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Die Gartenlaube (1859)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Er betet.
Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“.


I.
Der Richter.
In dem Sitzungssaale des Gerichtshofes herrschte eine tiefe Stille. Der Gerichtshof war als Criminalgericht der zweiten und letzten Instanz versammelt. Er hatte über eine Capitalsache zu Recht zu sprechen. Die beiden vorschriftsmäßigen Relationen waren verlesen. Beide Referenten hatten das Todesurtheil beantragt. Ob auf den Tod erkannt werden solle, hatte der Gerichtshof zu entscheiden.

Ein Urtheil über Leben und Tod ist wohl geeignet, eine feierliche Stille hervorzurufen. Der Unbetheiligte schon horcht ihr mit Spannung entgegen, und es schweigen alle anderen Gedanken und Gefühle, es schweigen selbst die Leidenschaften in ihm unter dem einen brennenden Gefühle der Erwartung. Wie ist es erst dem Richter, der über das Leben, über den Tod seines Nebenmenschen die Entscheidung fällen soll, wie ist es erst ihm ein Bedürfniß, sich zu sammeln, alle anderen Gedanken, alle anderen Gefühle in seinem Innern verstummen zu lassen, um mit klarem Kopfe, aber auch mit warmem, menschlichem Herzen sich prüfen und dann urtheilen zu können, was das Gesetz, was das Recht von ihm fordert, unabweislich von ihm fordert!

Wie war das Alles in erhöhtem Grade so, in dem Falle, über welchen der Gerichtshof zu Gerichte saß!

Sein Urtheil war das letzte in der Sache. Von ihm fand keine Berufung, kein Rechtsmittel weiter statt.

War es ein Todesurtheil, so war auch im Wege der Gnade keine Aenderung, keine Milderung zu erwarten. Der Regent des Landes huldigte einer streng religiösen Richtung, jener Richtung, die ausspricht: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden. Der Regent, der dem durch den schwächlichen Act, den man Gnade nennt, wehren wollte, ladet die Blutschuld auf sein Haupt." Er hatte noch nie ein von den Gerichten des Landes erlassenes Todesurtheil gemildert. Wurde in dem vorliegenden Falle ein Todesurtheil ausgesprochen, keine Macht der Erde – das war vorauszusehen – hätte den Monarchen zu einer Begnadigung bewegen können.

Es lag ein Vatermord vor.

Und doch, wie eigenthümlich waren die Umstände des Verbrechens! Besonders für die Angeklagte, um deren Todesurtheil allein es sich noch handelte!

Ein früher wohlhabender Bauer war dem Trunke ergeben gewesen. Er hatte dadurch sein Vermögen zu Grunde gerichtet und in der Betrunkenheit seine Frau und seine Kinder gemißhandelt. Die Frau hatte hintereinander fünf Kinder todt geboren. Der Tod der Kinder war die Folge der unbarmherzigen, der entsetzlichen Mißhandlungen, die sie von ihrem Manne erlitten hatte.

Sie war freilich ein rohes Weib. Die fortwährend barbarische Behandlung machte sie tückisch. Sie faßte einen unauslöschlichen Haß gegen ihren Mann, eine unwiderstehliche Begierde, sich von ihm zu befreien. Der Gedanke, den Mann zu ermorden, wich bald nicht mehr aus ihrer Seele; der Mordplan reifte in ihr. Sie traf mit einer listigen, heimtückischen und beharrlich zähen Bosheit, wie man sie in den Verbrecher-Annalen selten findet, die Vorbereitungen zur Ausführung.

Ihre älteste Tochter war mit im Hause; sie war ein Mädchen von neunzehn Jahren, schön, von beschränktem Verstande, völlig ungebildet, selbst von dem gewöhnlichen Religionsunterrichte fern gehalten, unter dem Eindrucke des ewigen Unfriedens im Hause, der Scenen der Rohheit und Gemeinheit zwischen ihren Eltern, der barbarischen Mißhandlungen, die ihre Mutter von dem Trunkenbolde zu erleiden hatte und die sich nicht selten auch auf sie mit erstreckten, unter solchen Eindrücken stumpf und gefühllos geblieben. Dieses Mädchen, die eigene Tochter, sollte dem Weibe zum Werkzeuge für den Mord ihres Mannes dienen.

Sie lockte einen jungen Mann von einundzwanzig Jahren, einen Wagnergesellen aus dem Dorfe, in ihr Haus, einen unerfahrenen, aber leichtsinnigen Menschen. Sie hatte kaum nöthig, ihn anzuregen, ihm Gelegenheit zu verschaffen, daß er eine heftige Leidenschaft für ihre Tochter faßte. In dem Herzen des Mädchens wußte sie eine nicht minder leidenschaftliche Neigung zu dem hübschen jungen Manne anzufachen. Dann riß sie die beiden jungen Leute auseinander. Dann brachte sie sie wieder zusammen, zeigte sich ihrer gegenseitigen Liebe geneigt und stellte ihnen ihre Verbindung in Aussicht, die aber, da auch der junge Mensch arm sei, nicht eher erfolgen könne, als bis ihr Mann nicht mehr am Leben wäre.

„Ist der erst todt, so trete ich Euch die Hälfte des Hauses und des Gutes ab,“ sagte sie.

So hatte sie ihre Leidenschaft auf das Höchste gesteigert; so hatte sie als einziges Hinderniß der Befriedigung aller Wünsche der jungen Leute ihren Mann, als den Augenblick der Verbindung, des Glückes jener den Augenblick seines Todes ihnen gezeigt. Und der Bursch war leichtsinnig und das Mädchen ohne anderes Gefühl, als die Liebe zu dem jungen Menschen, welche die eigene [2] Mutter zu einer wilden Begierde aufzustacheln und zu steigern gewußt hatte. Und der stets betrunkene, seine Familie stündlich mißhandelnde, den Wohlstand des Hauses täglich mehr und mehr zerrüttende Vater war längst ein Gegenstand der Verachtung Beider gewesen.

Das Weib durfte zu dem leichtsinnigen Burschen von Mord sprechen. Er schauderte anfangs zurück, hörte aber bald ruhig zu.

„Ich nehme Alles auf mich, und Du bekommst die Marianne,“ sagte sie zu ihm.

Er sagte halb und halb zu.

Sie hatte ihn ganz für sich gewonnen und schritt nun zur Ausführung ihres Planes.

Ihr Mann fuhr jede Woche eine Karre Sand nach einer benachbarten kleinen Stadt. Die Tochter mußte ihn begleiten. Auf einer dieser Fahrten sollte der Mord verübt werden. Sie vertheilte die Rollen zu dem grauenvollen Acte. Den Liebhaber ihrer Tochter weihte sie vollständig, mit nackten Worten ein. Er sollte mit ihr gemeinschaftlich unmittelbar die That ausführen. Die Tochter sollte nur ahnen, auch nicht einmal den Mord, nur ein Geheimniß, über das sie nicht weiter nachdachte oder dessen Folgen sie nicht weiter verfolgte. Sie sollte auch nur das Opfer überliefern.

„Du führst den Vater, wenn Ihr den Sand verkauft habt, in die Schenke. Du läßt ihn dort mehr Schnaps trinken, als sonst.“

„Warum, Mutter?“

„Damit er betrunken wird.“

„Und warum soll er betrunken werden?“

Die Mutter antwortete auf die Frage nicht, aber sie fuhr fort:

„Du hältst ihn in der Schenke hin, bis es Abend ist. Wenn es dunkel geworden ist, macht Ihr Euch auf den Rückweg.“

„Warum so spät, Mutter?“

„Ihr nehmt den gewöhnlichen Weg nach Hause zurück. Aber wenn Ihr oberhalb des Neuhäuser Weihers kommt, wo der Fuß- und Fahrweg auseinander gehen, dann sagst Du zu ihm, er solle den Fußweg nehmen, Du wollest in dem Fahrwege schon allein weiter fahren. Du fährst dann allein nach Hause.“

„Aber warum das Alles, Mutter?“

„Thue, was Dir befohlen wird.“

„Aber, wenn er nun nicht will?“

„Er wird schon wollen, denn der Fußweg ist näher. Und wenn Du ihn in der Stadt recht ordentlich betrunken gemacht hast, so wird er Dir gar nicht widersprechen.“

„Ich begreife nur nicht, Mutter, was Du mit dem Allem willst?“

„Du wirst es nachher erfahren. Denke, daß es das einzige Mittel für Dich ist, bald Deinen Bräutigam zu heirathen.“

„Ich verstehe auch das nicht, Mutter.“

„Ist der Vater weg, so kann ich Euch in das Haus nehmen, früher nicht.“

Das Mädchen fragte jetzt nicht mehr. Sie mochte jetzt doch wohl mehr, als ein unergründliches Geheimniß, ahnen. Ihr Liebhaber redete ihr in derselben Weise zu.

„Wenn Du Alles thust, was Dir Deine Mutter gesagt hat, so sind wir in kurzer Frist Mann und Frau. Der Alte allein steht uns, im Wege.“

„Aber was wollt Ihr mit ihm?“

„Laß Du uns sorgen, Deine Mutter und mich. Du sollst ja nicht dabei sein.“

„Wobei soll ich nicht sein?“

„Frage nicht mehr. Dein Vater allein steht uns im Wege.“


Sie fragte auch ihn nicht mehr. Sie hatte jetzt gewiß mehr, als bloße Ahnung. Aber wer kann das wissen, bei dem an Geist und Herz gleich ungebildeten, an Nachdenken nicht gewöhnten Mädchen? Der Plan der Mutter wurde ausgeführt; doch nicht ganz so, wie sie ihn sich ausgedacht hatte. Ihre Tochter sollte keinen unmittelbaren Antheil an der Ausführung des Mordes nehmen. Das kam doch anders.

Vater und Tochter fuhren mit dem Sande in die Stadt und verkauften ihn. Nach dem Verkaufe gingen beide in die Schenke. Die Tochter hatte auch früher den Vater jedes Mal dahin begleiten müssen. Der Vater berauschte sich dort, wie gewöhnlich. Aber anstatt daß die Tochter ihn sonst zum Aufbruche antrieb, und von mehrerem Trinken abzuhalten suchte, war sie es jetzt, die ihm noch Schnaps kommen ließ und ihn dadurch zu längerem Bleiben veranlaßte.

Der Vater wurde betrunkener, als sonst. Als die Tochter meinte, daß es genug sei, brach sie mit ihm auf.

Als sie die Wegesscheide oberhalb des Neuhäuser Teiches erreicht hatten, sagte sie zu ihm:

„Vater, ich will schon allein weiter fahren. Ihr könnt den näheren und bequemeren Fußweg nehmen.“

„Wenn Du meinst,“ sagte der Vater, und er nahm den Fußweg.

Sie fuhr in dem Fahrwege weiter. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie solle ohne Aufenthalt nach Hause fahren; das konnte sie jedoch nicht. Als sie die Höhe des Fahrweges gerade gegenüber dem untenliegenden Neuhäuser Teiche erreicht hatte, hielt sie an; sie mußte wissen, was da unten im Wege passiren werde. Sie hielt an, bis sie von dem Teiche her einen Schrei hörte. Dann lief sie in geradester Richtung durch das Gehölz nach dem Teiche. An dem Teiche hatte sich Folgendes zugetragen:

Der Vater hatte den Fußweg genommen, der an dem Teiche vorüberführte. Als er den Rand des Teiches erreicht hatte, waren hinter Bäumen seine Frau und der Liebhaber seiner Tochter hervorgesprungen und hatten den Betrunkenen in das Wasser geworfen. Am anderen Tage wollten sie sagen, er sei in seiner Betrunkenheit in das Wasser gefallen. In seiner Todesangst hatte der Ueberfallene laut um Hülfe gerufen. Den Ruf hatte die Tochter gehört. Als sie am Teiche ankam, lag ihr Vater schon im Wasser. In demselben Augenblicke arbeitete er sich zwar, nahe am Ufer, wieder hervor. Aber die Frau hatte es gesehen und ihn wieder zurückgestoßen. Dabei hatte auf ihren Befehl die Tochter sie von hinten halten müssen.

Die unnatürliche Mordthat war vollbracht. Aber sie kam heraus. Mutter und Tochter gestanden die erzählten Thatsachen ein. Der Liebhaber der Tochter leugnete Alles. Aber er erhängte sich im Gefängnisse. Die Mutter starb noch vor der Erlassung des Urtheils am Nervenfieber. Das Urtheil war nur noch allein gegen die Tochter zu fällen. Die beiden Referenten hatten gegen sie ein Todesurtheil beantragt. Sie sollte wegen Vatermordes mittelst des Rades von unten herauf vom Leben zum Tode gebracht werden. Beide Referenten hatten ausgeführt, auch die Inquisitin habe, als ihre Mutter ihr ihre Rolle zugetheilt und sie diese übernommen habe, nicht darüber in Zweifel sein können, daß es sich um die Ermordung ihres Vaters handele. Sie sei also Theilnehmerin an dem vorhandenen Complott; nach der Lehre vom Complott aber sei jeder vorhandene Complottant für das verübte Verbrechen als Miturheber zu behandeln, folglich mit der vollen, ordentlichen Strafe des Verbrechens zu belegen. Dies sei um so unbedenklicher, als sie durch das Festhalten ihrer Mutter zugleich bei der That unmittelbar Hülfe geleistet habe.

Der erste Referent, ein junger Mann, der daher auch in der neueren deutschen Criminalrechtswissenschaft bewandert war, führte zugleich „eventuell“ aus, daß „bestenfalls“ ein „eventueller Dolus“ vorliege. Habe nämlich die Inquisitin auch nicht die bestimmte Absicht gehabt, zu der Ermordung ihres Vaters mitzuwirken, so müsse sie sich doch nothwendig bewußt gewesen sein, daß ihr Thun zu einer von den Anderen verabredeten Ermordung ihres Vaters mitwirken könne, und indem sie trotzdem so gehandelt, habe sie nothwendig in das Herbeiführen des Todes eingewilligt. Eine solche eventuelle, unbestimmte Absicht stehe aber nach den Grundsätzen der deutschen Rechtswissenschaft der bestimmten Absicht zu tödten völlig gleich.

Das waren die Ausführungen der beiden Referenten. Ihre Vorträge waren verlesen. Der Präsident forderte die übrigen Mitglieder des Gerichtshofes auf, ihre Meinung abzugeben.

Der Gerichtshof bestand mit Einschluß des Präsidenten aus sieben Mitgliedern.

Es entschied Stimmenmehrheit. Sprachen also, mit den beiden Referenten, noch zwei Richter für das Todesurtheil sich aus, so war dieses beschlossen. Sprach sich nur noch Einer dafür aus, standen mithin die Stimmen der Mitglieder gleich, so gab die Stimme des Präsidenten den Ausschlag.

Der Präsident war ein humaner, wohlwollender, würdiger Mann. Er war grundsätzlich gegen die Todesstrafe. Er unterwarf dem Willen des Gesetzes, das sie noch befahl, sich nur dann, wenn seine Ueberzeugung ihn unabweisbar nöthigte, die That unter das Todesgesetz zu bringen.

Die anderen Mitglieder des Gerichts?

Von den beiden Referenten war der zweite der zweitälteste [3] Rath des Collegiums. Er war ein braver, redlicher, selbst ebenfalls wohlwollender Mann. Aber er hatte die strengsten biblisch-religiösen Ansichten. Und zu diesen gehörte jener Satz: Wer Menschblut vergießet, dessen Blut soll wieder vergossen werden. Hier hatte gar ein Kind das Blut des eigenen Vaters vergossen. Er hatte nach seiner innersten Ueberzeugung den Tod beantragt. Er hatte nicht anders gekonnt.

Der gerade Gegensatz von ihm war der erste Referent. Er war der zweitjüngste Rath des Gerichtshofes und war, was man sagt, ein feiner Kopf, er glänzte mit seinen gelehrten Kenntnissen. Er war von Adel, wollte befördert werden, und eine glänzende Carriere machen. Er kannte die Bedeutung jenes biblischen Satzes für den Regenten des Landes. Diesem mußte das Todesurtheil mit den Originalrelationen zur Bestätigung vorgelegt werden. Er hatte den Tod beantragt.

Von den übrigen Richtern war der jüngste ein junger Assessor, der gleichfalls seine Carriere machen wollte. Er hatte im Collegium noch nie eine andere Meinung ausgesprochen, als die des Rathes, der eine glänzende Carriere vor sich hatte und, nachdem er selbst befördert war, auch Andere befördern konnte. Er hatte dessen Ansicht nur mit neuen Gründen unterstützt, wodurch die bereits vorgetragenen Gründe in ein um so helleres Licht treten mußten.

Dann kamen zwei Räthe, von denen der Eine ein eben so klarer, scharfsinniger Kopf, wie ein warmes edles Herz, der Andere aber eine indolente und schon deshalb stets für das Mildeste gestimmte Natur war.

