traten an die Stelle der Scherze, der Beschluß, ein Floß zu bauen, scheiterte am gänzlichen Mangel alles Materials zu diesem Zwecke. Von einer Insel, schwimmend, die andere zu erreichen, war völlig unmöglich und würde auch, da sie alle unbewohnt sind, eine Handlung gewesen sein, die nur unheilvoll für den werden mußte, der eine solche Excursion unternommen haben würde, ohne daß sie die Lage der Andern hätte verbessern können. Rathlos saßen sie im Rathe. Selbst Lord Byron zeigte deutlich, daß seine gute Laune an ihrer äußersten Grenze angekommen sei, wo sie, wie Alles, in ihr Gegentheil, umzuschlagen im Begriffe stand.
Da erhob sich ein Venetianer, der, weil er einäugig war, bei der heitern Genossenschaft seiner Freunde der Cyclope hieß, und machte einen Vorschlag, den er auch selbst auszuführen den heldenmüthigen Entschluß erklärte. Er schlug nämlich vor (er war Seemann und gehörte zur Mannschaft des verlorenen Bootes) auf ganz eigenthümliche Weise eine Seefahrt zur Rettung Aller zu wagen. Da es nämlich eigentlich der Zweck der Gesellschaft gewesen war, nach Sabioncello zu gehen und man nur, der Laune Byron’s folgend, auf Grossa minore gelandet hatte, so hatten die Schiffer in ihr Boot ein Faß aufgenommen, um in Sabioncello, wo das köstlichste Trinkwasser sich fand, dieses Faß zu füllen und nach Venedig mit zurückzunehmen. Da nun auch Grossa minore eine berühmte Quelle hat, so war von den Schiffern dieses Faß an’s Land gebracht worden, um es an dieser Quelle zu füllen, da sie nicht wußten, wann sie nach Sabioncello kommen und wie lange sie sich dort würden aushalten können. Sie kannten alle die bizarren Launen Lord Byron’s und dachten, das Gewisse für das Ungewisse zu nehmen.
Der Cyclope schlug nun vor, diese Tonne der Länge nach durchzuschneiden, die Eisenreife stehen zu lassen und so eine Art Boot zu bilden, in das er sich setzen und die abenteuerliche Fahrt unternehmen wolle, um Hülfe zu holen.
So abenteuerlich der Vorschlag, so zweifelhaft sein Erfolg war, augenblicklich hatte er das Meiste für sich, und der ungewöhnliche Muth, die seemännische Tüchtigkeit des Cyklopen lieh ihm noch ein besonderes Gewicht. Es war Lord Byron, der sogleich in den seltsamen Gedanken und Vorschlag mit großem Eifer einging. Dadurch kam er zur möglichst raschen Ausführung. Mit großer Kraft und Ausdauer begannen nun die Seeleute daran zu arbeiten und nach der größten und mühevollsten Anstrengung brachten sie ihr Werk fertig, das die allerseltsamste Form hatte, doch die größte Aehnlichkeit mit einer Muschel. Es wurde in die See gebracht und der muthige Cyclope setzte sich hinein. Gegen Erwarten hielt es durch des Insassen Fürsorge und Kunst im Balanciren das Gleichgewicht. Anfänglich drehte es sich wie ein Kreisel im Kreise herum, allein als der Cyclope seine beiden Ruder in Bewegung setzte, hörte dieses Sichimkreisedrehen auf, und er brachte es in eine Strömung, die es schnell den Blicken entzog. Ihre Gebete und Wünsche begleiteten das waghalsige Unternehmen und sie blieben, zwischen lähmender Angst und schwacher Hoffnung schwebend, auf dem trostlosen Felsen von Grossa minore zurück, wo jeder Augenblick längeren Verweilens peinlicher und – gefährlicher wurde. Der Tag verging; der Abend kam und der Schlaf lullte sie in süße Hoffnungsträume ein.
Der Cyclope ruderte indeß getrost, von der Strömung fortgetragen, an Sabioncello vorbei. Zu landen wurde ihm unmöglich, weil er der Strömung keinen Widerstand leisten konnte. Das war sein Hoffnungsanker gewesen, daß er hier würde landen können. Jetzt sank sein Muth. Von der Insel aus bemerkte ihn Niemand und immer reißender wurde die Strömung. Er flog mit seinem absonderlichen Fahrzeuge in reißender Eile dahin. [532] Daß die Strömung landwärts ging, gab ihm neuen Muth. Immer rascher wurde das Fahrzeug fortgetrieben. Jetzt[WS 2] erblickte er Ragusa und das Herz hüpfte vor Freude; aber an Ragusa führte ihn die Strömung vorbei und Niemand entdeckte ihn. Endlich warf eine Welle das seltsame Boot an den Strand. Er war nicht weit von der Stadt Ragusa. Er hatte in seinem Fahrzeuge in einer unglaublich schnellen Zeit eine Entfernung von nahezu hundert englischen Meilen gemacht.
