Die Gartenlaube (1857)/Heft 1

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Verfehltes Leben.

Nach wirklichen Erlebnissen vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


I.
Die Schwestern.

Es war ein schwerer Druck, der in den Jahren 1806 bis 1812 auf dem deutschen Vaterlande lastete. Er war um so schwerer, und die Geschichte wird für immer diese Zeit als eine um so traurigere bezeichnen, als gerade am meisten, am dienstfertigsten und selbst am fanatischsten Deutsche es waren, die der fremden Gewalt zur Unterdrückung des deutschen Volkes dienten. Sonst und anderswo ist das gemeinsame Leiden ein festes Band zum innigen Zusammenhalten, zu gegenseitiger Treue, zur gemeinschaftlichen Kräftigung, zum gemeinsamen Widerstande gegen den Druck. Die willfährigsten Schergen jenes fremden Druckes waren Deutsche, deutsche Beamten der fremden Machthaber. So gesellte sich zu gemeinsamen Leiden das gegenseitige Mißtrauen; so wurde das Unglück des Volkes so ungeheuer groß; so wuchs aber auch zu Riesengröße und Riesengewalt die allgemeine Erbitterung, der Zorn, die Wuth des Volkes empor. Solche Früchte sah das Jahr 1813.

An einem Morgen gegen Ende April des Jahres 1810 standen in einem, zu dem damaligen Königreiche Westphalen gehörigen Landstädtchen vor einem Wirthshause desselben zwei Gensd’armen beisammen. Der Eine war ein Vorgesetzter, der Andere ein Untergebener. Dieses Verhältniß kündigten nicht nur die Schnuren auf der Uniform des Ersteren an, sondern auch sein gewandteres, freieres Benehmen, während der Andere in seiner kahleren, aber noch immer sehr kleidsamen Uniform steif, gehorsam, eckig da stand. Freilich konnte diese Verschiedenheit im Aeußeren auch einen andern Grund haben. Der Vorgesetzte war, wie Physiognomie und Sprache zeigten, ein Franzose und der Untergebene ein Deutscher. Wie in jener traurigen Zeit die deutschen Beamten der Fremdherrschaft die dienstfertigsten und fanatischsten Diener dieser Herrschaft waren, so waren die Franzosen es, die sie am gründlichsten verachteten, und sich wahrlich keinen Zwang anthaten, wenn sie Gelegenheit hatten, diese Verachtung an den Tag zu legen. Auch der französische Gensd’arm behandelte den Deutschen mit einem leichten, verächtlichen Uebermuthe und der Deutsche wurde um so eckiger und serviler.

„Aber glauben Sie mir, Herr Sergeant, der Mensch sah gerade so aus, wie jener verfolgte Advokat.“

„Ah bah, Monsieur Sebald, ich erinnere mich der Sache nicht mehr.“

„Erinnern Sie sich nur, Herr Sergeant, der eine Advokat, der Doktor Kamps aus Osnabrück, hatte in der Betrunkenheit Seine Majestät den Kaiser geschimpft.“

„Ah bah, un ivrogne!“

„Einen Spitzbuben, einen Tyrannen!“

„Betrunken!“

„Nun, nun, Herr Sergeant, er wurde dafür doch erschossen.“

„Narr! Wollte nicht widerrufen; wollte nicht einmal vor dem Kriegsgericht sagen, daß er betrunken gewesen sei.“

„Diese Verstocktheit!“

„Bah, war doch ein besserer Charakter, so anders, als die andern Deutschen.“

„Und nun war, als er die schändlichen Worte gesprochen, der andere Advokat, der Stuve, bei ihm gewesen und hatte ihm stillschweigend zugehört. Er sollte auch vor das Kriegsgericht gestellt werden, aber seine Freunde hatten ihn auf die Seite geschafft. Er wurde mit Steckbriefen verfolgt, und doch hat man seitdem nichts wieder von dem gefährlichen Menschen gehört. Ich wollte nun aber wetten, daß es derselbe ist, den ich vorhin auf meiner Patrouille gesehen habe, und der mit der Frau und dem Kinde auf dem Wege hierher ist.“

„Ah, Sie wollen wetten, Monsieur Sebald. Wetten ist keine Gewißheit!“

„Aber Sie haben die Steckbriefe, Herr Sergeant; sehen Sie die nur nach, so haben wir die Gewißheit.“

„Nichts, nichts, Monsieur Sebald; wie sollte der Mann sein so dreist, und kommen hierher? Ist unglaublich.“

„Da ist der Wagen, Herr Sergeant.“

In der That kam ein Wagen, eine gewöhnliche Reiselohnkutsche, die Straße heraufgefahren, nach dem Wirthshause zu, vor dem die beiden Gensd’armen standen.

Der Sergeant wollte nicht darauf achten und fortgehen. Ein an sich geringfügiger Umstand machte jedoch den gewandten und erfahrenen französischen Gensd’arm stutzig, und wurde die Veranlassung, daß er stehen blieb, den Wagen zu erwarten. Sein Begleiter blieb natürlich bei ihm.

Als der Wagen noch etwa dreißig bis vierzig Schritte entfernt war, hatte sich aus dem Schlage das Gesicht eines Mannes vorgebeugt, um auf der Straße, wahrscheinlich nach dem nahen Wirthshause, sich umzusehen. Die Augen des Mannes hatten die beiden Gensd’armen gesehen, und plötzlich, in demselben Augenblicke, fast wie unwillkürlich, war der Kopf des Mannes in den Wagen zurückgeflogen.

Zwar kam er gleich wieder nachlässig zum Vorschein, und die Augen sahen mit völliger Unbefangenheit umher, und blieben sogar mit eben so vollkommener Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit auf den Gensd’armen haften, die unmittelbar vor der Thür des Wirthshauses standen, an welchem allem Anscheine nach der Kutscher mit [2] den ermüdeten Pferden halten wollte; allein der feine Franzose war einmal aufmerksam geworden, und es war ein Mißtrauen in ihm aufgestiegen, das ihn nicht wieder verlassen zu wollen schien.

„Ach, sehen Sie, Herr Sergeant,“ sagte der deutsche Gensd’arm. „Sie bleiben ja doch; die Sache wird Ihnen auch verdächtig.“

„Schweigen Sie, Gensd’arm Sebald, und thun Sie nichts ohne meinen bestimmten Befehl. Verstehen Sie?“

Der Wagen fuhr vor dem Wirthshause vor und hielt an. Ein Herr und eine Dame stiegen in gewöhnlicher Reisekleidung aus. Bedienung hatten sie nicht bei sich. Die Dame, als sie ausgestiegen war, wandte sich nach dem Innern des Wagens zurück, und nahm sanft ein schlafendes Kind heraus, ein bildhübsches Mädchen von drei bis vier Jahren, das sie auf ihren Armen in das Haus trug. Der Herr folgte ihr in dieses.

Weder der Herr noch die Dame hatten um die beiden Gensd’armen sich bekümmert, nicht einmal nur mit einem einzigen Blicke sich nach ihnen umgesehen. Desto aufmerksamer hatten die Gensd’armen namentlich den Herrn beobachtet, und wie der Gensd’arm Sebald seiner Sache schon längst, wenigstens bis zu einer Wette, gewiß sein wollte, so schien auch in dem Sergeanten eine Ahnung, eine Erinnerung, ein Verdacht auf einmal wach geworden zu sein und nach und nach immer klarer und lebendiger zu werden.

„Gensd’arm Sebald,“ sagte er zu seinem Begleiter, „eilen Sie zu meinem Bureau, und holen Sie die Steckbriefe aus dem Sommer des Jahres 1809.“

„Aber die Geschichte mit den beiden Advokaten passirte ja erst im verflossenen Winter.“

„Thun Sie, was ich Ihnen befehle. Sie bringen die Papiere in die Schenkstube da drüben. Ich werde mich dahin begeben, um die Fremden unter Aufsicht zu behalten. Sie kommen von hinten in das Haus, um kein Aufsehen zu erregen.“

Der Gensd’arm Sebald ging die Strasse hinunter. Der Sergeant verlor sich in einem gegenüberliegenden Hause.

Die beiden Reisenden, die in das Wirthshaus eingetreten waren, schienen sowohl nach ihrer Kleidung, als auch im Uebrigen, nach ihrem Aeußeren, den höhern Ständen anzugehören. Der Herr war eine große, schöne Figur, etwas geschmeidig und doch von einem gewissen strengen, militairischen Anstand. Er war brünett, das fein geschnittene, längliche Gesicht etwas blaß, die Augen schwarz, lebhaft, durchdringend. Er schien in der Mitte der dreißiger Jahre zu stehen. Die Dame mochte fünf bis sechs Jahre jünger sein, also am Ende der zwanziger oder im Anfange der dreißiger Jahre. Sie war nicht minder schön, wie der Mann, hoch gewachsen, etwas mager; glänzend schwarzes Haar, glänzend schwarze Augen, der Teint außerordentlich zart, die Züge des Gesichts außerordentlich fein geformt. Herr und Dame sahen angegriffen aus; war es von der Reise? War es von ihrem Leben überhaupt? Ein stets umherschweifender, unruhiger Blick des Mannes, ein manchmal trauriger, dann wieder grollender, aber gleichfalls stets unruhiger Blick der Frau ließen beinahe das Letztere vermuthen.

Sie ließen sich ein Zimmer anweisen, nur zum Ausruhen für eine oder anderthalb Stunden, während der Kutscher die Pferde fütterte.

Eine Aufwärterin, vielleicht eine Tochter oder andere Anverwandte des Hauses – sie waren in dem Wirthshause eines sehr kleinen Landstädtchens – führte sie eine Treppe hinauf. Sie wollte der Dame das schlafende Kind abnehmen; die Dame gab es nicht ab, um es nicht zu wecken. Das Kind schlief so süß in ihren Armen, und sie sah mit so unendlicher Liebe und Sorge auf das schlafende Kind.

Oben auf dem Gange führte die Aufwärterin die Reisenden zu einer Thür. In dem Augenblicke, als sie diese aufschließen wollte, sah sie aus dem Hintergrunde des Ganges einen Herrn in mittleren Jahren hervorkommen. Sie hielt im Aufschließen der Thür ein, mit großer Neugierde den Herrn erwartend. Schon von weitem rief sie ihm, freilich mit sorgfältig gedämpfter Stimme, entgegen:

„Wie geht es drinnen, Herr Doktor?“

Der Gefragte zuckte die Achseln.

„Schlecht, sehr schlecht.“

„Haben Sie gar keine Hoffnung?“

„Gar keine! Rettung ist völlig unmöglich.“

„Das ist sehr traurig!“

„Gewiß.“

Der Herr ging die Treppe hinunter. Er hatte mit vieler Theilnahme, mit einer gewissen Bewegung gesprochen.

Die Aufwärterin war sichtlich traurig, bekümmert geworden; sie schloß still die Thür auf, und ließ die Reisenden eintreten.

Der fremde Herr hatte die kurze Unterredung mit einiger Ungeduld angehört. Die Dame hatte ihr Aufmerksamkeit geschenkt, ob aber auch Theilnahme, zeigten wenigstens ihre Gesichtszüge nicht.

„Besorgen Sie uns ein Frühstück,“ sagte der Herr zur Aufwärterin.

Die Aufwärterin ging. Die Dame legte das schlafende Kind auf ein Bett, das in dem Zimmer stand, und blieb schweigend vor demselben stehen. Sie schien nur das Kind zu betrachten; wer sie genau beobachtete, mußte aber bemerken, daß ihre Blicke eigentlich nicht ohne einige Unruhe ihrem Begleiter galten.

Der Herr ging sehr unruhig im Zimmer umher. Es war, als wenn bisher der Druck eines unerträglichen Zwanges auf ihm gelastet habe, den er auf einmal nach der Entfernung der Aufwärterin von sich warf. Er gesticulirte mit den Armen und mit den Händen, warf den Kopf vor und zurück, und murmelte dabei heftige, aber unverständliche Worte.

Die Dame hatte sich zuletzt nur zu ihm gewandt und seine heftigen, hastigen Bewegungen verfolgt. Sie unterbrach diese.

„Gregoire, bist Du in Gefahr?“

„Ich?“ wiederholte etwas höhnisch der Mann.

„Du bist es also nicht?“

„Warum sprichst Du blos von mir, nicht auch von Dir?“

„Wenn ich zugleich von mir sprechen müßte, so müßte ich auch dieses Kind einschließen, und für so schlecht kann ich Dich nicht halten, daß Du das arme Kind in solcher Weise elend machen könntest.“

„Welches Geschwätz wieder! Bist Du in Gefahr, so hast Du selbst Dich hineingebracht, nicht ich!“

„Antworte mir, ob wir verfolgt werden?“

„Weiß ich es?“

„Warum erblaßtest Du bei dem Anblicke der Gensd’armen? Warum bist Du jetzt in dieser großen Aufregung?“

Der Mann antwortete nicht, wenigstens nicht direkt.

„Es ist ein Hundeleben, das man führt!“ rief er.

„Das weiß Gott!“ bestätigte mit einem schweren Seufzer die Frau. „Und dieses arme Kind muß schon so früh in das elende Leben hineingeworfen werden!“

Der Mann fuhr zornig auf: „Warum hast Du immer nur Sorgen für das Kind?“

Diesmal antwortete die Frau nicht.

„Und von seinen eigenen Eltern!“ fuhr sie in ihrer Klage um das Kind fort.

„Auch von Dir!“ rief höhnisch lachend der Mann. „Endlich warst Du einmal aufrichtig.“

Die Frau wandte sich plötzlich mit einem zornfunkelnden Blicke zu dem Manne. Sie hatte eine bittere Bemerkung, wahrscheinlich einen schweren Vorwurf auf den Lippen. Sie brachte sie nicht vor. Das Gesicht des Mannes war blässer, seine Unruhe war zu einer unverhohlenen Angst geworden; das sah sie. Auf einmal verließ sie das Bett, an dem sie vor dem Kinde stand, sie sprang auf den Mann zu und schloß ihn leidenschaftlich in ihre Arme.

„Gregoire, Du weißt, wie ich Dich liebe. Wir sind in Gefahr; entdecke Dich mir. Nimm mir die Angst, die mir das Herz zerdrückt, für Dich und für unser Kind.“

Der Mann blieb kalt, zurückstoßend.

„Wirklich auch für mich?“

„Auch für Dich, auch für Dich! Du weißt, wie ich das Kind liebe, wie mein Herz an dem theuren Wesen hängt. Aber nicht minder hängt es an Dir. Glaube mir, ich schwöre es Dir!“

„Du fühlst selbst, daß Deine Liebe der Schwüre bedarf, damit sie Glauben finde.“

„Hast Du denn immer nur diesen Spott, diese Qual für alle meine Liebe?“

„Immer! Ich erinnere mich noch sehr wohl der Zeit, da ich so Dich fragen mußte; ich war der Narr dazu.“

Die Frau wollte ihm etwas erinnern. Schnell rief er ihr zu: „Schweig; es kommt Jemand. Zeige keine Aufregung, wenn wir nicht verloren sein sollen.“

„Also wir sind wirklich in Gefahr?“ fragte noch einmal die Frau.

[3] Diesmal antwortete der Mann: „Ich hoffe nicht.“

„Du fürchtest also?“

„Ich habe Feinde.“

„Du hast wieder etwas gemacht? Du hast es mir verhehlt?“

„Sei unbesorgt, man wird nichts gegen mich wagen. Ich weiß zu viel, und das weiß man.“

Unmittelbar vor der Thür draußen wurden Schritte hörbar. Die Frau setzte sich zu dem Kinde an das Bett; der Mann stellte sich vor einen an der Wand hängenden Kupferstich, die Schlacht von Austerlitz darstellend, und sah mit gleichgültiger Miene auf das Bild. Die Thür öffnete sich, und die Aufwärterin brachte das Frühstück herein. Sie stellte es auf den Tisch und trat dann in jener zutraulichen Weise, die man in den Dörfern und kleinen Landstädten nicht selten antrifft, zu der Dame an das Bett des Kindes. Sie sah mit unverstellter Freude das schlafende Kind an.