Es war noch der älteste Rath da. Von ihm muß ich näher sprechen. Das Schicksal der Inquisitin hing von ihm ab.

Er hieß Rohner und war ein eigenthümlicher Mensch. Schon sein Aeußeres zeigte das. Seine Gestalt war groß, breitschulterig, knorrig. Sein Gesicht war breit, starkknochig, eckig. Die Nase war stark gebogen, die Lippen fest zusammengekniffen, die Augen klein, pechschwarz; unter den langen, buschigen, dunklen, schon etwas grau gefärbten Brauen leuchteten sie in einem stillen, aber desto unheimlicheren Feuer. Wehe, wenn das Feuer zur wilden Flamme aufloderte! Er war in der Mitte der fünfziger Jahre. Er machte den Eindruck eines scharfen, überlegten Geistes, aber eines harten Herzens, in dem die Härte zur Leidenschaft geworden ist. So war er auch. Seiner Dialektik konnte Niemand im Collegium widerstehen. Seine Härte fürchtete selbst jener biblisch strenge Rath. Die Welt nannte ihn boshaft.

Daß er an keinen Gott, an kein anderes Leben glaube, daraus machte er selbst kein Hehl.

„Er hat noch nie gebetet!“ sagten die Leute von ihm.

Er selbst widersprach nicht.

Aber sein Leben und sein Charakter waren unantastbar rein, und wenn er auch ein strenger, selbst harter Richter war, er war der Ueberzeugung, daß das Gesetz, das Recht es so von ihm fordere, und wie seine Ueberzeugung unerschütterlich fest war, so handelte er auch unerschütterlich fest nach ihr.

In seinem Lande garantirte das Gesetz die Unabhängigkeit der Richter. Sie konnten nur durch Urteil[WS 1] und Recht wegen strafbarer Handlungen ihres Amtes entsetzt werden. Der Monarch achtete das Gesetz. Sonst hätte eine frömmelnde Partei im Lande sich längst seiner zu entledigen gewußt.

Das waren die Richter, die über Tod und Leben der Inquisitin sich schon ausgesprochen hatten, und sich noch aussprechen sollten.

„Meine Herren,“ sagte der würdige Präsident, „meine Stellung verbietet mir, auf Ihr Urtheil irgend einwirken zu wollen. Aber mein Gewissen fordert von mir, Ihnen eine dringende Bitte an das Herz zu legen. Bevor Sie Ihr letztes Votum abgeben, wollen Sie zwei Umstände wohl und reiflich überlegen. Von der einen Seite suchen Sie sich völlig klar zu machen, ob denn die Inquisitin wirklich zu der Ermordung ihres Vaters hat mitwirken wollen; denn nur bei diesem Willen kann sie Complottantin sein. Müssen Sie nach Ihren, besten Gewissen diese Frage bejahen, neigen Sie dann auch der bestrittenen – ich bitte wohl zu beachten, meine Herren – der bestrittenen, zweifelhaften, strengeren Ansicht sich zu, daß jeder Complottant beim Morde, als solcher, mit dem Tode bestraft werden müsse: dann wollen Sie prüfen, ob wir es nicht hier mit einem unglücklichen, verwahrlosten und verführten jugendlichen Geschöpf zu thun haben, dem so viele Milderungsgründe zur Seite stehen, daß die Ausschließung der Todesstrafe gesetzlich gerechtfertigt, also nothwendig erscheinen dürfte.“

Es wurde von unten auf gestimmt. Die Autorität des Aelteren soll dem Jüngeren nicht imponiren, ist die Absicht des Gesetzes dabei.

Der Assessor stimmte zuerst. Er trat in einem glänzenden, einstudirten Vortrage den beiden Referenten bei. Für die Ausführung des ersten Referenten über den eventuellen Dolus und die gleiche Bestrafung aller Complottanten konnte er noch eine Menge Aussprüche der neuesten deutschen Criminalisten beibringen. Er freute sich, in solcher Weise der Ansicht der beiden Herren Referenten, besonders des ersten, nur beitreten zu können.

Er freute sich!

Der Rath, der auf ihn folgte, widerlegte ihn und die beiden Referenten. Er widerlegte sie schlagend.

„Der eventuelle Dolus ist ein logisches Unding. Der Mensch kann etwas nur bestimmt oder gar nicht wollen. Er kann auch nur das wollen, von dem er eine Kenntniß hat. In dem vorliegenden Falle ist mit nichts bewiesen, daß die Inquisitin Kenntniß von dem Mordplane ihrer Mutter und ihres Liebhabers hatte. Man kann nur Vermuthungen darüber aufstellen. Diese zur Gewißheit zu erheben, verbietet das Gesetz, und ist gewissenlos. Die Inquisitin kann hiernach nicht Complottantin sein.

„Wäre sie aber auch als solche zu betrachten, so kann nur eine verknöcherte Gelehrtentheorie, die von den Erfahrungen des Lebens nichts weiß, die sämmtlichen Complottanten mit der nämlichen Strafe, beim Morde mit der Todesstrafe, belegen wollen. Der gerechte Richter bestraft Jeden nur nach dem, was er gewollt und gethan hat, und niemals Jemanden, der nur eine entfernte Hülfe zum Morde geleistet hat, mit dem Tode.

„Wäre aber auch dem nicht so, wir haben hier ein armes, schwaches, kaum neunzehn Jahre altes Mädchen vor uns, das durch höllische Künste der eignen Mutter ein volles Jahr lang planmäßig verführt worden ist, und im letzten Momente noch durch Zufall und Ueberraschung einem moralischen Zwange unterworfen wurde. Wenn Jugend, Unerfahrenheit und Verführung je als gesetzliche Milderungsgründe gelten müssen, so ist es hier der Fall. Ich stimme gegen die Todesstrafe.“

Der träge und milde Rath hatte sein Votum abzugeben. Er trat lediglich seinem Herrn Vorgänger bei, und sprach sich aus den von diesem entwickelten Gründen gleichfalls gegen die Todesstrafe aus.

Drei Stimmen waren für, zwei waren gegen die Todesstrafe da.

Der Rath Rohner hatte zu stimmen. Es kam Alles auf sein Votum an. Stimmte er gegen den Tod, so standen die Stimmen der sechs Mitglieder gleich, und der Präsident hatte den Ausschlag zu geben, Niemand aber zweifelte, daß dieser gegen ein Todesurtheil sich aussprechen werde.

Stimmte der Rath Rohner dagegen für die Todesstrafe, so waren für diese vier Stimmen gegen zwei da, auf das Votum des Präsidenten kam es nicht weiter an, das Todesurtheil stand fest.

Aller Blicke waren auf den Rath Rohner gerichtet.

Im Saale herrschte wieder die tiefe, feierliche Stille der gespannten Erwartung. Jeder kannte die Strenge, die Härte des Mannes, in dessen Händen jetzt ein Menschenleben lag. Jeder fürchtete diese Strenge, diese Härte.

Auch heute. Ja, auch heute. Zur Ehre der Menschlichkeit sei es gesagt.

Der fromme Rath war in seinem Gewissen beruhigt, da er für den Tod sich ausgesprochen hatte. Der ehrgeizige Rath wußte, daß seine Relation unter allen Umständen dem Landesherrn zu Gesicht kommen werde. Der Assessor hatte seinem Gönner feinen Weihrauch gestreut.

Ein Gewissen hat jeder Mensch, wenn es ihm auch noch so tief in der Brust verborgen ist. Und wenn der Mensch über ein Menschenleben zu Gericht sitzen soll, dann wird auch der leiseste Laut dieses Gewissens für ihn zu einer mahnenden Donnerstimme. Er ist ein strenger, harter Mann. Aber es handelt sich um ein so junges Leben, um ein verführtes Herz, um Spitzfindigkeiten und Künsteleien einer tobten Schultheorie. Sollte er nicht heute einmal der mildern Ansicht Raum geben?

So sahen Alle auf ihn, in fast ängstlich lauschender Spannung. Und er saß mit seiner breiten, eckigen Gestalt, seinem starken, knorrigen Gesichte, den fest zusammengepreßten Lippen, so kalt, so unbeweglich da. Von seinen Augen konnte man nichts sehen; die tief herabgezogenen, buschigen, grauen Augenbrauen verbargen sie völlig.

[4] Er saß so unheimlich, so grauenvoll da. Konnte wirklich ein anderer, als ein unheimlicher, grauenvoller Urteilsspruch von dem Manne kommen? Er öffnete den Mund. Er sprach nur wenige Worte.

„Ich stimme für den Tod.“

Er sprach die Worte kalt. Dann sah er sich im Saale um. Er sah alle seine Collegen an. Man sah seine Augen, sie blickten Einen der Anwesenden nach dem Andern herausfordernd an.

Es mochte Manchen wohl kalt überlaufen bei dem kalten, herausfordernden, höhnisch herausfordernden Blick.

„Ihre Gründe?“ fragte ihn der Präsident.

Nach dem Gesetze muß jeder Richter sein Votum mit Gründen abgeben.

Er brachte seine Gründe vor, eben so kalt und herausfordernd.

„Ich gebe nichts auf alle jene abstracten Theorien. Sie sind entweder für das Recht verderblich, wie die vom Complott, oder sie sind geradezu lächerlich, wie die von dem eventuellen Dolus. Ich halte mich an das Recht, das aus jedem einzelnen Falle mir hervortritt, und prüfe, ob und welche Strafe danach ein Jeder verdient hat. Nur so allein ist das Recht und das Rechte zu treffen. Auch in diesem Falle. Es liegt ein Mord vor. Er ist von Mehreren verübt. Die eigene Tochter hat mitgewirkt. Für sie liegt ein Vatermord vor. Mitgewirkt hat die Inquisitin: gerade ohne sie wäre der Ermordete seinen Henkern nicht überliefert worden. Sie hat wissentlich mitgewirkt. Oder meinen Sie, ein Mädchen von neunzehn Jahren, dem man ein ganzes Jahr lang unablässig vorgesagt hat: nur dein Vater, der rohe, gemeine, ewige Trunkenbold steht deiner Verbindung, deinem Glücke entgegen, sein Tod macht dich frei, glücklich; das man dann auffordert, diesen Vater nächtlicher Weile in einen einsamen, gefährlichen Hinterhalt zu locken; das zuerst angelegentlich mehrere Male fragt, warum sie ihn dahin locken solle; dem man dann geradehin sagt: er muß weg, wenn er weg ist, kannst du heirathen; das nun nicht mehr fragt, sondern thut, was man von ihr verlangt hat, das dann noch, als sie den Vater mit dem Tode kämpfen sieht, ihre Mutter unterstützt, damit diese ihm den letzten Todesstoß geben kann – meinen Sie, meine Herren, daß eine solche Person nicht gewußt habe, um was es sich handelt, daß ihr Vater weggeschafft, gemordet werden solle? Sie selbst, meine Herren, die Sie zu Gunsten der Verbrecherin sprechen, nennen sie eine Verführte; wozu wäre sie denn nach Ihrer Meinung verführt, wenn nicht zu einer wissentlichen Theilnahme an dem Morde? Die Vatermörderin ist für mich da. Sie hat den Tod verdient. Nichts in der Welt kann meine Ueberzeugung hierüber erschüttern. Man will noch Milderungsgründe für sie auffinden. Ihre Jugend, ihre Gefühllosigkeit, jene Verführung sollen ihr Verbrechen mildern. Ihre Jugend, ihre Gefühllosigkeit? Es ist für mich jedesmal beschämend, solche Gründe in einem Gerichtssaale hören zu müssen. Gerade das jugendliche Gemüth soll für Tugend, Sitte und Recht am empfänglichsten sein, und wenn Sie, meine Herren, das nicht anerkennen, wenn Sie hier durch Milde die Untugend, das Laster, das Verbrechen privilegiren, prämiiren, erziehen Sie dann nicht die Jugend zu Lastern und Verbrechen? Und gar die Gefühllosigkeit, die Rohheit wollen Sie privilegiren und Prämiiren? Bedenken Sie dann nicht, daß Sie den Mörder, der vorher kalt und gefühllos sein Opfer mißhandelt, deshalb, gerade deshalb gelinder bestrafen müßten, als wenn er sich keine Mißhandlungen hätte zu Schulden kommen lassen? Ei, meine Herren, die Sie hier die Todesstrafe ausschließen wollen, künftig braucht ein Mörder nur recht roh, grausam und unmenschlich zu handeln, um vor Ihrem Richterstuhle sein Leben zu retten. Sie haben auch von Verführung gesprochen. Die Liebe zu dem jungen Menschen, der ihr Mitverbrecher wurde, diese durch die eigene Mutter absichtlich in ihr erregte und zu jener treibenden Gewalt gesteigerte Leidenschaft soll mildernd für die Inquisitin sprechen! Meine Herren, mit solchen Argumenten will man jetzt das Recht üben? Wenn die gemeine sinnliche Liebe in einem Kindesherzen die heilige Kindesliebe unterdrückt, verleugnet, vernichtet, daß das Kind den Vater mordet, dann wollen Sie darin Entschuldigung finden, und recht milde, gnädige Richter sein, den Mord nicht mehr als Mord gelten lassen? Den Vatermord? Wohlan, meine Herren, sprechen Sie das aus, wagen Sie, das auszusprechen, und Sie haben mit Einem Male alle Bande der Familie, der Eltern-, der Kindes-, der Gattenliebe zerrissen, und die gemeine sinnliche Liebe auf den Thron gestellt. – Sie haben meine Gründe.“

Er schwieg. Er hatte zuletzt mit erhöhter Stimme, mit unwillkürlicher, lebhafter Bewegung gesprochen. Er saß wieder unbeweglich da, mit fest zusammengepreßten Lippen. Ueber seine Augen zogen die Brauen sich wieder tief hinunter.

Seine Logik war eine eigenthümliche. Er berief sich auf seine Ueberzeugung, also auf etwas rein Innerliches. Er ließ Thatsachen sprechen, und zwar so, wie er sie combinirte. Er stellte Parallelen auf, in denen das Aehnliche unwiderleglich erschien, die lähmende, abweichende Sehne aber tief verborgen lag. Dazu die Dialektik des Hohnes. Man konnte ihm nicht auf der Stelle opponiren.

Der Präsident hatte das Recht, noch eine Debatte zu eröffnen. Jeder konnte darin noch seine Meinung ändern. Er eröffnete sie. Aber er mußte im ersten Augenblicke selber das Wort ergreifen, und er konnte nur mit Argumenten des Gefühls kämpfen.

„Meine Herren,“ sagte er, „ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Inquisitin vor unserer heutigen Sitzung im Gefängnisse zu besuchen. Ich glaubte, dadurch, daß ich sie persönlich sähe und hörte, am sichersten mein Urtheil über ihre Strafwürdigkeit befestigen zu können. Ich wünschte, auch Sie hätten die Unglückliche kennen gelernt.“

„Den Grundsätzen des Inquisitionsprocesses wäre das entgegen gewesen,“ bemerkte der Rath, der mit der neueren Wissenschaft vertraut war und Präsident werden wollte.

„Aber unser Gesetz verbietet es nicht,“ versetzte der Präsident. „Ich habe in der That eine Unglückliche,“ fuhr er fort, „eine bedauernswerthe Unglückliche kennen gelernt. Ein würdiger Prediger hat während der Haft die schlummernden Vorstellungen der Verwahrlosten über Gott, Religion, Recht und Sittlichkeit geweckt und lebendig gemacht. Erst jetzt erkennt sie, was sie gethan hat; erst jetzt hat sie es erkennen können. Sie verabscheut ihre That; sie würde von nun ab nie ihrer fähig sein. Die Grundsätze der Religion, der Tugend sind in ihr erwacht und befestigt mit einer Kraft, daß nur sie fortan die Richtschnur für ihr Leben bilden können. Und wir sollten es nun für unsere Pflicht, für Recht halten müssen, der Armen das Leben abzusprechen? Ich bitte Sie noch einmal, meine Herren, prüfen Sie wohl Ihr Gewissen!“

Der Rath Rohner erwiderte dem Präsidenten nichts. Seine Lippen zuckten mir höhnisch, als er die Worte Gott und Religion vernahm. Der fromme Rath nahm das Wort.

„Die Gründe des Herrn Präsidenten sind gegen die Todesstrafe überhaupt gerichtet. Ueber sie sitzen wir hier nicht zu Gerichte.“

„Meine Gründe sollten den einzelnen Fall treffen,“ entgegnete der Präsident. „Auch wenn ich kein Gegner der Todesstrafe wäre, würde ich fürchten, in diesem Falle durch ein Todesurtheil eine Blutschuld auf mich zu laden, von der ich einst vor dem höchsten Richter Rechenschaft ablegen müßte.“

Der Rath Rohner konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken.

