Die Gartenlaube (1859)/Heft 11

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[149]

No. 11. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Onkel Fabian.
Ein Lebensbild von Ernst Fritze.
(Fortsetzung.)


Frau Starkloff, abgewiesen und zur Ruhe gebracht, entfernte sich mit ihrem Blumenwedel und dem nassen Schwamme, der eine kleine Pfütze auf dem Fußboden hinterlassen hatte. So wie sich die Thür hinter ihr schloß, sprang Helene auf, schob den Riegel vor und überließ sich nun einem verzweiflungsvollen Weinen.

„Liebe ihn doch nicht mehr!“ befahl die Stimme der Vernunft in ihr, „achte ihn doch nicht mehr, hasse ihn doch!“

„Ja, ja!“ antwortete die Stimme des Herzens, „ja, ich will ihn hassen, will ihn nicht mehr lieben, will ihn verachten!“

Und dabei weinte sie fort, bis der Kopf ihr schmerzte, bis die Augen halb blind waren und eine schwere Mattigkeit sie umfing.

„Womit habe ich mein Schicksal verdient?“ fragte sie sich jammernd. „O, daß ich meinen Blicken erlaubt habe, Verrath zu üben, daß ich meiner Zunge nicht Stillschweigen gebot, als er leidenschaftliche Fragen an mich richtete – er wird, er muß mich ja jetzt verhöhnen mit meiner Hingebung. – „Morgen früh,“ sprach er mit einem Blicke voller Zärtlichkeit, „morgen früh!“ Und er reiset zum Hause des Mannes, dessen Tochter auf seinen Antrag wartet? Und er bleibt Tage lang dort? Es ist vorbei! Keine Entschuldigung möglich – es gibt keine im ganzen, großen, weiten Weltall – vorbei!“

Sie trocknete ihre Augen und setzte sich wieder ruhig an ihre Arbeit.

„Für solche Sünden gibt es keine Strafen,“ sprach sie eine Stunde später ganz gefaßt, „die Folgen derselben müssen also nicht lebensgefährlich sein. Geduld und Demuth werden mir beistehen, wenn ich ihre Nachwirkungen zu überwinden trachte.“

Aber sie senkte nicht ihr „rosig blühendes Köpfchen,“ wie der Regierungsrath ironisch gemeint hatte, sondern sie hob die Stirn im Gefühle ihrer Unschuld und zeigte sie in gewohnter Klarheit, als sie ganz grundsätzlich an demselben Abende zu einem Balle sich bereit machte, wo Cécil natürlich nicht erschien, wohl aber der Regierungsrath von Sieveringk mit seiner auf das Kostbarste geschmückten Frau.

Was sie dabei empfand, als sie mit sehr bezeichnendem Erstaunen überall von der Verlobung des Assessor Cécil von Sieveringk mit Fräulein Hanstein reden hörte, wollen wir nicht weiter erörtern, aber angesehen hat ihr Niemand die Thränen, die sie vorher darüber geweint.

Dem Verbreiter dieser Nachricht entging dadurch der Triumph, ein liebesieches Herz verspotten zu können, und es durchschlich ihn ein leises Gefühl der Achtung, indem er die vollkommene Selbstbeherrschung des jungen Fräuleins beobachtete.



III.

„„Der Mensch versuche die Götter nicht“ sagt ein gewisser Schiller, der den „Taucher“ gedichtet haben soll,“ sprach der Regierungsrath, laut lachend einen Brief zusammenfaltend, den er eben gelesen hatte. „Liegt mon cher Cécil fieberheiß beim Vetter Hanstein zu Bette und läßt sich von acht weichen Mädchenhänden pflegen! Da wird denn wohl ein Fieber vom andern vertrieben werden und eine Hochzeit mit Schönbella steht in Aussicht! Das ist trostvoll für mich, denn ich fürchtete schon, als Menschenmörder vor das Forum der allgemeinen Menschheit gezogen zu werden! Das war der erste Brief, der mir in die Hand fiel – hier liegen noch einige,“ fuhr er fort und griff zur Scheere, um sie aufzuschneiden.

Er las, und sein Lachen verstummte. Er las noch ein Mal, und der Spott verkroch sich. Er las zum dritten Male und stampfte wüthend auf den Fußboden. Beim dritten Briefe dasselbe Manöver; beim vierten schlug er verzweiflungsvoll die Hände über den Kopf und begrub dann sein Gesicht darin.

Spötter, Spötter, Dein kaltes Herz zittert Dir in der Brust, die rächende Nemesis preßt Dir das Blut in diesem kalten Herzen zusammen, daß es zu zerspringen droht. Was begegnete Deinem Auge, daß Du ohnmächtig und machtlos zusammenbrichst?

Herr von Sieveringk raffte sich auf und stürzte wie ein Wahnsinniger zu seiner Frau hinüber. Sie war allein. Er legte die Briefe vor ihr nieder und flüsterte athemlos:

„Was heißt das? Ist das wahr? Was steht da – lies – lies – lies, daß ich es höre –!“

Frau Olga neigte das Haupt und las nicht. Sie wußte ja schon, was da stand.

„Lies!“ befahl Sieveringk.

Sie folgte dem Befehle nicht, aber sie weinte und zitterte auch nicht, sondern saß nur still und geduldig da.

„So will ich lesen,“ knirschte der Mann zwischen den Zähnen hervor.

„Rechnung über ein Armband – ohne unser Wissen unserm Lager entnommen – ist das wahr?“

Frau Olga neigte ihr Haupt tiefer.

[150] „Ehrlos? Eine Diebin? Ist das wahr?“ fragte er nochmals mit furchtbarem Ausdrucke. „Antworte mir!“

Sie antwortete nicht. War dies nicht eine Antwort? Aber es genügte ihm nicht, seine Hand legte sich schwer auf ihre zarten Schultern. Er rüttelte sie.

„Wie bist Du dazu gekommen? Sprich – rede! Wie bist Du zu diesem fürchterlichen Vergehen gekommen – sprich, um Gotteswillen, sprich!“

„Ich kann es nicht lassen,“ drang es wie ein Hauch aus Frau Olga’s Munde, aber für ihren Gatten war es ein niederschmetternder Donner.

„Du kannst – allmächtiger Gott – Du kannst es nicht lassen! Also ein tiefwurzelndes Gift, vielleicht eine Erbsünde! – Allmächtiger, gnädiger Gott, meine Kinder – meine Kinder!“

Der starke Mann stürzte überwältigt, wie zerbrochen auf einen Sessel nieder. Eine Todtenstille herrschte im Zimmer. Als er wieder aufsah, war Frau Olga verschwunden. Er hatte sie nicht gehen sehen und nicht gehen hören. Ein kalter Schauer überlief ihn und jetzt plötzlich verstand er die sonderbare Angst seiner Schwiegermutter vor ihrer Verheirathung, ihre sonderbar bedenklichen Einwendungen. Wilde Bilder erhoben sich in seiner Seele. Tod – Verbannung – unabsehbares Elend – herzzerreißende Trauer über angeborene Laster.

„Meine Kinder!“ schrie die Verzweiflung in ihm.

Dem finstersten Brüten hingegeben, zogen eine Menge kleiner Erfahrungen, dunkel und mystisch, wie die Bilder einer Laterne magika, an ihm vorüber und sie waren, trotz ihrer nebelhaften Existenz, hinreichend, um die vorliegenden Thatsachen zu bekräftigen. Was ihm zu thun oblag, wußte er schon. Aber seine Kinder – seine Kinder! Trugen sie die Spuren des Erbübels schon in sich? O, wer ihm hier Beweise hätte liefern können! Sein Auge richtete sich zum ersten Male hülfeflehend zum Himmel und seine leichtsinnigen, blasphemirenden Philosophien wurden durch die Offenbarung einer höheren Gerechtigkeit, die ihn zu strafen schien, vollständig erdrückt.

„Nur meine Kinder mag mir Gott lassen, nur meine Kinder!“ rief er, laut aufschreiend vor Jammer, als er lange, lange Zeit klagelos und stumm verharrt hatte.