„Welch’ ein schönes Kindchen!“ rief sie. „Und wie es so ruhig schläft! Wie ein kleiner Engel.“

„Es hat Gottlob einen gesunden Schlaf,“ erwiederte die Dame.

„Ach,“ fuhr die Aufwärterin mit einem Seufzer fort. „da hinten im Hause liegt auch ein Engel, dem es aber nicht so gut geht. Sie wird es wohl nicht lange mehr machen.“

„Sie haben eine Kranke im Hause?“ fragte die Dame. „Ich hörte Sie schon vorhin darüber sprechen.“

„Mit dem Arzte, der gerade von ihr kam. Er hat keine Hoffnung mehr. Wir sind Alle recht traurig im ganzen Hause.“

„Die Kranke ist eine Angehörige des Hauses?“

„O nein, eine Fremde, die erst seit drei Tagen hier ist.“

„Eine Reisende?“

„Sie kam mit der Post an. Sie war unterwegs plötzlich sehr krank und elend geworden, so daß sie nicht weiter konnte und hier liegen bleiben mußte.“

„Doch nicht allein?“ fragte die Dame, die sich unwillkürlich für das Schicksal der Kranken zu interessiren schien.

„Ganz allein,“ antwortete die Aufwärterin. „Aber sie hat hier die beste Aufnahme und Pflege gefunden. Die Mamsell, die Tochter vom Hause, hat sich ihrer sogleich angenommen; sie weicht nicht mehr von ihrem Bette. Die arme kranke Dame ist auch so gut, und noch so jung und so schön. Aber, mein Gott –“

Die Aufwärterin brach auf einmal im Tone der höchsten Verwunderung ab, starrte die Dame an, mit der sie sprach, blickte vor sich nieder und starrte wieder die Dame an.

„Was ist Ihnen?“ fragte diese.

„O, nichts.“

„Es schielt Ihnen plötzlich etwas aufzufallen?“

„Ach, ich täuschte mich wohl; es war nichts. Und doch –“

„Nun?“

„Es kam mir auf einmal vor, als wenn die Kranke einige Aehnlichkeit mit Ihnen habe. Aber ich habe mich wohl geirrt; jetzt ist es nicht mehr so.“

Die Theilnahme der Dame schien sich doch gesteigert zu haben. „Jung ist die Fremde?“ fragte sie.

„Recht jung noch,“ antwortete die Aufwärterin. „Vielleicht kaum zwanzig Jahre alt. Und so schön!“

„Und sie kam allein?“

„Ganz allein.“

„Hatte sie eine weite Reise vor?“

„Sie soll weit hergekommen sein und wollte auch noch weit. Sie war schon krank abgereist. Unterwegs, in dem alten Postwagen und den kalten Nächten, die wir in der letzten Zeit hatten, hat sie sich erkältet; sie hat anfangs nicht darauf geachtet; es ist schlimmer mit ihr geworden, bis sie zuletzt hier nicht mehr weiter konnte. Der Arzt sagt, sie habe die galoppirende Auszehrung. Sie habe die Krankheit schon seit einiger Zeit in der Brust getragen; die Beschwerden der Reise, die Erkältung, und auch wohl frühere Leiden der armen Mamsell hätten die Krankheit so furchtbar stark und so auf einmal tödtlich gemacht. Nun muß sie hier so allein, so entfernt von allen ihren Anverwandten und Freunden sterben. Es ist wohl recht traurig.“

„Sehr traurig,“ wiederholte die Dame mit einem fast ängstlichen Blick auf ihr Kind, das so ruhig vor ihr auf dem Bette schlief. Beinahe wie mechanisch setzte sie die Frage hinzu: „Weiß man den Namen der Fremden?“

„O ja,“ antwortete die Aufwärterin. „Sie hat einen Paß bei sich, und heißt Mamsell Andreä.“

Die Dame fuhr mit einem lauten Schrei von ihrem Sitze auf. „Allmächtiger Gott!“ rief sie.

„Sie kennen sie?“ fragte die Erstere.

Der Herr, der bei dem Namen der Fremden sich plötzlich entfärbt, aber auch eben so schnell sich wieder gefaßt hatte, warf der Dame einen strengen, befehlenden Blick zu und sagte gleichzeitig in dem ruhigsten Tone seiner Stimme zu ihr:

„Wie kannst Du Dich bei dem Namen erschrecken? Er findet sich häufig. Ich denke, wir frühstücken, damit wir bald wieder aufbrechen können.“

Aber die Frau ließ sich weder durch die Worte noch durch den Blick beruhigen. „Woher kommt die Fremde?“ fragte sie die Aufwärterin.

„Das weiß ich nicht; ich habe nicht darauf geachtet.“

„Wissen Sie ihren Vornamen?“

„Marie Antoinette steht im Paß.“

„Um Gotteswillen! Und sie sieht mir ähnlich?“

„Gewiß, gewiß. Ich meine, wenn die arme Mamsell nicht so krank wäre, sie müßte Ihnen zum Verwechseln gleichen.“

„Sie ist es; es kann kein Zweifel sein. Es ist –“

„Antoinette!“ sagte befehlend und verweisend der Mann.

Aber die Frau war in immer heftigere Aufregung gerathen. „Es ist meine Schwester!“ rief sie. „Meine arme Schwester, Krank, elend, sterbend. Und allein! In der Fremde! Mich sendet der Himmel ihr zu.“

„Antoinette, wie kann eine bloße Vermuthung Dich so außer Dir bringen?“

„Ich muß zu ihr. Führen Sie mich zu ihr.“

„Du wirst Dich vorher genauer erkundigen,“ sagte der Mann laut. Leise aber setzte er hinzu: „Ich beschwöre Dich, Du wirst uns Alle unglücklich machen.“

Die Frau achtete auch auf seine Beschwörung nicht. „Eilen Sie,“ drängte sie die Aufwärterin. „Eilen Sie zu der Kranken. Fragen Sie, ob sie aus Würzburg komme. Und wenn sie von dort kommt –“

Der Mann warf ihr einen vernichtend drohenden Blick zu. Sie stutzte einen Augenblick, dann fuhr sie leidenschaftlich fort: „Und wenn sie von dort kommt, so sagen Sie ihr, daß ihre Schwester hier sei, Antoinette Andreä. Eilen Sie. Kehren Sie schnell zurück. – Oder nein, ich begleite Sie sofort. O, diese Unruhe ist tödtlich!“

Sie wollte mit der Aufwärterin das Zimmer verlassen. Der Mann hielt sie gewaltsam zurück.

„Antoinette,“ flüsterte er ihr zu, „weißt Du, daß die Gensd’armen mir auf den Fersen folgen?“

„Fliehe,“ erwiederte die Frau; „aber laß mich, ich muß zu ihr!“

„Du willst mich verlassen?“

„Ich kann meine sterbende Schwester nicht allein lassen.“

„Du wolltest auch Dein Kind verlassen?“

„Mein Kind?“ rief die Frau.

Der Gedanke, auch ihr Kind verlassen zu müssen, schien sie plötzlich an den Boden zu fesseln. „Nein, nein, mein Kind bleibt bei mir.“

„Aber ich –?“

Der Mann sprach die Worte in demselben Tone des Vorwurfs, in welchem er ihr vorhin ihren Mangel an Liebe vorgehalten hatte. Auf einmal wurde die Frau ruhiger, ihr Blick klarer.

„Warten Sie draußen auf mich, Jungfer,“ sagte sie zu der Aufwärterin. „Ich folge Ihnen sogleich.“

Die Aufwärterin verließ das Zimmer. Die Frau richtete sich in fast gebieterischer Stellung vor dem Manne auf.

„Gregoire,“ sagte sie, äußerlich ruhig, beinahe kalt, „Du hast mich elend gemacht, mich und das arme Kind dort. Ich bringe Dir ein Opfer, daß ich noch bei Dir bleibe. Willst Du Unmenschliches von mir verlangen, so zerreiße ich alle Bande zwischen Dir und mir.“

„Ah,“ höhnte der Mann, „Du hast die Schwester wiedergefunden! Aber weißt Du, ob sie Dich aufnehmen wird? Doch was frage ich? Sie liegt im Sterben. Du willst nur so en passant eine Erbschaft in Besitz nehmen.“

Die Frau sah ihn verächtlich an. Auf einmal aber verlor sich auch der Hohn des Mannes. Es schien plötzlich ein Gedanke in ihm aufzusteigen. In seinen Augen zeigte sich ein vorüberfliegender Glanz; aber es war ein widerwärtiger Glanz.

[4] „Geh’,“ sagte er, seinerseits jetzt drängend, zu der Frau. „Halte Dich nur nicht länger auf, als nöthig.“

Die Frau schien den Gedanken zu errathen, der ihn beschäftigte. Sie sah ihn nicht mehr verächtlich, aber mit einer tiefen Trauer an, und als ihre Augen von ihm zu dem schlafenden Kinde hinüberglitten, füllten sie sich mit Thränen. Sie hauchte einen Kuß auf die Lippen des Kindes und verließ das Zimmer. Wenn sie einen festen Willen hatte, so war sie nicht zugleich sorglos.




Ein trauliches Stübchen des Wirthshauses, hinten nach dem Garten, fern von allem Geräusche der Straße wie des Hauses gelegen, war zu einem Krankenzimmer geworden. Das einzige Fenster war mit einem dichten Vorhange versehen, so daß man sich in einer Art von Halbdunkel befand. In diesem Halbdunkel herrschte die tiefste Stille; man hätte das leiseste Summen einer Mücke hören müssen, wenn solche in dem Zimmer gewesen wäre. Man konnte meinen, nur der Tod sei hier, er sei so eben hier eingekehrt; aber er sei still und sanft eingekehrt, wie der Engel des Todes, und habe Allem, was lebend dagewesen, still und sanft die Augen zugedrückt: so still, so ruhig, und so heimlich war es in dem Stübchen.

Dennoch zeigte das Halbdunkel zwei lebende Wesen. Eine zum Erschrecken blasse und abgemagerte Kranke lag im Bette. Trotz der Blässe und Magerkeit erkannte man ihre Jugend und ihre Schönheit. Man erkannte aber auch, daß Jugend und Schönheit hier unrettbar dem nahesten Tode geweihet waren. Die Augen der Kranken waren geschlossen; der Todesengel hatte sie noch nicht zugedrückt; sie warteten noch auf seinen letzten, stillen, sanften Druck. Sie warteten darauf, die Kranke schlief nicht. Sie war im Gegentheil unruhig. Ihre Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern; ihre Brust wogte, als wenn sie von erstickender Luft zu voll sei; ihre Lippen schienen vergebens nach erfrischender Luft zu haschen. Zu einer weiteren Bewegung war der unruhige, nicht von dem Kampfe mit dem Tode, aber von der Erwartung des Todes ergriffene Körper zu schwach.

Vor dem Bette zu dem Haupte der Kranken saß ein frisches, blühendes junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren. Das Bild des Lebens und des Todes so unmittelbar beisammen! Das blühende Mädchen achtete mit einer liebenden Sorgfalt auf jede Bewegung der Sterbenden. Eine Schwester hätte nicht liebevoller, nicht achtsamer sein können. Es war die Tochter des Hauses, die der, vor wenigen Tagen krank und elend, allein und hülflos angekommenen Fremden seitdem die Theilnahme und Pflege einer Schwester widmete.

Die Stille der Krankenstube wurde nach einer Weile unterbrochen. Die Kranke war plötzlich ruhiger geworden. Die Augen bewegten sich nicht mehr; die Lippen schlossen sich leise. Ein stiller Friede, eine wie heilige Verklärung schien sich nach und nach über die ganze Gestalt zu ergießen. Das Gesicht bekam eine natürliche Form, bestimmtere Züge zurück; eine feine Röthe zeigte sich sogar, auf den Wangen wie auf den Lippen. Die Kranke schlug die Augen auf, ein paar große, schwarze Augen, glänzend wie von einem himmlischen Glanze. Nahete sich ihr der Todesengel, um den Leib von seinen Leiden zu erlösen, den Geist in die seligen Gefilde des Himmels hinüberzutragen?

Wie schön, wie irdisch und zugleich wie überirdisch schön war diese Sterbende! Die großen glänzenden Augen wandten sich zu der Freundin, die vor dem Bette saß. Der nahe Tod hatte schnell die beiden Herzen befreundet.

(Fortsetzung folgt.)


Land und Leute.
Nr. 7. Die Dithmarschen.
Die Tüchtigkeit der Dithmarschen. – Ein Todtenhemd die Mitgift der Braut. – Dithmarsche Trachten. – Ihre Kost und eine Erinnerung aus dem Jahre 1848. – Das Flachsschwingen. – Eine Einladung. – Die Bestattung der Todten. – Hochzeitsfeierlichkeiten. – Eine Meerschaumpfeife der Verlohnungsring. – Bringt Messer, Gabel und Löffel mit. – Das Abholen der Braut. – Der Brauttanz.

Neben dem Ausflusse der Elbe in die Nordsee liegt ein Ländchen, winzig zwar in Betreff seiner Ausdehnung, denn es ist kaum sieben Meilen lang und drei bis vier Meilen breit, doch bedeutsam durch die Geschichte seines Volkes. Die alten Dithmarschen, nach den meisten Geschichtsforschern dem sächsischen Stamm entsprossen, eigenthümlich, einfach, ritterlich und frei,

„friske, riske, starke Degen,
de ehr Hoved in die Wolken dregen,“

wie der alte Chronist Neocorus singt, waren nach Maßgabe ihres Charakters und ihrer Thaten mit den hochherzigen Bewohnern jenes Alpenlandes wie aus einem Holz geschnitten, doch in den Erfolgen ihrer Freiheitskämpfe einzig wegen der Ermangelung äußerer und natürlicher Schutzmittel minder glücklich. Die ungewöhnlich reichen und mit seltsamer Treue bewahrten Traditionen aus Dithmarschens Vorzeit, welche dem Forscher eine reiche Fundgrube eröffnen, sind daher im Allgemeinen eben so interessant, wie im Besonderen für alle jüngeren Generationen begeisternd und anregend.

Die ganze Elb- und Nordseeküste Dithmarschens bildet einen ungemein fruchtbaren Marschgürtel von nicht ganz unbeträchtlicher Breite, den man theilweise im Lauf von Jahrhunderten dem Meere mag abgewonnen haben, und dessen gegenwärtige Bewohner im Allgemeinen unter dem Einfluß der in den letzten Decennien so bedeutend gesteigerten Konjunkturverhältnisse eines hervorragenden Wohlstandes sich erfreuen.

Die Dithmarscher Gestbewohner, die wir von jetzt an schlechthin Dithmarschen nennen wollen, sind unverdrossen bemüht, den Kulturzustand ihres von Natur minder erzeugungsfähigen Bodens zu heben, und es werden von den immer noch in größerer oder geringerer Ausdehnung vorhandenen unurbaren Heideflächen fortwährend neue Felder eingehägt und mit fleißiger Hand in recht fruchtbare Aecker umgewandelt. Was aber dennoch im Vergleich zu jenen sehr bevorzugten Marschgegenden die Natur in Betreff des Landertrags hier versagt, das ersetzt wieder in reichlichem Maße die allgemein vorherrschende Einfachheit und Sparsamkeit, indem die Produkte der Heimath in ihrer Mannigfaltigkeit meistens ausreichen zur Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse. Flachs, Hanf und Wolle bieten der ländlichen Industrie fast Material genug zur Anfertigung verschiedenartiger Kleidungsstoffe für den minder gang- als geschmacklosen Anzug, der in seiner Eigenthümlichkeit in geringem Grade dem Wandel der Mode unterworfen ist und der selbst da, wo er in seltneren Fällen aus den Vorräthen der Kaufläden completirt wird, von dem Herkömmlichen wenig einbüßt. Wo die Vermögensverhältnisse es irgend gestatten, da wirkt und schafft die Wirthin des Hauses Jahr ein und Jahr aus, daß die Vorräthe an selbstverfertigten – in der hier gangbaren niederdeutschen oder plattdeutschen Mundart „egenreedten“ – Stoffen für alle und selbst für etwa unvorhergesehene Bedürfnisse der Familie ausreichen, und wie weit in dieser Beziehung die Fürsorge geht, das wird zur Genüge einleuchten, wenn wir bemerken, daß in möglichen Fällen der Landessitte gemäß ein Todtenhemd der Mitgift der Braut nicht mangeln darf.