„Ich kenne keinen höheren Richter, als das Gesetz und mein Gewissen.“

„Das Gewissen ist eben die Stimme des höheren, des göttlichen Richters, die in uns laut wird,“ sagte der würdige Präsident.

„Des göttlichen Richters?“ fuhr der Rath auf. „Und nach welchen Gesetzen sollte der richten?“

„Nach denen des ewigen göttlichen Rechts.“

„Von denen also unsere menschlichen Gesetze abweichen?“

„Wie oft nur zu sehr!“

„Das wollte ich hören. Ich habe es freilich schon oft genug hören müssen: Gott, göttliches Recht, ewige Vergeltung! Ei, meine Herren, wenn Sie von diesen sublimen Dingen sprechen, wenn Sie darnach als Richter entscheiden wollen, so müssen Sie sie doch vor Allem kennen, und eben so gut und genau kennen, und noch genauer, als unsere menschlichen Gesetze. Und woher kennen Sie denn solche göttliche Gesetze, wenn ich fragen darf? Und wenn Sie sie kennen, warum begeben Sie sich dann nicht lieber heute als morgen zu unserm Monarchen und eröffnen ihm: Wir haben Gott gehört und er hat uns seine Gesetze offenbart, und dagegen sind die Gesetze, die Du uns gegeben hast, nichts als himmelschreiendes Unrecht, und Deine Regierung ist nichts als ein erbärmliches, sündhaftes Erdenregiment, und daher fort mit Deinen Gesetzen und Deinem Regimente und Dir selbst! – Und von Blutschuld höre ich sprechen! Darauf habe ich nur ein Wort: Wohlan, ich nehme sie auf mich!“

(Fortsetzung folgt.)
[5]
Land und Leute.
Nr. 13. Pußtenleben in Ungarn.

Ungarische Nationaltracht.
Verheirathete Frau.      Wirthschafter.      Ochsenhirt.

Es gibt wohl wenig Länder in Europa, die außerhalb ihrer Grenzen so unbekannt und so schiefen Beurtheilungen ausgesetzt sind, als mein Vaterland Ungarn.

Sprachen doch noch im Jahre 1829 zwei reisende Engländer ihre Verwunderung darüber aus, daß es in Ungarn auch Chausseen und comfortable Gasthäuser gebe; fragte doch sogar einer dieser Gentlemen im vollsten Ernste meinen Vater: Wie viel Sclaven er habe? – Fürst Pückler-Muskau erzählt in seiner Reisebeschreibung von Ungarn: „Es gibt hier eine eigene Race von Pferden, die wild herumlaufen und eingefangen werden, wenn eben Jemand ihrer bedarf; man nennt sie Vorspann-Pferde.“ – Der erlauchte Reisebeschreiber erhob die armen Ackergäule, die, von der Weide geholt, vor den fürstlichen Wagen gespannt wurden, zu einer eigenen Gattung ihres Geschlechts. – Ja, noch vor wenig Jahren fragte mich eine Vollblut-Wienerin ganz naiv: „Habt Ihr denn in Ungarn auch Schneider?“

Es ist also wohl an der Zeit, daß wir uns anderen Völkern gegenüber im richtigen Lichte zeigen. Wir müssen sie blicken lassen in das Innerste unseres Nationallebens; wir müssen unsern Stolz besiegen und unsere Schwächen nicht schonend verhüllen wollen, damit wir die Glaubwürdigkeit nicht verlieren, wenn wir von unsern Vorzügen sprechen.

Willst Du, lieber Leser, die Magyaren kennen lernen, so reiche mir Deine Hand; ich führe Dich nicht in die Paläste der Vornehmen, [6] nicht in das Gewühl der Städte – sie gleichen sich überall, sie haben mit der Natürlichkeit auch ihren Nationalcharakter abgestreift. Ich führe Dich aber auf ein Terrain, das noch ungefurcht vom Pfluge überfeinerter Civilisation in seiner vollsten Naturwüchsigkeit dasteht, frei sich entfaltend mit allen seinen Schwächen und Vorzügen.

Wir sind mitten in Ungarn; eine unabsehbare Ebene, wohl 600 Quadratmeilen umfassend, breitet sich vor unseren Blicken aus. Sie fängt im Heveser Comitate an und erstreckt sich bis gegen Siebenbürgen und die südliche Grenze Ungarns. Ein eigenthümliches Gefühl des Bangens und Ermattens bemächtigt sich unser, wenn wir uns in dieser ungeheueren Fläche umschauen, auf der das Auge vergeblich nach einem Ruhepunkte sucht. Meilen weit, oft Tage lang findet man keine menschliche Wohnung, erblickt man keinen Kirchthurm, dessen Geläute mit tröstlichen Klängen von menschlicher Nähe zu uns spräche. – Oft fährt man Meilen weit auf einem schmalen hohen Damme mitten durch Moräste und Sümpfe, deren trügerisches Grün einen bodenlosen geheimnißvollen Abgrund deckt. Und nun werden wir noch von einem Gewitter überfallen. Die dunklen schweren Wolken scheinen auf der Erde zu liegen; man glaubt, von ihnen berührt und erdrückt zu werden. Die Blitze zucken in unheimlicher Nähe links und rechts hernieder und über die dunkle Fläche hinstreichend heult der Wind sein schaurig Lied. Das hohe Schilf flüstert und nickt und winkt mit seinen federbuschförmigen Spitzen. Zu alledem gesellt sich der tröstliche Gedanke, daß, wenn man den Weg verfehlt, Roß und Wagen sammt Inhalt in den Sumpf stürzen, aus dessen schlammiger Umarmung kein Entrinnen möglich ist.

Endlich, endlich entdeckt das sehnsuchtsvoll suchende Auge in weiter Ferne ein Licht. Aber noch lange dauert die Fahrt, ehe der ersehnte Hafen erreicht ist. Da schlägt Hundegebell an unser lauschend Ohr, die müden Rosse beschleunigen ihren Schritt und bald hält der Wagen vor einem Gebäude, aus dessen kleinen Fenstern der Lichtschimmer hinaus in die öde Haide fällt, wie ein Hoffnungsstrahl in trübe Leidensnacht.

Ein langer Blitz beleuchtet jetzt grell die Scene. – Wir sehen vor uns ein niedriges Haus, an das sich ein Stall und ein halbverfallener Schuppen anlehnen, unter dem mehrere gesattelte Pferde scharrend und schnaubend stehen. Die Thür öffnet sich und ein Jude, mit schmutziger Laterne vorsichtig herausleuchtend, ladet uns mit tiefen Bücklingen zum Absteigen ein und verheißt uns ein vortreffliches Nachtquartier.

Folgen wir dem kleinen Itzig in das Innere des Hauses. Nachdem wir die Hausflur durchschritten, treten wir in eine von Lampenqualm und Tabakrauch erfüllte große Stube. In einer Ecke an einem langen, mit Bänken umgebenen Tische sehen wir eine sonderbare Gesellschaft versammelt. Es sind kräftige, naturwüchsige, gedrungene Gestalten mit blitzenden Augen und intelligenten, scharfgezeichneten Gesichtern. Ein kleines rundes Hütchen ist keck auf eine Fülle glänzend schwarzer Haare gedrückt. Fabelhaft weite weiße Leinwandhosen (Gatya), ein Hemd, dessen offene breite Aermel, in gefälliger Drapirung zurückfallend, die kräftigen muskulösen Arme sehen lassen, eine kurze Weste von blauem Tuch mit unzähligen glänzenden Knöpfen verziert und ein über die Schulter malerisch geworfener Spencer (mente), mit Schnüren und Knöpfen reichlich besetzt, bilden die Kleidung dieser Männer. Gespornte Stiefeln und Pistolen vollenden das Ganze.

Wer sind diese unheimlichen Gesellen, die so ernst beim Weine dasitzen, die den eintretenden Fremden kaum eines Blickes würdigen? Was ist das für ein Haus? Ueberhaupt, was für eine Gegend ist’s, in der wir uns befinden? – Diese drei Fragen sind nicht schwer zu lösen für den Eingebornen, dem Fremden mögen sie gleich schaurigen Gespenstern erscheinen. Wir sind auf einer Pußta, jene finstern Gesellen sind Betyárs, das Haus ist eine Csárda.

Was aber ist eine Pußta? Nehmen wir ein Wörterbuch zur Hand, so finden wir dies Wort durch Wüste, Haide, Steppe übersetzt und sind nicht um ein Haar breit der Aufklärung darüber nähergerückt, denn keine dieser drei Benennungen bezeichnet das Eigenthümliche der Pußta. Man darf sich mit diesem Worte durchaus nicht eine gänzlich unbewohnte öde Haide oder gar eine unfruchtbare Wüste vorstellen, sondern man bezeichnet in Ungarn damit einen Strich Landes, der innerhalb seiner Grenzen kein Dorf hat und mehrere hundert oder auch viele tausend Joch[1] groß ist. Die Anzahl dieser Pußten ist bedeutend, sie wird auf 3000 angegeben, die theils im Besitze Einzelner sind, theils ganzen Gemeinden zugehören.

Um einen Begriff von ihrer Ausdehnung zu geben, wollen wir nur die Pußta Hortobagy anführen, deren Flächeninhalt 55,000 Joch beträgt und deren fettes Weideland außer unzähligen Schafen und Pferden 30,000 Stück Hornvieh reichlich ernährt. Die Pußta sammt allen darauf weidenden Thieren gehört der Stadt Debreczin, deren Gebiet zehn Meilen lang und zwei breit ist.

Jetzt aber zurück zu unserm Wirth. – Es ist Morgen. Nach jener ermüdenden Reise in der vergangenen schaurigen Gewitternacht haben wir recht gut in der Csárda geschlafen. Csárda, so heißt das einsame Wirthshaus, welches inmitten dieser ungeheueren Ebene gleich einem Verbannten dasteht. Das Rohrdach ist mit Moos und Schlingpflanzen überwuchert; die Wände sind von gestampftem Lehm und haben kleine trübe Fenster; auf dem Giebel steht auf einem Beine ein philosophischer Storch in seinem seit Jahren immer wieder aufgesuchten Neste. Neben der Thüre liegen zwei große zottige Wolfshunde, die nach der durchwachten Nacht in behaglicher Ruhe sich dem Schlafe überlassen. Vor dem Hause erblicken wir einen Brunnen, dessen Stange riesengroß erscheint in der weiten, durch nichts unterbrochenen Fläche.

Wir reisen weiter durch die endlos scheinenden Sümpfe, die oft mit zwei Klaftern hohem schlanken Rohr dicht bedeckt sind, in dessen schützendem Dickicht Tausende von Wasservögeln nisten und ihr verschiedenartiges Geschrei hören lassen. Hin und wieder, wo sich das Wasser zu Teichen angesammelt, schreiten ernst und majestätischen Schrittes prächtige Reiher auf und ab, auf einen neugierigen Frosch lauernd, der seine Nase unvorsichtig aus dem Wasser steckt. In der Entfernung sehen wir aus dem zerbrochenen Schilfrohr sonderbare dunkle Gegenstände hervorragen, die wir weder für Vögel, noch für andere Thiere zu halten geneigt sind. Wir kommen näher und entdecken eine im Moraste liegende Büffelheerde, deren zottige Köpfe mit krummen schwarzen Hörnern und wildblickenden Augen aus dem Schlamme unbeweglich hervorragen. Sie bringen in dieser beschaulichen Ruhe den größten Theil des Tages zu, um sich gegen Hitze und Fliegen zu schützen.

Jetzt fliegt auf leichtfüßigem Rosse ein Reiter an uns vorüber – wir erkennen in ihm einen jener ernsten Gesellen aus der Csárda.

Der Betyár ist der Pußta echtester Sohn. Sein ganzes Hab’ und Gut sind sein flüchtiges Roß und seine Waffen. Seine Begriffe über das Eigenthumsrecht sind ungemein verwirrt; vor seinem geübten Blicke bleibt der fetteste Hammel der Heerde, das beste Roß zwischen Hunderten nicht verborgen und geht bei nächster Gelegenheit in seinen Besitz über. In selteneren Fällen greift er zu Straßenraub und Mord. Die Pußta ist seine Wohnung, sie bietet ihm Alles, wonach seine Seele begehrt.

Oft erscheint ein solcher Betyár in dem nächsten Dorfe bei einer Hochzeit und wird immer gern oder ungern freundlich empfangen und gut bewirthet. Die Dirnen tanzen gern mit dem schmucken Burschen, der mit klirrenden Sporen den Takt zum lustigen Tanze schlägt. Man hütet sich, den ungerufenen Gast zu beleidigen oder der Obrigkeit anzuzeigen, denn man weiß, daß seine Cameraden grausame Rache üben würden, die am gewöhnlichsten in Brandlegung besteht. Seit dem letzten Jahrzehnt haben sich diese gefährlichen Bewohner der Pußta auffallend vermehrt und Raub und Mord sind nicht mehr so ungewöhnlich. Die Ursache davon ist, daß nach der Revolution manche Individuen, selbst aus den civilisirteren Ständen, Schutz in der Einsamkeit der Pußta suchten und die Verderbtheit der Städte in die wilde Natur mitbrachten.

Diejenigen Theile der Pußta, welche wegen ihres morastigen, Ueberschwemmungen sehr ausgesetzten Bodens zum Ackerbau nicht benutzt werden können, liefern die fetten üppigen Weiden für Pferde, Schafe und Hornvieh. Dort, wo die Rohrfelder und tiefen Sümpfe aufhören, finden wir schon ein regeres Leben. Da steht, umgeben von seiner zahlreichen feinwolligen Heerde, der Schäfer; seine großen zottigen Hunde, die manchen Kampf mit den kleinen, ungemein wilden und raubgierigen Rohrwölfen muthig bestehen, sind die treuen Genossen seiner Einsamkeit.

Weiterhin in ernstem Sinnen an seinen Stab gelehnt steht der Ochsenhirt (Gulyás), um ihn graset die schneeweiße Rinderheerde (Gulya). Wie ganz anders sind doch diese Thiere im Vergleich mit denen, die im Stalle gezogen wurden! Der Körper ist [7] schlanker, mit zartem, jedoch kräftigem Gliederbau. Das stolz erhobene Haupt ist edel geformt und klein, so daß man kaum begreift, wie es den Schmuck der ungeheueren Hörner tragen kann, deren Spitzen oft eine volle Klafter Zwischenraum haben. Der Gang ist leicht und schnell, die großen Augen leuchten von Muth und Feuer. Diese Heerden sind ganz der Natur überlassen; da die Kühe nicht gemolken werden, so saugen die Kälber so lange, als jene es leiden mögen. Im dritten oder vierten Jahre werden die jungen Ochsen von der Heerde ausgeschieden und theils zur Feldarbeit benutzt, theils zu Tausenden verkauft.

Diese Hirten mit ihren zahlreichen Heerden, die Betyáren, der Jude mit seiner Familie in der Csárda sind jedoch nicht die einzigen Bewohner der Pußta, die als Weideland benutzt wird. Da gibt es noch ein im Grunde recht harmloses Völkchen, man nennt sie Szegény legény (arme Bursche). Diese sind die Dandies der Pußta. Sie sind meist junge Leute, oft wohlhabende Bauersöhne, die vor der Militairstellung entwichen und nun Schutz in den weiten Einöden und dem undurchdringlichen Rohrdickicht suchten und fanden. Sie lieben deshalb auch die Pußta, wie eine Mutter, und kennen alle Wege und Stege in den Sümpfen so genau, daß es dem Reisenden wie ein Geisterspuk erscheint, wenn er diese jugendlich kräftigen Gestalten in mondheller Nacht auf leichtfüßigen Rossen mit einer Sicherheit mitten durch den Morast dahinfliegen sieht, als trabten ihre Pferde auf dem geebneten Boden der besten Reitschule.

Ihr Costüm gleicht jenem des Betyár, nur ist darin mehr Reinlichkeit und eine gewisse kokette Zierlichkeit vorherrschend. Sie leben zwar auch auf anderer Leute Kosten, allein nicht so sehr von den unfreiwilligen Gaben der Angst, als von den freiwilligen der Gastlichkeit. Gern theilt der Hirt Brod und Speck mit ihnen, das Mahl wird gewürzt durch einen guten Schluck Wein, der nie in dem mit Pferdehaut überzogenen hölzernen Kulacs fehlt. Das Pferd ist des Flüchtlings treuester Genosse; allerdings hat er dies nicht auf dem gewöhnlichen Wege des Kaufes erworben, denn diese wilden Kinder der Pußta betrachten Pferderaub als einen ganz natürlichen und verzeihlichen Eingriff in das Eigenthum eines Anderen.