Er erhob sich, um in sein Zimmer zu gehen. Dort empfing ihn lautes kindliches Gelächter. Die Kleinen waren mit ihren Spielsachen bei ihm eingedrungen und hatten ihn gesucht. Meta thronte auf seinem Arbeitssessel, ehrbar die Puppe im Arme, Leopold saß auf der Erde und baute Schlösser von Holzklötzchen.

„Führe sie in Versuchung!“ rief eine Stimme in ihm, als er von dem süßen Lächeln des kleinen schmeichelnden Mädchens begrüßt wurde. „Prüfe sie sogleich und bestehen sie nicht, so reiße sie gewaltsam aus Deinem Herzen, wie ein Gift, das Deinen Lebensfrieden zu zernagen droht. Fort mit ihnen, auf ewig fort mit ihnen, wenn sie mit der Muttermilch das Böse eingesogen haben.“

Zitternd vor innerer Aufregung öffnete er ein Schränkchen, worin er kleine Näschereien für seine Lieblinge aufzubewahren pflegte. Aufjauchzend in Lust, reckte Meta das Köpfchen empor, als sie dies sah, und Leopold erhob sich schwerfällig vom Boden, um mit begierig blitzenden Augen näher zu treten.

Zitternd legte der Vater zwei Stücke Marzipan, ein selten erlaubter Leckerbissen für die Kleinen, auf den Tisch und sprach:

„Das möchtet Ihr wohl?“

Die Kinder klatschten jubelnd in die Hände und setzten sich zurecht, um die Gabe zu empfangen und zu verspeisen. Der Vater zerbrach die Stücke und legte sie, wie in unschlüssigem Zaudern, auf ein Papier neben sich. Er zählte aber genau die Stückchen und verließ, ohne ein Wort zu sagen, schnell das Zimmer.

Betrübt schauten die Kleinen ihm nach und Meta postirte sich bei der Näscherei, während der Knabe unter einem tiefen Seufzer sich wieder niederließ zu seiner Spielerei.

Draußen an dem Schlüsselloche lauschte der Vater. Sein Herz schlug und sein Athem stockte. Als sein Knabe heroisch jeder Versuchung aus dem Wege ging, indem er sich ernstlich beschäftigte, da zitterte ein Freudenlaut von seinen Lippen, aber Meta? Meta? Sein Herz schlug noch stärker, denn Meta war sein Liebling, der Frühlingsträume in seine Brust senkte, der weiche Gefühle in ihm weckte, der die edelsten Regungen in ihn verpflanzte. Meta blieb stehen und betrachtete lüstern die Marzipanstückchen.

„Ob der Papa bald wiederkommt?“ fragte sie endlich den Bruder.

„Weiß nicht,“ entgegnete der kleine Herr lakonisch und spitzte sein Mäulchen zu einem unharmonischen Pfeifen.

„Ob wir unser Marzipan nicht essen dürfen?“ fragte sie nach einer Weile wieder.

„Nein, es ist noch nicht unser,“ replicirte der Knabe.

„Ich möcht’s wohl kosten,“ meinte Meta kleinlaut.

„Ich nicht!“ entgegnete Leopold und sah zu der Schwester empor. Er lachte dabei gerade so spöttisch, wie sein Herr Papa zu thun pflegte, wenn er menschlichen Schwächen begegnete.

„O, ich thue es auch nicht,“ erklärte Meta eifrig und trat sogleich mehrere Schritte von dem Tische hinweg. „Weißt Du wohl, was uns Tante Helene gesagt hat, weißt Du?“

„Freilich weiß ich,“ brummte der Knabe. „Naschen ist Sünde, naschen ist stehlen!“

„O, und noch mehr!“ plauderte sie mädchenhaft geschwätzig weiter. „Tante Helene hat uns erzählt, daß sie auch gern genascht habe, daß aber gleich unser Papa es gesehen habe, und unser Papa sähe Alles –“

„Nein, nicht unser Papa,“ corrigirte der Knabe ganz indignirt mit Stentorstimme, „der Vater im Himmel, der Gott heißt, der sähe Alles, der bestrafe und belohne Alles!“

„Ja, der Papa im Himmel,“ gab Meta kleinlaut zu. „Aber unser Papa belohnt auch, Leo; er gibt uns Marzipan, wenn wir nicht naschen, und hat uns lieb, nicht wahr, das hat Tante Helene auch gesagt? Ich nasche lieber nicht, ich fasse gar nichts an, was mir nicht gehört; nein, unser Papa im Himmel sieht ja Alles!“

Jetzt rollten Freudenthränen aus den Augen des Regierungsrathes und er trat, unbekümmert um die nassen Wangen, schnell in das Zimmer zurück, um seinen Sohn und seine Tochter mit nie gefühlten Empfindungen an seine Brust zu pressen. Die Kinder bemerkten sehr wohl die seltsame Stimmung des Vaters, sie sahen die Thränen in seinen Augen und fühlten die gesteigerte Liebe in seinem Kusse, allein ihr Kinderherz vergaß unter dem jetzt erlaubten Schmaußen der Leckerbissen das, was ihnen momentan auffällig gewesen war.

Den leisen Hauch der Verstörung, der seit dieser Stunde durch das ganze Haus lief, den konnte ein Kinderauge freilich nicht bemerken. Es währte aber nur einen Tag und dann brach das mühsam von entschlossener Selbstbeherrschung zusammengehaltene Familiengebäude des Onkel Fabian zusammen. Er hatte viele Wege gemacht, von jedem kam er düsterer nach Hause. Er hatte Conferenzen gehabt, hatte kein Geld geschont, hatte Aerzte zu Rathe gezogen und dabei war das Zimmer der Frau Olga verschlossen worden und sie der Dienerschaft als „krank“ gemeldet.

Als ein neuer Morgen tagte, nahm Herr von Sieveringk seine Kinder an die Hand und ging mit ihnen nach dem Hause der Frau Justizamtmann Starkloff.

Gerüchte verschiedener Art waren ihm schon vorausgelaufen, weshalb die alte Dame ihm mit hochgespannter Erwartung und Helene mit dem Ausdrucke unendlichen Erbarmens entgegentraten.

„Was mag er wollen?“ murmelte Frau Starkloff und ihr Gewissen regte sich. Aber dessen unbeachtet blickte sie ihm unter dem festen Vorsatze, – „mit dem schweren Geschütze ihrer Offenherzigkeit einen Sieg zu erfechten, wenn es ihm beifallen sollte, den Kampf mit seinen widerhakigen Pfeilen des Spottes zu eröffnen,“ sehr muthig in’s Auge.

Helene aber erröthete und erbleichte, als er mit respectvoller Galanterie ihre Hand an seine Lippen führte, und dachte ebenfalls höchst beklommen: „Was mag er wollen?“

Herr Fabian von Sieveringk bat die beiden Damen mit einfachen Worten, seine Kinder auf acht Tage in ihre Obhut zu nehmen, da Familienverhältnisse eine Reise mit seiner Frau nothwendig machten.

Frau Starkloff riß ihre großen, braunen, muthigen Augen weit auf bei diesem Ansinnen, das ihr völlig unerwartet kam.

„Wie kommen wir denn zu der Ehre, mein Herr Regierungsrath?“ fragte sie, als Erwiderung dieser Bitte, und blickte ihm forschend in’s Gesicht, um aus dem Ausdrucke desselben zu errathen, wie viel Spott in diesem Anliegen ruhen möchte. Keine Spur von Humor lag in seinem vollkommen ruhigen Antlitze und die Kunst des Spottens schien vollständig von ihm vergessen worden zu sein.

[151] „Ich fühle, daß ich sehr viel verlange,“ antwortete er sehr schnell, zu Helene sich wendend, „allein dennoch wiederhole ich meine Bitte und beanspruche Ihr Fürwort, mein Fräulein.“

Das junge Mädchen streckte willfährig ihre Hände den Kindern entgegen und diese schmiegten sich sogleich an die alte Bekannte an.