Von der Freude, Rettung zu bringen, erfüllt, eilte er nach Ragusa und machte der Behörde Anzeige von der Lage der Verlassenen. Noch an dem Abende wurde ein seetüchtiges, großes Boot segelfertig gemacht, mit allen erdenklichen Vorräthen beladen, mit tüchtigen Matrosen bemannt und dann stach es mit gutem Winde in See.
Der Morgen graute eben im Osten, als Lord Byron, vom heftigsten Froste geschüttelt, aufsprang, sich durch Bewegung zu erwärmen. Seine und seiner Begleiter von ihm hervorgerufene bedenkliche Lage ergriff ihn gewaltig. Er blickte auf die wie Leichen Daliegenden; gedachte vorzüglich der bedauernswürdigen jungen Gräfin und war durch die Lage der Dinge tief bewegt.
Die Sonne vergoldete eben das spiegelglatte Meer – da – war’s Wahrheit? – erblickte er ein Segelboot, dessen Kiel lustig die Salzfluth durchschnitt, dessen Schnabel auf die Insel Grossa minore hielt. Mit Aufbietung aller Kraft begann er zu rufen. Die Gefährten fuhren aus dem Schlafe auf. Sie eilten zu den Flinten und verknallten das letzte Pulver. Bald sahen sie das Wehen der Tücher, das Zeichen, daß das Boot zu ihrer Rettung herbeieile. – Wer beschreibt den Eindruck?
Das Boot landete; der Cyclope sprang heraus. Lord Byron umarmte ihn, wie einen Bruder, als er ihnen seine Fahrt und deren Erfolg berichtete.
Die Hungrigen wurden durch die Vorräthe des Bootes wunderbar erquickt und traten dann die Rückreise an. Sie legten in Ragusa an, brachten der Behörde ihren Dank und segelten dann nach Venedig, welches sie wohlbehalten erreichten. Der Cyclope wurde reichlich belohnt. Außerdem ließ ihm der Lord Byron eine prächtige Barke bauen, die den Namen „die Muschel“ erhielt, zur Erinnerung an das muschelartige, improvisirte Fahrzeug, worinnen der Cyclope zu ihrer Rettung von Grossa minore abgefahren war.
Blätter und Blüthen.
Das Thier und die Musik. Unerklärlich ist mir das Gebühren einer Schlange, die ich vor Kurzem beobachtete. Man sagt diesen Thieren bekanntlich auch nach, aus Erfahrung weiß ich es nicht, daß sie von der Musik angenehm berührt würden, daß sogenannte Schlangenbändiger und indische Gaukler, deren Beschäftigung es ist, sie zu Kunststückchen aller Art abzurichten, um dies leichter und schneller in’s Werk zu setzen, irgend eines musikalischen Instrumentes sich als Hülfsmittel bedienen sollen.
Ich brachte neulich Abend in eine Familie eine unschuldige Ringelnatter, und es thut mir leid, daß ich, so lange sie aus dem Tische lag, nicht an’s Klavier dachte, um ein Experiment anzustellen. Nachdem wir das Thier eine Zeit lang besichtigt hatten, wurde beschlossen, es zu tödten.
Zu dem Zwecke holte ich eine Weinflasche bis ziemlich an den Stöpsel mit 90grädigem Spiritus angefüllt herbei. Die Schlange wurde hineingesteckt, fuhr einige Male die Flasche auf und ab und blieb endlich, den Kopf auf dem Boden, den Leib in den prächtigsten Windungen nach dem Halse der Flasche hinaufgeringelt ruhig und ohne Bewegung liegen. Dies geschah halb acht Uhr. Die Unterhaltung wechselte, man sprach von diesem, lachte über jenes, that dies und das, immer aber kehrten die Blicke der Anwesenden wieder nach der Schlange zurück, die in ihrem Flaschengrabe eingeschlossen in der Nähe der Lampe stand. Das Thier blieb regungslos in der oben angegebenen Stellung, die es nach feinen letzten Bewegungen eingenommen hatte, liegen.