Die älteren Männer vorzugsweise tragen kurze und enganschließende Beinkleider, die oben unterhalb des Kniees mittelst silberner Spangen geschlossen sind, und wenn dabei nicht Schuhe, so doch Stiefel, die nicht zu hoch sind, um die meistens hellblauen Wollstrümpfe ganz zu bedecken. Eine gewöhnliche Tracht daneben ist eine kurze Jacke, welche die ganze Naturwüchsigkeit der in der Regel sehr kräftigen Figuren unverhüllt zur Schau stellt. Der Rock dagegen, dessen Schöpfer in weiser Selbstgefälligkeit die moderneren Façons neuerer Zeit fast für Gespenster halten mag, erscheint nur in Galla. Denken wir uns endlich noch einen breitkrämpigen schwarzen Filzhut hinzu, dessen Rand an drei Seiten aufgebunden ist, „Pustdelamphoot“ (Pust de Lamp ut – Blas’ die Lampe aus –), so haben wir das vollständige Bild eines alten Dithmarscher Bauern vor uns. Etwas abweichend von dieser Tracht erscheint die der jüngern Bauern und der Burschen, indem letztere meistens schon mit langen Beinkleidern und als Kopfbedeckung mit Mützen bekleidet sind. Die Frauen dagegen tragen tief auf der Brust und auf dem Rücken ausgeschnittene Jacken, lange und breitgestreifte wollene Röcke und

[5]

Dithmarscher Leute.

Schuhe mit großen Silberspangen. Den Kopf bedeckt eine kleine, fest anschließende, mit breiten Seiden- und häufig auch mit Goldband besetzte Mütze, deren lange und breite, tief auf die Brust herabhängende Seidenbänder unter dem Kinn in große Schleifen zusammengefügt sind. Bei festlichen Gelegenheiten wird dieser Anzug noch vervollständigt durch eine weiße sogenannte „Schnippe,“ welche vorn mit breiten Spitzen besetzt ist. Dieselbe, sehr sauber geglättet, umschließt, walzenförmig zusammengebogen, den ganzen Kopf, und ragt mehr oder weniger über die Stirn hervor.

Die Kost der Dithmarschen, meistentheils aus Schwarzbrot, Mehl und Schweine- und Ochsenfleisch bestehend, ist eben so einfach, als derb. Viel Gemüse gibt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch einen hungrigen Tisch, und kehrt der junge Wanderer aus südlicheren Ländern, und selbst aus dem Innern Deutschlands heim nach den Gestaden der Nordsee, so war in der Regel nach seinen Schilderungen zu leichte Kost die größte Plage seiner Pilgerfahrt. Der „Mehlbeutel“ (Budding), ein in ein leinenes Tuch fest zusammengepreßter und demnächst gekochter Mehlteig von sechs bis neun Zoll Durchmesser, neben welchem gekochter Schweinespeck oder Rauchfleisch gegessen wird, behauptet im Allgemeinen in der Reihe der Delikatessen den ersten Rang und darf, mit Pflaumen und Rosinen durchmischt, bei keiner Festlichkeit mangeln. Hierbei erinnern wir uns einer Anekdote aus der Zeit des deutsch-dänischen Krieges.

Einzelne Abtheilungen der deutschen Reichsarmee fanden auf [6] dem Kriegsmarsche gegen die Dänen in den Jahren 1848 und 1849 Gelegenheit, Dithmarscher Quartiere zu beziehen, wobei dieselben natürlich nicht selten mit Mehlbeutel werden bewirthet worden sein. Ein solcher war denn auch unter anderen einzelnen Quartiergenossen von der wohlwollenden Wirthin für einen Mittag verheißen worden, und mit seltsamen Illusionen mögen die jungen Fremdlinge jene genußreiche Mittagsstunde erwartet haben. Und siehe, als endlich die kolossalen Lieblinge des Dithmarscher Geschmacks zum Vorschein kamen, wurden dieselben sehr heiter mit dem kriegerischen Ausruf begrüßt: „Hurrah, Vierundachtzigpfünder!“

Von dem im Dithmarschen vorherrschenden Gemeinsinne zeugen die vielen Hülfsleistungen, welche bei mehrfachen Gelegenheiten auf allen Seiten mit größter Bereitwilligkeit übernommen werden, wie z. B. bei der Aufführung von Gebäuden und dem Transport des zu denselben erforderlichen Materials. Solche Mitwirkung wird dann in der Regel mit einem Mehlbeutel honorirt. Zum Brechen („Braaken“) und Reinigen („Schwingen“) des Flachses, dessen Bau in ausgedehntem Maße gepflegt wird, findet sehr häufig auf vorgängige Einladung eine Schaar junger Freundinnen sich ein, für die dann nach beendigter Dienstleistung mitunter wohl auch ein Tänzchen arrangirt wird. Am Tage des Flachsschwingens werden die großen Hausthüren möglichst weit geöffnet, und eine von unten bis oben auf der Hausflur aufgestellte Reihe von hölzernen Schwingstühlen bildet eine fast schnurgerade Fronte, hinter welcher die jungen Schwingerinnen auf gewöhnlichen Stühlen, welche für sie aus dem Wohnzimmer herbeigeholt worden, Platz nehmen. Jede der zu Hülfe gebetenen Freundinnen trägt des Staubes wegen eine weiße leinene Jacke. Munter geht’s an die Arbeit, und das fortwährende Klipp-Klapp der hölzernen Schwingbretter hindert die frohen Dörfnerinnen nicht am Plaudern und Schäkern und Singen. Ein vorübergehender Bursche wirft einige Aepfel oder Birnen in den geschäftigen Kreis, und wird dafür mit einer Ladung eben nicht sehr hart gemeinter Zurechtweisungen abgefertigt.

Die Mädchen necken sich gegenseitig mit ihren Liebschaften, und manche Wange wird hochroth, wenn von irgend einer Seite unvermuthet das Geheimniß des Herzens verrathen wird. Selten aber wird durch solche Scherze die Eintracht gestört, und die mit emsiger und geübter Hand geführte Arbeit wird heiteres Spiel und frohes Leben.

An manchen Orten lebt noch unverändert die Sitte fort, daß jährlich regelmäßig ein oder zwei Mal eine öffentliche Tanzbelustigung für eine ganze Ortschaft eröffnet wird, und haben alsdann der Reihe nach je zwei und zwei Einwohner derselben auf eigne Kosten für Lokalitäten und ein bestimmtes Quantum Branntwein und Bier, sowie für Musik und Erleuchtung zu sorgen. Nachdem am Tage zuvor ein Knabe, „Umbitter“, jedes Haus beehrt hat mit dem altherkömmlichen Gruße:

„N. un O. laet gröten, wo züm
alltosam nie morn besöken wulln
up’n kolen Drunk
un’n lostig’n Sprunk,
up’n Piep Toback
un’n Mund vull Schnack.
Ist’r denn nie nog, gievt nen
met de Wagenrung up de Nack.“ –

findet zu der festgesetzten Zeit in buntem Gemisch Reich und Arm und Alt und Jung zu gemeinsamer Freude sich zusammen, und erst der helle Morgen führt dann meistens die letzten der Fröhlichen vom Tanze zur Arbeit.

Ohne Eigenthümlichkeit ist auch die Bestattung der Todten nicht. Die bei der Ausführung derselben an andern Orten ausschließlich dem Todtengräber obliegenden Dienstverrichtungen, wie die Anfertigung der Gruft und das Läuten der Glocken, werden an manchen Stellen noch abwechselnd der Reihe nach von je zwei und zwei Ortseinwohnern unentgeltlich besorgt. Am ersten Vormittage nach jedem eingetretenen Sterbefalle wird etwa eine halbe Stunde geläutet – „auf dem Stroh geläutet.“ In Folge einer besonderen Einladung wohnen der Einsargung der Leiche die Verwandten, Nachbarn und die dem Trauerhause besonders befreundeten Einwohner des Ortes bei, welche man mit Bier und Branntwein zu bewirthen pflegt, wobei zugleich jedem Einzelnen ein Stück Kuchen (an Stellen eigne Pfefferkuchen) dargereicht wird. Früh am Morgen des Beerdigungstages treffen von vielen Seiten Spenden an Victualien, und namentlich an Butter, Rahm und Eiern als Beisteuer für das einzurichtende Todtenmahl ein, die selbst dann nicht ausbleiben, wenn auch die Betreffenden die Wohlhabendsten des Ortes sind. Nach der Bestattung, etwa um die Mittagszeit, kehrt die ganze Gesellschaft der Leidtragenden in das Trauerhaus zurück, wo der gedeckte und mit Mehlbeutel und gekochtem Schweinschinken reichbesetzte Tisch der Gäste harrt. Mit dem Beginn des Mahles werden gleichzeitig draußen alle augenblicklich zur Disposition stehendem Kräfte in Bewegung gesetzt, um gefüllte Schüsseln nach allen Wohnungen zu expediren, aus denen am Morgen Spenden eintrafen, wie man es daneben nicht zu versäumen pflegt, für die Heimkehr der entfernt wohnenden Verwandten einen Mehlbeutel als Mitgabe in Bereitschaft zu setzen.

Mannigfaltiger sind die bei Verlobungen und Hochzeiten vorkommenden Gebräuche und Formalitäten. Auf beiden Seiten wird gemeiniglich die Mitgift sehr in’s Auge gefaßt und wo’s irgend thunlich ist, muß zum Besitz Vermögen kommen. Für den besitzlosen Jüngling ist es daher außerordentlich schwer, unter den Wohlhabenden eine Braut zu finden, und zunächst der Vermögensverhältnisse halber wird es nicht so ganz selten vorkommen, daß der Cousin die Cousine heirathet. Sehr häufig werden die Eheversprechungen bei öffentlichen Vergnügungen abgeschlossen. Wo in Ermangelung geeigneter Gelegenheiten dies nicht hat geschehen können, da übernimmt in vielen Fällen ein Brautwerber („Freiwerber“) die Vermittlung. Nach der Entgegennahme des Antrages bestimmt die Erkorene in der Regel eine Bedenkzeit, nach deren Ablauf der Freier selbst sich einzufinden pflegt. Hat in zweifelhaften Fällen durch die mehr oder weniger ausgedehnten Berathungen eine Verständigung zwischen der betreffenden Jungfrau und deren Eltern oder Vormund nicht erzielt werden können, dann wird eine Verlängerung jener Frist erbeten. War der Heirathsantrag willkommen und ist die Maid entschlossen, das „Jawort“ zu ertheilen, dann setzt sich für den vorher bestimmten Tag die ganze Hausgenossenschaft auf einen festlichen Empfang des Freiers in Bereitschaft. Auf einem muthigen Rosse, wo dies die Verhältnisse gestatten, trifft der Erwartete ein und bei festlicher Bewirthung wird dann die Verlobung abgeschlossen. Hierauf „wechselt bei erster Gelegenheit das Brautpaar die Handtreue.“ Der Bräutigam schenkt nämlich der Auserwählten bis auf seltene Ausnahmen ein aus Silberperlen bestehendes Halsgeschmeide und ein mit Silberhaken versehenes Gesangbuch, wogegen die Braut eine silberne Uhr nebst Kette, sowie eine mit Silber beschlagene Meerschaumpfeife zu spenden pflegt. Vollständig ist dann mit dieser Förmlichkeit die Verlobung besiegelt.

Schnell ist gemeiniglich die Kunde von dem erfreulichen Ereigniß von Haus zu Haus und von Dorf zu Dorf verbreitet, und vor Allem die tanzlustige Jugend ergeht sich eifrig in Vermuthungen, ob die bevorstehende Hochzeit eine „stille“ oder „lustige“ sein werde. An Zureden fehlt’s nicht, bis endlich glücklicher Weise die Wahl auf Letztere gefallen ist. Der Freudentag naht heran und die vielfachen Vorbereitungen beginnen. Das Haus des Bräutigams ist in vielen Fällen das Hochzeitshaus und wird daher vollständig restaurirt, wie gleichzeitig fast in jeder Wohnung des Dorfes getüncht und gepinselt wird. Der Lehrer des Ortes beschafft unter Mitwirkung der geübteren Jugend die Ausfertigung der kolossalen Einladungsbriefe, in denen vor Allem die Gäste von dem Brautpaar ersucht werden, Messer, Gabel und Löffel mitzubringen. Die Vorbereitungen zum Hochzeitsmahle besorgen größtentheils die Köchinnen und in einer dem Bedürfniß des Tages entsprechenden Anzahl werden befreundete Männer oder Burschen eingeladen, als Aufwärter oder „Schaffer“ zu fungiren. Von diesen werden die Speise- und Tanzlokalitäten vollständig in Bereitschaft gesetzt und die Bier- und Branntweinfässer angezapft. Die zur Zierde des Wohnzimmers in langer Reihe auf einem Sims postirten Zinnteller, wie die an der Wand hängenden zinnernen Bierkrüge verlassen ihren Platz. Bretter über aufrecht gestellte Tonnen gelegt, dienen als Bänke. Mit dem bereits oben angeführten Gruße geht wieder der „Umbitter“ von Haus zu Haus und ladet Alles zum Tanze, was nicht schriftlich zur Theilnahme an sämmtlichen Hochzeitsfeierlichkeiten hat aufgefordert werden können.

Am Nachmittage vor der Hochzeit läßt sich der Bräutigam vor die Thür der Braut fahren, wenn nicht zufällig beide an einem Orte wohnen. Nach kurzer Bewirthung des Gastes nimmt die Braut Abschied, um an der Seite des Bräutigams das elterliche Haus zu verlassen. Zwei im Vorwege geladene Brautjungfern setzen sich, mit einem Spinnrade und „Haspel“ (Garnwinde) versehen und diese lustig drehend, auf den hinter dem Brautpaare befindlichen Stuhl und während hier und da Gewehr- und Pistolenschüsse knallen, geht die Brautfahrt rasch von dannen. Am Ziel derselben werden die Ankommenden [7] gleichfalls mit zahlreichen Schüssen begrüßt. Vor dem Hochzeitshause sind die Eltern und Geschwister des Bräutigams und die im Orte wohnenden nächsten Verwandten, sowie die Schaffer und Köchinnen zum Empfange der Braut versammelt. Diese wird zuvörderst nach Brauch und Sitte aufgefordert, die in Betreff der Aufnahme fremden gesetzlich vorgeschriebenen Legitimationsatteste zu produciren und da solche mangeln, wird ihr Anfangs der Zutritt verweigert, wie man gleichzeitig zu verhindern bemüht ist, daß das inzwischen von einem Nebenwagen genommene Brautbett in’s Haus geführt wird. Nach vielen albernen Umschweifen wird endlich der Ankommenden der Eintritt gestattet. Ein Schaffer reicht darauf mit einem Glase rothen Branntwein, den man für den Winter fast in jedem Hause präparirt, den Willkomm. Die Brautleute trinken und werfen demnächst resp. Flasche und Glas über den Kopf zur Erde. Sind dieselben nicht bereits durch den Fall zerbrochen, was man immerhin schon als eins der bedenklichsten Omina’s zu bezeichnen pflegt, so werden sie zu zahllosen Scherben zertreten. Hiermit ist der Einzug, im plattdeutschen Dialekt „Inschuv“ genannt, beendigt und sofort beginnt man, in dem Brautgemach das Paradebett der Braut aufzuschlagen und mit Blumen und Bändern zu schmücken. Ein „Mangelbret und Mangelstock“ (Zeugrolle) werden neben dem Brautbette hingehängt, wie das Spinnrad und der Haspel der Brautjungfer auf eine im Brautgemach stehende Lade postirt werden.