„Ich bin es gewohnt, dem Unverstande und der Uebereilung rächend zur Seite zu stehen,“ rief Frau Starkloff mit der ganzen Kraft ihrer gewöhnlichen Offenherzigkeit, „und da Sie so gut wie wir das kaum zur Ruhe gegangene Getratsch der Stadt kennen, welches den Namen Ihres Neffen mit dem Namen meiner Nichte verbunden hatte, so finde ich es einigermaßen gewagt, um nicht zu sagen unverschämt, daß Sie uns Ihre Kinder aufbürden wollen.“

„O, Tante!“ flüsterte Helene bittend, zog sich aber ohne weitere Kundgebungen ihrer Ansicht sogleich verlegen in den Hintergrund zurück, wobei sie die Hände der Kinder nicht losließ. Sie setzte sich hastig nieder, umschloß sie mit ihren Armen und zeigte in dieser Stellung, daß sie sehr willig war, der Bitte des Herrn von Sieveringk nachzukommen.

„Sie sehen, meine Gnädigste, daß Ihre Einwendungen machtlos an dem Willen Ihrer Nichte zerschellen,“ sprach er mit so entschieden wehmüthig freundlichem Ausdrucke, daß an Spott gar nicht zu denken war. „Sie sind ja sonst eine so milde Mutter aller verlassenen Waisen.“

„Ja, ja, eine weise Dame des Morgenlandes, wie Sie uns zu nennen belieben,“ fiel sie ein.

„Deshalb hege ich das Vertrauen, daß Sie mein kleines Zwillingspaar aufnehmen und ihm auf einige Tage eine Freistatt gewähren werden,“ schloß Sieveringk.

Sein Blick ruhte dabei mit wahrhafter Bewunderung auf Helene, die ihm nie so reizend erschienen war, als in der kleinen Handlung einer himmlischen Vergebung, welche zwar vielleicht auf neuerstandenen Hoffnungen beruhte, aber immerhin höchst liebenswürdig war. So wenig geneigt er zu Sentimentalitäten war, so bereute er doch in diesem Momente seine Eingriffe in ihr Lebensglück tief und bitter, zumal sie sich entschieden als ein Schutzgeist seiner Kinder bewiesen und den jungen Seelen auf eine Weise den Begriff des Mein und Dein eingeimpft hatte, die von seltener Selbstverleugnung sprach.

Er wünschte von Grund seines Herzens seine Unbill zu vergüten und die ungerechte Verunglimpfung des schönen Mädchens zu redressiren. Freilich des Schicksals ungeahnte Verkettung, die seinen Neffen Cécil in dem Hause des Oberförsters Hanstein, umgeben von reizenden Pflegerinnen, krank werden ließ, gestattete ihm wenig Aussicht, daß dieser junge, leicht entflammte Mann freien Herzens wieder in sein altes Quartier einrücken würde, wenn er genesen vom Schnupfenfieber zurückkehrte. Mit dem windschnellen Fluge der Erinnerung hafteten seine Gedanken an hundert ähnlichen Fällen, die ihm in seiner Jugend vorgekommen waren, wo er mit dem besten Willen nicht treu bleiben konnte.

Zum ersten Mal schlich ein brennendes Gefühl der Angst durch seine Seele, daß ihm jetzt vielleicht sein frivoler Lebenswandel vom Schicksal vergolten und daß ihm noch schweres Herzeleid widerfahren könnte, wenn einst seiner Tochter auch ein derartiger Herzenskampf bereitet würde.

Mit gutmüthigem Lächeln beschloß er den Wettlauf dieser peinlichen Gedanken und sagte, herzlich die Hand der Amtmännin zum Abschiede ergreifend:

„Es hilft Ihnen nichts, Gnädige, daß Sie bärbeißige Mienen ziehen, ich kenne Ihr Herz und weiß, daß Sie trotzdem meine lieben Kleinen weder hungern noch dürsten lassen, daß Sie dieselben wie Ihren eigenen Augapfel behüten und wie die zärtlichste Mutter für sie sorgen. Das haben Sie davon, daß Sie mit der Wahrheit Ihrer Empfindungen so wenig Haus halten und die Kraft Ihres Gemüthes so schleierlos zeigen. Man glaubt Ihnen nicht, wenn Sie mit pommerschen Kolbenschlägen Ihre feindseligen Absichten documentiren wollen.“

Frau Starkloff lachte herzhaft. Was sollte sie auch gegen diese gutgemeinten Worte einwenden? Mit ihrer großartig offenherzigen Ablehnung hatte sie die Munition verschossen, die ihr zu Gebote stand, und sie sah aus der ganzen Stellung ihrer Nichte, daß sie in ihr eine gefährliche Widersacherin finden würde.

Sie schloß Frieden mit Herrn von Sieveringk und begleitete ihn freundschaftlich bis zur Hausthür.

Als sie zurückkam, setzte sie sich in einiger Verdrießlichkeit, die stark mit Verlegenheit gemischt war, ihrer Nichte gegenüber und betrachtete sich moquant die Zärtlichkeit, welche zwischen ihr und den Kindern herrschte.

„Das ist eine ärgerliche und zugleich possierliche Geschichte,“ begann sie halblaut. „Die Reise des Regierungsrathes hängt doch ganz gewiß mit den verdrießlichen Erfahrungen zusammen, die er an seiner Frau gemacht hat und ich –“ Helene hob fast erschrocken den Kopf zu ihr auf – „und ich hänge wieder mit diesen Erfahrungen zusammen. Ja, Kind, sieh mich nur nicht so tadelnd an – es ist einmal geschehen und nicht mehr zu ändern!“

„Du hast Frau Olga angeklagt?“ fragte Helene tonlos. „Tante, hast Du wohl an die Folgen gedacht?“

„Bah – bah, Kind! Ich hatte nichts anzuklagen, aber ich gestehe frank und frei, daß ich dem Juwelier Schmidt, dem Bijouteriehändler Meier und noch einigen andern Kaufleuten auf ihr Befragen geradezu gerathen habe, dem Regierungsrath eine Rechnung über die „ausgeführten“ Gegenstände zu überschicken und sich des ominösen Wortes „entnommen“ zu bedienen. Schüttle nicht so tadelnd Dein Köpfchen, Kind – es ist geschehen und nun nicht zu ändern. Du hast gesehen, der Mann ist nicht vor Schreck des Todes verblichen, und die Frau wird auch nicht davon sterben. Was er nur beabsichtigen mag? Er hat insgeheim Nachforschungen an allen Orten anstellen lassen, hat bezahlt, was irgend zweifelhaft im Besitze der Frau war, und hat sie für krank erklärt!“

Helene holte tief Athem. Im Grunde hegte sie die Ueberzeugung, daß die Enthüllung dieser Vergehen eher zu spät, als zu zeitig gekommen sei, aber es regte sie peinlich auf, ihre Tante darin verflochten zu sehen. Lag es nicht wie ein schwerer Zauber von bösen Geistern auf den Schicksalen, die sie jetzt trafen? Was mußte Cécil denken, wenn er hörte, daß sie eine Rolle in den entehrenden und demüthigenden Aufklärungen über seines Onkels Gattin spielten?“

„Es thut mir nur leid,“ begann Frau Starkloff wieder, „daß ich nicht meiner gewohnten Wahrheitsliebe gefolgt bin und dem Regierungsrathe sogleich mitgetheilt habe, wem er die Eröffnung des Scandals zu verdanken hat. Es ist mir fatal, daß er das nicht weiß!“

„Habe nur Geduld, Tante, er wird es früh genug erfahren!“ tröstete die junge Dame sie mit einem Ausdrucke, der nahe an Unmuth streifte.