Der erste Szegény legény begeht nie einen andern Raub, noch weniger einen Mord; er besucht nicht nur die Hirten und die zerstreut auf der weiten Pußta umherliegenden Wirthschaftshöfe, sondern er kommt auch in den Winterabenden in die näheren Dörfer und Herrenhäuser, und fehlt selten im Wirthshause beim lustigen Tanze.

Diese Ritter der Pußta geben oft ihr freies Abenteuerleben auf, wenn sie zu tief in die Augen einer hübschen Dirne gesehen, und die Liebe den Wunsch nach einem festen Wohnsitze, nach einem eigenen Heerd in ihrer Brust geweckt hat. Doch auch dann verlassen sie die geliebte Pußta selten; sie werden Hirten oder treten in Dienste auf den Wirthschaftshöfen.

Diese weiten, ebenen Landstrecken, deren Bewohner Hirten (Pástorock), Betyár’s, Szegény legény und viele Hunderttausende von Schafen, Rindern und Pferden sind, und deren ungeheure Rohrfelder zahllosen Sumpf- und Wasservögeln Kost und Wohnung geben, sind die eigentlichen Pußten. Von großem Nutzen für diese Gegenden sind die schon öfter erwähnten Rohrfelder. Das Rohr wird im Winter, sobald die Sümpfe zugefroren, geschnitten, in Bündel gebunden und theils verkauft, theils zu eigenem Verbrauche verwendet. Da in diesen Gegenden das Holz nur dem Namen nach bekannt ist, so benutzt man das Rohr als das gewöhnliche Brennmaterial. Auch deckt man die Gebäude damit, verfertigt Matten daraus und gebraucht es, Faschinen gleich, um durch Moräste Wege zu bauen. Es ist oft der Fall, daß man nur festgeschnürte Rohrbündel dicht neben einander und mehrere Lagen übereinander legt, und mit dem schwersten Lastwagen über diese elastischen Brücken fährt. Die Bewohner dieser sumpfigen Gegenden besitzen im Herstellen solcher Brücken eine besondere Fertigkeit, und sind in einigen Stunden mit einem derartigen Bauwerke fertig, das zuweilen mehrere Klaftern lang ist. Es gibt sogar manche, die hundert, ja zweihundert Klaftern mitten durch den unwegsamen Morast führen.

Das Rohr, welches man nicht abschneiden kann, weil entweder der Sumpf zu tief oder weil man es nicht mehr bedarf, wird angezündet, und diese weiten brennenden Strecken gewähren einen prächtigen Anblick, wie man ihn in Europa schwerlich wieder finden wird. Der nächtliche Himmel ist weithin in die schönsten Schattirungen von Gold und Roth gekleidet, gierig verzehrt das Feuer das ihm gebotene Material – die Flammen wogen mehrere Klaftern hoch hin und her, man hört das Prasseln schon in weiter Ferne, zuweilen unterbrochen durch das klägliche Geheul eines Rohrwolfes, der den Verlust seiner Winterwohnung bejammert, oder durch das ungehaltene Bellen der Füchse, die sich über das Beleuchten ihrer nächtlichen Pfade ärgern.

(Schluß folgt.)




Aerztliche Strafpredigten.
Den Müttern hustender Kinder.
(Keuchhusten; Bräune.)

Krankheiten verhüten ist weit leichter als Krankheiten curiren, zumal bei Kindern. Dies kann Müttern gar nicht oft genug gepredigt werden. Denn selbst die vorsichtigsten und auf ihre Kinder aufmerksamsten Mütter, — wie sich übrigens, beiläufig gesagt, alle, auch die genußsüchtigsten und unhäuslichsten Frauen gern öffentlich zu nennen pflegen, – begehen bei der Behandlung kleiner Kinder sehr oft die gröbsten Verstöße.

„Ihr Kind ist schon sechs Wochen alt, und ist noch nicht in’s Freie getragen worden? Das meinige muß alle Tage, bei Wind und Wetter heraus und gedeiht dabei zusehends.“ Einige Wochen nach diesem Zwiegespräche starb das abgehärtete Kind in Folge einer Lungenentzündung, die es sich im Freien durch Einathmen kalter Luft zugezogen hatte. Das nächste Kind wird aber doch wieder abgehärtet.

„Wir sind Alle von unserer Mutter so aufgezogen worden.“ – Deswegen sind Sie, Madame, aber auch nervenschwach und hysterisch, Ihr Herr Bruder schwindsüchtig und Ihr Fräulein Schwester bucklig.

„Ich kann es nicht begreifen, wo meine Kinder diesen entsetzlichen Husten herhaben, ich habe sie doch so warm gehalten.“ – Allerdings hatten die Kinder dicke wollene Tücher um den Hals gewickelt, sonst gingen sie aber kurzärmlig, barwadig und dünn beschuht.

„Ja! da können Sie freilich keinen so hübschen dicken Jungen, wie ich, haben, wenn Sie Ihrem armen Kinde blos Milch geben und es halb verhungern lassen." — Der hübsche dicke, mit Brei gefütterte Junge verlernte sehr bald das Laufen wieder, ward krummbeinig und ein Krüppel.

Es ist merkwürdig, wie die meisten Mütter, obschon sie sich für ihren Beruf gar nicht vorgebildet haben, doch mit einer staunenswerthen Arroganz, nur gestützt auf Alteweiber-Klugheit, über Behandlung und Erziehung der Kinder aburtheilen. Man betrachte aber auch nur einmal die Producte unserer jetzigen Hauserziehung; schöne Früchtchen! Ein Mann sollte eigentlich nur solch ein Mädchen heirathen, das seine Studien nicht auf Bällen, in Gesellschaften und Concerten, wohl aber in Krippen (d. h. Säuglingsbewahranstalten), Kleinkinderbewahranstalten oder Kindergärten gemacht hat. Die meisten der jetzt existirenden Mädchen-Institute sind in der That recht heimtückische Anstalten, denn sie produciren für die armen Männer lieblich anzuschauende und anzuhörende Dämchen, die wohl eine Wonne für den Brautstand, aber ein Gräuel für den Ehestand sind. Das wird aber auch sobald noch nicht anders, denn die Frauen lassen sich einmal von ihren verschrobenen Ansichten nicht so leicht abbringen, und das ist sehr schlimm, denn sie sind ja gerade zur Veredelung des Menschengeschlechtes berufen. Es ist ferner traurig, daß selbst ziemlich verständige Frauen, obschon sie das ernsteste Bestreben haben, sich für ihren Beruf auszubilden, doch die ihnen durch Schrift und Wort von Sachverständigen mitgetheilten Erziehungs- und Gesundheitsgesetze gar zu gern ihrem Glauben und Meinen anpassen wollen oder nur zum Theil halten und verstehen.

Trotzdem muß es doch immer und immer wieder versucht werden, [8] die Frauen und besonders die Mütter durch Ueberredung und Belehrung selbst bei ihrem mangelhaften Denken vernünftiger zu machen, und zwar ebensowohl ihrer selbst wegen, als der nachkommenden Menschheit halber.

Greifen wir die Frauen zunächst bei ihrer schwächsten Seite, bei ihren Kindern an. Gesund, schön und klug möchte jede Mutter ihre Kinder haben, aber freilich das zu werden, überlassen die Meisten dem lieben Gott. Gerade als ob unser Schöpfer nicht schon dadurch Großes an uns Menschen gethan hätte, daß er die Fähigkeit in uns legte, vernünftig und dadurch gut, gesund und glücklich werden zu können. Stirbt einer Mutter der Liebling, dann will sie sich vor Schmerz den Kopf abreißen; daß aber ihr kopfloses Handeln die Schuld am Tode trägt, will keiner solchen Mutter in den Kopf.

Die meiste Sorge, und zwar mit Recht, machen einer Mutter die Krankheiten ihrer Kinder, welche mit Husten einhergehen. Denn wenn auch in den allermeisten Fällen ein schlichter Katarrh der Luftwege Schuld an dieser Krankheitserscheinung ist, so können doch auch leicht sehr gefährliche Uebel im Athmungsapparate derselben zu Grunde liegen. Fast immer wachsen nun die letzteren aus leichteren Affectionen hervor, und niemals betreffen sie das Kind wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Bräune, dem Keuchhusten und der Lungenentzündung, den gefährlichsten Krankheiten des Kindesalters, gehen stets, wenn auch manchmal nur kurze Zeit, leichte katarrhalische Erscheinungen (Schnupfen, Hüsteln, Augenthränen) vorher, die, wenn sie beachtet und gehörig behandelt worden wären, nicht jene schweren Leiden nach sich gezogen hätten. Allerdings wollen es die Mütter selten Wort haben, daß sie ihr schnupfiges Kind bis Abends spät mit spazieren nahmen, oder daß die hustende Kleine bei rauhem Wetter zum Geburtstage einer Freundin gehen mußte u. s. f. In der Regel behaupten solche Mütter stets, frei von aller Schuld an der Krankheit des Kindes zu sein. Ich glaube es nie!

Also merkt’s, Ihr Mütter und Erzieher doch endlich einmal! Sobald an einem Kinde die ersten Spuren eines Katarrhs (Schnupfens) auftreten, haltet dasselbe hübsch ruhig im Zimmer, und zwar bei warmer, reiner Luft (von etwa + 13—16° R.), jedoch im Winter ebenso, auch in der Nacht wie bei Tag. Ganz besonders ist bei Heiserkeit und Husten gleich anfangs dazuzuthun. Die Luft, welche das Kind einathmet, ist also hier die Hauptsache, nicht die warme Kleidung, in welche die meisten Mütter ihre hustenden Kinder vom Scheitel bis zur Zehe einpacken. Auch auf den Vorsaal oder in kältere Zimmer dürfen solche Kinder nicht, denn selbst das einmalige Einathmen kalter Luft, nachdem vorher das Kind in warmer Luft geathmet hatte, kann das Uebel schlimm machen. Hinsichtlich der Nahrung braucht keine Aenderung getroffen zu werden, wenn nämlich das Kind wirklich kindliche Nahrung (milde, reizlose, nahrhafte, hauptsächlich Milchkost) bekommt.

Eine richtige Mutter sucht nun aber auch bei ihrem Kinde den Katarrh ganz fernzuhalten, nicht blos nach seinem Eintritte zu zügeln. Dies kann sie aber dadurch, daß sie das Kind niemals einer rauhen, kalten, unreinen Luft zum Athmen und überhaupt der Erkältung aussetzt. Bei Nord- und Ostwinden gehören Kinder ins Zimmer; frühzeitiges Abhärten derselben durch kalte Waschungen und Halbnacktgehen ist ein Unsinn, ein Kind gedeiht wie eine junge Pflanze nur bei der gehörigen Wärme. Am gefährlichsten ist der schnelle Wechsel zwischen Wärme und Kälte. Es wundern sich oft die Mütter, wie ihre Kinder, die im Sommer doch beim schönsten Sonnenschein ausgetragen oder spazieren geführt wurden, einen bösen Husten bekommen konnten. Das Wunder ist aber leicht erklärlich, wenn man sieht, wie Kindermädchen mit ihren Pflegebefohlenen im kühlen Schatten und in der Zugluft mit Colleginnen oft Stunden lang schlabbern. Es sollten eigentlich Gesundheits-Polizeidiener diesem gefährlichen Treiben der Kindermädchen und Muhmen auf Weg und Steg entgegentreten, oder noch besser, es sollte jeder gebildete Mensch ein solcher Gesundheitspoliciste sein.

Nicht umhin kann Verfasser, den Müttern, deren Kinder von heftigen Hustenanfällen heimgesucht werden, noch zu rathen, bei der Wahl des Arztes ja darauf zu sehen, daß derselbe den kranken Körper zu untersuchen versteht und auch recht genau untersucht (beklopft und behorcht), denn der Husten, er mag eine Beschaffenheit haben, welche er will, kann das Symptom sehr vieler und verschiedener Krankheitszustände im Athmungsapparate sein. Die blos auf die verschiedene Beschaffenheit einzelner Krankheitserscheinungen hin mit Nichts curirenden Homöopathen sind bei diesen Kinderkrankheiten, wo ein rechtzeitiges und richtiges Eingreifen sehr oft den Tod abhalten kann, ihres Nichtsthuns wegen ganz gefährliche Menschen. Natürlich nehme ich die Bastard-Homöopathen aus, welche ehrlos genug sind, in Fällen, wo es gilt, Etwas zu thun, sofort allopathische Mittel in allopathischen Gaben anzuwenden, dies aber noch für homöopathisches Curiren auszugeben.

Damit der Leser einen kleinen Begriff von der homöopathischen Wirthschaft bei Hustekrankheiten bekommt, will ich aus einem der neuesten homöopathischen Haus- und Familienschätze in Kürze die daselbst aufgeführten Hustesorten (31 an Zahl) aufzählen, von denen aber eine jede durch 5 bis 11 verschiedene Mittel geheilt werden kann. Es sind: der trockene, lockere, krampfhafte, Brech-, Abend-, Nacht-, Früh-, Bell-, Stick-, Kitzel-, heisere, pfeifende und krächzende Husten; der Husten mit schleimigem, blutigem, eitrigem, übelriechendem, wässerigem, zähem, grünlichem, grauem, salzigem, bitterm, süßlichem, fauligem, saurem Auswurf; der Husten erregt durch Bewegung, Sprechen, Essen, im Liegen und im Freien. Die dagegen empfohlenen Mittel sind: Sturmhut, Tollkirsche, Bilsenkraut, Brechwurzel, kohlensaures Kali, Brechnuß, Phosphor, Seeschwamm, Kupfer, Sonnenthau, Zaunrebe, Eisen, Küchenschelle, Brechweinstein, weiße Nieswurz, Arsenik, Kalk, Zinn, Phosphorsäure, Arnica, Salpetersäure, Schwefel, Holzkohle, China, Chamomille, Quecksilber, Jod, Senega, Bärlapp, Sepia, Schwefelleber und Opium. Beim Nachthusten hat man die Wahl zwischen Aconit, Arsenik, Belladonna, Hyoseyamus, Chamomille, Mercur, Nux vomica, Pulsatille, Spongia, kohlensaurem Kalk und kohlensaurem Kali.

Wem bei dieser haarsträubenden Hustegeschichte die Augen über den Werth der homöopathischen Heilmethode nicht aufgehen, der muß geistig-blind geboren sein. Hierzu kommt nun aber noch, daß andere homöopathische Arzneischätze ganz andere Hustesorten annehmen, und dagegen wieder ganz andere Arzneien empfehlen. Man vergleiche z. B. die Angaben der neuesten homöopathischen Krankheits- und Arzneimittellehren über die Heilung der häutigen Bräune (des Croup). Es schreibt Herr Dr. Clotar Müller: „hundertfältige Erfahrung hat in der Spongia (Badeschwamm) ein Heilmittel dieser Krankheit erprobt, das höchst selten seine Hülfe versagen wird. Die rechtzeitige, energische und für gewisse Fälle consequente Anwendung der Spongia hat in so unendlich vielen Fällen dieser mit Recht sehr gefürchteten Krankheit den wahrhaft segensreichsten und überraschendsten Erfolg bereits gehabt, daß allein schon hierdurch die Vorzüglichkeit der Homöopathie gegenüber dem gewöhnlichen Verfahren mit Blutegeln, Salben, Blasenpflastern etc. hinreichend bewiesen wäre, und gerade diese sichere und schnelle Heilung einer so gefährlichen Krankheit der Homöopathie zahlreiche Anhänger und Freunde erworben hat.“ – Dagegen ist nach Herrn Dr. Hirschel das Heilmittel beim Croup, welches die Heilung oft ganz allein vollbringt: das Jod; anfangs paßt aber noch Aconit und zu Ende der Krankheit Schwefelleber. Von der Spongia, die nach Müller höchst selten ihre Hülfe versagt, sicher und schnell heilt und der Homöopathie zahlreiche Anhänger erworben hat, sagt Hirschel beiläufig in einer Anmerkung: „sie scheint mehr für den entzündlichen Katarrh, als für die Bräune zu passen.“ Ferner behauptet derselbe: „wäre von jeher gegen diese Krankheit Hülfe bei der Homoöpathie gesucht worden, so würde sie nicht diesen panischen Schrecken bei ihrem Auftreten verbreiten.“ — Herr Dr. Arthur Lutze, welcher „für sorgsame Mütter kleine Kästchen mit Croupmitteln (sogen. Bräune-Apotheken) hat anfertigen lassen,“ gibt, beim Croup hauptsächlich Aconit und Schwefelleber; erfolgt nach Aconit keine Besserung, dann „gebe man ungesäumt Schwefelleber und Spongia im Wechsel ein,“ und: „nur bei scrophulösen Kindern mit harten Drüsenanschwellungen am Halse gibt man gleich Jod mit Aconit im Wechsel.“ Hiernach kommt also Dr. Lutze beim Croup nicht blos mit der Müller’schen Spongia oder mit dem Hirschel’schen Jod aus, trotzdem daß derselbe seine Arzneien auch noch mit einer Portion Lebensmagnetismus versetzt hat und trotzdem daß die von ihm bereiteten Potenzen eine bei Weitem stärkere und schnellere Wirkung hervorbringen, als die von anderen Homöopathen. – Welcher von diesen Aerzten hat nun wohl das rechte homöopathische Hauptcroupmittel? (Ueber Bräune und Keuchhusten nächstens.)