Am Vorabend, wie am folgenden Morgen gehen wiederum von allen Seiten, wie bei der oben erwähnten Todtenfeier, reiche Spenden an Eiern, Rahm und Butter ein. Mit dem Beginn des Hochzeitstages wird auf dem Hofraume eine für die Zubereitung des Mahles bestimmte Vorkehrung hergestellt. Aufrecht stehende Pfähle oder Stangen werden nämlich in den Boden gesenkt und oben mittelst einer Querstange verbunden. An letztere werden große kupferne Kessel mittelst Haken befestigt, und nachdem nun noch ein Feuer angeschürt worden, beginnt die improvisirte Küche ihre Thätigkeit.

Währenddeß wird im Hause die Braut mit einer goldglänzenden Krone stattlich geschmückt und mit Blumenguirlanden umwunden. Eine vorläufig mit Waldhörnern, Clarinetten und Flöten bewaffnete Musikbande nimmt neben dem Eingange des Hauses Stand, um die sehr zahlreich eintreffenden Gäste successive mit einem feierlichen Tusch zu begrüßen, wie dieselbe später das Brautpaar an die Kirche und nach der Trauung von da zurückbegleitet. Befindet sich das Hochzeitshaus in einem der Kirche mehr oder weniger entlegenen Orte des Sprengels, so wird die von zwei „Beisitzerinnen“ begleitete Braut von zwei muthigen und im sausenden Galopp dahingehenden Rappen, welche bereits seit Wochen daheim aus der Krippe eine angemessene Vorbereitung genossen, nach dem Kirchorte abgeführt, und etwa zehn bis funfzehn Minuten später folgt der Bräutigam gleichfalls in Begleitung von zwei „Beisitzern“ ihr nach. Längs des Weges harrt in gespannter Erwartung bereits eine lange Reihe von Kindern, die gekommen sind, um zu „schnüren.“ Dieselben sind nämlich bewaffnet mit langen Stöcken, welche sie beim Nahen der Wagen über die Spur werfen, wofür ihnen kleine Geldstücke entgegen fliegen. Nach der Trauung eröffnet der Bräutigam den Zug. Heimgekehrt wird Jeder der Burschen, welche während der fast gefahrvollen Brautfahrt ihre Kutschergewandtheit zur Schau stellten, mit einem stattlichen Tuche beschenkt. Zwei- bis vierhundert Personen sind bereits um die inzwischen vollständig servirten Tische versammelt, von denen unter andern die stattlichen Brautkuchen gar freundlich winken.

Alles harrt des Eintritts der Brautleute, die in der Regel der Pfarrer zu begleiten pflegt. Die Braut nimmt in der Mitte ihrer Beisitzerinnen Platz unter dem Spiegel, wo ihr zu Häupten ein Gesangbuch und ein Nadelkissen mittelst farbiger Seidenbänder befestigt worden. Gleich den Schaffern eine saubere Serviette über die Schulter werfend, theilt jetzt der Bräutigam das Geschäft der Aufwärter. Weinsuppe, Mehlbeutel mit Schinken, Rinderbraten und Kuchen machen meistens die verschiedenen Gänge des Hochzeitmahls. Das ganze Haus füllt Klang und Sang und Lust und Leben. Von den außerordentlich reichen Vorräthen des Mahles werden auch jetzt wieder, wie bei allen festlichen Gelegenheiten, angemessene Rationen nach denjenigen Häusern expedirt, aus denen am Morgen eine Beisteuer der erwähnten Art einging, wobei insonderbeit aber die Alten und Leidenden nicht zu vergessen sind und auch Alles, was daheim geblieben, mitspeist. Nachdem am Schlusse durch einige in Circulation gesetzte Teller die Köchinnen ein Douceur sich erbeten, wird die Tafel aufgehoben. Nach und nach finden sich jetzt auch die jungen Tänzer des Dorfes ein und es eröffnen nunmehr die Schaffer und Köchinnen den Reigen. Alles hüpft und springt und singt beim Klange des mitunter freilich etwas hausbackenen Orchesters fröhlich durcheinander und Jedermann scheint eingedenk zu sein, daß nicht alle Tage Hochzeit sei. Zur Mitternachtszeit werden die Brautleute, wie die fremden Gäste hierhin und dorthin zum Kaffee und Abendbrot geladen. Am Schluß der Hochzeitsfeier folgt der Brauttanz, an dem außer dem Brautpaar die Beisitzer und Beisitzerinnen Theil nehmen. Alle Schaffer und Schafferinnen stehen währenddeß im Kreise und halten zwischen zwei und zwei Fingern ein brennendes Licht, also in jeder Hand vier Lichter. Nachdem eine Weile getanzt ist, verliert sich plötzlich forttanzend das Brautpaar in eine neben dem Tanzlokale befindliche Kammer, wird jedoch von allen Anwesenden verfolgt und hervorgezogen, worauf Alles die Braut umringt und unter Musikbekleidung sie ihres Brautschmuckes entledigt, womit die Feier beendigt ist. Nachdem die erfreuten Gäste ihre zum Theil recht werthvollen Gaben gespendet, scheiden dieselben nun mit den herzinnigsten Wünschen für das ganze Lebensglück der Gefeierten.

C. W.


Die Schmarotzer des Menschen.
Der Bandwurm.

Nach dem Tode nicht nur wird unser Körper zur Wohnung und Nahrung von Thieren und Pflanzen, auch schon bei unsern Lebzeiten schmarotzen derartige Geschöpfe auf und in unserm Körper herum. Diese Schmarotzerei macht uns manchmal so große Plage, daß man die Zweckmäßigkeit derselben kaum einzusehen vermag. Von einigen thierischen Schmarotzern, welche auf uns herumkriechen und hüpfen, wie Läuse, Flöhe, Wanzen, Milben, meint Schultz von Schultzenstein, daß dieselben dazu geschaffen, damit sie, wenn der faule Mensch in Schmutz versinkt, diesen durch Jucken zum Kratzen und so zur Mauserung seiner Haut zwingen. Einer meiner Freunde hätschelt seinen Bandwurm deshalb als Mitesser, damit er (nämlich mein Freund) nicht zu dick wird und die Taille verliert. Manche ungebildete Völker, wie die Buschmänner, die Neger und Hottentotten, die Indianer am Missouri und am La-Plata, die Bewohner Neuseelands und der Fuchsinseln, mästen ihr schmarotzendes Ungeziefer, um es als Delikatesse zu verspeisen. Vielleicht haben aber alle Schmarotzer nur den Zweck, zu verhindern, daß es dem Menschen nicht zu wohl werde.

Die Schmarotzer oder Parasiten sind selbstständige, lebende Wesen, welche von eigenen thierischen oder pflanzlichen Eltern abstammen und in oder an einem andern lebenden, menschlichen, thierischen oder vegetabilischen Wesen nicht nur ihren Wohnsitz nehmen, sondern aus demselben auch ihre Nahrung ziehen, um sich entwickeln, gedeihen und fortpflanzen zu können. – Die Parasiten des Menschen stammen also entweder aus dem Thier- oder aus dem Pflanzenreiche; die thierischen Schmarotzer, welche sich’s im Innern des menschlichen Körpers (vorzugsweise im Darmkanale) wohl gehen lassen, nennt man Entozoen, die an der Oberfläche desselben residirenden heißen Epizoen; die pflanzlichen Parasiten sind entweder Entophyten und wachsen dann innerhalb unseres Körpers, oder sie werden Epiphyten genannt, wenn sie am Aeußern des Körpers wuchern. Eine Uebersicht dieser Parasiten folgt im nächsten Aufsatze, vorläufig betrachten wir

den Bandwurm.

Der Bandwurm, welcher den Dünndarm des Menschen bewohnt und dem Einen gar keine, einem Andern nur wenige und einem Dritten zeitweilig sehr große, niemals aber gefährliche Beschwerden macht, stellt einen bandförmig breitgedrückten weißen weichen Strang dar, der aus einem sogenannten Kopfe, der an dem [8] zwirnfadenähnlichen Halse wie ein kleiner Stecknadelkopf erscheint, und aus einer unbestimmten Anzahl einzelner abgeschnürter Glieder besteht. Da jedes dieser Glieder (Proglottiden) ein vollständiges Thier ist, so muß der Bandwurm als eine Wurmkette oder Kolonie bezeichnet werden. Diese Kolonie nimmt ihren Ursprung vom Kopfe aus, denn dieser ist das Mutterthier (Scolex), und vergrößert sich durch Nachwachsen von Gliedern von oben her. Die Glieder und zwar die am untern Ende der Wurmkette, gehen, sobald sie reif (trächtig, mit Eiern gefüllt) sind, von Zeit zu Zeit von selbst mit dem Stuhle ab. Das Mutterthier oder der Kopf entwickelt sich aus einem Bandwurmeie eines Gliedes, jedoch nicht sogleich als Bandwurm und auch nicht gleich im Darmkanale, sondern erst als geschlechtsloser Blasenwurm (Finne, Bandwurmlarve) und erst im Fleische eines fremden Thieres (besonders des Schweines). Gelangt dann dieser Blasenwurm in den Darmkanal, dann erst verwandelt er sich unter Abstoßung der Blase und Abschnürungen des Halses aus einem Finnenwurme in einen Bandwurm, dessen Kopf also der des Finnenwurmes ist und nun zum Mutterthiere wird.

Bandwurm.

Beim Menschen hat man bis jetzt drei Bandwurmarten gefunden, nämlich:

1) den Ketten- oder Kürbiswurm, den schmalen oder langgliedrigen Bandwurm (Taenia solium), welcher in Deutschland, England und Holland zu Hause ist und oft 30 bis 50 Fuß lang wird. Der auf einem dünnen, schmalgeringelten, etwa 6 Linien langen Halse sitzende Kopf, welcher die Größe eines Stecknadelkopfes hat, gegen 1 Linie lang und häufig schwarzbraun gefärbt ist, zeigt bei diesem Bandwurme 4 scheibenförmige Saugmündungen oder Saugnäpfe (Ventousen), die sich nach innen zu einstülpen und so zum Saugen dienen können, sodann einen doppelten Kranz von 22 bis 28 Haken, die in den von schwarzen Körnchen umgebenen bechergläserähnlichen Hakentaschen stecken. Dieser Hakenkranz, – dem oft (im höheren Alter des Thieres?) Haken entfallen, so daß die Taschen leer gefunden werden, – dient wahrscheinlich zur Befestigung des Wurmes an die Darmwand. Kopf und Hals des Thieres enthalten kleine Kalkkörnchen. Der Körper des Kettenwurmes beginnt hinter dem Halse sich zu gliedern, jedoch so, daß die Glieder, welche ihre größte Länge von vorn nach hinten haben, anfangs fein sind und nur allmälig breiter (von 1/12‴ bis zu 7 Linien breit) werden. Erst vom 280sten Gliede etwa an werden am Rande des Gliedes Spuren von Geschlechtstheilen, und zwar in jedem einzelnen Gliede ebenso von männlichen, wie von weiblichen Genitalien, wahrnehmbar (denn der Bandwurm ist ein Zwitterthier); aber erst vom 600sten Gliede an enthalten die Glieder Eier, aus denen aber, wie früher schon erwähnt wurde, wenn sie reif und sammt dem Gliede entleert wurden, nicht gleich Bandwürmer, sondern Finnenwürmer auskriechen. Natürlich mußten die Bandwurmeier vorher aus ihrer Lagerstätte im Bandwurmgliede befreit, von einem Thiere aufgenommen und in dessen Fleisch gelangt sein, ehe sich aus ihnen Finnenwürmer entwickeln konnten. Das Thier, in dessen Fleische dies am häufigsten geschieht, ist das Schwein, weshalb auch der Bandwurm, der sich ja aus dem Finnenwurme, sobald dieser in den Darmkanal gelangt, erzeugt, vorzugsweise beim Genusse von Schweinefleisch (Wurst) und da wo die Schweinezucht blüht auftritt, während derselbe bei strenggläubigen Juden und Muhamedanern äußerst selten gefunden wird.

2) Der breite Bandwurm (Taenia lata), – welcher weit weniger Beschwerden als der vorige macht und in der Schweiz, in Frankreich, Polen, Rußland und Schweden zu Hause ist, dagegen in Deutschland höchst selten und nur eingeschleppt vorkommt, – unterscheidet sich vom vorigen und folgenden Bandwurme dadurch, daß seine reifen, mehr viereckigen Glieder ihre größte Länge von einer Seite zur andern (in der Breite) haben, daß der Kopf ohne Bewaffnung, blos mit zwei seitlichen Gruben versehen ist, und daß die Genitalien nicht am Rande, sondern in der Mitte jedes Gliedes ihre Lage haben.

3) Der Kanalwurm (Taenia mediocanellata), welcher der beschwerlichste und hartnäckigste der Bandwürmer und weit breiter und feister als die beiden vorigen ist, läßt sich durch einen in der Mitte der Glieder der Länge nach verlaufenden Mittelkanal erkennen. Sein großer Kopf hat 4 schwarze Saugnäpfe, aber keinen Hakenkranz; er wird in Europa und Afrika gefunden.

Saugnäpfe und Hakenkranz.

Finnenwurm.

Hakenkranz.

Glied mit Eilager.


Ob Jemand den Bandwurm in seinem Darme mit sich herumträgt, kann er nur dann erst mit Sicherheit wissen, wenn Theile dieses Wurmes wirklich abgehen, denn alle sogen. Wurmzufälle, in Verdauungs-, Ernährungs- und Nervenstörungen bestehend, sind ganz unsichere Erscheinungen. Der Verdacht des Vorhandenseins eines Bandwurmes läßt sich allenfalls dann fassen, wenn öfters beim Fasten oder nach dem Genusse von Dingen, die dem Wurme zuwider sind (wie: Zwiebeln, Knoblauch, Meerrettig, Senf, Möhren, Sauerkraut, Spargel, Rettig, saure Gurken, Obst, Sardellen und Hering u. s. w.) Empfindungen im Unterleibe von Kriechen, Winden, Wogen oder Saugen entstehen, und dieselben durch Milch, Butterbrot und überhaupt nahrhafte Speisen auffallend rasch beseitigt werden. – Daß man diesen Schmarotzer ganz los ist, läßt sich [9] immer nur erst durch Auffindung des Bandwurmkopfes bestimmen.