Mit welch gläubiger Zuversicht hatte sie dem Glücke einer ungetrübten Zukunft entgegen gesehen, und mit wie kindlichem Gemüthe dem Manne vertraut, dem sich ihre Seele erschlossen hatte! Warum mußte sich denn das Alles mit einem einzigen Schlage verändern? Warum trieb sie denn das Schicksal, auf Irrwegen und doch so sicher, einem Leben voller Verwirrung und Unannehmlichkeit zu? Würde ihre Tante zu den Maßregeln gerathen haben, wenn sich nicht Disharmonien in dem sonst so freundschaftlichen Verkehr zwischen Sieveringk’s und ihnen entsponnen hätten? War der Unmuth nicht gerechtfertigt, der sie bei den Geständnissen ihrer Tante überschlich, wenn sie bedachte, daß ihr Edelsinn bezweifelt werden könne? O, wie dankte sie Gott, daß sie in der Sorgfalt für die Kinder beweisen konnte, daß sie sich an nichts betheiligte, was dem Hause Sieveringk Nachtheil zu bringen im Stande war! Ihre Gedanken wanderten noch immer allzu gern zu der Zeit zurück, wo die Tagesstunden ihre Weihe durch einen Gruß Cécil’s erhalten hatten, wo er das Ideal ihrer Träume und doch zugleich der Gegenstand ihrer Sorge gewesen war, wenn sie sehen mußte, wie frisch und gluthvoll er sich dem Leben mit seinen Freuden hingab. Sie trauete ihm nie, weil er seinem Onkel Fabian so sehr ähnlich sah, und sie hatte ihm im Scherze oftmals die Antecedentien dieses gefährlichen Onkels in’s Gedächtniß zurückgerufen. Seine ernsten Blicke waren ihr dann heiligere Betheuerungen gewesen als Worte, und ungeachtet des tiefen Gefühles, das sie ausgesprochen hatten, scheiterte ihr Herzensglück doch so bald. Wie ein Blitz durchzuckte sie freilich manchmal der Gedanke: Es ist unmöglich, daß er, seines Willens frei und unbeschränkt Herr, so dich verlassen konnte - er muß durch Umstände gehindert sein oder durch eine fremde Macht gehemmt. Aber von welcher Macht, da er allein in der Welt stand, da sein Vater todt, seine Mutter längst, längst begraben war und ihm nur in dem Onkel Fabian eine Art Autorität zur Seite stand?

Helene widmete sich mit ganzer Seele der Pflicht, die ihr das [152] Vertrauen des Regierungsrathes auferlegt hatte, und sah fast mit Bangen der Zeit entgegen, wo ihr die Kinder wieder genommen werden würden.

Herr von Sieveringk war mit seiner Gattin abgereist. Wohin, das wußte Niemand. Ein dumpfes Gerücht nannte als Ziel seiner Reise „das Irrenhaus“!

Ein Schauer des Entsetzens durchlebte die sonst so starke Brust der Justizamtmännin, als sie diese Nachricht hörte. Es schien ihr nach dem Charakter des stolzen Edelmannes glaublich, daß er lieber vor den Augen der Welt eine irrsinnige Frau besitzen wollte, als eine verbrecherische. Und dann, hatte er denn Unrecht, Olga’s Fehlen als eine wahnwitzige Idee zu betrachten? Es lag Wahnsinn in ihrem Beginnen, obwohl ihr übriges Thun genugsam Verstand aufwies, um den Trieb dazu bekämpfen zu können. Aber der Gedanke blieb doch entsetzlich, eine junge schöne, dem weltlichen Leben blind ergebene Frau in’s Irrenhaus zu liefern, um sie in Ehren los zu werden. Denkbar war es, daß er es that. Er war herzlos, er war ein Spötter, ein Gottesleugner, ein Bonvivant, er war stolz, hochmüthig und gefühllos – genug, Herr Fabian von Sieveringk wurde unter der Voraussetzung, daß er seine Frau unschädlich machen und unter jeder Bedingung ganz aus seinem behäbigen Lebenskreise entfernen wollte, durch die Phantasie der ehrenwerthen Frau Justizamtmann Starkloff ein Unmensch, gegen den selbst die Kannibalen mit ihrer Neigung zum Menschenfleische wahre Engel waren. Sie redete sich ordentlich in Wuth, wenn sie ihrer Nichte den Egoismus zergliederte, von dem sich dieser entsetzliche Mann leiten ließe, und die entwürdigenden Vergehen der Frau Olga, deren gespenstisches Schleichen und scheues fremdartiges Wesen sie nie hatte ausstehen können, schrumpften unter den Vergleichungen mit ihrer möglichen Strafe zu einem Nichts zusammen. Sie schwor mit kräftigen Ausdrücken dem Herrn Fabian von Sieveringk eine derbe Empfangsrede zu, wenn er es sich hätte einfallen lassen, sein armes, beklagenswerthes Weib in ein Irrenhaus zu bringen, wo ihr partieller Wahnsinn durch die Zwangsjacke erst zu förmlichem Irrsinn ausgebildet werden würde.

Mit diesen welterschütternden Vorsätzen erwartete Frau Starkloff den Regierungsrath, allein er blieb klüglich so lange aus, daß ihre Entschlüsse Zeit hatten, zu verrauchen und bessern Einsichten Platz zu machen.


IV.

Der Regen strömte vom Himmel herab, als wollte er den Winter mit seinem Eis- und Schneemantel mit Gewalt von der Erde vertreiben, als an einem Februarabende der Bahnzug ganz gemüthlich daher schob und unter dem Wetterdache des Bahnhofes anhielt. Sogleich öffnete sich das Fenster eines Waggons und ein Herr rief mit der Herrscherstimme eines wohlgeschulten und eingeübten Reisenden: „Eine Droschke!“

Dicht neben ihm öffnete sich gleichfalls das Fenster, aber der Herr, welcher dort herausschauete, musterte blos verwundert die Stelle, von wo der Befehl erschallt, und zog dann mit leichten Gebehrden des Zweifels sein junges, wohlfrisirtes Haupt wieder zurück.

Gleich darauf wurden vom Schaffner die Thüren geöffnet, der zweite Herr sprang eilig heraus und kam gerade zu rechter Zeit, um dem andern hülfreich die Hand bieten zu können.

„Wahrhaftig! Ich habe mich also nicht getäuscht, als ich meines ehrenwerthen Onkel Fabian’s Stimme zu erkennen glaubte!“ rief Cécil. „Das ist doch aber grundkomisch, daß wir wahrscheinlich Rücken an Rücken einige Dutzende von Meilen gefahren sind, ohne es zu wissen. Wo bist Du denn gewesen, Onkel?“

„Das frage ich Dich, mon cher Cécil!“ erwiderte der Regierungsrath. „Du kommst mir sehr gelegen, um mir die erste schmerzlich trübe Einsamkeit meines Hauses weniger fühlbar zu machen. Du fährst mit mir! Meine Leute erwarten mich. Wir finden aufgewärmte Zimmer und erquickliche Speisen.“

Dem jungen Manne kam diese Beschlagnahme seiner Person nicht „gelegen“. Sein Herz hatte sich an Träumereien erquickt, deshalb brauchte er keine Speisen zu diesem Zwecke. Aber der Ton, womit sein Onkel sprach, klang ihm sonderbar. Auch verstand er die Worte nicht zu deuten, und als jetzt der volle Lichtglanz einer Gaslaterne auf das Gesicht desselben fiel, da erschrak er vor seinem bleichen und hohlen Antlitze, das sich um zehn Jahre älter auswies.

Mit einigem Widerstreben folgte er der herrischen Einladung. Wollte denn das Geschick durchaus die Kette nicht lösen, die ihn an den Mann fesselte, der stets auf seine Entschließungen dämonisch einwirkte? Was half ihm seine längere Abwesenheit, was halfen ihm die Schritte, die er zu seinem eigenen Besten ohne Vorwissen seines Onkels gethan hatte, um auf immer aus seiner Nähe zu kommen, und wo möglich das Glück seines Lebens vor seinen Spottblicken zu retten und zu sichern, was half ihm das? Gleich beim ersten Schritte in die heimathlichen Fluren packte ihn das Schicksal wieder und gab ihn dem Schlepptau seines Peinigers anheim.

Die befohlene Droschke kam vorgefahren und unter dem schönsten herniederrauschenden Regengusse stiegen beide Herren ein, um den ziemlich halbstündigen Weg zur Stadt zu fahren.

Zuerst schwiegen Beide; der Regierungsrath unter dem Drucke seiner unangenehmen Verhältnisse, die er mindestens dem Neffen gegenüber vom Schleier des Geheimnisses befreien mußte; Herr Cécil aber unter der Einwirkung eines stillen, grimmigen Trotzes, der ihm vortreffliche Rathschläge zuzuraunen beflissen war.

Das polternde Geräusch des Regens oberhalb ihrer Köpfe war eben nicht ermunternd zu einer vertraulichen Conversation, da sie jedenfalls mit übertriebener Lungenanstrengung verknüpft gewesen wäre, also schwiegen sie!

Endlich ließ das Prasseln nach und der Wagen fuhr etwas langsamer in einen aufgeweichten Fahrweg ein.