Bock.
[9]
Eine deutsche Frau in der Fremde.

Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben und sonnige, kernige Menschen mit ganz eigenem deutschen Wesen in Sprache, Kleidung, Gesittung und Gesinnung, manch’ „ehrlicher Junge“, zu dem das lachende Schätzchen sagt: „Du gode Jong’! wat häß Du doch e dröckelig Gemööth!“[2] Leute voller Humor und Spaß, die gelegentlich auch gern „eene Preuß’ uhtze“[3] und von dem jungen Burschen, der Soldat ward, sagen: „Hä mooht Preuß’ werde“.

Am Rhein, am Rhein, wo Beethoven und Johanna Kinkel und ihr Gatte, der Dichter des schon in 22. Auflage erschienenen „Otto des Schützen“, und mancher Ton- und Sprachdichter geboren wurden und Singvereine und Liederkränzchen in Menge blühen, da wächst und gedeiht auch eine heitere, deutsche Lebens- und Liederlust, ein rothwangiges, eigenes Volks- und Liebesleben, schöner, als in vielen anderen Landesstrichen.

Johanna Kinkel ist die einzige Tochter einer alten, echten rheinischen Familie, einer Kölnischen. Ihr Vater, Joseph Mockel, war Gymnasiallehrer in Bonn, wo sie, in der Vaterstadt Beethovens, am 8. Juli 1810 geboren ward. Ein Bruder starb schon in der Kindheit, so daß sie als einziges Kind aufwuchs, sich in ihren kindlichen Spielen an Einsamkeit und Selbstständigkeit gewöhnte, und das mit ihr geborne musikalische Talent früh entdeckte und zu nähren verstand. Ihre Erinnerungen an die früheste Kindheit fangen mit der Mutter an, wie sie einmal an ihr Bettchen trat und rief: „Kind, wach’ auf, wir haben ja Frieden!“

Schöner Ruf zum Erwachen des kindlichen Bewußtseins! Sie blühte auf unter den Segnungen des Friedens, der heiteren, reichen wissenschaftlichen, musikalischen, künstlerischen und industriellen Cultur Bonns, bis eines Abends plötzlich Krieg, grimmiger Revolutions- und Bürgerkrieg in ihr strahlend schönes und reiches Familienleben eingriff, der Gatte von vier schlafenden Kinderchen Abschied nahm und in Nacht und Kugelregen verschwand, und sie dann selbst, von den Kindern und einem Säuglinge getrennt, als einsame, verlassene, bedrohte, verfolgte, überall zurückgewiesene Gattin und Mutter zwischen preußischen Militairmassen umherirrte und nach den heldenmüthigsten, ausdauerndsten Anstrengungen körperlich und geistig zusammenbrach. – Im zwölften Jahre wurde sie Schülerin des berühmten Franz Rieß (letzten Capellmeisters des letzten Kurfürsten von Köln), bei welchem auch Ferdinand Rieß und Beethoven ihre erste Meisterschaft über die Töne gelernt hatten.

Johanna Kinkel.
(Nach dem vom Bildhauer Herrn Graß ausgeführten Relief-Portrait, gezeichnet von Herrn Böhm in London.)

Rieß lebte auf einem Gute bei Godesberg. Dorthin ging die zwölfjährige Johanna alle Wochen mehrere Male, um von dem Lehrer Beethoven’s auch Musik zu lernen. Später zog er nach Bonn, wo Johanna ihren Clavierunterricht fortsetzte und er noch manche Schüler bildete. Sie lebte fortan dem Hause, ihren Eltern und in allen Freistunden der Musik mit nur seltenen Ausflügen in Gesellschaft der Jugend gleichen Alters. – Im zweiundzwanzigsten Jahre vermählte sie sich mit dem Buchhändler Matthieux in Köln, trennte sich aber schon nach einem halben Jahre auf immer von ihm, da sie zu der festen Ueberzeugung gekommen, daß diese Ehe nie ihren innersten Ansprüchen des Herzens Befriedigung gewähren könne. Sie spricht sich darüber selbst so aus:

„Meine erste Heirath ist die Geschichte von Tausenden meiner Schwestern und das nothwendige Resultat unserer socialen Zustände. Unzählige Frauen gehen an ähnlichen Verhältnissen zu Grunde, indeß von einer ganzen Generation kaum eine den Muth hat, sich loszureißen und ihr besseres Selbst zu retten“ etc.[4]

Während der 10 Jahre bis zu ihrer Verehelichung mit Kinkel lebte sie ganz als gründlich studirende, ausdauernd arbeitende, strebsame und ausübende Künstlerin. Sie ging nach Berlin, um unter dem Capellmeister Böhmer einen ganzen, mehrjährigen, gründlichen Cursus im Generalbaß durchzumachen, und kam bald durch ihr eigenes Streben und Wirken in die gebildetsten Kreise. Sie lebte eine Zeit lang im Hause der Bettina v. Arnim und stritt sich Jahre lang ununterbrochen mit ihrem antagonistischen Freunde und trockenen, ruhigen Hegelianer, Geheimerath Henning. Die lebhafte, impulsive, junge, kecke Rheinländerin machte dem Philosophen auf dem Berliner Sande viel zu schaffen. Sie gab ihm in Festhaltung und dialektischer Durchführung ihrer Behauptungen nichts nach, so daß sie stets zusammenkamen, um begonnenen Krieg fortzusetzen.

Nach Vollendung ihrer Generalbaßstudien trat sie als Componistin auf. Es waren Lieder und ihre berühmteste, populärste Composition: „Die Vogel-Cantate“, die mit Flügeln und Schnäbeln ausgeführt wird, um den Streit der Singvögel um die Directorstelle (Satire auf die vielen Director-Candidaten in Bonn) recht anschaulich zu machen. Text und Composition sind ganz von ihr selber, so daß sie als die genialste Schöpferin des Komischen in der Musik (eine der größten Seltenheiten) angesehen werden kann. Bald darauf eine Operette: „Die unterbrochene Landpartie“, die, wie üblich, der Regen vereitelt, so daß eine Arie unter dem Regenschirme gesungen wird, während die Musik mit aller Macht, deutlich und täuschend, als Regen auf den Schirm niederprasselt.

Als Künstlerin war sie bereits so berühmt geworden, daß man der Prinzessin von Preußen, die geistvolle, belebende Musik hören wollte, keine geeignetere vorzuschlagen wußte, als Johanna Kinkel. Ihre Königliche Hoheit saß dem Professor Beyrs zu ihrem Portrait, der, um ihr Gesicht in der geistvollsten Belebung auffassen zu können, zu guter Musik rieth. So kam Johanna Kinkel zu der glücklich gelösten Aufgabe, durch ihre Töne den Ausdruck des geistvollen [10] Gesichts der jetzigen Prinz-Regentin von Preußen zu beleben und zu erwärmen. Wie sie in ihrem furchtbaren Kampfe um das Leben ihres geliebten Gatten alle Möglichkeiten auffand und versuchte, wagte sie auch 1849 an diese glücklichen Stunden zu erinnern. Bekanntlich aber blieben in dieser Richtung alle die herzerschütternden Bemühungen der Gattin und Mutter nicht nur erfolglos, sondern das Urtheil des nach langen Vorbereitungen und Wandelungen als das strengste ausgesuchten Kriegsgerichtes: lebenslängliche Festungsstrafe (die nach dem klar vorliegenden Gesetze höchstens auf zehn Jahre lauten konnte), wurde auf eine bis jetzt noch unaufgeklärte Weise in lebenslängliches Zuchthaus verwandelt.

In Berlin eröffnete sich Aussicht auf freiwillige Scheidung. Sie kehrte deshalb nach Bonn zurück und ward hier nach dem Code Napoleon gerichtlich geschieden. Da aber die katholische Kirche nicht scheidet, galt es später, um ihren wahren Ehebund zu schließen, sich von der Verantwortlichkeit vor dieser Kirche zu befreien. Dies that sie auf eine Weise, über die sie sich in den „Erinnerungsblättern“ so klar und offen ausgesprochen hat, daß wir darin nur die That eines weiblichen Herzens erkennen, das den Muth hat, aus innerster Ueberzeugung seiner Ehre und Sittlichkeit zu folgen. Als sie von Berlin nach Bonn zurückkam, sah sie Kinkel zum ersten Male wieder (sie hatten sich als Kinder gekannt). Es war in dem Hause des jetzigen preußischen Staatsministers Bethmann-Hollweg. – Die damals imposanteste und populärste Persönlichkeit der Universität und die geistvolle Frau und Künstlerin mögen sofort ein Gefühl gehabt haben, daß sie einander gehören. Sie trafen sich oft in Gesellschaft und machten Ausflüge zu Lande und zu Wasser; aber erst ein besonderes Unglück während einer abendlichen Spazierfahrt auf dem Rheine brachte die Knospe der Liebe zur Entfaltung und Blüthe. Sie wurden am 4. September 1840 von einem Dampfschiffe überfahren und in die Rheinfluthen geworfen, Kinkel rettete sie durch Schwimmen. Als er sie dem Tode entrissen, fiel sie ihm um den Hals und

„Du warst gerettet, mir gerettet
Für eine frische Lebensbahn;
An meine Brust lagst Du gebettet,
Und weinend blicktest Du mich an.
Und wie, vom Stromgott losgebunden,
Mich Deiner Locken Schwall umfloß,
Empfand ich willig mich umwunden
Von Deiner Liebe fessellos.

„Da fiel des Lebens höchste Stunde
Vom Himmel uns mit Allgewalt:
Frei gab Dein Mund sich meinem Munde,
Von Wonneschauern heiß durchwallt.
Da löste sich aus Todesschmerzen
Das allererste heil’ge Du:
Du hauchtest es aus vollem Herzen
Mir Uebersel’gem zu.“[5]

Sieben Jahre nach der Trennung von dem Buchhänder Matthieux war die Scheidung erfolgt, am 22. Mai 1840, um 11 Uhr. Nach dem Code Napoleon mußte die Geschiedene drei Jahre bis zur Wiederverheirathung warten. Diese fand am 22. Mai 1843 eine Viertelstunde nach 11 Uhr statt. Die Viertelstunde mußte zugegeben werden, weil man auf dem Rathhause gewissenhaft bemerkte, daß die Uhren entweder 1840 oder jetzt unrichtig gegangen sein könnten.

Die Oppositionen der beiden Kirchen, die durch diese Ehe berührt wurden, traten sofort in ihrer Weise gegen das Paar auf. Kinkel wurde von dem preußischen Ministerium für beförderungsunfähig in der theologischen Facultät erklärt. Er ward Professor der Literatur- und Kunstgeschichte, über die er ein besonderes Werk geschrieben. Das junge Paar schuf sich selbst eine schöne Welt:

„Es ruhte fromm und still befriedet
Nun Herz an Herz und Geist an Geist.“

Lassen wir sie selbst sprechen:

„Im Schlosse Clemensruhe bei Bonn, wo wir während unserer ersten Ehejahre wohnten, wurden dem Feste Peter und Pauli zu Ehren zwei Zimmer reich mit Blumen geschmückt, deren eines an die Galerie des inneren Hofes stieß, während das andere, durch eine weite Flügelthüre mit diesem zu einem Raum verbunden, die freie Aussicht über den Schloßgarten nach dem fernen Siebengebirge gewährte. Der ätherblaue Hintergrund hob sich reizend gegen die dunkeln Laubgewinde ab, die in Form eines gothischen Bogens die innere Thüröffnung bekleideten. Im Halbkreis saßen Männer und Frauen, die Häupter mit Kränzen von Epheu und Rosen geschmückt, und bildeten das Gericht über die jüngsten Werke des heitern Bundes (rheinischen Poeten-Vereins), die hier zum ersten Male zum Vortrag kommen sollten. Dieses Fest war von einem wahrhaft griechischen Hauch verklärt. Eine edlere, geistigere Stimmung im geselligen Genuß konnte nicht gefunden werden. Welche Erscheinungen zierten diesen Kreis! Genie, Freiheit und Grazie, Schönheit und Liebenswürdigkeit – jede holde menschliche Eigenschaft war dort einmal in ihrer höchsten Steigerung vertreten.

„Hier saß Carl Simrock, der Mann, der mit nie ermüdender Kraft den Hort uralter Schätze deutschen Heldensangs noch einmal aus den Fluthen der Vergessenheit an’s helle Sonnenlicht unserer Tage förderte u. s. w.

„Hier entzückte uns Emanuel Geibel durch sein wundervolles Talent des Improvisirens –

„Neben ihm contrastirte der kluge, das Maß nie vergessende Carl Beyschlag –, auch Alexander Kaufmann. – Wie könnte ich bei allen Namen verweilen, an deren jeden sich Erinnerungen der anmuthigsten Stunden knüpfen, die unser Haus genoß, indem sie unserm Kreise die feinste Blüthe ihres Talentes darbrachten. Einen sehr bedeutenden Antheil an dem Glanz unseres Festes hatten auch die weiblichen Gäste, Emilie von Binzer, die Novellistin, Marie, die Anmuthreiche, Mela, die fast von überirdischer Schönheit Strahlende, Mathilde, die still Sinnende, ach und unsere vortreffliche Freundin Auguste!

„Es war der Tag Peter und Pauli, an dem Kinkel verwundet und gefangen worden. An diesem Tage feierten wir ehedem das Stiftungsfest unseres rheinischen Patrioten-Vereins. –

„So stand die rosengeschmückte Festeshalle jetzt wieder vor meinen Augen, ich sah ihn, den ich, die Liebende, als den belebenden Geist dieser klassischen Geselligkeit empfand, in meinen Träumen noch einmal, wie damals, inmitten des epheuumrankten Bogens hoch emporgerichtet auf der Rednerbühne stehen, wie er vor vier Jahren zum ersten Male den in der Nacht vorher vollendeten „Quintin Messys von Antwerpen“ dem erwählten Kreise vortrug. Und an diesem Jahrestage, der so oft sein Haupt von Lorbeerzweigen, die verehrender Freunde Hand ihm flocht, beschattet grüßte, um dieselbe Stunde vielleicht sank er mit blutender Stirn zu Boden, fern von Allen, die so heiß ihn liebten!“ –

„Eine andere Erinnerung ward in mir lebendig,“ erzählt sie weiter, „als ich am andern Morgen das Boot in Coblenz bestieg. Hier hatten wir uns vor sechs Jahren zu Schiffe auf die Brautreise begeben, um unsern Freund Freiligrath in St. Goar zu besuchen. Eben waren Fr. v. Sallet’s Gedichte neu erschienen. Kinkel hatte sie mit auf die Reise genommen, und zeigte mir die „Romanze von einem deutschen Weibe“, zu welcher der Verfasser die Worte „nicht erfunden“ angemerkt hatte. Die Romanze erzählt, wie am Tage, „wo das Volk die Schranken verhaßten Druckes bricht,“ ein Mann zögert, von dem geliebten Weibe zu scheiden. Die Frau steht endlich auf und, die Hand auf seinem Arm, spricht sie zum Manne: „Jetzt geh!“ Der Dichter schließt mit den Worten:

„Und der dies Lied gesungen,
Hat auch ein liebes Weib.
Wenn ihm der Ruf erklungen,
Sie wird nicht sagen: „Bleib!“

„Kinkel stellte mich damals, die vor wenig Tagen ihm Vermählte, auf die Probe und fragte: „Nicht wahr, Johanna, auch Du würdest nicht sagen: „Bleib!“?“ –

„Furchtbare Macht, die auf die Lippe des Sängers gelegt ist.“ –

Diese Worte trennten das Paar am 10. Mai 1849, und zerstörten eine schöne Welt in der poetischen Hoffnung, daß für die ganze Menschheit eine schönere zu erkämpfen sei.

„Er wiederholte am 10. Mai Sallet’s Vers und setzte hinzu: „Halte mich nicht, Du Starke!“ – –

„Muß er scheiden, dachte ich, so mag er mindestens mit Freudigkeit scheiden; sein Weib soll ihm nicht den Wermuthbecher, sondern in ihrem Abschiedswort den stärkenden Wein kredenzen. Und so habe ich gethan.