Das beste Mittel, um zu probiren, ob ein Wurm vorhanden sei, ist die Kousso, ein uraltes Volksmittel in Ostafrika, welches ziemlich sicher und ohne Beschwerden einzelne Glieder und Stücke desselben, desto seltener aber den Kopf abtreibt. Um sich vor dem Bandwurme zu hüten, vermeide man die Schweinefinne (im rohen und halbrohen Schweinefleische, in Würsten); um sich von demselben zu befreien, ziehe man einen Arzt zu Rathe, der zu erwägen versteht, welche Abtreibungs-Methode im vorliegenden Falle zu wählen ist und wie viel der Patient vertragen kann; denn alle Fälle über einen Leisten zu behandeln ist hier eben so unstatthaft, wie bei andern Uebeln. Zum Abtreiben des Wurmes wählt man am besten eine Zeit, wo ohnedies Wurmstücke abgegangen sind, das Thier also voraussichtlich in der Mauser und tiefer unten im Darmkanale befindlich ist. Die Kur muß stets rasch, kräftig und consequent durchgeführt werden, ehe der Wurm Zeit findet, sich zu erholen und wieder anzusaugen. Als Vorkur, um den Bandwurm schwach zu machen, dient am besten sehr schmale Kost und reichliches Trinken heißen Wassers. Von den wurmwidrigen Mitteln verdient die Granatwurzelrinde in Gemeinschaft mit Farrnkrautwurzel das meiste Vertrauen. Sobald der Wurm keine besonderen Beschwerden verursacht und die Ernährung nicht beeinträchtigt, ist es am besten, unter Anordnung einer zweckmäßigen Diät, seine Entfernung der Zeit zu überlassen. Und was thut denn nun der Homöopath beim Bandwurme? Er gesteht die Wirkungslosigkeit seiner Arzneien ganz ruhig ein und sagt: das Abtreiben des Wurmes ist mit homöopathischen Mitteln mit Sicherheit nicht (!?! d. h. gar nicht) zu erzielen. – Schließlich richten wir an die Aerzte und Bandwurmbesitzer noch den Wunsch, dem armen Wurme nicht alle die Leiden sofort in die Schuhe zu schieben, welche bei einem Wurmkranken zu Tage treten, aber den heimtückischen Schmarotzer auch nicht gar zu gering zu achten.
Bock.




Erinnerungen von der deutschen Flotte.
I.

Die schönste Zeit in jedes Menschen Leben ist die Zeit seiner ersten Liebe; „das Auge sieht den Himmel offen; es schwelgt das Herz in Seligkeit.“ Ihr Zauber wird auch niemals ganz gebrochen; selbst das lang erkaltete Herz des Bejahrten vermag sie neu zu erwärmen, so daß er mit jugendlicher Begeisterung von der einst so heiß Geliebten spricht. Jawohl, auch

„Erinnerung der Liebe
Ist wie die Liebe Glück.“

Und nicht blos einzelne Menschen, sondern ganze Völker haben solche glückselige Liebeszeit. War nicht eine solche Deutschland’s schwärmerisches Entzücken über seine junge Flotte? Wer zählt all’ die rosenfarbenen Pläne, die es in seinem Jubel ersann? Und wie tief war sein Schmerz, wie grimmig sein Zorn, als man ihm sagte, sie dürfe nicht die seine werden, es sei zu viel an ihr auszusetzen, es könne sie nicht standesmäßig erhalten, und wie die Redensarten weiter lauten, mit denen Väter und Vormünder kaltherzig ein Liebesband zerreißen. Trauernd sah dann Deutschland die Geliebte sich entreißen, mit Thränen endlich gar sie begraben, aber vergessen wird es sie nie, vielmehr immerdar, was ihm auch noch beschieden sein mag, mit Begeisterung reden und erzählen von der Theuern, die es einst sein zu nennen hoffte, und in innigster Sehnsucht mit seinem Dichter seufzen:

„Ach, daß sie ewig grünen bliebe
Die schöne Zeit der jungen Liebe!“

Um ihretwillen werden auch meine schlichten Mittheilungen freundliche Theilnahme finden.

Fünf Schiffe waren es bekanntlich, welche die Grundlage der deutschen Flotte bilden sollten: zwei Segelschiffe, „Deutschland“ und „Franklin,“ dann die drei Dampfer „Hamburg,“ „Bremen“ und „Lübeck.“ Sie standen nicht mehr in der ersten Jugend und waren von Hamburger reichen Kaufleuten hergegeben, d. h. verkauft worden, um zu Kriegsschiffen umgebaut zu werden.

Stolz hatte ich zum ersten Male meine deutsche Seekadetten-Uniform angelegt. Ich steckte einen Empfehlungsbrief an den ersten Lieutenant der „Fregatte Deutschland“ in die Tasche; mit starkem Herzklopfen stieg ich die Fallreepstreppe hinauf und oben fragte ich einen Matrosen, ob der Lieutenant an Bord sei. Der Mann sah mit einem Blicke an, aus welchem ich erkannte, er wisse nicht, was er aus mir machen solle, zeigte dann aber auf zwei Offiziere, welche auf dem Hinterdecke hin- und hergingen und – auf dem deutschen Schiffe! – Englisch miteinander redeten. Der Eine war lang und hager, mochte in der Mitte der vierziger Jahre stehen, und gab sich auf den ersten Blick als Engländer zu erkennen. Der Andere zählte etwa dreißig Jahre, hatte ein sonnengebräuntes Gesicht, in dem jeder Zug von Entschlossenheit und Festigkeit sprach und ließ in jeder seiner Bewegungen den Seemann errathen. Dieser Letztere war der Weisung des Matrosen nach der von mir gesuchte Lieutenant Reinert; ich trat deshalb auf ihn zu und überreichte ihm meinen „Empfehlungsbrief.“

„Ah,“ redete mich der Lieutenant an, ehe er noch den Brief erbrochen und gelesen hatte, „ich weiß, Sie sind –. Sprechen Sie Englisch?“

Als ich dies bejahet hatte, fuhr er fort: „So werde ich Sie gleich dem Herrn da, Ihrem Kapitain, vorstellen.“

Dies geschah; der Herr Kapitain ermahnte mich in einigen recht freundlichen Worten, stets pünktlich und gewissenhaft im Dienste zu sein, und entließ mich. Da stand ich, mir selbst und meinen eigenen Betrachtungen überlassen. Von den zehn Seekadetten, welche die deutsche Flotte im Anfange, im Jahre 1848, zählte, kannte ich noch keinen einzigen. Die Offiziere waren damals fast ausschließlich ehemalige Kauffahrer-Kapitaine, die vom Seekriegsdienste so viel, d. h. so wenig verstanden als ich. Erst später traten Marineoffiziere aus Belgien ein und die eigentliche Diensteinrichtung erfolgte nach der Ankunft unseres „ersten deutschen“ Admirals.

Die Schiffe, denen sich unterdeß das auf Kosten der Bürger der Vorstadt St. Pauli erbaute Kanonenboot beigesellt hatte, lagen unthätig an ihrem Platze in Hamburg bis zum Herbst. Da verbreitete sich die Nachricht, es sei von Frankfurt eine Commission angekommen, welche die Schiffe besichtigen und übernehmen werde. Ich ward eines Morgens mit einem Boote an das Land geschickt, die Herren abzuholen. Es waren zwei Offiziere, ein österreichischer und ein preußischer, denen sich die Herren des Hamburger Committé anschlossen, weil sie doch sobald als möglich erfahren wollten, wie sich „das Geschäft“ machen werde. Bei der nun folgenden Untersuchung, die, so viel ich beurtheilen konnte, eine ganz gründliche war, da man ja in jedem Schiffe mehrere Balken anbohrte, um sich von dem Zustande des Holzes zu überzeugen, wurde nur die Corvette „Franklin“ als untauglich zurückgewiesen. Wenige Tage darauf erfolgte eine Feierlichkeit, welche einen so freudigen Enthusiasmus erregte, wie ich ihn in meinem Leben wahrscheinlich nie wieder empfinde und nie wieder empfinden sehe. Daß die Hoffnungen, die damals so frisch und viel versprechend entstanden, so schnell und so vollständig gebrochen wurden, frißt wohl Niemandem in Deutschland so schmerzlich am Leben, als einem jungen deutschen Seemanne!

Unsere Schiffe hatten bis dahin die Hamburger Flagge geführt; jetzt sollte auf den deutschen Reichskriegsschiffen die deutsche Flagge aufgehißt werden. Eine übersehbare Menge von fröhlich und freudig erregten Menschen drängte sich in zahllosen Booten in der Nähe der Schiffe, um zum ersten Male die deutschen Farben auf deutschen Kriegsschiffen frei und stolz sich entfalten zu sehen. Die Offiziere und Mannschaften waren vollzählig und in voller Parade; die Kanonen standen bereit, das ersehnte Schwarz Roth Gold mit ihrer Donnerstimme zu begrüßen. Es war gegen Mittag als die Boote mit den Herren der Commission und des Committé erschienen. Alle unsere Offiziere begaben sich an Bord der „Deutschland,“ um da dem deutschen Reiche den Eid der Treue zu schwören. Es geschah dies unter so lautem und so rührendem Jubel, daß mir heute noch, wenn ich dieses Tages gedenke, die Thränen in die Augen treten. Dann kehrten die Offiziere auf ihre Schiffe zurück. Auf ein gegebenes Zeichen wurde gleich darauf auf allen Schiffen gleichzeitig die Hamburger Flagge gestrichen und gleichzeitig auf allen Schiffen entfaltete sich an den Gaffeln und Toppen der Masten unter dem Donner sämmtlicher Kanonen zum [10] ersten Male das schwarzrothgoldene Banner. Mit wie lauter Stimme aber auch der eherne Mund der Geschütze die Kunde hinausschrie in die Welt: „es gibt nun ein Deutschland! das deutsche Volk hat ein Vaterland! Es ist gerüstet und bewehrt zu Land und zu Meer!“ – noch lauter klang der jubelnde Hurrahruf, der von der versammelten Menge in den Böten aufstieg und von neuem und immer von neuem sich wiederholte. Daß an diesem Tage vielen Tausenden von Weinflaschen der Hals gebrochen wurde, daß man Toaste über Toaste auf das Blühen und Gedeihen der deutschen Flotte, ja sogar auf die erste deutsche Seeschlacht sprach, brauche ich als selbstverständlich gar nicht zu erwähnen.

Ich meiner Seits hatte meinen Lieutenant trotz seiner barschen Rauhheit lieb gewonnen, denn ich wußte schon, daß er das Herz nicht nur auf dem rechten Flecke hatte, sondern daß es auch ein gar liebes freundliches Herz war. Als er zum Kapitain der „Hamburg“ ernannt wurde, bat ich ihn, mich mit dahin zu nehmen.

Er freute sich offenbar dieser meiner Anhänglichkeit und mein Wunsch wurde mir erfüllt. Die „Hamburg“ war ein Dampfer von 180 Pferdekraft, bewaffnet mit einem 56pfündigen Geschütze vorn und einem 32pfündigen hinten, beide auf Drehschlitten, wie sie auf Dampfern gebräuchlich sind, damit ihr Feuer nach allen Seiten gerichtet werden kann, außerdem mit zwei 32pfündigen Karonaden am Back- und Steuerbord. Außer dem Kapitain hatte der Dampfer nur noch zwei Hülfsoffiziere, beide früher Steuerleute auf Kauffahrern, aber aus guter Familie stammend und deshalb nicht so roh und ungebildet wie viele ihrer Kameraden. Sie nahmen mich auf’s Freundlichste in ihren Kreis auf. Wir verbrachten den ganzen Winter in „süßem Nichtsthun,“ das mir aber nichts weniger als süß vorkam, da ich hinaus in See wollte. Im Frühjahr endlich erhielten wir und die „Lübeck“ den Befehl, nach B. zu fahren, um uns mit den aus England erwarteten Dampfern „Barbarossa“ und „Erzherzog Johann“ zu vereinigen. Die Fahrt ging auch glücklich von statten, ohne daß die dänischen Fregatten uns bemerkten, welche die Elbe und die Weser blockirten. Ueberhaupt begann es auf den Schiffen lebendiger zu werden. Der Großherzog von Oldenburg stattete der jungen Flotte einen Besuch ab und er schien große Freude an ihr zu haben. Wir, d. h. die Hamburg, sollten, hieß es, mit der Barbarossa und der Lübeck in See gehen. Ich bekam Cameraden in zwei neuen Seejunkern; auch zwei Schiffsfähndriche erschienen und so wurde der Stab der Hamburg vollständig. Die Mannschaft ebenfalls war ergänzt und mit großem Eifer wurde an den Kanonen exerzirt. Dabei wurde die Uebung mit dem kleinen Feuergewehr und den Handwaffen nichts weniger als vernachlässiget, denn unser Kapitain wollte Ehre mit seinem Schiffe einlegen, er erwartete bald eine Gelegenheit sich zu zeigen und war deshalb von früh bis zum Abend unermüdlich mit dem Einüben seiner Mannschaft beschäftiget. „Wenn nur die Barbarossa käme!“ hieß es täglich wohl zwanzig Mal, denn wir alle sehnten uns sehr, uns mit den Dänen zu messen.

Am Morgen des 4. Juni endlich kam die mit so großer Sehnsucht und Ungeduld erwartete „Barbarossa“ an. Sobald der Rauch ihres Schlotes in der Ferne sichtbar war, wurde auch auf der „Hamburg“ und der „Lübeck“ geheizt. Als sie herangekommen, ging der Admiral an Bord; gleich darauf signalisirte sie: „folgt meinen Bewegungen!“ und alle drei Schiffe dampften der Mündung der Weser zu. Sie sollten und wollten sich mit den dänischen Kriegsschiffen messen, denn sie waren die einzigen, die zur Verfügung standen. Die Dampffregatte „Hansa“ von 800 Pferdekraft, die man in New-York gekauft, hatte auf ihrer Fahrt von dort her Schaden gelitten und lag in Liverpool in Reparatur. Die zweite Dampffregatte „Erzherzog Johann“ war auf der Fahrt von England herüber auf den Sand gerathen, hatte am Rumpfe wie an den Maschinen stark gelitten und lag im Dock; die „Bremen“ hatte ihre Maschine noch nicht, drei andere in England bestellte Dampfcorvetten waren noch nicht fertig. Von Segelschiffen besaßen wir nur die „Deutschland“ und diese wurde zu einem Schulschiffe für Seejunker eingerichtet. Nur die erwähnten drei Dampfer blieben zum Kampfe übrig. Zwar brannte die Mannschaft auf denselben vor Begierde mit den Feinden anzubinden und eine erste deutsche Seeschlacht zu schlagen, aber wir konnten uns kaum mit der Hoffnung schmeicheln, die Dänen aus der Nordsee zu vertreiben, die drei Fregatten, eine Corvette und den Dampfer „Geiser“ von der Größe der „Barbarossa“ hatten. Hätte damals schon der Admiral alle Schiffe beisammen gehabt, es würde vieles anders gekommen, Deutschland viel Leid und Schmach erspart worden sein. Es war das herrlichste Wetter und die See glatt wie ein Spiegel als die drei deutschen Schiffe die Weser verließen und nach Helgoland zu steuerten. Gegen elf Uhr Mittags bekamen wir in der Nähe dieser Insel einen Dreimaster in Sicht, in welchem die dänische Corvette „Walkyre“ erkannt wurde. Die „Barbarossa“ hißte das Signal: „fertig zum Gefecht!“ in die Höhe und alsbald wirbelten auf allen drei Dampfern die Trommeln, die Mannschaft an die Posten zu rufen.

Am Bord der „Hamburg“ war alles in freudiger Bewegung. Die Waffen lagen auf dem Verdeck bei den Geschützen vertheilt; die Mannschaft stand des Kommando’s gewärtig an den Kanonen und die Spritzen waren fertig zum Gebrauch für den Nothfall. Unser Kapitain konnte den Augenblick kaum erwarten, in dem er nahe genug sein würde, den ersten scharfen Schuß von einem deutschen Schiffe gegen Deutschlands Feinde thun zu können. Endlich gab er den Befehl: „Feuer!“ Der erste Schuß aus dem Sechsundfünfzigpfünder der „Hamburg“ donnerte und die Kugel schlug dicht hinter dem Heck der „Walkyre“ in’s Wasser, das hochaufspritzte und die Besahn derselben naß machte. Wir begleiteten den Schuß mit lautem Jubel. Die Leute waren so aufgeregt, obgleich sie außer ihrer gewöhnlichen Ration nichts getrunken, daß sie gar nicht mehr aufhören wollten Hurrah zu schreien. Sicherlich ist, so lange es Kämpfe auf dem Wasser gegeben hat, nie und nirgends die Mannschaft mit so großem und so wahrem Enthusiasmus zu einem Seegefecht gegen den Feind gegangen, als an jenem Tage die Mannschaft der drei deutschen Dampfer.