„Wo kommst Du her, Cécil?“ fragte Herr von Sieveringk, nun sich aufraffend, mit einiger Hast. „Bist Du bis jetzt beim Vetter Hanstein gewesen?“

„Nein,“ entgegnete der junge Mann kurz und fest. „Ich verließ die Oberförsterei, sowie mein Zustand besser wurde. Gerade heut vor vier Wochen!“

„Hast Du Dich mit Bella verlobt? Hast Du Helene von Kursen vergessen?“

(Schluß folgt.)




Eine Besteigung des Großglockner.
(Schluß.)

An dem kleinen Eishügel angekommen, mußte ich aufstehen. Eine schlimme Partie, denn nachdem dies geschehen, hatte ich nicht, wie vorher, wenigstens auf einer Seite eine Wand, gegen welche ich die Augen wenden und mich vor Schwindel schützen konnte. Der Hügel reichte mir nur etwa bis zur Mitte des Leibes; ich konnte es trotz aller Mühe nicht vermeiden, rings herum in die Tiefen zu schauen. Ich hatte gehofft, daß der Grund zwischen beiden Spitzen breiter sein würde und ich mich dort, vor Besteigung der zweiten Spitze, von aller Aufregung recht würde erholen können, indessen war es leider nur ein schmaler Sattel, sehr wenig breiter als der Grath, auf dem ich stand. Von diesem war der Abfall ganz steil und bestand in einer senkrechten Eiskante, etwa so breit, wie ein Männerrücken. Der Uebergang wurde in folgender Art bewerkstelligt:

Der Fleißner, gleich mir an dem Eishügel lehnend, befestigte sich mit dem Seile an demselben. Inzwischen hatte sich der Tribusser an uns vorbeigedrängt; nachdem ihm das Seil um den Leib gelegt worden, setzte er sich auf den senkrechten Abfall, und so ließ ihn der Fleißner einige Fuß hinabrutschen, wobei sich der Tribusser hinten an den Kanten der Eiswand festhielt. Nunmehr setzte ich mich, vom Fleißner am Seile gehalten, auf den Abfall, die Füße auf des Tribussers Schultern gestützt, so daß ich seinen Kopf zwischen denselben hielt. Ein anderes Seil, oben am Eise befestigt, wurde am andern Ende von dem untenstehenden Eder gehalten. Es diente vorzugsweise dem zuletzt Herabkommenden und dem zuerst wieder Aufsteigenden, doch wurde mir gesagt, daß auch ich nach demselben fassen sollte, falls der Tribusser mich nicht mehr aufhalten könnte. Der letzte Fall trat auch ein. Er konnte sich am Eise nicht fest [153] genug halten und rutschte schneller als ich. Meine Füße verloren ihren Halt, meine Arme waren nicht stark genug, mich an der Eiskante zu halten, das Seil, welches Eder unten hielt, vermochte ich nicht zu erfassen, und so hing ich denn ganz allein am Seile über der Tiefe. Ich hatte zwar keinen Zweifel, daß das Seil nicht reißen würde, und oben wohl befestigt sei, indessen erschrak ich doch im ersten Augenblick, als ich so plötzlich in der Schwebe hing, und rief dem Bürgermeister ängstlich zu. Beruhigend klangen seine Worte, denn sehen konnte ich ihn nicht:

„Keine Noth, der Bürgermeister steht fest.“

Das Erklimmen der Spitze.

[154] Endlich erreichten meine Füße auch die Schultern des Trilbusser wieder, und mit diesem rutschte ich glücklich auf den schmalen Sattel hinab. Dieser lud zum Ausruhen nicht ein, die Hauptsache aber war überstanden, und das gab neuen Muth. Es wurde denn auch sofort auf den vom Eder eingehauenen Stufen, nachdem mit seiner Hülfe auch der Bürgermeister am Seile herabgekommen, die zweite Spitze erklommen, indem Eder mit dem Seile nach oben zog, und der Tribusser nachschob. So war denn das seit meinen jungen Jahren ersehnte Ziel erreicht. Weiter empfand ich aber im ersten Augenblick nichts. Ich warf mich mit dem Gesicht in den Schnee der höchsten Spitze und erholte mich von den Anstrengungen des Geistes mehr, denn des Körpers. Jetzt wurde aufgeschauet. Der Bürgermeister holte aus der Brusttasche seines dicken Lodenhemdes auf meine Weisung das Glas hervor, ich selbst band die Maßflasche mit Wein vorn vor meinem Halse los, wo sie mit großer Kunst befestigt worden, als dem einzigen Orte, wo sie vor dem Zerdrücken sicher war. Die Führer hatten sie nicht mit hinübernehmen wollen und gemeint, daß dies unmöglich sei. Ich war daher nicht wenig stolz auf dieses mein eigenes Werk. Nun wurde das Glas bis zum Rande gefüllt, ich trank das Wohl der Allerliebsten, rief es hinaus in die weite Welt und schleuderte das Glas über den Kopf in die Tiefe. Mit offenem Munde und staunenden Augen hatte der Bürgermeister, der dicht neben mir lag, die ganze Geschichte mit angesehen. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Laut brüllend griff er nach der wohlgeschliffenen weißen Flasche, um sie mit dem Weine dem Glase nachzuschleudern, indessen ich faßte seinen Arm und rettete Flasche und Wein. Jede Spur von Aufregung war nun verschwunden. Die Sache war vollbracht. Eine echte Regalia, die letzte (kostete neun Kreuzer) wurde hervorgeholt und in größter Gemüthsruhe mit wahrer Wollust verzehrt.

Wir hatten höchstens einige Grad unter Null und fanden die Luft, da wir vorher stark gefroren, sehr behaglich. Der Himmel lag dunkelblau über uns. Bereits früher, von einem Riesen der weißen Kette, welche die Thäler von Gurgel und Fend trennt, wenn auch nicht so hoch wie der Glockner, dennoch immer über 10,000 Fuß, hatte ich an einem ganz klaren Tage schon ein Mal die Welt überschaut, und wußte also, wie es da oben bei hellem Wetter aussieht. So gut war es uns nun heute nicht geworden. Im ersten Augenblicke hatte ich geglaubt, alle die andern weißen Spitzen der Berge in der Nähe und Ferne unter mir zu sehen. Schon suchte ich Venediger, Ortler etc. herauszusondern, als ich mich überzeugte, daß es nicht die Berge, sondern die Wolken waren.

Da der Berg nach den meisten Messungen 12,000 (11,988, 11,982) Pariser Fuß hat, nach neueren Messungen noch bedeutend mehr, so hat der Horizont einen Durchmesser von mindestens 60 Meilen, wonach man auf jeder Seite über 30 Meilen, also z. B. auch noch über 10 Meilen in’s adriatische Meer, hineinblicken könnte. Davon war nun nichts zu sehen. Zwar blieb der Himmel klar und dunkelblau, auch war die nächste Umgebung völlig deutlich dem Auge sichtbar, namentlich der ganze Berg, der Ort Cals in Tyrol mit seinen Thälern, die ganze blaugraue Pasterze mit den einzelnen Spalten und Schlünden, jenseits derselben die Gemshütte, Heiligeblut in Kärnthen mit seiner gothischen Kirche und dem schönen spitzen Thurme, das ganze liebliche Moellthal bis Winklern hinab und alle die Berge von Nordosten bis zum Johannesberge, der hohe Narr, die große und kleine Fleiß, die ganzen Goldberge, deren Gletscher dem Auge ganz nahe erschienen u. s. w. Aber nach Norden, Westen und Südwesten war die Fernsicht von einer weißen, unter uns liegenden, durch einander wogenden Wolkenmasse geschlossen. Es war dieses Wolkenmeer auch ein wunderbarer Anblick, Ein starkes Gewitter tobte unter uns in demselben, während wir da oben unter blauem Himmel im köstlichsten Sonnenschein lagen.