„Er trat an die Bettchen unserer vier Kinder, die schon alle schlummernd lagen, ahnungslos, welch ein schreckliches Schicksal sich jetzt ihnen bereite. Als er auf die reinen Stirnen seiner holden Engelein den letzten Vaterkuß drückte, durchschütterte es meine Seele wie ein Angstschrei der Verzweiflung: „Gott, wie ist es möglich, daß ein Vater solche Kinder verlassen kann!“

[11] „Doch der Stimme des Muttergefühls antwortete sogleich mein helleres Bewußtsein: „Darum, weil sein großes Herz alle Kinder liebt wie seine eigenen, darum geht er für die Armuth, für die ganze Menschheit in den Tod!“

„Seit jener Stunde hatte ich tausendmal den Schmerz um seinen Tod überstanden, und doch war das Herz noch nicht erstarrt; es hatte noch die Kraft, Schmerzen, unendliche zu erdulden, und sie sollten ihm nicht erspart bleiben.“ – –

Diese Auszüge aus den „Erinnerungsblättern“ gewähren uns Blicke in das Leben der Gattin, Mutter und edeln deutschen Frau, ohne uns ihr ganzes Leben zu erschließen. Dazu würde mehr Raum und Satz gehören, wozu wir vorläufig noch kein Manuscript liefern können. Auch wie sie nun im preußischen Lager als einzelne Frau umherirrte, abgewiesen, bedroht, zuweilen höflich vertröstet, und bitterer enttäuscht und zurückgestoßen, um den gefangenen Gatten nur einmal zu sehen, ihm das Leben zu retten, ihn dem blutenden Herzen und den verwais’ten Kindern wiederzugewinnen – das können wir nicht mehr schildern, nachdem sie es in den „Erinnerungsblättern“ selbst gethan. –

Er ward ihr und den vier lieben Kindern und einer neuen angestrengten Thätigkeit, freilich in einem fremden Lande, wieder gewonnen. Sie fingen vom November 1850 an, sich eine neue Welt der Wirksamkeit in London zu schaffen, kämpfend und ausdauernd mit einem Heroismus, wovon sich nur die eine Vorstellung machen können, die selbst erfahren haben, was es heißt, auf fremdem, auf Londoner Boden, dicken Nebeln, feindlichem Klima gegenüber, in fremder Sprache, unter ganz widerwärtigen socialen Verhältnissen mit sonniger Rheinnatur und wesentlich deutscher Wissenschaft und Kunst Boden unter den Füßen, Anerkennung und Erfolg zu gewinnen. Sie erkämpften sich eine verhältnißmäßig schöne neue Welt, aber freilich nur mit solchen Gaben, solcher tagtäglich erneuerten harten Arbeit. Die gebildetsten englischen Kreise und alle Schichten der Deutschen in London verdanken dem Wirken Kinkels und seiner Frau in dieser oder jener Weise manches Schöne und Edele. Sie haben dem deutschen Namen hier neue Ehre und Anerkennung erworben, besonders als Lehrende. Johanna Kinkel hat durch ihren Clavier- und Gesangsunterricht in London ein neues, wissenschaftliches System, einen edeln, reinen Styl des Vortrages begründet und verbreitet. Ihre „Acht Briefe über das Clavierspiel“ (1852 in Deutschland erschienen) sind ein classisches Meisterwerk. Dies erinnert uns an Johanna Kinkel als Schriftstellerin. In den „Erzählungen“ von ihm und ihr gemeinschaftlich (Cotta, 1851) sind „Lebenslauf eines Johannisfünkchens“, „Der Musikant,“ „Aus dem Tagebuche eines Componisten“, „Ein Reiseabenteuer“, „Musikalische Orthodoxie“ und auch die „Geschichte eines ehrlichen Jungen“ von ihr. Welch ein derber, sonniger, kecker Humor aus der Feder einer Frau! Man studire diesen gedrungenen, leichten, klaren Styl, wie ihn nie eine Frau und sonst nur Lessing schrieb, aber weit entfernt von dieser Keckheit und Frische aus dem Volksleben.

Ihre Oper: „die Assassinen“, 1847 vollendet und 1848 in Instrumentirung begonnen, wurde durch den März und ihre Leidensgeschichte unterbrochen. Sie schrieb in London Manches für englische und deutsche Blätter, und hinterläßt drei größere, noch ungedruckte Werke: eine große humoristische Cantate, bereits von ihrer „Kindergesangsclasse“ aufgeführt, ein musikalisch-kritisches Werk und einen größeren Roman.

Ihr eifrig gesuchter Unterricht im Clavierspiel und Gesang, ihre heitere, belebende Gesellschaft ward oft getrübt und unterbrochen durch die Wirkungen des Klima’s, Husten, Lähmungen, Herzcongestionen, besonders während der entsetzlichsten Contraste zu den heiteren sonnigen Tagen am Rhein, während der Londoner November-Nebel. Im vorigen Sommer saß sie dem edelen, deutschen Künstler Graß zu ihrem Relief-Portrait, und mahnte ihn während eines Spazierganges, sich zu beeilen, da ihr der kommende Herbst, wie gewöhnlich, Gesundheit, Gesicht und Geist trübe. Er nahm ihr diesmal mehr. Am 15. November 2 ¼ Uhr, im obersten Zimmer von einer Herzbeklemmung geängstigt, eilte sie an’s Fenster und stürzte hinab. Der Londoner Nebel war an diesem Tage besonders dick, beängstigend und beizend. So wurde die edele Frau, durch die reichsten Gaben und Verdienste in Deutschland und England ausgezeichnet und verehrt, die deutsche Frau, Gattin und Mutter, an welcher sich eine der erschütterndsten Tragödien dieses Jahrhunderts entwickelte und vollendete, ein Opfer der Fremde, um mit neuem unsterblichem Leben in die Herzen des deutschen Volkes und seiner Geschichte heimzukehren. –

Ihre irdische Hülle wurde mit einem feierlichen, großen Leichenzuge, bestehend aus deutschen und englischen Literaten, Künstlern, Kaufleuten u. s. w., besonders vielen ihrer Schülerinnen, weit hinaus in den Süden von London getragen. Die zarte, liebe, dreizehnjährige Johanna vertrat, als ich wieder in das Haus des verwittweten Mannes trat, die Stelle ihrer Mutter. Der starke, beinahe heroische Mann legte, als er mit mir das Haus verließ, seine Hand auf das zarte Kindesköpfchen, und empfahl ihr inzwischen mit rührender Zuversicht die Sorge für das Hauswesen. Englische Damen hatten ihr eben ein großes Bouquet der reizendsten Blumen geschickt, die sie in Vasen ordnete und die schöner aussahen, als je Blumen. Der November und das Haus waren so trüb und traurig. Und die Blumen und das frische Kindesgesicht und die Zuversicht und Leichtigkeit, womit sie sich in ihre neuen Pflichten zu finden wußte, sahen so lieblich und lebensfrühlingsartig aus, Himmel und Erde mögen sie segnen. Der Schlummernden aber draußen, weit von dem unheilvollen Nebel und Geräusche Londons, rufen wir mit Freiligrath aus seinem ihr nachgesungenen Schmerze zu:

     – – – – –
„Ein Schlachtfeld auch ist das Exil, –
Auf dem bist Du gefallen.
     – – – – –
     – – – – –
Fahrwohl! und daß an muth’gem Klang
Es Deinem Grab nicht fehle,
So überschütt’ es mit Gesang
Die früh’ste Lerchenkehle!
Und Meerhauch, der dem Freien frommt,
Soll flüsternd es umspielen,
Und Jedem, der hier pilgern kommt,
Das heiße Auge kühlen.“




Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
1. Mitten in den Heuschrecken.

Es war eine wunderschöne Sternennacht, hoch stand am dunkelblauen Himmel der Mond und sein Licht zitterte auf den leise bewegten Wellen des Bazaluk, der sich durch die Steppe den Pfad bahnt zur Vereinigung mit dem majestätischen Dniepr. Wir standen in der säulengetragenen Veranda des stattlichen Herrenhauses von Gruschewko; schöne Tage lagen hinter, ein schmerzlicher Abschied vor uns. Inmitten der Steppe hatten wir eine Oase gefunden, welche nicht der Natur, sondern dem Geschmack und der Kunst des Menschen ihre Entstehung verdankte; die Laute der heimischen Sprache aus dem Munde holder Frauen und liebenswürdiger Kinder, Lieder, welche am Clavier erklangen, hatten das Bild der langentbehrten Heimath heraufgezaubert. Aber das Viergespann, welches der gütige Gastfreund uns bis zur nächsten Station, Nova Woronzowka, zur Verfügung gestellt, scharrte ungeduldig den schwarzen Grund und schüttelte die langen, verworrenen Mähnen; noch ein Dankwort, ein Händedruck ringsum – Pascholl, Pascholl! und dahin flogen wir auf dem trockenen, breiten Heerweg der Steppe. Das klagende Geheul von Wölfen, welchen man die Jungen genommen hatte, um sie im Stalle zur Winterlust der Hetze aufzuziehen, begleitete unser Gefährt eine Zeit lang, mit ihm verstummte der letzte Laut der Steppe.

Wir kehrten von einem Ausfluge in die Urwald-Niederungen des Dniepr zurück. Der treffliche Wiener Reisewagen des Freundes, der mich begleitete, war wohl versehen mit Allem, was auf einer weiten Tour wünschenswerth sein kann, und wir zogen die Fahrt in der frischen Nachtluft der beim Sonnenbrande des Tages vor. Die nur wenige Werst entfernte Station war bald erreicht, der Starosta warf beim trüben Licht einer schmutzigen Laterne einen Blick in den dargereichten Passirschein, rasch waren die Pferde zur Stelle, das Glöckchen, das wohlbekannte Signal der Post, ward an [12] die Spitze der Deichsel gebunden, der Jämschtschik (Postillon) schwang sich auf den Bock neben Ilia, den mitgenommenen leibeigenen Diener, und trieb mit dem eigenthümlichen leisen Pfiff der russischen Rossebändiger die Pferde an. Weiter aber reichen meine Erinnerungen an diese Nacht nicht.

Aus festem Schlafe erwachten wir erst bei einem längeren Stillstande des Wagens. Es war früher Morgen, eben ging die Sonne auf, und wir befanden uns auf der breiten Straße vor dem Posthause des Städtchens Bereslav. Ausgestiegen, um die Glieder zu recken, erblickten wir vor uns in der Tiefe das breite Silberband des Dniepr, über welchen hier eine mächtige Holzbrücke geschlagen ist, die einzige bedeutende Passage aus dem Norden in das taurische Gouvernement, dessen Westgrenze der Strom bildet. Ueber diese Brücke sind die russischen Heere in die Krim gegangen; damals glich Bereslav einer Weltstadt; Tausende von Fuhrwerken, welche oft Tagelang warten mußten, ehe die Reihe an sie kam, die Brücke zu passiren, bildeten eine Wagenburg zwischen dem Orte und dem Flusse und Vieles wäre zu erzählen von den Drangsalen, welchen dort Menschen und Thiere preisgegeben waren und nur allzuhäufig erlagen. Auch jetzt war ein Lager auf dem freien Platze der Station gegenüber aufgeschlagen, aber es bestand blos aus sieben Zelten von Zigeunern. Aus allen qualmten Rauchwolken empor, tönte lustiges Hämmern. Wir besuchten die luftige Niederlassung; die Zelte waren offen, die Einwohner schon an der Arbeit. Sieben Feldschmieden waren hier etablirt und alle hatten Beschäftigung; nichts ist einfacher, wie die Einrichtung und das Handwerkszeug. Ein ganz kleiner Ambos war in die Erde gestoßen, ein Häufchen Holzkohlen ward durch einen vielgeflickten ärmlichen Blasebalg in Gluth erhalten, den ein nackter Knabe schläfrig bewegte, in Glut erhalten. Die Zigeuner sind als Schmiede, Kesselflicker, Klempner in Rußland viel berühmt, und dem geschicktesten Eisenarbeiter würde es schwer fallen, ihnen die Kundschaft der Bauern zu nehmen.

Eben verläßt ein alter Kleinrusse, kenntlich an der Tracht, eine dieser primitiven Werkstätten und prüft wohlgefällig die gelöthete Sense, mit welcher er in den dünn bevölkerten Provinzen Neurußlands einen höheren Lohn erwirbt, als daheim, und genug, um den langen Winter halb auf dem Ofen zu verdämmern. Ein paar kleine, bösartig aussehende Klepper weiden mit zusammengekoppelten Vorderfüßen in der Nähe; ein junger Mann, mit nichts bekleidet, als einer zerrissenen Weste ohne Aermel und weiten, vielfach durchlöcherten Beinkleidern, tritt herzu, entfesselt ein Thier, schwingt sich leicht hinauf und heidi! fliegt er über die Steppe mit dem Schluß und dem Anstande des besten Cavaliers. Es gibt keine tüchtigeren Reiter, aber auch keine gewiegteren Roßkämme, als die Zigeuner; nebenbei treiben sie allenthalben die Thierarzneikunst, denn die ist bekanntlich nach der Bauern Meinung von der Schmiedekunst unzertrennlich. Ein ekelhafter Schmuck der Zelte sind lange, rothe Streifen rohen Fleisches, welche guirlandenartig an den Stangen und über der First hängen, um in der Sonne zu trocknen als Wintervorrath. Vielleicht ist gestern eine Kuh gefallen im Städtchen oder ein Pferd auf der Landstraße – die Zigeuner nehmen es nicht so genau. Namentlich ist das auch der Fall mit dem Mein und Dein; ihnen kleine und große Uebergriffe in fremdes Eigenthum abzugewöhnen, ist so schwierig, wie sie an feste Wohnsitze zu bannen; die russische Regierung hat in dieser Hinsicht schon viele Experimente gemacht, ohne ihr Ziel bis jetzt erreichen zu können. Die Bewohner der Zelte erinnern nicht im Entferntesten an die idealischen Preciosen, von welchen man so viel gehört und gelesen hat: kleine unscheinbare Gestalten, mager bis zum Exceß, was man um so besser bemerken kann, da bei den Meisten die liebe Natur jeder bergenden Hülle entsagt hat; nur Eins erscheint bedeutend an ihnen, das ist das Auge mit seiner stechenden Flamme. Aber die Atmosphäre der Zigeunerlager ist nur auf Minuten erträglich, schon stürzen sich Myriaden Fliegen auf ihre Fleischverzierungen und wir entfliehen.

Hinaus in den thaufrischen Morgen der Steppe! Es war der 28. Juli und die Ernte, welche trotz der südlicheren Breite hier später fällt, als im mittleren Deutschland, im vollen Gange. Doch nur selten begrenzten bestellte Felder die Straße, so fern der Blick reichte, dehnte sich die weite braungrüne Steppe. Kein Baum, kein Haus zu sehen am ganzen Horizont; nur hier und da heben sich aus der Ebene kreisrunde, beraste Hügel, etwa 15 Fuß hoch, zuweilen ein doppelt hoher und großer im Kreise der anderen. Es sind Tartarengräber, und sie sehen genau so aus, wie die Hünengräber im nördlichen Deutschland. Viele davon sind geöffnet worden, man fand Menschengebeine und Waffen, in den großen immer Pferdegerippe; sie waren wohl die Grüfte der Häuptlinge. Auf manchen fanden sich rohe Statuen aus Granit; wer weiß, woher; in dem Dorfe Tiginka, welches wir passirten, steht eine solche wohl erhalten als Pfosten eines Thores; eine andere von genau derselben Form sah und zeichnete ich bei Baratofka am Ingul; sie krönte die Spitze eines hohen runden Hügels. Eine im letzten Kriege vorüberziehende Artilleriebrigade hatte sich das Vergnügen gemacht, sie zum Ziel zu erwählen, und ihr glücklich mit einer Kugel den Kopf vor die Füße gelegt. Gesichtszüge sind an diesen rohen Kunstwerken in Lebensgröße nicht zu erkennen, wohl aber der Helm mit rings herabfallendem Stahlhemd, wie bei den Kurden und Tscherkessen heute noch üblich; die Arme liegen auf der Brust gekreuzt ohne Andeutung der Hände, die Beine wurzeln in der Erde, die ganze Rückseite der Bildsäule ist flach.

Mittlerweile war es auf dem Bocke vor uns etwas lebendig geworden; mit heftigen Gesticulationen unterhielten sich seine beiden Insassen, endlich wandte Ilia sich herum und suchte das Auge seines Herrn, indem er mit ausgestrecktem Arme in die Ferne deutete. Mein Freund bog sich aus dem Wagenfenster, aber rasch fuhr er zurück: „Die Heuschrecken!“ rief er so laut, daß ich zusammenschrak.

Ich sah hinaus – es war nichts zu erblicken, als am Saume des Horizonts eine lange, schwarze Wolke.

„Das sind sie!“ sagte mein Begleiter.