„Schießt gut, Leute!“ rief der Kapitain. „Schießt gut! So wie nur ein Mast über Bord geht, laufen wir an und entern.“

Welcher neue Hurrahjubel folgte seinen Worten!

Das Feuern mochte etwa eine halbe Stunde gedauert haben und das dänische Schiff hatte mehrere Kugeln von uns bekommen als eine leichte Brise aufsprang, die immer mehr auffrischte. In der Ferne begannen sich die drei dänischen Fregatten nebst dem Dampfer in Schlachtlinie zu zeigen und sie näherten sich uns rasch.

Kamen sie heran, so wurde uns der Feind weit überlegen. Die „Barbarossa“ hißte deshalb das Signal zum Rückzuge auf. Ich war Signalkadet, meldete kleinlaut unserem Kapitain, was uns befohlen sei und fragte, welche Antwort ich signalisiren solle.

„Lassen Sie das Signal: „nicht verstanden!“ hissen,“ antwortete mir der treffliche Mann. „Wir haben noch Zeit genug zum Umkehren, wenn wir denn doch umkehren müssen.“

Ich that wie mir befohlen war, und signalisirte: „nicht verstanden!“ Dabei wurde flott weiter gefeuert. Die „Barbarossa“ hißte nach einiger Zeit zum zweiten Male das Rückzugssignal auf und pflichtschuldigst mußte ich’s abermals melden. Dieses Mal antwortete der Kapitain gar nicht, er schüttelte nur stumm mit dem Kopfe und schnell signalisirte ich wiederum, „nicht verstanden!“ – Und zum dritten Male wiederholte die „Barbarossa“ den Befehl zur Umkehr und zum dritten Male antwortete die „Hamburg“: „nicht verstanden.“ Da endlich lief die „Barbarossa“ der „Hamburg“ längs Seite, und der Admiral wiederholte uns nun den Befehl zum Rückzug durch das Sprachrohr. Jetzt blieb unserm kampflustigen Kapitain nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er strich sich mit dem Rücken der Hand über die Augen, um ein paar Zornesthränen abzuwischen; dann verließ er seinen Standort und begab sich in seine Kajüte, aus welcher er nicht wieder zum Vorschein kam, bis die Schiffe sich der Elbemündung näherten, wo er selbst das Kommando wieder übernehmen mußte.

Unsere Schiffe hatten in dem kurzen Kampfe nicht den mindesten Schaden gelitten, da die Kugeln der „Walkyre“ theils vor, theils an der Seite von uns in das Wasser geschlagen waren. Zuletzt warf der „Geiser“ noch einige Bomben gegen die „Hamburg“, welche noch am weitesten zurück war, aber auch diese platzten entweder in der Luft oder schlugen in das Wasser ein.

Die Brise hatte unterdeß bedeutend aufgefrischt, und es war für uns die höchste Zeit zum Rückzüge gewesen, wenn man die Schiffe nicht in die Gewalt der Dänen wollte fallen lassen. Dies mußte der Admiral, auf dem so große Verantwortlichkeit ruhete, vor Allem vermeiden, und darum hatte er, wenn auch mit großem Widerstreben, den Befehl zur Umkehr geben müssen. Der Weg nach der Weser blieb uns so schon abgeschnitten, und wir sahen uns genöthigt, Abends auf der Rhede von Cuxhafen vor Anker zu gehen. Vierzehn Tage mußten wir da liegen bleiben, ehe wir [11] es wagen durften, unsere Rückfahrt nach der Wesermündung auszuführen. Einige Mal, während wir da lagen, zeigte sich in der Ferne der „Geiser“ und jedesmal, wenn er erschien, lichteten unsere Schiffe sofort die Anker, um ihn zu verfolgen; er kehrte jedoch jedesmal, wenn er uns bemerkte, um und steuerte nach Helgoland zu. Von den dänischen Fregatten sahen wir nie wieder eine Spur. Bis zum Herbst blieben wir so unthätig liegen; dann trat der Waffenstillstand ein. Unterdeß war die „Hansa“ aus England angekommen und die „Bremen“ fertig geworden. Unser Kapitain wurde nach England gesandt, um eine der Dampfkorvetten, den „königlichen Ernst August“ abzuholen, deren Kommando er übernehmen sollte.

Ich trennte mich mit wahrem Schmerze von ihm, und wurde auf die „Hansa“ versetzt, die unter dem Lieutenant-Kommandant P. stand, welcher früher in der belgischen Marine gedient, und nun in der deutschen Dienst genommen hatte. Die „Hansa“ war ein gar schönes, ganz neues Schiff, das einige Fahrten zwischen New-York und England gemacht hatte und nun für die deutsche Marine zu einem Kriegsschiffe umgebaut worden war. Für ihre sehr bedeutende Größe hatte sie eine verhältnißmäßig nur schwache Bewaffnung, nämlich drei 136pfündige und acht 68pfündige Bombenkanonen. Außerdem war an ihr sehr zu tadeln, daß man das Verdeck nicht übersehen konnte, da man in der Mitte Alles verbaut hatte, um die sehr hohe Maschine zu decken.

Auf diesem Schiffe blieb ich bis zum Anfange des Jahres 1850, zu welcher Zeit ich auf das Schulschiff der Seejunker, die Fregatte „Deutschland“, geschickt wurde, die unter dem Lieutenant-Kommandant T., einem Belgier, stand. Was ich dort sah, lernte und erlebte, was ich gezwungen mit ansehen mußte bis zum traurigen Ende der deutschen Flotte – das Alles erzähle ich den Lesern in den spätern Artikeln.




Die Gemsjagd.
Von Fr. Gerstäcker.[1]

Die Gemsjagd! – welchen eigenen Zauber das Wort allein schon auf mich ausübt! Kaum nehme ich die Feder in die Hand, und lasse die Erinnerung zurückschweifen zu jenem wilden fröhlichen Leben, so tauchen auch schon die grimmen Berge in all’ ihrer Pracht und Herrlichkeit empor. Wieder sehe ich jene schroffen Kuppen und Joche, jene Schluchten und Wände hoch über mir emporragen – unter mir in schwindelnder Tiefe liegen – wieder höre ich in weiter Ferne das Donnern der Lawinen, das Prasseln der aufgescheuchten Gemsen auf dem lockeren Geröll der Reißen, und wie mit einem jähen Schlag steht plötzlich jene wunderbare Welt in ihrer ganzen Pracht und Größe bewältigend um mich her.

Das Herz fängt mir an zu schlagen, als ob ich noch einmal da draußen, halb in einen Laatschenbusch hineingeklemmt, auf überhängender, vorspringender Felsenspitze klebte, und kaum athmend, mit der gespannten Büchse in der Hand, in ängstlicher, fast peinlicher Lust, die Sinne zum Zerspringen angestrafft, des flüchtigen Wildes harrte – und Alles wird lebendig um mich her:

In den gelblich schimmernden Lärchentannen, die tief unter mir ihre halbtrockenen Spitzen heraufstrecken, rauscht und murmelt der Wind, schüttelt und schaukelt die elastischen zähen Zweige der Krummholzkiefer und fegt den Staub aus den trockenen Ritzen und Spalten der weiten Klamm, die sich neben mir, mit ihren gähnenden Schluchten und Spalten, tief in den Berg hineingefressen hat. Dort drüben balgt sich ein Schwarm schreiender munterer Alpendohlen, und still darüber hin, in stummer gewaltiger Majestät, zieht ein einzelner Jochgeier seine luftige Bahn.

O komm! – fort, fort aus dem flachen Land. – Dort hinten ragen schon die starren, lichtübergossenen Joche aus dem duft’gen Nebel auf, der wie ein Schleier auf den Bergen liegt; neben uns rauscht und funkelt die blaue Isar, und trägt den flüssigen, wie mit leuchtendem Silber übergossenen Bergkrystall zum niederen Land hinab. Die kleinen zierlichen reinlichen Häuser mit ihren steinbeschwerten Dächern, hölzernen Veranda’s, bunten Heiligenbildern und Außenwerken von gespaltenen Winterscheiten werden häufiger, freundlich grüßende Gesichter mit spitzen, federgeschmückten Hüten darüber, das unvermeidliche „Regendach“ unter dem Arme, begegnen uns, und jetzt rasselt der Wagen über das Pflaster des Bergstädtchens Tölz die lange Straße hinab, die wie eine Bildergallerie an beiden Seiten alle möglichen „Schildereien“ aus der biblischen Geschichte und christlichen Sage zeigt. – Den Hang nieder geht’s durch eine plankenbelegte mit blauen Hemmschuhspuren gestreifte Gasse über die Isar hinüber, die hier ärgerlich schäumt, weil sie da urplötzlich in ein Wehr gedrängt und Mühlen treiben soll, das freie Kind der Berge und jetzt – o wie uns das Herz da weit wird und die Brust noch einmal so leicht in der reinen Luft zu athmen scheint, strecken die alten lieben Berge die Arme aus, uns zu begrüßen, und enger, tiefer wird das Thal mit jeder Meile, grüner der Fluß, an dem wir aufwärts ziehen, reiner der Himmel, schmäler der Weg, dem der leichte Wagen folgt. Schon nickt die Krummholzkiefer, der Laatschenbusch, wie sie der Tyroler nennt, uns von den nächsten Hängen ein freundliches Willkommen zu und läutende, trefflich genährte Heerden – die Lieblingsthiere mit riesigen Glocken um den Hals – Schafheerden der Bergamasker Raçe mit herunterhängenden Ohren – und Hirten, schwer mit allerlei Alpengeräth bepackt, begegnen uns in der Straße. Es ist Oktober, und Hirten wie Heerden weichen dem nächst zu erwartenden Schneefall aus, der die höchsten Kuppen des Gebirges schon dann und wann einmal auf ein paar Tage mit seinem weißen Mantel überwirft, – nur als ob er sehen wollte, ob ihnen die alten Kleider vom vorigen Jahre noch passen – und sie sitzen wie angegossen.

Es ist Herbst, und die Hirten „drin im Gebirg“ haben selbst die letzten „Unterleger“ verlassen, ihre Thalwohnungen aufzusuchen und ihre Heerden vor Lawinensturz und Wintersturm in Sicherheit zu bringen.

In den Bergen wird’s jetzt leer, da Vieh und Heerden thalab gezogen, und wunderhübsch schildert Tschudi das in seiner Alpenwelt:

„Weißt Du doch selber, Alpenwanderer,“ sagt er, „was für ein schwermüthig drückender Ton im Herbst über diesen Felsen liegt, wenn Menschen und Heerden, Pferde und Hund, und Feuer, Brot und Salz sich in’s Thal zurückgezogen. Wenn Du an der verlassenen und verrammelten Hütte vorübersteigst, und Alles immer einsamer und einsamer wird, wie wenn der alte Geist des Gebirges den majestätischen Mantel seines furchtbaren Ernstes über sein ganzes Revier hinschlüge. Kein befreundeter Athemzug weht Dich meilenweit an, kein heimischer Ton – nur das Krächzen des hungrigen Raubvogels, das Pfeifen des schnell verschwindenden Murmelthiers mischt sich in das Dröhnen der Gletscher und das monotone Rauschen des kalten Eiswassers. Die kahlgeweideten Gründe, in denen die kleinen Gruppen der giftigen Kräuter mit frischen Graskränzen, welche das Vieh nicht berührte, sich auszeichnen, haben die letzten anmuthigen Tinten des Idylls verloren. Der schwarze Salamander und die träge Alpenkröte nehmen wieder Besitz von den verschlammenden Tränkbetten der Rinder, und die verspäteten Bergfalter schweben mit halbzerrissenen und abgebleichten Flügeln durch das Revier, aus dem die beweglichen Unken in trostlosen Chören die sömmerlichen Jodelgesänge der Hirten wie spottend zu wiederholen scheinen.“

Nicht wahr, wie schade, daß der Jäger gerade in diese Berge einzieht, wenn sie der Hirt mit seinen idyllischen Heerden verläßt, und der Jäger bedauert das gewiß –

„Gott sei Dank, daß das langweilige Vieh mit seinem Gebimmel endlich abzieht,“ murmelt er vergnügt vor sich hin, „jetzt bekommen die Berge doch endlich eine Ruh, und man braucht

[12]

Das Aufsteigen.

nicht zu fürchten auf jedem Pirschgang – jedem Joch statt einem Rudel Gemsen eine Heerde Schafe anzutreffen.“

Die Poesie der Berge verträgt sich recht gut mit der Jagd und der echte Jäger weiß sie gewiß zu würdigen, denn sein ganzes Leben und Treiben ist poetisch; aber – sie darf ihm nur nicht in’s Gehege kommen, sonst sind sie eben die längste Zeit Freunde gewesen. Wo sie die Ausübung seiner Jagdlust stört, hat sie für ihn aufgehört Poesie zu sein, und – wenn er sie nicht zum Teufel wünscht, geschieht das nur in einzelnen Fällen aus ganz besonderer Rücksicht.

[13]

Der Niedergang.

Aber das Gebirg wird schon wilder. – Rechts von uns ragt eine hohe schroffe Steinwand, von der Sonne mit ihrer flammenden Gluth übergossen, wie eine riesige Silberstufe auf; nach links zu öffnet sich jetzt das Thal, und herüber grüßt da plötzlich: mit seiner scharfgeschnittenen, schneegedeckten Pyramidenkuppe der Schafreuter, während weiter nach vorn, wo jetzt die Riß sich in die Isar gießt, der Stuhlkopf und dahinter der gewaltige Steinkegel, der große Falken sichtbar wird. Das sind alte Bekannte, alte Freunde, und es ist fast, als ob sie die mächtigen Hälse reckten und freundlich herüberwinkten, uns zu grüßen.

[14] Nein – es war nur Augentäuschung. In grimmer stolzer Majestät stehen sie dort, und bieten den Jahrhunderten die Stirn. Ob sie Orkane umrasen, ob der Föhn durch ihre Schluchten tobt, und die Lawinen von ihrem Nacken niederdonnern, das Entsetzen in die Thäler wirft – oder ob kosende Frühlingslüfte ihre Hänge und Wände mit Blüthen decken, was kümmert’s sie. Geschlechter gehn und kommen und vergehn auf’s neu, und starr und trotzig recken sie die Häupter nach wie vor dem blauen Aethermeer entgegen.

Da hinein – an jenen Wänden hinauf, jene Schluchten mit ihren eingerissenen Klammen und schwindelnden Abgründen kreuzend, bald auf, bald nieder, jetzt ein Laatschendickicht durchdringend, jetzt über rollendes Gestein mit flüchtigem Fuße hinüberspringend, liegt unsere Bahn, und wirklich nur der, der selbst die Jagdlust – die Leidenschaft der Jagd kennt und mitfühlen mag, wird auch begreifen können, wie Menschen mit zäher Ausdauer, allen Strapatzen, allen Gefahren trotzend, in diese Berge klettern können, das scheue flüchtige Wild, die Gemse, zu erlegen.

Wenn auch manches Märchen über diese Art Jagd erzählt ist, das den gemüthlichen Leser im flachen Lande unnöthigerweise mit Schaudern und Entsetzen erfüllte – wenn er auch nicht z. B. zu glauben braucht, daß sich der Gemsjäger die Schuhe und Strümpfe auszieht und die nackten Sohlen aufschneidet, um mit seinem eigenen Blute an den glatten Hängen und Gletschern zu kleben, bieten doch die schroffen Wände in Wirklichkeit der gefährlichen Plätze genug, die Jagd eben interessant zu machen.