Der Fürstbischof Salm hatte auf dieser Spitze vor Jahren ein Kreuz von Eisen aufrichten lassen. Die Wetter hatten es längst zerschlagen und zerknickt. Verbogen wie dünnes Rohr lagen die einzelnen Stücke, zum Theil vom Eise überzogen, umher. Es fiel mir auf, daß die Rudera dieses Kreuzes, welches auf der Spitze gestanden, sich mindestens 10 Fuß unter uns befanden. Auf meine Frage erfuhr ich, daß die Spitze eben auch da unter uns sei, die Erhöhung, auf der wir uns befanden, aber gefrorner Neuschnee sei, der bald wieder verschwinden, während unserer Anwesenheit aber wohl noch halten würde. Dies schien mir denn doch sehr bedenklich, und mit größter Behendigkeit rutschte ich zur Stelle des Kreuzes hinab. Auf meine Weisung schlug mit vieler Mühe der Tribusser ein Stück von einer Eisenstange dieses Kreuzes ab, welches ich zum Angedenken mitgenommen, und da der Eder sehr richtig bemerkte, viel lieber als dieses Stück von Menschenhand würde ihm ein Stück von Deutschlands höchster Spitze sein, so wurden noch einige Stücke des graugrünen Felsens für mich und einige Freunde in der Heimath losgehauen.

Diese höchste Spitze des Berges besteht nicht, wie die kleineren, aus dem blanken Firneise, vielmehr tritt aus demselben an mehreren Stellen der schwärzliche Stein des Glimmerschiefers hervor. Diese zweite Spitze ist überhaupt ein viel gemüthlicheres Plätzchen, als die erste. Wir hatten alle Vier bequem Platz bei einander zu liegen, zu stehen, sogar einige Schritte zu gehen. Schwer trennten wir uns von dort. Zeit und Wetter mahnten indeß an die Heimkehr. Fast eine Stunde hatten wir zum Uebergang von der ersten bis zur zweiten Spitze gebraucht, weiße Wolken kamen von unten zu uns herauf und züngelten sogar um den Sattel zwischen den beiden Spitzen. Eine halbe Stunde hatten wir oben gelegen, so mußte denn geschieden sein.

Mit großer Schnelligkeit war ich, von dem oben stehenden Eder am Seile gehalten, die Spitze zum Sattel hinabgeruscht. Während Einer das von oben herabhängende Seil hielt, kletterte mit dessen Hülfe der Bürgermeister zuerst zur andern Spitze hinauf und zog Einen nach dem Andern empor, wobei wir uns mit Händen und Füßen so gut als möglich an der schmalen Eiskante hielten. Nun gab es noch einen bitteren Augenblick. Wie vorher mußte ich die schmale Kante überkriechen, dann aber war die Noth vorbei. Wie von der andern Spitze rutschte ich, auf dem Rücken liegend, mit den Füßen gegenstemmend, am Seile gehalten, den Zuckerhut hinab. Der Punkt am Fuße heißt „Adlersruh“. Wir hatten dort ziemlich das alte Wetter; gelber Dunst und Schneegestöber nahm uns auf. Dennoch fanden wir unsere Alpstöcke glücklich wieder. So schnell es hinabging, wollten wir doch noch schneller fortkommen und versuchten abzufahren, ein Manöver, welches dem schwer deutlich zu machen ist, der es nicht aus Erfahrung kennt; der tiefe Schnee indessen war hinderlich. Ich verlor das Gleichgewicht und in langem Bogen schoß ich mit dem Kopf in den Schnee. – Ich fühlte nichts als Schnee und daß ich tief hineingefallen. Obwohl ich mich nicht betasten konnte, überzeugte ich mich doch, daß ich nicht verletzt sei, und als eine dumpfe Stimme über mir fragte:

„Herr, auch nichts zerbrochen?“ konnte ich mit Ruhe antworten: „Nur der Hosenträger.“ Fern von den Wohnungen der Menschen auch nicht angenehm.

Bei den Füßen wurde ich herausgezogen, und selbst die vor dem Munde sitzende Schneebrille unzerbrochen gefunden.

An der steilen Stelle der hohen Warte, wo Eis- und Schneehacke in der Schlucht wiederum versenkt, auch ein Theil des dort zurückgelassenen Gepäcks wieder aufgeladen und kurze Rast und Zehrung gehalten ward, wurden zuletzt die Seile gebraucht.

Auf dem Leitergletscher fanden wir helles Wetter, und endlich hatten wir den grünen Rasen an alter Stelle, nachdem die Eiseisen abgeschnallt, unter den Füßen. Eine neue Welt fanden wir vor. Noch lange waren wir vom Schneeglanz geblendet, und alle Dinge, Steine und Rasen schillerten in allerhand Farben. Auch auf dem festen Boden vermochten wir, wie die Matrosen, anfangs nur schwankend zu gehen. Im Gesicht sahen wir roth wie die Krebse aus, bei mir und den Andern war die Haut (die sich demnächst ganz schälte) mehrfach aufgesprungen und blutig. Eder hatte ganz entzündete Augen. Sonst hatten wir Besonderes an uns nicht wahrgenommen, weder Nasenbluten noch Schwindel, die in solcher Höhe den Menschen zuweilen befallen sollen. Mit Sturmesschritten, nur zuweilen etwas Edelweiß pflückend, eilten wir vorwärts, und erreichten bald die Hütte. Die Sennerin war der Magnet, der die Führer hineinzog. Meinen dortigen Proviant ihnen überweisend eilte ich vorwärts, um noch vor völliger Dunkelheit den Katzensteig zu überschreiten. Gegen zehn Uhr, als es schon dunkel war, trat ich ganz allein als Sieger in das Gasthaus zu Heiligeblut, von wo aus man unsern Marsch zum Theil mit Gläsern verfolgt, empfangen von Allen mit tiefem Respect.

Wie hatte ich mich auf eine Cigarre am Schlusse des Tages nach diesem Werke gefreut! Ich war aber so müde, daß es mir lästig war, die an mich gerichteten Fragen zu beantworten, und schwer, [155] mich nur munter zu halten, bis das Abendbrod fertig geworden. Die für diesen Augenblick ersehnte Cigarre ward angesteckt, indessen nicht aufgeraucht, denn ich schlief fast auf der Bank ein. Nachdem ich noch mit angesehen, wie die Führer, die inzwischen heruntergekommen, zum Schmauße sich niedergesetzt, den ich ihnen noch anrichten ließ, und sie noch durch die Weisung erfreut, mein Conto im Buche des Wirthes bis zum nächsten Morgen als das ihrige anzusehen, begab ich mich auf mein Zimmer und versank, was nach dergleichen Strapazen nicht gewöhnlich ist, in tiefen und andauernden Schlaf.




Die Sommersprossen.

Antwort auf Fräulein Mariechens Schreibebrief.

Liebes Fräulein! Wenn nächstens auf Wiese und Feld, im Wald und Garten Blatt, Blüthe und Blume hervorsprossen wird, fürchten Sie sammt Ihren blonden Leidensgefährtinnen, daß die Sonne in Ihrem Gesichtchen gelbe Sprossen treiben wird und daß Sie dadurch, wie Sie ganz mit Unrecht in Ihrem Briefe behaupten, „Gegenstand des Witzes und des Spottes“ würden. Von mir erwarten Sie da Hülfe; ja, Sie suchen sogar scherzend diese Hülfe dadurch zu erzwingen, daß Sie „mit ungläubigem Lächeln“ den Verdacht aussprechen, meine Kenntniß innerer Leiden möchte wohl nicht weit her sein, da ich mich in meinen Aufsätzen mit dem Aeußeren des Menschen so wenig beschäftigte. Gegen diese nach den Regeln der Frauenlogik (die, wie das weibliche Gehirn, gegen 8 Loth leichter, als die des Mannes ist) gemachte Schlußfolgerung kann ich zu meiner Entschuldigung nur anführen; bis jetzt wußte ich noch nicht, daß junge Mädchen mit Sommersprossen meine Aufsätze so eifrig lesen und ihre Sommersprossen für ein so schreckliches Leiden ansehen, wie Sie. Jetzt weiß ich’s und nun hören Sie, was mir von den Sommersprossen bekannt ist.