Da wende ich mich nach dem Klavier und beginne, dabei durchaus nicht an die Schlange und etwaige Versuche mit derselben denkend, ein beliebiges Tonstück. Ich hatte eine ziemliche Zeit gespielt, als plötzlich die ganze Gesellschaft nach der Flasche hinsah und mit den Worten: „seht nur, die Schlange lebt noch,“ dieser ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zuwandte. Sie hatte sich bewegt, aber nicht etwa in schmerzhaften, Todesqual verkündenden Zuckungen, sondern in einem ruhigen, gleichmäßigen Heben und Niederlassen des ganzen Körpers, vornehmlich des Kopfes. Ich stand sogleich vom Instrumente auf, um gleichfalls das Schauspiel näher in Augenschein zu nehmen; denn wer hätte das gedacht, daß das Thier nach zwei Stunden, die Hälfte der zehnten Stunde war ja schon abgelaufen, noch leben könnte; allein ich sah nichts mehr, sie lag ruhig in der vorigen Stellung, und zwar so ganz auf derselben Stelle, daß ich die beobachtete Bewegung kaum für etwas Anderes halten zu dürfen meinte, als für optische Täuschung. Doch leicht war dieser Zweifel zu beseitigen, ich durfte nur wieder meinen Platz am Klavier einnehmen und den Versuch noch einmal machen. Das that ich natürlich auch und es währte nicht eine Minute, so fing sie an zu tanzen, wie es vorher von der übrigen Gesellschaft gesehen worden war und wovon ich mich jetzt mit eigenen Augen überzeugte. Nahm ich die Hände von den Tasten und hatten die Töne ausgeklungen, so hörten auch ihre Bewegungen wieder auf, und wie neue Musik und Pausen bald in größeren bald in kleineren Zeiträumen abwechselten, eben so traten mit jener die hebenden Bewegungen, mit diesen die frühere Regungslosigkeit der Schlange ein. Länger als eine halbe Stunde setzten wir unsere Beobachtungen fort, lange genug, um die Ueberzeugung gewinnen zu können, daß wirklich die Musik und nichts Anderes – ausdrücklich erwähne ich noch einmal, daß die Flasche auf einem Tische fern vom Instrument, nicht etwa auf diesem selbst stand –, jenen gleichsam neues Leben erweckenden Einfluß auf das Thier ausübte. Auch da sei noch bemerkt, daß sie in der langen Zeit jener Versuche den Kopf zwar schließlich unten auf dem Boden liegen ließ, die Lage des übrigen Körpers, die prachtvollen Windungen, in denen sie sich anfangs aufgeringelt hatte, aber leider verändert waren.
Hatte uns die ganze Erscheinung insofern in nicht geringes Erstaunen gesetzt, als wir den Tod des Thieres, das sich volle zwei Stunden in einer fest zugestöpselten mit 90grädigem Spiritus angefüllten Flasche befunden hatte, als nothwendig erfolgt voraussetzten, so war und ist es uns noch jetzt unerklärlich, von welcher Art der Eindruck gewesen sei, den die Musik auf die Schlange machte. War es ein angenehmer oder unangenehmer? Mancher meiner Freunde entschied sich und nicht ohne Gründe für das Erstere, allein ich konnte dafür keine Ueberzeugung gewinnen, weil es mir unbegreiflich ist, daß ein Thier, welches sich in einer solchen Sphäre weiß, in der es sein Leben verlieren muß, durch irgend etwas angenehm sollte berührt werden können. Daß die Schlange dies aber wußte oder ahnte oder instinktmäßig fühlte, wie man nun will, bewies ihr Widerstreben, den Kerker zu betreten, obwohl sie nicht wissen konnte, daß sie darin für immer festgehalten werden sollte.
Zum Schlüsse möchte ich mir noch die Bitte an einen sehr geehrten Mitarbeiter der Gartenlaube, der uns durch seine naturgeschichtlichen Aufsätze schon so vielfach Belehrung geboten, hat, Herrn Prof. Roßmäßler, zu richten erlauben, er möge die Güte haben, aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen und seines Wissens uns, die wir im Finstern tappen, Aufschluß über die streitige Frage zu geben.
Aus der Fremde Nr. 39 enthält:
John Fremont’s Leben, Reisen und Abenteuer. (Fortsetzung.) – Abenteuer eines Offiziers in Nicaragua. – Ein Pferdehändler am Kentucky. – Neuestes aus Afrika. – Aus allen Reichen: Joh. A. Röbling. – Amerikanische Schulen. – Ein Negerpeitschen.
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, Ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck Von Alexander Wiede in Leipzig.