Wo Weg und Steg aufhört, wo der niederbrechende Fels mit seinen Trümmern die Hänge überstreut und wild Geröll ins Thal gerissen hat; wo hier und da an glatten Wänden nur kleine grasbewachsene Streifen oder vorstehende Steine dem Fuß gestatten, zweifelhaften Halt zu finden; wo überhängende Laatschen dem aufklimmenden Jäger freundlich die zähen Arme niederhalten – mit einem Worte, wo irgend nur ein Anhaltspunkt sich bietet, vorwärts zu kommen, und der Kletternde, den Blick nicht rückwärts wendend, oft Stellen ersteigt, die er nie wieder an demselben Platze zurückpassiren könnte, sucht er sich die Bahn. Nur erst die Höhe muß gewonnen, das Wild gefunden werden, das ist der einzige Gedanke, der ihn treibt, und nach beendeter Jagd gibt es dann Stellen genug, wo man in’s Thal zurückklettern kann.

Oft mag er stundenweit auf grasigen, nicht allzusteilen Lannen rasch und bequem aufwärts steigen. Oft bietet ihm gerade das niedergebrochene, fest liegende Gestein vollkommen sichern Anhalt. Wo noch Bäume wachsen, kann er dabei leicht alle etwa gefährlichen Stellen umgehen. Sie selber oder ihre Wurzeln verstatten ihm guten, oft bequemen Grund, darauf zu fußen. Selbst wo die Krummholzkiefer, die sogenannte Laatsche, wächst, hat er wohl beschwerlichen, aber immer noch verhältnißmäßig sicheren Weg aufwärts, denn deren zähe, elastische Zweige brechen nicht, und ihre Wurzeln klammern selbst in dem lockersten Boden mit erstaunlicher Festigkeit. Ein fingerdicker niederhängender Zweig trägt das Gewicht eines Mannes.

Nur da, wo Lawinen oder niederstürzende Bergwasser Spalten und Schluchten zwischen sie hineingerissen haben, was der Bergjäger dort Klammen nennt, beginnt die Gefahr des Kletterns, und nicht allein ein sicherer Fuß, nein auch ein sicherer Blick gehört dazu, die Stellen auszuwählen, wo ein Ueber- oder Aufgang möglich ist.

Der Gemsjäger ist hierzu schon durch seine Schuhe und seinen Stock ausgerüstet, und seine ganze Tracht nicht allein der Jagd selber, sondern auch dem Terrain, auf dem er sich befindet, angepaßt – praktisch und malerisch zugleich.

Auf dem Kopf trägt er den bekannten Tyroler Hut, mit einigen nach rückwärts gebogenen Spielhahnfedern, dem Stoß eines Schnee-, Hasel- oder Steinhuhns und manchmal einen Gemsbart. Der Hals ist frei, und das weiße Hemd wird durch ein schwarz oder buntseidenes Tuch locker zusammengehalten. Vortrefflich unter den Hut paßt aber die graue Joppe mit dem grünen Kragen – die Joppe eigentlich gewöhnlich etwas zu dunkel für die Berge, weil die lichteren Farben viel besser mit dem Wettergrau der Steine verschmelzen. Unter diesen reichen dann die schwarzen Lederhosen nur bis zum oberen Rand des Knie’s, das sie bloß lassen, während unter dem Knie der dickwollene, weiß gewebte, grüne oder graue Strumpf beginnt. Die Füße stecken in mächtigen Bergschuhen, von festem, wenig geschmeidigem Leder, das den Fuß kräftig zusammenhält, während die darunter eingeschlagenen Nägel nur beim bloßen Anblick einem, mit Hühneraugen geplagten Menschenkinde Entsetzen einflößen müßten.

Es sind das auch nicht etwa gewöhnliche Nägel. Nach innen scharf abschneidend, nach außen aber mit breitem Griff die Sohle fassend und schützend, bilden sie einen wirklichen scharfen eisernen Rand um den Schuh herum, und ahmen dadurch die ähnlich eingeschnittenen Schalen der Gemse nach. Ohne diese Schuhe würde nicht einmal der, von kleinauf an diese Berge gewohnte Jäger im Stande sein, an den steilen platten Graslannen und schroffen Hängen, die oft nur zollbreite Vorsprünge auf ihrer starren Fläche bieten, fortzukommen. Mit solchem scharfen Eisenrand schneidet man aber fest in die Wände ein, und wenn der Kopf nicht schwindelt, läuft man mit einiger Uebung sicher über nicht eben ganz senkrechte Hänge hin.

Dazu aber braucht man, außer den Schuhen noch ein anderes, höchst nöthiges Instrument, und zwar den Bergstock. Dieser, von etwa sechs Fuß Länge, mit oder ohne eisernem Stachel, gewöhnlich nur roh aus einer Haselstaude geschnitten und getrocknet, bietet dem Bergwanderer die Hauptstütze und Hülfe. Ohne den Stock wäre er nur wenig nütze da oben.

Noch darf ich den Bergsack nicht unerwähnt lassen. Er ist, wie Alles, was der Alpenjäger braucht und mit sich trägt, so einfach, leicht und praktisch wie nur irgend möglich eingerichtet. Er besteht aus einem grünleinenen Sack, der hinten mit einem starken aber dünnen Seil auf- und zugeschnürt werden kann, und auf dem Rücken, wo er keine Bewegung hindert, mit zwei ledernen oder gurtenen Achselbändern getragen wird. Birgt der Jäger nun seinen Proviant, seine Steigeisen, Munition und vielleicht die Regenjoppe mit etwas Wäsche darin, so nimmt er, zusammengefaltet, wenig Raum ein, läßt sich aber soweit ausbreiten, noch mit Leichtigkeit den größten Gemsbock darin aufzunehmen. Die „Gams“ wird dann so zusammengelegt, daß Kopf und Läufe ineinandergeschoben oben auf kommen und nur die äußersten Spitzen der Läufe mit den Krickeln (Hörner der Gemse) zum Schlitz herausschauen.

Einen außerordentlichen Vortheil bietet diese Tracht der nur bis zum Knie reichenden Hosen besonders beim Bergaufsteigen. Lange Hosen würden das Knie bei jedem Schritt reiben und spannen, und dadurch das Bein weit eher ermüden, während dasselbe so frei und unbehindert bleibt, und keinem Druck unterworfen, den Körper leicht und kräftig aufwärts trägt.

Der Stock ist beim Aufsteigen weit weniger nützlich, als beim Bergabklettern, obgleich man sich auch oft mit ihm heben und auf ihn stützen kann. Beim Aufsteigen müssen die Hände fast so viel mithelfen als die Füße, und das Gewehr auf den Rücken gehängt, an jedem Busch sich anklammernd, in jede enge Spalte sich einklemmend, jetzt einen vorspringenden Stein, jetzt eine Wurzel, jetzt einen einzelnen Alpenrosen- oder Grasbüschel benutzend, hebt sich der Steigende daran empor. Auch nicht gut ist es, viel zurück zu schauen. Beim Niedersehen in die Tiefe faßt uns leicht Schwindel an, und die Sinne braucht man dort droben alle zusammen und in guter Ordnung, damit der Fuß nicht etwa strauchele. Nur immer vorwärts, Freund, dort oben hast Du wieder festen sicheren Boden, und erst den hohen Rand erreicht, von dem der Blick die Schluchten weit übersieht, magst Du die scheue Gemse auch berücken.

Da rasselt’s da drüben an der Wand, Steine rollen und kleine dunkle Punkte, nicht größer wie Ameisen, springen blitzesschnell über die lichten Wände hin.

Mit dem Fernrohr, nach Büchse und Bergstock das wichtigste Instrument für den Gemsenjäger, suchen die Schützen indessen das Terrain, das sie übersehen können, ab – unerwartet kann ihnen überhaupt hier kein Wild kommen, denn der steinige, rauhe Boden verräth es schon auf größere Entfernung. Da drüben ist ein dunkler Punkt an der nämlichen Wand, über der der erste Treiber sichtbar wurde – richtig es ist ein alter Bock, der sich hier unter einen Felsvorsprung gestellt hat, nach unten hin aufmerksam die springenden Gemsen betrachtet, nach oben ganz erstaunt hinaufhorcht, woher auf einmal all’ die großen dicken Steine kommen, von denen er freilich, grad wo er steht, wenig zu fürchten hat.

Dort und da wird es jetzt lebendig. Ueber den tiefen Thalgrund des weiten Felsenkessels springt das stärkste Rudel gerade dort hinauf, wo ein Jäger, die Büchse im Anschlag, fest hinter einen hohen Stein gedrückt steht. Näher und immer näher [15] kommen sie hinan – der Wind schlägt auf und sie wittern nicht die Gefahr, der sie sich nahen. Prachtvoll sieht es dabei aus, wie die dunklen, schlanken Thiere an den lichtgrauen Steinwänden hin und aufwärts setzen. Jetzt bleibt die Leitgeis auf einer vorspringenden Zacke mit dicht zusammengeschobenen Füßen stehen und sichert umher – aber nicht lange braucht sie nach der vermutheten Gefahr zu suchen – der Treiber dort oben auf dem nackten Joch schwenkt den Hut nach ihnen hinüber, seine ganze Gestalt zeichnet sich ihnen scharf und rein gegen den blauen Himmel ab, und fort stürmen sie wieder, geschützteren Platz zu erreichen, und aus so gefährlicher Nähe zu kommen – die armen Dinger.

Jetzt setzen sie die Schlucht hinauf, an dessen oberem Ende der Jäger steht – kaum funfzig Schritt an ihm vorbei springt das Leitthier – hält einen Augenblick auf dem Kamm, sieht den neuen Feind, thut einen scharfen Pfiff und verschwindet auf der anderen Seite des Jochs – Und kein Schuß? – noch eine Gems und noch eine folgen ihr und jetzt – eine kleine blaue Wolke steigt hinter dem Felsen auf – jetzt noch eine, und zwei Gemsen sind schon lange zusammengeknickt und von der steilen Höhe niedergerollt, als der dumpfe Knall der Büchse sich erst donnernd an den Wänden bricht und in das Thal seine Schallwellen niederwälzt. – Wie die übrigen Thiere stutzen und schrecken – aber die Leitgeis ist voraus, der müssen sie folgen, und nach drängt deshalb, trotz dem Schuß, der ganze Trupp, nur einen scheuen Bogen um die gestürzten Kameraden beschreibend.

Wieder steigt in zwei kurzen Stößen der blaue drohende Dampf empor, und wieder taumelt eine Gemse. Wild vorbei stürmen die entsetzten Thiere. Aber noch ist der Donner nicht verhallt, als auf’s Neue die tödtliche Kugel ihr Opfer sucht.

Sechs Mal hat es aus den drei Doppelbüchsen gesprochen und drei Gemsen liegen verendet auf dem Platze und schwer verwundet schleppten sich zwei andere noch über das Joch hinüber, davon eine der Hund nach kurzer Suche in einem Laatschenbusche antrifft und niederreißt. Die andere ward später verendet gefunden.

Die übrigen Rudel brechen zwischen den Treibern durch, und nur der eine alte Bock ist halsstarrig in seinem wohlversteckten Platz stehen geblieben, bis die Jäger ihn längst passirt haben. Dann drehte er sich um und verschwindet plötzlich in einer der zahlreichen Spalten, wie in die Wand hinein.

Und nun der fröhliche Heimzug von der Jagd! Rasch versammeln sich die Jäger, guter Dinge, daß der mühselige „Trieb“ gelungen; brechen das erlegte Wild auf und werfen es aus, thun sorgfältig das gesammelte Feist wieder hinein, packen die Gemsen in ihre Bergsäcke und heimwärts geht es jetzt, am Rücken des Jochs auf einem ziemlich guten Pirschwege hin.

Viele Menschen, besonders die Flachlandleute, glauben daß es viel bequemer sei, einen Berg hinab, als ihn hinaufzusteigen. Bei nicht zu steilen Hängen und auf kurze Strecken, oder in dem kleinen lockeren Geröll der Reißen auf die ich noch später zu sprechen komme, mögen sie auch recht haben. Wer aber den ganzen Tag in den Alpen herumgeklettert ist, und mit müden Knieen dann Abends noch auf dem Heimweg die steilen Hänge, die er den Tag mit Mühe und sauerem Schweiß erklommen, wieder hinab muß, der weiß, was es zu sagen hat, das Niedersteigen.

Schneller geht’s jedenfalls, als bergauf; die Brust ist nicht so eingezwängt dabei, und hat freieren Athem. Die Glieder brauchen den Körper nicht fortwährend zu heben, sondern geben nur dem Druck von oben nach. Wenn aber die Knie besonders vom Steigen angegriffen sind, und müssen nun einen steilen Hang auf Stundenweite hinab, dann staucht das doch gar bös, und man würde viel lieber noch einmal dieselbe Strecke aufsteigen als hinab.

Auch gefährlicher ist der Niedergang an steilen oder „schiechen“ Stellen. Aufwärts hat man weit eher festen Halt. Die Fußspitzen sind vorn, man sieht den Fels dicht vor sich, an dem man aufklettert, sieht jeden kleinen Vorsprung, den man benutzen kann – versucht hie und da die beste Stelle und rückt, wenn auch langsam, sicherer empor. Anders ist das beim Niedersteigen, wo der Blick die Tiefe suchen muß, den nächsten Anhalt für den Fuß zu finden. Der Hacken ist dabei lange nicht so biegsam als die Fußspitze, und ruht der Körper auf ihm und gibt dann der Stein, auf dem er rastet, nach, dann kann die Hand nur in seltenen Fällen helfen stützen, und vor dem Sturz bewahren.

So mühselig es z. B. sein mag, in den Krummholzkiefern aufwärts zu klettern, wo uns die langen stachligen Zweige alle entgegendrücken, so wenig gefährlich ist es dabei. Abwärts dagegen, wo man in dem dichten Gestrüpp, das nur die grüne Decke bildet, nicht sehen kann, was darunter liegt, ist man stets der Gefahr ausgesetzt in irgend eine senkrechte Wand, über die sich diese Büsche nur zu gern hinüberhängen, einzugleiten.

Ist der Boden gebrochen, mit großen Steinen oder Wurzeln bedeckt, und nicht zu glatt und abschüssig, so geht es noch eher. Auch von nicht zu steilen Lannen läuft man ziemlich rasch hinab. In dem Fall ist dann der Bergstock die beste Stütze des Jägers. Aber nur nicht voraus darf man ihn einstemmen, denn rutschte er ab, wäre es um den Mann geschehen. Wagerecht hält ihn der Kletternde deshalb in der Hand, die Spitze an die Wand zurückgedrückt, die eine vorn am äußersten Ende untergehalten, die andere etwa in der Mitte aufgestemmt, das Gewicht des Körpers darauf vom Abgrund fortzulehnen. Der Stock dient solcher Art als Hemmschuh, der mit dem Stachel in den Boden reißt und selbst bei etwaigem Ausgleiten des Fußes den Körper immer noch zu halten vermag.

Am leichtesten und schnellsten läuft sich’s die sogenannten Reißen hinab.

Diese „Reißen“ sind weiter Nichts als Geröll; von steilen Wänden losgebröckeltes Gestein, das in’s Thal hinabgeworfen, sich in den Jahrhunderten höher und höher gethürmt hat. Die meisten derselben sind nicht übermäßig steil, da sie sich eben nur dadurch vergrößern, daß die abfallenden Massen auf ihnen eine Strecke niederrollen und, wenn ihr ärgster Fall gebrochen, liegen bleiben. Zum Theil bestehen sie dabei aus riesigen Felsbrocken, die entweder durch ihr eigenes Gewicht losgebrochen, oder durch eine Lawine zu Thal gerissen wurden. Was aber auch die Unterlage bildet, obenauf sind die meisten von ihnen mit klarem kleinen Steinzeug bedeckt, das dem darauf tretenden Fuß weicht und ein Aufsteigen wohl nicht gefährlich, aber entsetzlich beschwerlich macht. Bei jedem Schritt aufwärts rutscht man wieder fast ebensoweit zurück; kein fester Punkt bietet den sich immer nur mit aller Kraft einhakenden Sohlen sicheren Halt. Hinunter geht es aber dafür desto leichter, und auf einer steilen klaren Reißen braucht man kaum selbst den Stock zur Stütze. Bei jedem Schritt weicht das Geröll mit dem Fuß, und läßt den Körper oft seine ganze Länge tiefer gleiten. Ihm nach poltern allerdings die Steine, und rutscht oft das ganze Geschiebe nach, aber was thut’s – kommt es zu arg, so braucht man nur mit ein paar Sprüngen seitwärts auszuweichen, und ich habe solche Niederfahrt auf klarem Geröll immer nur mit dem Gefühl des Schlittschuhlaufens vergleichen können. In zehn Minuten legt man dabei oft eine Strecke bergab zurück, zu der man auf demselben Terrain stundenlang gebrauchen würde, sie bergauf zu steigen.