Unsere Haut ist zuoberst von einer gefäß- und nervenlosen, also ganz unempfindlichen halbdurchsichtigen Hautschicht gebildet, die man Oberhaut oder Epidermis nennt und die auf der sehr blut- und nervenreichen Lederhaut aufliegt, überall den Vertiefungen und Erhabenheiten derselben sich genau anschmiegend. Es ist das diejenige Hautschicht, die bei Einwirkung einer spanischen Fliege sich in Gestalt einer Blase erhebt und ohne Schmerz abgezogen werden kann, worauf sich dann die Lederhaut roth und wund zeigt. Es läßt sich nun aber diese Oberhaut in zwei, ziemlich scharf von einander getrennte Schichten scheiden: die obere ältere heißt die Hornschicht, die untere jüngere die Schleimschicht. Letztere wird fortwährend als Flüssigkeit von den Blutgefäßen der Lederhaut abgeschieden und tritt zuvörderst in Gestalt kleiner, mit Flüssigkeit prall gefüllter rundlicher oder länglicher, kernhaltiger Bläschen (Epidermiszellen) auf. Diese Zellen drängen und drücken sich nach der Hornschicht hin immer fester und fester aneinander, werden dadurch eckig und platt, allmählich hart und hornartig und stellen endlich die aus Lagen vier-, fünf- und sechseckiger Hornplättchen zusammengesetzte, ziemlich undurchdringliche Hornschicht dar. Die obersten, ältesten Plättchen dieser Schicht stoßen sich fortwährend los und so können dann die Zellen in der Schleimschicht immerfort nachrücken und zu Hornplättchen werden.

Der Teint (die Färbung) der Haut hängt von der Farbe dieser Oberhaut ab und hat vorzugsweise seinen Sitz in der Schleimschicht, also unter der Hornschicht. Hier befinden sich nämlich bei farbiger (brauner, schwarzer) Haut in den Epidermiszellen feine Farbekörnchen, die aber nach der Hornschicht zu allmählich etwas blässer werden. Von eben solchen Farbekörnchen in den Oberhautzellen der Schleimschicht der Oberhaut werden nun die Sommersprossen gebildet und man müßte also, um zu ihnen zu gelangen, durch die Hornschicht hindurchdringen. Es versteht sich von selbst, daß jene Farbstoffe, ebenso wie die ganze Oberhaut, aus dem Blute der Lederhaut stimmen.

Was die Durchdringlichkeit der Hornschicht der Oberhaut betrifft, so lehrten Versuche, daß sie Flüssigkeiten, die nicht chemisch (auflösend) auf ihr Gefüge einwirken, nicht durch sich hindurchdringen läßt, wohl aber dunstförmige oder sich leicht verflüchtigende Flüssigkeiten (wie Wasserdämpfe, Alkohol, Aether, Ammoniak etc.). So soll Chlorwasser den Fuß eines Negers in Kurzem fast weiß entfärbt haben; freilich war derselbe aber nach wenigen Tagen wieder schwarz. Wenn Salben u. dgl. durch Einreiben in die unverletzte Oberhaut aufgenommen werden, so hat dies seinen Grund in einem mechanischen Eintreiben jener Substanzen in die Schweißcanäle, Haarbalge und Talgdrüsen der Haut.

Die Sommersprossen (d. s. also gelbe und bräunliche Farbekörnchen in den Bläschen der Schleimschicht) scheinen vorzugsweise der Einwirkung der Sonnenstrahlen ihren Ursprung zu verdanken, finden sich deshalb besonders an Körperstellen, die unbedeckt getragen werden, zeigen sich gewöhnlich zu Anfange des Sommers und verschwinden im Winter wieder. Doch kommen auch Sommersprossen an bedeckten Körperstellen vor, die im Winter nicht verschwinden, höchstens blasser werden.

Wenn Sie, liebes Fräulein, nun, nachdem ich meinen gelehrten Kram vor Ihnen ausgepackt habe, glauben sollten, ich könnte ein Mittel angeben, welches äußerlich auf die fleckige Haut aufgelegt oder eingestrichen und eingerieben die Farbe der Sommersprossen auszuwaschen oder zu entfärben vermöchte, so irren Sie ganz gewaltig. Denn wenn Sie auch Ihr Gesichtchen wie jenen Negerfuß tagelang in Chlorwasser badeten und die Sommersprossen auch wirklich dadurch erblaßten, so würden dieselben doch nach wenig Tagen wieder erscheinen. Glauben Sie mir, alle gegen die Sommersprossen empfohlenen Geheimmittel sind Charlatanerien, und es ist um jeden Pfennig schade, den Sie dafür ausgeben.

Der einzige Rath, den ich Ihnen geben kann, ist: der Entstehung der Sommersprossen dadurch entgegenzutreten, daß Sie das Gesicht im Sommer stets kühl und von jedem stärkern Sonnenlichte entfernt halten. Da die Farbe der Sommersprossen vom Blute der Lederhaut ausgeschieden wird, so muß man allen Blutandrang nach dem Gesichte, also alle Erhitzung desselben vermeiden; die Gesichtshaut darf nicht mit zu kaltem Brunnen-Wasser (wohl aber mit lauem Fluß- oder Regenwasser) gewaschen, noch weniger aber mit Seife stark gerieben werden; den Schweiß und Hauttalg entferne man öfters des Tages durch sanftes Abstreichen der Haut mit weicher Leinwand. Natürlich muß das Gesicht vor den Sonnenstrahlen durch Hut und Sonnenschirm sorgfältig geschützt werden. Auch scheint es gut zu thun, wenn das Gesicht am Tage öfters mit einem dünnen, dunklen, in kühles Wasser getauchten Stoff belegt wird. Die Homöopathie – aber lachen Sie nicht, denn es ist wirklich in Herrn Dr. Clotar Müller’s homöopathischem Haus- und Familienarzte zu lesen – empfiehlt bei übermäßigem Auftreten der Sommersprossen innerlich Lycopodium (Bärlapp) oder Veratrum (weiße Nieswurz). In seinem homöopathischen Arzneischatze meint dagegen Herr Dr. Hirschel: „Aeußere Mittel (aber in allopathischer Gabe), wie Citronen- und verdünnte Salzsäure, Molkenwaschungen u. dgl., dürften wohl zuverlässiger als jene innern homöopathischen Mittel sein.“ Mehr weiß ich Ihnen über die Sommersprossen nicht zu sagen. Bock.




Berliner Polizei.

(Schluß.)
VI.

Es war schon heller Tag. Der Baron von Goddentov war so eben erwacht; rings um ihn herrschte noch tiefe Stille. Er rieb sich die Augen, sah in den hellen Morgen und wollte, um nach der Stunde zu sehen, nach seiner Uhr langen, die er immer an seinem Bette liegen hatte; da fiel ihm ein, daß sie ihm gestern gestohlen worden war. Es fiel ihm zugleich Mehreres ein, nämlich alle seine gestrigen Abenteuer, bis zu dem letzten mitten in der Nacht.

[156] „Ah, ah, der arme Graf wird noch schlafen,“ sagte er dann. „Es war schon spät, und nach so einem verliebten Abenteuer bedarf man der Ruhe; die Gemüthsbewegungen greifen an, ich darf ihn noch nicht wecken. – Meine Gemahlin!“ rief er darauf sehr leise. –

Die Wohnung des Barons am Gensd’armenmarkte zu Berlin war so eingerichtet, daß zunächst an dem Wohnzimmer, in welchem für diese Nacht der Graf Schimmel auf dem Sopha schlief, das Schlafgemach der Baronin, und neben diesem, durch eine Thür damit verbunden, sein Schlafzimmer lag. Die Thür stand offen. Durch die offene Thür rief er seiner Gemahlin leise zu. Sie antwortete ihm eben so leise:

„Mein theurer Baron?“

„Es ist so still, hast Du nicht gehört, ob der Graf schon aufgestanden ist?“

„Ich habe noch keine Bewegung gehört.“

„Er schläft also noch?“

„Er muß noch schlafen.“

„Meine Gemahlin, welche Zeit haben wir? Du weißt, meine Uhr hat mir der freche Dieb gestohlen, der sich für den Polizeihauptmann ausgab. Wärst Du so gütig, nach der Deinigen zu sehen?“

Er erhielt erst nach einer Weile Antwort, noch immer leise:

„Ich weiß nicht, mein theurer Freund, wie das ist. Ich finde meine Uhr nicht!“

„Du hattest sie doch noch vergangene Nacht?“

„Allerdings; ich legte sie erst ab, als ich mich zu Bette begab. Ich legte sie auf den Stuhl hier vor meinem Bette.“

„Und sie ist nicht mehr da?“

„Ich finde sie nicht.“

„Ich finde das sonderbar.“

„Und – was ist denn das?“

„Was, Verehrteste?“

„Auch meine Ringe, mein Collier und meine Broschen sind fort. Ich hatte Alles gestern Abend hier vor mein Bette gelegt.“

„Ich finde das sehr sonderbar.“

„Mein lieber Freund“ – die Baronin sprach das noch leiser – „ich komme da auf einen eigenthümlichen Gedanken.“

„Auf welchen, Theure?“

„Wenn der da drinnen doch kein – doch kein –?“

„Doch kein Graf wäre, wolltest Du sagen?“ sagte wieder noch leiser der Baron.