„Unmöglich,“ erwiederte ich; „was Sie sehen, mag der Rauch eines großen Brandes sein, weiter nichts.“

„O, ich kenne sie leider nur zu gut,“ fuhr der Freund fort. „Dort der Zug ist keiner von den größten, aber seine acht bis zehn Werst ist er sicherlich lang. Was meinst Du, Iliuschka, mein Söhnchen,“ rief er auf russisch zum Wagenschlag hinaus, „was bedeutet jener dunkle Strich dort vor uns?“

Sarana – Heuschrecken," antwortete der Muschik.

Sarana,“ bekräftigte der Postillon und pfiff seinen Pferden.

Kopfschüttelnd, aber erregt lehnte ich mich hinaus und blickte unverwandt nach der finsteren Wolke; sie schien festzustehen am Himmel, hier und da sah man deutlich kleine Flatterwölkchen sich davon ablösen. Es war ein bänglicher Anblick, wie ein schweres Gewitter stand es dort im Süden vor uns, fast nicht zu glauben, daß ein Insectenschwarm solch’ einen Vorhang weben könne vor das helle Licht des Tages. Die Ueberzeugung durch den Augenschein war uns vorbehalten.

Nicht lange waren wir gefahren, da wies Ilia eifrig zur Rechten.

„Sie sind hier gewesen,“ sagte mein Freund, „halt Kutscher, stoi!“

Wir stiegen aus. Ein großes Hirsefeld lag hart an der Straße, aber nur noch erkennbar an den zahllosen grünen Stoppeln und an hier und da zerstreuten unreifen Rispen. Als wir den Acker betraten, erhob sich überall darauf ein Flittern und Schwirren, Tausende von Heuschrecken sprangen und flogen vor unserer Annäherung behend auf, das Sonnenlicht funkelte auf ihren glänzenden Vorderflügeln. Das ganze Feld, viele Dessätinen groß, war total abgeschrotet, nicht ein einziger stehender Halm war darauf zu entdecken, und die ungeheure Masse des noch grünen Getreides war verschwunden bis auf wenige Fahnen mit milchigen Körnern auf der Erde. Dagegen war die letztere bis einen Finger hoch bedeckt mit dem Auswurf der Heuschrecken, trockene Körper von der Gestalt eines Roggenkorns, aber stärker und länger. Nun begann eine Jagd auf die Nachzügler, sie war keineswegs leicht. Sobald wir in die Nähe der Insecten kamen, erhoben sie sich mit ungemeiner Fertigkeit; was nicht flog, das sprang in ellenweiten Sätzen, es gehörte Geduld und eine rasche Hand dazu, ihrer habhaft zu werden; aber den vereinten Bemühungen gelang es doch, ein paar Dutzend zu erhaschen. Bei ihrer näheren Besichtigung drängten sich mir einige nicht uninteressante Beobachtungen auf.

Wie mein erfahrener Begleiter vorausgesagt, hatten wir hier nur die Marodeurs und Kranken des großen Zugs, der in der Ferne schwebte, vor uns. In der That erwiesen sich von den Gefangenen nur einige Wenige dem äußeren Ansehen nach unverletzt, die Mehrzahl hatte entweder lädirte Flügel – sie sollen sich dieselben zuweilen gegenseitig abfressen – oder es fehlte einer der gewaltigen Springfüße. Was mir aber besonders auffallend erschien, war, daß ich mehrere Exemplare junger Heuschrecken, welche kaum die letzte Häutung überstanden und ganz kurze, unentwickelte Flügel hatten, unter

[13]

Mitten in den Heuschrecken.

[14] meiner Beute zählte. Auf welche Weise waren diese mit dem Zuge fortgekommen? Es ließ sich zwar annehmen, daß sie, Kinder des Landes, auf dem verwüsteten Acker oder in der Nähe geboren seien, allein das Plateau, auf dessen Rücken wir uns befanden, war keineswegs einer der Brüteplätze der verderblichen Kerfe. Nach den hier gefangenen Heuschrecken sind die genauen Abbildungen[6] des Acridium tartaricum gezeichnet, welche wir den verehrten Lesern vorlegen; sie werden darnach finden, daß die meisten Bilder dieser Thiere in den illustirten Naturgeschichten nicht ganz richtig, namentlich die zarten Flügelzeichnungen verfehlt wiedergegeben sind. Hinsichtlich der naturhistorischen Beschreibung derselben verweisen wir übrigens auf jedes gute Buch über Entomologie.

Die Jagdbeute, in Ermangelung eines Besseren mit einigen Tropfen Morphiumtinctur, die wir zu ganz anderem Zwecke mit uns führten, getödtet, wurde den Umständen nach wohl verwahrt, und weiter ging die Reise, deren Interesse sich jetzt fast nur auf den einen Gegenstand concentrirte, der sich uns von nun an bei jedem Schritt aufdrängte. Bebaute Felder wurden häufiger, die Spuren der Verwüstungen sichtbarer. Durch die noch nicht abgebrachten Saaten liefen Weiber und Kinder, Sensenblätter, Sicheln, eiserne Töpfe in der einen Hand, gegen welche sie mit Steinen oder metallenem Geräth in der andern schlugen, um den bösen Feind zu verjagen; wo sie gingen, flogen die Heuschrecken, in der heißen, brennenden Sonne schon lebendig geworden, zu Hunderttausenden vor ihnen auf, und umschwirrten sie gleich einem aus dem Boden wachsenden grauen Nebel. Aber ach, es waren nur wenige Menschen in der meilenweiten Ebene zu erblicken, und von einem Feld aufgejagt, ließen sich die Schwärme auf dem anderen nieder. Da und dort sah man Männer, mit der Sense auf der Schulter, aus Leibeskräften rennen; es galt, dem Verderben zuvorzukommen, und durch eiliges Abmähen vom Getreide zu retten, was möglich war. So schnell die Postpferde in unverdrossenem Galopp dahinsprengten, sie wurden überholt von den kleinen Wagen der Bauern, vollgepfropft mit Menschen, daß sich die hölzernen Achsen bogen und die Naben rauchten, welche den bedrohten Aeckern zu Hülfe eilten. Glücklicherweise war die Hauptgetreideernte schon abgebracht und stand in Garben, Grünzeug baut man in den Steppen nicht viel, Futter gar nicht, Leinsaat greifen die Insecten nicht an, so war ihnen denn nur der Hirse verfallen, der noch grün stand, oder vielmehr nicht mehr stand, denn er war überall von der Erde verschwunden. Da er aber meistens zu eigenem Gebrauch gebaut wird, und eine Hauptspeise des Landvolkes liefert, so war der Verlust groß und traurig genug.

„Sie sind nicht gefährlich in diesem Jahr,“ sagte ein alter Bauer, den mein Gefährte unterwegs ansprach, „sie ruhen sich hier blos aus.“

Aber wenige Augenblicke darauf kam ein Reiter des Wegs daher gesprengt; es war der Intendant (Upravliajuschzii) eines großen Gutsbesitzers, des Herrn Nicolai von Engelhardt.

„Schlimme Botschaft,“ rief er meinem ihm bekannten Freund entgegen, „der Zug ist gestern bei uns gewesen, zwei Drittheile unseres Getreides, die noch auf dem Halme standen, sind verloren, was nicht gefressen, ist zerschrotet, niedergeknickt; ich suche Arbeiter, um zu bergen, was noch der Mühe lohnt.“

Immer höher, dunkler stieg die Wolke vor uns empor. Die Luft war erfüllt von heiserem Gekrächz und Geschrei; Tausende von Raubvögeln, Krähen und Raben schwebten über den Feldern oder zogen begierig dem finsteren Nebel entgegen. Das Schwirren rings um uns nahm in erschreckender Weise zu, blickte man aus dem Wagen hinaus, so erschien die ganze Atmosphäre mit Millionen Punkten getüpfelt, es flirrte vor den Augen, daß man sie unwillkürlich schließen mußte.

„Das ist erstaunlich,“ sagte ich, „jetzt sind wir doch mitten in den Heuschrecken?“

„Noch nicht,“ entgegnete mein Freund. „So lange wir noch den blauen Himmel über uns erblicken können, ist es nicht das Rechte, hat es keine Gefahr.“ – Ich lächelte ungläubig.

Der Weg machte eine Biegung und senkte sich thalwärts. Die Spitzen von Baumgruppen – ein seltener Anblick in der Steppe – wuchsen empor und goldig erglänzten aus der Tiefe die Wellen eines mäßigen Flusses, des Inguletz, d. i. kleiner Ingul, der sich unweit Cherson in den Dniepr ergießt. Eine seltsame Aufregung war in die Leute auf dem Bock gekommen, immer lebhafter wurden ihre Gebehrden. Dichter zog sich der graue Flor der Luft zusammen, ein unaufhörliches Anprallen an die des Staubes wegen geschlossenen Wagenfenster bewies, daß wir dem Gros der feindlichen Heere immer näher rückten. Plötzlich rollte der Wagen ziemlich steil bergab. Wie soll ich es nur beschreiben? Rechts erhob sich ein steiler Abhang, auf dessen Scheitel ein ärmliches Bauerngehöft; links wälzte der Fluß seine Wasser durch Dickichte von Binsen, Röhricht und Weiden; hart an seinem jähen Ufer, unbeschützt, führte die Straße hin nach der hölzernen Brücke. Da – „Wot zeleja roï sarani!“ schrie Ilia, „da ist der Heuschreckenschwarm!“ – in einem Augenblick wird es finster rings um uns, die im Galopp hinabstürmenden Tartarenpferde werden von Entsetzen erfaßt, schlagen aus, stämmen, bäumen sich – der Wagen schwankt – mit aller Macht reißt der Postillon an den Zügeln der Tschetwernia (des Viergespanns) – der Diener springt vom Bock und faßt das Handpferd – vor uns aber erhebt sich mit sinnbetäubendem, dumpfem Summen der ungeheure Zug der Heuschrecken, der hier in der Thalniederung zur Rast sich niedergelassen hatte. Und in Wahrheit, die Sonne verschwand vor den Myriaden, die da emporflatterten, es war, wie wenn ein grauer Brodem aus der Erde stiege und sich nach oben immer mehr und mehr verdichtete, gleich dem Kohlenqualm einer ungeheuren Dampfesse, bis eine schwarze Wand vor uns sich erhob, undurchdringbar jedem Strahl des Lichts. So dicht waren die Massen der Heuschrecken, daß bei dem beschleunigten Lauf des Wagens bei weitem nicht alle sich zu erheben vermochten, bis über die Felgen mahlten die Räder in dem lebendigen Gewimmel. Der Eindruck war ein unbeschreiblicher für mich, ich konnte mich des Grauens nicht erwehren, während mein Freund, welchem das Ereigniß kein neues war, verhältnißmäßig ruhig blieb. Ja, das war die gewaltige Naturerscheinung, von welcher Joel, Pethuels Sohn, der Prophet, singt:

„Ein finsterer Tag, ein dunkler Tag, ein wolkiger Tag, ein nebliger Tag, gleich wie sich die Morgenröthe ausbreitet über die Berge; nämlich ein großes und mächtiges Volk, desgleichen vorher nicht gewesen ist, und hinfort nicht sein wird zu ewigen Zeiten für und für (?). Vor ihm her gehet ein verzehrend Feuer und nach ihm eine brennende Flamme; das Land ist vor ihm wie ein Lustgarten, aber nach ihm wie eine wüste Einöde, und Niemand wird ihm entgehen. Sie sind gestaltet, wie Rosse, und rennen, wie die Reiter. Sie sprengen daher oben auf den Bergen, wie die Wagen rasseln, und wie eine Flamme im Stroh, wie ein mächtiges Volk, das zum Streit gerüstet ist. Die Völker werden sich vor ihm entsetzen, aller Angesichter sind so bleich wie die Töpfe. Vor ihm erzittert das Land und bebet der Himmel; Sonne und Mond werden finster, und die Sterne verhalten ihren Schein.“

Was kann jede andere Schilderung nach dieser noch sagen?

Dem Bemühen des Jämschtschik und des Kripasnoi-Sluga (Edelmannsdiener) war es gelungen, die scheuenden Steppenpferde zu bändigen, und den Wagen vor einem Sturz in den Fluß zu behüten; die ganze Scene war rascher vor sich gegangen, als sie erzählt werden kann. Nun konnte man doch mit einiger Beruhigung Beobachtungen anstellen. Schon weit in der Ferne gen Westen flog die ungeheure schwarze Wolke, aber allenthalben wimmelte es noch von Nachzüglern. Die Straße, der Hügelabhang, das Schilf, die Bäume, die Brücke, ja selbst das Wasser war mit ihnen überdeckt. Aus dem Röhricht hervor schossen Hunderte von weißstirnigen Wasserhühnern, Enten, darunter besonders kenntlich die hellgraue Spießente mit dem braunen Kopf, Lachmöven, über ihnen durchkreuzten zahllose Seeschwalben die Luft mit schrillem Schrei; von jenseits flatterten Falken, Bussarde, Sperber, Krähen und vor Allen ganze Flüge von Stahren herab auf die überreiche willkommene Beute, und ihr Heißhunger vergaß alle Scheu vor unserem Gefährt, wie vor den Bauersleuten auf der Höhe, welche mit Leibeskräften ihre klingenden Geräthe rührten. Aber was auch die Schaaren der gefiederten Freibeuter zu Wasser und zu Land vernichteten von den Ueberbleibseln des großen Zugs, es blieben immer noch Millionen übrig, deren dünne Schwärme aber freilich nichts mehr bedeuten wollten. Was ich früher von den Heuschreckenzügen gelesen, hatte ich, ehrlich gesagt, zum guten Theil für Uebertreibung gehalten, aber die Autopsie belehrte mich eines Anderen. Eine entsetzlichere Landplage, eine furchtbarere Geißel läßt sich kaum denken, als das unzählbare Heer dieser gefräßigen Kerbthiere.

(Schluß folgt.)
[15]
Preußische Licht- und Schattenbilder.
Ein Schattenbild.
1. Die Gräfin Lichtenau.

Friedrich der Große war todt; der unsterbliche König hatte die Regierung seinem Neffen, Friedrich Wilhelm dem Zweiten, hinterlassen. Der neue Monarch zeichnete sich durch eine Gutmüthigkeit aus, welche geradezu an Schwäche grenzte. Günstlinge und Frauen gelangten jetzt zu einem bedeutenden Einfluß und mißbrauchten die Nachgiebigkeit seines lenksamen Charakters. Es herrschte damals in Berlin und besonders am Hofe ein leichter und frivoler Ton, der mit der französischen Bildung Hand in Hand ging. Pariser Sitten oder vielmehr Sittenlosigkeit hatte die deutsche Ehrbarkeit verdrängt. Die Schriften Voltaire’s und Diderot’s, die ausschweifenden Romane des jüngeren Crebillon waren in jedem Boudoir zu finden und streuten ihren giftigen Samen aus. Der große König selbst hatte eine Richtung befördert, die in allen Schichten der Gesellschaft um sich griff und das Leben der Familie an seinen Wurzeln anzutasten drohte. Er selbst lebte zwar zurückgezogen in Sanssouci, sparsam und jedem Vergnügen fern, aber er konnte es nicht hindern, daß ein großer Theil des Hofes und darunter sein Nachfolger dem französischen Einflusse, den Friedrich der Große durch seine Vorliebe für diese Nation heraufbeschworen, mehr oder minder unterlag.

Wie Paris unter Louis XV., so hatte auch Berlin seine petites maisons, seine Orgien, seine Roué’s und leichtsinnigen Frauen.

In ihrem Palaste unter den Linden wohnte die Favoritin des Königs, die Gräfin Lichtenau. Sie war die Tochter des Kammermusikus Elias Enke, der unter ziemlich dürftigen Verhältnissen lebte. Die kleine, vierzehnjährige Wilhelmine wohnte bei einer älteren Schwester, die Ballettänzerin war und von der sie zu allerlei niederen Dienstleistungen gebraucht wurde. Dort lernte sie der damalige Kronprinz kennen, als sie eines Abends von ihrer Schwester mißhandelt wurde, weil sie sich geweigert hatte, bei schlechtem Wetter und in dunkler Nacht noch einen weiten Weg für dieselbe zu gehen. Der mitleidige Kronprinz nahm sich des armen Kindes an und führte Wilhelmine zu ihren Eltern zurück, indem er ihnen anbefahl, auf seine Kosten für ihre angemessene Erziehung Sorge zu tragen. Die zwar nicht auffallend schöne, aber reizende Kleine zeigte viele natürliche Anlage und überraschte ihren Wohlthäter, der sich von Zeit zu Zeit nach ihren Fortschritten erkundigte, durch ihre Liebenswürdigkeit, Grazie und eine Dankbarkeit ohne Grenzen. – Bald verwandelte sich diese Dankbarkeit in ein anderes Gefühl, und aus dem kleinen, unbedeutenden Mädchen wurde die Geliebte eines Fürsten.