Doch was sind alle die Beschwerden und selbst Gefahren in dem einen seligen Gefühl der Jagd.

Ihr Tagewerk war wahrlich kein leichtes, und wer ihnen zusieht, wie sie an den steilen Wänden hinlaufen, oft über Abgründen hangen, wo der geringste falsche Tritt sie rettungslos in die Tiefe schickt – jetzt im Schweiße ihres Angesichts durch ein Laatschendickicht arbeiten, jetzt über das Geröll einer Reißen springen, und immer munter, immer vergnügt dabei, der muß die Leute wahrlich bewundern.

Und trotz den oft furchtbaren, immer höchst mühseligen Wegen, die sie zu steigen haben, achten sie nicht blos auf ihren schmalen Pfad, nicht blos auf das Wild, auf das sie losgehn sollen. Nein, ihr Auge späht dabei noch, sorglos um die Gefahr, die sie umgibt, nach dem spärlich, und nur an den rauhsten, wildesten Stellen wachsenden Edelweiß, nach einer einzelnen, vom Sommer übrig gebliebenen Scabiosa, nach einem tiefblauen Enzian oder einer, in dieser Jahreszeit sehr seltenen Alpenrose, mit diesen Blüthen, neben Spielhahnfedern und Gemsbart, den Hut zu schmücken.

Der Bruch von einer Laatsche an Mütze oder Hut ist dann das Siegeszeichen der gelungenen Jagd, und das Behagen erreicht den höchsten Grad, wenn Abends die erlegten Gemsen am Pirschhaus, mit den Krickeln oben am Dach eingehakt werden, und nun zur Zierde, als eben soviel wohlerworbene Trophäen, dort über Nacht hängen bleiben.

So verfliegt der Tag draußen in den Bergen – man weiß wahrhaftig manchmal gar nicht, wo er hingekommen, und der Abend dann, am lodernden Kamin, vergeht noch schneller fast. Recht [16] eigentlich müde wird der Körper auch nie in dieser reinen leichten Luft, selbst nach solchen Anstrengungen, die den stärksten Mann im flachen Land zu Tod erschöpfen würden. Die Zwischenzeit zwischen Tag und Jagd ist deshalb auch nicht Erholung, sondern wieder nur ein Vergnügen anderer Art. Man hat eben nicht zu Jagen aufgehört, weil man müde – sondern einfach, weil es dunkel wurde, und beginnt frisch wie am vorigen Morgen, sobald die Sonne sich im Osten zeigt.




Blätter und Blüthen.

Deutsche Gräber. Wenn man die Dankbarkeit der deutschen Nation nach den Gräbern ihrer Edelsten und Besten bemessen soll, so ist das Resultat ein sehr trauriges; Mozart, dessen Gesänge und Opernmelodien ganz Europa singt, ruht in einem Stückchen Erde, das Niemand kennt, und mit Gewißheit auch niemals wird bezeichnet werden können. Von Sebastian Bach weiß man nur, daß er auf dem Leipziger Friedhof Ruhe fand; das kleine Fleckchen, was seine Gebeine birgt, kennt man ebenfalls nicht. Wer weiß von Hutten’s Grab? Ungewisse Nachrichten behaupten, daß er auf der kleinen Insel Ufnau im Züricher See gestorben sei. Ein Denkmal, einen Stein nur, der seinen Namen trüge, hat Niemand gefunden. Leibnitzens Grab mußte durch einen Franzosen aufgefunden werden, kein Deutscher hatte danach gefragt. Die Gebeine des großen Archäologen und Kunstkenners Winkelmann ließ man ohne Denkstein, der Vergessenheit zum Raube, und schon im ersten Decennium dieses Jahrhunderts war es zweifelhaft, wo sie ruhen.

Auch des armen unglücklichen Bürger’s Grabstätte war lange Zeit unbekannt. Erst 1845, nachdem der Dichter, dessen Balladen Gemeingut der Nation geworden, bereits 51 Jahre im Grabe ruhte, ward durch die Bemühungen eines Göttinger Studenten die Frage nach dem Orte seiner Ruhe angeregt. Vergebens waren alle Forschungen, in den Behördenregistern fand man zwar den Namen Bürger’s, aber nichts über sein Grab. Durch Zufall traf man endlich einen alten Schneider, der sich des Begräbnisses des Dichters erinnerte. „Als er,“ erzählte dieser, „ein noch junger Mann, aus der Fremde zurückkehrte, habe er nicht gleich Arbeit gefunden, und eines Tages durch die Straßen Göttingens schlendernd, sei er einem Leichenzuge begegnet, dem er, da er just nichts Besseres zu thun wußte, nach dem Weender Friedhofe gefolgt sei. Der Todte habe Bürger geheißen, sei aber, wie er gehört, vor Hunger und Kummer gestorben. Auch sei die Bestattung sehr ärmlich gewesen. Unter den Wenigen, die dem Sarge folgten, habe er besonders den Buchhändler Dietrich bemerkt, der auch späterhin eine Akazie auf das Grab gepflanzt.“

Man suchte und fand die Akazie und somit das Grab. Sofort trat ein Comité zusammen, die Ruhestätte des Dichters mit einem Denkmale zu bezeichnen, der Magistrat der Stadt schenkte den Platz, es wurden Gelder gesammelt und – drei Jahre später stand noch immer die einsame Akazie des Buchhändlers Dietrich als einziges Denkmal auf dem Grabhügel; das Comité hatte sich aufgelöst, mit den Geldern war ein Student durchgegangen und das Dichtergrab, was so lange verschollen war, ist zur Stunde noch gänzlich verwahrlost, und Nesseln und Unkraut überwuchern die Ruhestätte eines deutschen Sängers, dessen Leben schon mit Dornen und Disteln reich übersäet war.

Armer Bürger!


Pariser Industrie. Auf dem Platze vor dem Hotel de Ville sahen wir um einen Wagen eine Zuschauergruppe versammelt, die sich in jedem Augenblicke durch hinzutretende Neugierige vermehrte. Auch wir näherten uns derselben. Auf einem eleganten Einspänner stand neben dem zügelführenden Kutscher, hinter dem sich noch ein ungewöhnlich erhöhter thronartiger Sitz befand, ein hochaufgerichteter auffallend schöner, elegant gekleideter Mann, der mit einem vergoldeten Bleistifte eifrig etwas in ein Skizzenbuch zu zeichnen schien, während er dabei ruhig seine Cigarre rauchte und das Anwachsen seines Zuschauerkreises mit sichtbarer Befriedigung bemerkte. Hinter ihm auf dem erhöhten Sitze ließ ein Leiermann in phantastischer Kunstreitertracht die Töne einer sehr gut gestimmten Drehorgel erschallen. Was bedeutet das? fragten wir einen der Zuschauer. „Es ist Mangin, der Bleistifthändler,“ war die Antwort; „Sie werden gleich sehen!“ In demselben Augenblicke klappte der Genannte sein Buch zu, und nahm die Cigarre aus dem Munde. Er legte den eleganten Kastorhut ab, und setzte an dessen Stelle einen römischen Imperatorhelm auf. Allgemeines Ah! des Erstaunens der Neulinge. Dann nahm er einen weiten antikmittelalterlichen pelzverbrämten Mantel aus den Händen des Leiermanns, und warf ihn malerisch über seine Kleidung, alles schweigend und in höchster Gemächlichkeit. Jetzt stand er da, wie ein römischer Triumphator anzuschauen, den goldenen Bleistift in der einen, das Skizzenbuch in der andern Hand, und nachdem er langsam rings umher schauend seine Versammlung gemustert hatte, haranguirte er dieselben in folgender Weise: „Sie sehen mich alle erstaunt an, Messieurs, und fragen, was diese Seltsamkeiten zu bedeuten haben? Viele von Ihnen werden indessen mit der Antwort schon fertig sein. Nicht wahr, Messieurs, Sie sagen im Stillen: es ist ein Charlatan erster Klasse! – Wohlan, meine Herren, Sie haben Recht, vollkommen Recht: ich bin ein Charlatan, ich gestehe es ein, ja ich mache mir eine Ehre daraus, ein Charlatan zu sein. Leben wir nicht in Frankreich? Ist Frankreich heutzutage nicht das Land des Charlatanismus? Muß man nicht ein Charlatan sein, um die Franzosen an sich zu ziehen und für einen Augenblick zu fesseln? Aber ich bin kein gewöhnlicher Chartatan, ich will Sie gar nicht betrügen. Ich habe einen antiken Helm aufgesetzt, aber Sie haben kurz zuvor meinen modernen Hut gesehen; ich habe einen Imperatormantel angelegt, aber – (hier schlug er denselben auseinander) Sie sehen, ich bin unter demselben ganz wie Sie alle gekleidet. Es ist Egoismus, meine Herren, weshalb ich diese Tracht anlegte, reiner Egoismus, nichts weiter; nicht um Ihretwillen geschah es, sondern um meinetwillen. Ich wollte Sie anlocken, Sie um mich versammeln und Sie sehen, es ist mir gelungen.“ (Lachen und Beifall.) „Ich will Bleifedern verkaufen, nichts weiter, und es wird mir gelingen, trefflich gelingen, denn ich habe Ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber ich darf zugleich sagen, was die andern Charlatane von ihren Waaren nicht immer sagen können, daß meine Bleifedern unvergleichlich, daß sie die besten in ganz Paris sind. Niemand in Frankreich verkauft so viele Bleifedern, ganz Paris hat meine Bleifedern, kein Fremder verläßt Paris ohne meine Bleifedern. Darum noch einmal: ich bin stolz darauf, ein Charlatan nach meiner Façon zu sein!“

Alles dieses wurde mit großem Ernste und mit dem edelsten theatralischen Anstande in gewähltester Rede gesprochen. Brauche ich noch hinzuzusetzen, daß er reussirte! Beiläufig sind seine Bleistifte wirklich vortrefflich. Ob er aber seinen theoretisch-praktischen Cours über die Charlatanerie, die einer politischen Satire so ähnlich sieht, wie das: ja, ich bin Charlatan! dem berühmten: ich bin Parvenü, noch lange ungehindert fortsetzen wird, schien meinen deutschen Polizeibegriffen mehr als zweifelhaft. Indessen, wer weiß!




Goethe’s wilde Wochen. Wenn wir den Mittheilungen den Engländers Lewes glauben dürfen, dessen Buch über Goethe wir bereits früher anzeigten, so trieb es Goethe in den ersten Wochen seiner Uebersiedelung nach Weimar toll genug. Im vollen Glanze der Jugend, der Schönheit und des Ruhmes trat er dort auf und eroberte im Sturme alle Herzen, selbst die, welche er, wie z. B. Wieland und die Herzogin Amalia, früher beleidigt hatte. Bei den lebenslustigen leichten Damen der genialen Periode, von denen Schiller schreibt: „Da ist beinahe keine, die nicht eine Geschichte hätte oder gehabt hätte, erobern nicht sie gern alle“, war er bald der erklärte Liebling, der wie ein Schmetterling von einer Blume zur andern flatterte und von Allen süßen Honig der Liebe sog. Er führte unter den Damen und den höheren Ständen das Schlittschuhlaufen ein – eine Kunst, die in der Residenz bisher als eine plebeje betrachtet worden – und arrangirte auf dem Schwanenteiche Nachtschlittenparthien mit Fackeln und Feuerwerk, bei denen die Herzogin und alle Damen maskirt erschienen. Dann wieder zum Entsetzen von ganz Weimar brutalisirte er, wie Wieland sagt, die bestialische Natur, stellt sich mit dem Herzoge Carl August auf den Markt, und beide knallten da stundenlang mit großen Hetzpeitschen um die Wette. Ein Herzog und ein Dichter auf offenem Markt! Das Verhältniß dieser beiden genialen Menschen ward bald ein brüderliches. Sie nannten sich „Du,“ schliefen zusammen in einem Zimmer, entliehen gegenseitig Tücher und Westen, ohne an’s Wiedergeben zu denken und tranken bei ihren Weingelagen den Sekt aus Schädeln, wie es Byron in seiner wildesten Zeit gethan. Das Lieblingswort des Tages war „unendlich.“ Das Genie verschlang „unendliche“ Würste. trank „unendlich,“ liebte „unendlich“ und schlief „unendlich.“ Aber so wilde Orgien und Nächte die beiden frühreifen Jünglinge auch durchbrachten – und daß sie es arg getrieben haben, beweist der scharf ermahnende Brief Klopstock’s, den Goethe so patzig beantwortete – so hatten Beide doch so große Zwecke und einen so mächtigen Willen, daß sie dabei moralisch nicht untergehen konnten. Die Ernennung Goethe’s zum Legationsrath mit Sitz und Stimme im Ministerium, die Seitens des Adels und der Beamtenwelt einen Protest hervorrief, den der neunzehnjährige Fürst so vortrefflich beantwortete,[2] war schon der Anfang einer ruhigern Periode, die, wenn auch nicht frei von Anfechtungen genialer Art, doch Extravaganzen, wie die früheren, nicht mehr so oft aufkommen ließ.




Schweizer Angelegenheit. Es sind uns von mehren Seiten Anfragen zugegangen, ob wir in unserm Familienblatte Notiz von den Schweizer Vorgängen nehmen und Berichte und Abbildungen, wie früher aus den orientalischen Wirren, bringen würden. Es versteht sich wohl von selbst, daß wir in einem Organ, das neben der gemüthlichen Unterhaltung und Belehrung der Zeit, ihren Interessen und Vorgängen gewidmet ist, ein so wichtiges Ereigniß nicht außer Acht lassen können. Wir haben bereits die nöthigen Veranstaltungen getroffen, unsern Lesern in Originalberichten und Abbildungen das Wichtigste aus den dortigen Vorgängen mitzutheilen, und bemerken nur noch, daß wenn dies noch nicht in der heutigen und der nächstkommenden Nummer geschieht, unsre Leser lediglich den Grund darin suchen wollen, daß wir Originalabbildungen und Berichte bringen wollen, die also nicht in 3–6 Tagen entworfen, aufgezeichnet, in Holz geschnitten und mit dem betreffenden Text geschrieben sein können.
E. K.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir entnehmen diese Skizze einem unter der Presse befindlichen Prachtwerke des obengenannten Verfassers, auf das wir im Voraus unsere Leser aufmerksam machen wollen. Dasselbe wird in der Verlagshandlung der Gartenlaube erscheinen, und mit vielen Holzschnitten und Kunstlithograhieen verziert werden, deren Ausführung den besten Künstlern anvertraut ist. Die in unserer heutigen Nummer abgedruckten Abbildungen, die in dem Werke selbst natürlich in ganz anderer Ausführung erscheinen werden, mögen einen kleinen Beweis von der Wahrheit und künstlerischen Auffassung der artistischen Beilagen geben.
    D. Redakt.
  2. „Das Urtheil der Welt ,“ schrieb er am Schluß seiner Erwiederung, „welches vielleicht mißbilligt, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setze, ohne daß er zuvor Amtmann, Professor, Kammerrath oder Regierungsrath wäre, ändert gar nichts. Die Welt urtheilt nach Vorurtheilen, ich aber sorge und arbeite, wie jeder Andere, der seine Pflicht thun will, nicht um des Ruhmes, nicht um des Beifalls der Welt willen, sondern um mich vor Gott und meinem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können.“