Dies Verhältniß war anfänglich nicht ohne einen romantischen Hintergrund; es herrschte darin eine gewisse Sentimentalität vor, wie sie häufig in jener Periode angetroffen wurde, wo eine raffinirte Sinnlichkeit mit schwärmerischer Ueberschwenglichkeit Hand in Hand ging. Es war die Zeit der Siegwarte und Werther’s, eine Mischung von Frivolität und Gefühlsschwelgerei, die Zeit, wo Rousseau das neue Evangelium der Natürlichkeit und Einfachheit verkündigte, was ihn nicht abhielt, seine eigenen Kinder in ein Findelhaus zu schicken; die Zeit, wo in der Liebe wie in der Religion die größte Verwirrung herrschte, und die größte Sinnlichkeit neben dem feinsten Idealismus, die seichteste Aufklärung neben dem gröbsten Aberglauben bestehen konnte.

Auch das Verhältniß des Kronprinzen zu seiner Geliebten trug den eigenthümlichen Stempel jener Periode. A la Rousseau ließ er es sich angelegen sein, die glücklichen Anlagen Wilhelminens auszubilden, er selbst ertheilte ihr Unterricht und wurde ihr Lehrer in Geschichte und Geographie, die seine Stärke war, so daß er mit geschlossenen Augen ihr alle Städte, Flüsse und Gebirge auf der Landkarte zeigen konnte. Er las mit ihr die besten älteren und neueren Schriftsteller, Homer und Virgil in französischer Uebersetzung, die neue Heloise von Rousseau und Shakespeare’s Dramen in der damals berühmten Uebertragung von Eschenburg. Wie lachten Beide über den dicken Falstaff, der eine Lieblingsfigur des Kronprinzen war und dem dieser als nachmaliger König an Leibesumfang immer ähnlicher wurde!

Die überraschenden Fortschritte der reizenden Schülerin steigerten die Leidenschaft des fürstlichen Liebhabers zu einem so hohen Grade, daß er sich zu wahrhaft poetischen Betheuerungen seiner Neigung hinreißen ließ. In einer solchen Stunde schnitt er sich in einer Anwandlung romantischer Zärtlichkeit mit dem Federmesser, das er gerade in der Hand hielt, in den Ballen der linken Hand und schrieb mit dem austräufelnden Blute auf ein Blatt Papier:

„Bei meinem fürstlichen Ehrenwort, ich werde Dich nie verlassen. Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen.“

Hierauf verlangte er ein gleiches Versprechen, mit ihrem Blute geschrieben. Leidenschaftlich ergriff sie das Messer und schnitt so tief damit, daß das strömende Blut sich kaum stillen ließ und nach dreißig Jahren noch eine Narbe zu sehen war.

Dem großen Friedrich war indeß das verliebte Treiben seines Thronfolgers und Neffen nicht entgangen; er pflegte in solchen Dingen kurzen Proceß zu machen. Bei einer seiner gewöhnlichen Morgenpromenaden traf er mit Wilhelmine zusammen; es folgte eine scharfe Strafpredigt mit obligater Bewegung des bekannten Krückenstockes. Durch eine schnelle Verheirathung glaubte der resolute König das ihm anstößige Verhältniß zu unterdrücken. Auf seinen Befehl mußte Wilhelmine ihre Hand dem Kammerdiener des Kronprinzen, Namens Rietz, reichen, was auch sofort geschah, da der strenge Herr keinen Widerspruch ertrug und in solchen Dingen keinen Spaß verstand. – Dieser Rietz war der Sohn eines königlichen Gärtners, dem Thronfolger überaus ergeben, eine echte Lakaiennatur, der sich von dem Gebieter mißhandeln ließ, wenn er nur dabei seinen Vortheil fand. Für die Schläge und Püffe, welche der zum Jähzorn geneigte, aber von Herzen gutmüthige Kronprinz ihm gab, wußte er ihn durch Geschenke und Gunstbezeigungen aller Art zu entschädigen.

Sein Genuß bestand im Essen und Trinken, in der Befriedigung seines Hochmuths und im Sammeln eines Capitals für’s Alter. Charakteristisch ist die Schilderung, welche Goethe von diesem Rietz entwirft, mit dem ihn der Zufall während des Feldzugs in der Champagne zusammenführte.

„An der langen, sehr besetzten Wirthstafel,“ schreibt der berühmte Dichter, „saß ich an einem Ende, der Kämmerer des Königs von Preußen, Rietz, an dem andern, ein großer, wohlgebauter, breitschultriger, starker Mann, eine Gestalt, wie sie dem Leibdiener Friedrich Wilhelm des Zweiten ganz wohl geziemte. Er mit seiner nächsten Umgebung waren sehr laut gewesen, und standen frohen Muthes von der Tafel auf; ich sah Herrn Rietz auf mich zukommen, er grüßte mich zutraulich, freute sich meiner langgewünschten, endlich gemachten Bekanntschaft, fügte einiges Schmeichelhafte hinzu und sagte sodann: ich müsse ihm verzeihen, er habe ein persönliches Interesse, mich hier zu finden und zu sehen. Man habe gegen ihn bisher immer behauptet, schöne Geister und Leute von Genie müßten klein und hager, kränklich und vermickert aussehen, wie man auch dergleichen Beispiele genug angeführt. Das habe ihn immer verdrossen, er glaube doch auch nicht auf den Kopf gefallen zu sein, sei aber dabei gesund und stark und von tüchtigen Gliedmaßen, aber nun freue er sich, an mir einen Mann zu finden, der doch auch nach etwas aussehe, und den man deshalb nicht weniger für ein Genie gelten lasse. Er freue sich dessen, und wünsche uns Beiden lange Dauer eines solchen Behagens.“

So war der Mann beschaffen, welcher auf Befehl Friedrich des Großen Wilhelmine heirathen mußte. Die gute Absicht des Königs wurde durch diese Scheinehe keineswegs erreicht, indem das Verhältniß zwischen dem Thronfolger und seiner Geliebten demungeachtet fortdauerte.

Kaum aber hatte der erhabene Monarch seine Augen geschlossen, so gewann die Favoritin über den schwachen Nachfolger eine unbedingte Herrschaft, welche trotz aller Gegenbemühungen bis an dessen Tod fortdauerte. Vergebens suchte eine Partei am Hofe die verhaßte Geliebte zu verdrängen und ihr eine Nachfolgerin zu geben, Wilhelmine wußte sich in der Gunst des Königs fortwährend zu behaupten. Weder das Fräulein von Voß, noch die stolze Gräfin von Dönhoff, welche ihre Stelle für kurze Zeit einnahm, vermochten die frühere Favoritin für immer zu beseitigen. Zwar hatte die frühere Leidenschaft des Königs einem mehr freundschaftlichen Verhältnisse Platz gemacht, aber Wilhelmine blieb seine Vertraute und bewahrte ihren unerschütterlichen Einfluß auf den schwachen [16] Monarchen, der sie mit seinen Gunstbezeigungen überhäufte. Er hatte für sie eine elegante Villa in Charlottenburg gekauft und mit verschwenderischem Luxus eingerichtet. Hier versammelte sie einen Kreis von geistreichen Männern und Frauen, welche aus laxer Moral und in eigennütziger Absicht, aber auch aus wahrer Anhänglichkeit für die liebenswürdige Wirthin, sich einzufinden pflegten. In dieser aus den verschiedensten Elementen zusammengewehten Gesellschaft wurde viel musicirt; Wilhelmine selbst war nicht ohne Talent und besaß, wie ihre Schmeichler betheuerten, eine Stimme, die an Fülle die der damals berühmten Mara, an Schmelz die der Schmalz und an Geläufigkeit die der Zelter übertraf. Mit diesen musikalischen Genüssen wechselten poetische Vorträge ab. Der Odendichter Rainler las seine schwungvollen Verse vor, der große Schauspieler Fleck, das bedeutendste dramatische Genie seiner und vielleicht aller Zeiten, declamirte mit einem Feuer und einem Pathos, das die Zuhörer unwillkürlich mit sich fortriß. Vornehme Fremde und selbst die Gesandten der fremden Mächte verschmähten es nicht, diesen Cirkel zu besuchen. Sir Paget, der englische Gesandte, und Lord Templeton, ein feuriger Irländer, wurden hier häufig gesehen; der Letztere trug Wilhelminen sogar seine Hand an, die sie jedoch auf den Wunsch des Königs ausschlug. Eine der originellsten Figuren in diesem Kreise war unstreitig der reiche Tuchfabrikant Schmidts, Director der Manufactur im königlichen Lagerhause, wegen seines ansehnlichen Leibesumfangs und seiner bekannten Galanterie nur der „dicke Adonis“ genannt. Schmidts war ein heiterer Lebemann, ein lustiger Gesellschafter, ein leidenschaftlicher Verehrer des schönen Geschlechts und wegen seiner ausgezeichneten Diners berühmt. Der alte Heim, welcher sein Hausarzt war, erzählt von ihm folgende Anekdote aus jener Zeit:

„Eines Tages verabredete der König mit seiner Geliebten, dem dicken und überaus galanten Schmidts einen Possen zu spielen. Er hatte sie öfters um einen Kuß, halb im Ernst, halb im Scherz flehentlich ersucht; sie sollte ihm Gewährung versprechen unter der Bedingung, daß er sie fußfällig darum bitten würde. Dies geschah; der „Berliner Falstaff“ ließ sich vor der angebeteten Schönen auf seine Kniee nieder; in demselben Moment trat der König in das Zimmer und nahm anscheinend eine höchst zornige Miene an; er schien vor Wuth ganz außer sich zu sein, war es aber in der That nur vor Vergnügen, zu sehen, wie sich der dicke Seladon vergebens abmühte, um wieder auf die Beine zu kommen. Endlich konnte sich der König nicht länger bezwingen; er brach in ein lautes Gelächter aus, half dem armen Schäfer selbst aufstehen und schenkte ihm eine kostbare Krücke Friedrich des Großen von Bergkrystall mit Türkisen besetzt, um sich künftig bei ähnlichen verliebten Abenteuern darauf zu stützen.“

Schmidts schenkte später diesen Stock an den Geheimen Rath Heim, dessen Sohn ihn dem französischen General Rulhiére in Paris verehrte.

Besonders fühlte sich der König an die Geliebte durch den Sohn gefesselt, den sie ihm geboren hatte und der von ihm zum Grafen von der Mark erhoben wurde. Er liebte diesen Knaben, der seiner Mutter ähnlich sah, fast abgöttisch.

„Sein Angesicht,“ schreibt der berühmte Mirabeau, welcher sich zu jener Zeit am Berliner Hofe aufhielt, „glänzt, wenn er ihn nur sieht; am Morgen beschäftigt sich der König mit diesem Kinde; unter allen seinen fortwährend wechselnden Launen ist diese Zuneigung die einzige, die sich regelmäßig erhält.“

Der zärtliche Vater gab ihm einen französischen Hofmeister, Namens Chapuis, und schenkte ihm drei große Domainen in der Neumark, Lichtenau, Breitenwerder und Roßwiese, deren Einkünfte einstweilen die Mutter genoß. Untröstlich war der König über den Tod dieses Sohnes, der in seinem neunten Lebensjahre und unter räthselhaften Umständen erfolgte, die fast auf ein geheimnißvolles Verbrechen schließen lassen.

Die Mutter scheint den Todesfall dazu benutzt zu haben, um den schwachen König noch mehr in ihre Gewalt zu bekommen. Zu diesem Zwecke soll sie sich mit jener intriguanten Coterie verbunden haben, welche den bekannten Aberglauben des Königs und seinen Hang zum Wunderbaren auf jede mögliche Weise zu nähren wußte. Diese geheimen Rosenkreuzer und Geisterbeschwörer versprachen dem betrübten Vater, den Schatten seines verstorbenen Lieblings aus dem Grabe heraufzurufen. In dem Palais unter den Linden wurde dasselbe Zimmer, worin der kleine Graf gestorben war, mit schwarzem Tuche ausgeschlagen; in der Mitte erhob sich ein Altar, auf welchem ein betäubendes Räucherwerk brannte. Eine sanfte Musik versetzte den König zuvor in die geeignete Stimmung, während durch optische Blendwerke seine Augen getäuscht wurden. Alles war darauf berechnet, seine Sinne einzuschläfern und seine Einbildungskraft auf das Höchste aufzuregen. Mit einem Schlage erloschen die brennenden Lichter, und in der Dunkelheit erschien die bleiche Gestalt des gestorbenen Knaben. Damit war diese Gaukelei noch keineswegs beendet. Der Schatten mußte auch sprechen und den Vater an das Versprechen erinnern, welches er früher der Mutter des Todten gegeben, daß er sie nie verlassen wollte.

So unglaublich diese Erzählungen auch klingen, so hat es noch vor Kurzem Leute in Berlin gegeben, die selbst als Helfershelfer bei diesen betrügerischen Possenspiele beschäftigt gewesen waren und dies in vertrauter Gesellschaft auch eingestanden.

Der tief erschütterte König ließ dem gestorbenen Liebling ein Denkmal in der Dorotheenkirche errichten, welches aus den Meisterhänden des Bildhauers Schadow hervorgegangen ist, und jetzt noch die größte Bewunderung verdient.

Durch derartige Künste verstand es die schlaue Favoritin, immer von Neuem ihren alten Anbeter zu fesseln und ihre Stellung zu behaupten; obgleich der Hofadel es nicht an fortwährenden Bemühungen fehlen ließ, sie zu stürzen. Man beschuldigte sie im Geheim, die frühere Geliebte des Königs, Fräulein von Voß, welche zur Gräfin von Ingenheim erhoben wurde, durch ein Glas Limonade in der Oper vergiftet zu haben. Die ersten Familien des Landes beeilten sich, aus ihrer Mitte dem Könige einen Ersatz zu bieten, um die bürgerliche Wilhelmine zu verdrängen. Diese war bereits 34 Jahre alt, hatte aber noch keineswegs ihre verführerischen Reize eingebüßt. Sie war mehr pikant als schön, ein Stumpfnäschen verlieh dem ausdrucksvollen Gesicht eine kecke, herausfordernde Physiognomie; die nicht großen Augen waren überaus feurig; ihr Körper wunderbar schön, ganz Ebenmaß ohne Gleichen. Man bewunderte vorzugsweise die plastische Schönheit ihrer Arme. So oft sie in dem Handschuhladen von Paskel auf dem Schloßplatze in Berlin erschien, fanden sich ältere und jüngere Kunstdilettanten ein, um ihren vollkommenen Arm zu bewundern, den sie beim Anprobiren entblößte.

(Schluß folgt.)


Allgemeiner Briefkasten.

W. P. in St. Ausnahmsweise und um des guten Zwecken willen wollen wir Ihrem Wunsche nachkommen. Die ersten beiden Jahrgänge sind übrigens vollständig vergriffen. – K. in L. Wir sind Ihrem Wunsche bereits zuvorgekommen. Herr Edm. Hoefer hat uns für eins der nächsten Hefte eine Erzählung zugesagt. – B. in G. Nicht frisch genug. Bitte, über das Manuscript zu disponiren.


Stimmen der Zeit.
Monatsschrift für Politik und Literatur.
Herausgegeben von Adolph Kolatschek.
December 1858.

Inhalt: Die gegenwärtigen Staatstheorien. – Ein deutscher Feldherr im amerikanischen Unabhängigkeitskriege. – Robert Schumann. Eine kritische Studie. IV. Schumann’s Werke im Einzelnen. – Von dem gegenwärtigen Zustand der Literatur in Frankreich. – Die Auflösung des bairischen Landtags. – Die politische Lage in Hannover. – Ungarische Zustände. I. Grund und Boden. – Literarische Kritiken. Das Leben der Seele, in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze, von M. Lazarus. 2 Bde. Berlin 1856–57. Argo, Album für Kunst und Dichtung, 1859, herausgegeben von Fr. Eggers, Th. Hosemann, B. v. Lepel. Breslau. – Londoner Brief. London, 25. November. Die Reformbewegung – John Bright — Die Aufklärung über Preußen – Montalembert’s Proceß – L’Angleterre et la guerre.

Die „Stimmen der Zeit“ erscheinen in monatlichen Heften von 7–8 Bogen und kosten vierteljährlich 2 Thaler.

Gotha, December 1858.
Expedition der Stimmen der Zeit.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ein Joch Feld beträgt 1600 Quadrat-Klaftern.
  2. Herzlich Gemüth.
  3. Uhtze, huhtzen = zum Besten haben, foppen.
  4. Erinnerungsblätter aus dem Jahre 1849. Von Johanna Kinkel“, im Aprilhefte der „Deutschen Revue“ 1851.
  5. „Gedichte von Gottfried Kinkel. Vierte Auflage. Seite 229. Seine „Elegieen im Norden an Johanna“ werden jetzt mit mehr Verständniß und Genuß gelesen werden.
  6. Siehe nächste Nummer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urtel