„Das wollte ich sagen, mein Freund. Wenn er doch ein Dieb wäre!“

„Aber ich bitte Dich, Verehrteste, man kann doch einen Graf von einem Diebe unterscheiden!“

„Sein Abenteuer vergangene Nacht! Sein Eindringen in dieses Haus –“

„Es war ein Liebesabenteuer.“

„Und wie ordinair sah er aus! Wie war er gekleidet!“

„So muß man zu Liebesabenteuern gehen, ich weiß das.“

„Du weißt nichts!“ rief zornig und lauter die Baronin.

„O, o, Theure! Aber horch, da schlägt eine Uhr.“

Eine Uhr auf den Thürmen des Gensd’armenmarktes schlug. Sie schlug neun Uhr.

„Himmel, meine Gemahlin, hast Du gehört?“

„Schon neun Uhr, lieber Freund.“

„Und der Graf rührt sich noch immer nicht?“

„Noch immer höre ich nichts.“

„Ob ich mich einmal stark räuspere?“

„Wäre es nicht besser, wenn Du aufständest und nachsähest? Du brauchst ja blos Deinen Schlafrock anzuziehen.“

„Ah, Verehrteste, Du vergißt, daß die Spitzbuben mit meinem Schlafrocke durchgegangen sind.“

„Diese Berliner Diebe nehmen einem Alles.“

„Ja, sie sind sehr frech, liebe Gemahlin, und ein Glück bleibt es immer, daß sie so dumm sind. Sonst, zumal bei dieser dummen Polizei –“

„Horch, es regt sich etwas.“

„Wo?“

„Vorn im Zimmer.“

„In dem der Graf schläft?“

„Ich höre die Thür aufgehen.“

„Die Thür, Theure?“

„Gewiß.“

„Wer könnte das sein? Ich hatte sie von innen abgeschlossen. Sollte der Graf schon aufgestanden sein?“

„Hülfe, mein Gemahl! Hülfe!“ rief auf einmal laut die Baronin.

„Was gibt es?“

„Ein Kerl, eine Mannsperson tritt in mein Schlafzimmer.“

„Befiehl ihm, zurückzugehen.“

„Aber komm Du zu meiner Hülfe.“

„Ah, der Schreck hat mich gelähmt.“

So mußte es in der That sein, denn er kroch tiefer unter die Decke seines Bettes, und dann rührte er sich nicht mehr. Aber er sollte dort nicht lange unbeweglich bleiben.

Die Thür, die aus dem Wohnzimmer in das Schlafgemach der Baronin führte, hatte sich wirklich plötzlich geöffnet und ein Mensch war darin erschienen. Und dieser, sobald er vor dem Hülfegeschrei der Baronin zu Worte kommen konnte, sagte sehr höflich:

„Gnädige Frau, ich habe Sie und Ihren Herrn Gemahl dringend zu sprechen. Dürfte ich Sie bitten, daß Sie Beide schnell aufständen? Ich warte unterdeß hier im Zimmer.“

Er trat in das Wohnzimmer zurück und machte die Thür zu. Aber der Baron hatte die Stimme erkannt.

„Meine Theure, das war der Dieb vom Bahnhofe, der sich für den Polizeihauptmann ausgab. Er wird uns den Rest unserer Sachen stehlen.“

Er sprang auf, rannte nackt, wie er war, an das Fenster seines Schlafgemachs und riß es auf.

„Diebe! Mörder! Zu Hülfe!“ rief er hinaus.

Die Thür des Wohnzimmers öffnete sich.

„Mörder, Mörder!“ rief der Baron lauter.

„Aber zum Teufel, mein Herr,“ sagte der Mann, der sich für einen Polizeihauptmann ausgegeben hatte, „schreien Sie nicht den ganzen Gensd’armenmarkt zusammen. Es kommt doch Niemand zu Ihnen. Kleiden Sie sich nur rasch an.“

Die Thür verschloß sich wieder. Zu dem armen Baron kam wirklich Niemand. Er kleidete sich zitternd und bebend an. Die Frau Baronin that desgleichen.

„Mein theurer Baron, was ist das Alles?“

„Meine Liebe, welch’ eine Polizei in diesem Berlin! Ich rufe, daß man es in Hinterpommern bis zu drei Dörfern gehört hätte, und Niemand kommt uns zu Hülfe. Der Mensch leert unterdeß alle Zimmer aus. Und dann wird er uns zuletzt noch hier überfallen!“

„Und selbst unsere Domestiken kommen nicht zu uns, lieber Baron.“

„Wie sollten sie es können, Verehrteste? Sie werden gefangen sein, wie wir.“

„Sollte denn das ganze Haus in den Händen der Räuber sein?“

„Muß man es nicht fürchten?“

„Mitten in Berlin?“

„Es ist Alles möglich.“

Die Thür öffnete sich wieder.

„Ah, ah, endlich,“ rief der Baron. „Joachim, mein Joachim, lebst Du noch? Wo kommst Du her?“

„Ew. Gnaden, dieses Berlin ist ein schreckliches Nest. Wären wir doch wieder in Goddentov!“

„Aber, Joachim, wie siehst Du aus? Du trägst ja die Kleidung des Grafen Schimmel, nicht Deine Livree.“

Joachim erschien wirklich in dem Rocke des Grafen Schimmel, aber in dem abgetragenen, mit dem dieser Graf in der Nacht zu dem Baron gekommen war. Der arme Joachim mußte weinen.

„Ach, Ew. Gnaden, was muß man hier in Berlin Alles erleben! Als ich heute Morgen aufwache, ist meine Livree fort und dieser alte schmierige Rock liegt an seiner Stelle vor meinem Bette. Und nicht blos mein Zeug war fort, auch meine Uhr und mein bischen Geld. Die verdammten Spitzbuben!“

„Hattest Du denn Deine Stube nicht verschlossen, Joachim?“

„Wer konnte an so etwas denken, Ew. Gnaden?“

„Aber ich begreife nicht, diesen Rock trug doch heute Nacht der Graf Schimmel.“

„Einen solchen Rock, Ew. Gnaden? Das mag ein schöner Graf gewesen sein.“

[157] „Mein theurer Baron, sollte der Graf Schimmel doch kein Graf sein?“

„Joachim,“ rief der Baron mit einer aufwachenden Ahnung, „wie bist Du hier zu uns in das Zimmer gekommen?“

„Der Herr Polizeihauptmann hat mich hereingelassen, Ew. Gnaden.“

„Der Polizeihauptmann? Gehörte der Mensch wirklich zur Polizei?“

„Das ganze Haus, Ew. Gnaden, ist voll von Gensd’armen und Polizeibeamten.“

Der Baron stand einen Augenblick sprachlos. Die Baronin aber fragte:

„Joachim, wo bleibt denn Justine?“

„Mamsell Justine, Ew. Gnaden, Frau Baronin? Ach, die arme Person!“

„Lebt sie nicht mehr, Joachim?“

„Sie lebt noch, Ew. Gnaden, aber wie!“

„Wie denn?“

„Splitternackt, Ew. Gnaden, im bloßen Hemde.“

„Allmächtiger Gott!“

„Die Diebe sind auch in ihrer Stube gewesen und haben ihr Alles mitgenommen.“

„Das ist entsetzlich!“

Die Thür des Wohnzimmers öffnete sich nochmals. Der Polizeihauptmann sah herein.

„Herr Baron, sind Sie angekleidet?“

„Ja.“

„Auch die gnädige Frau?“

„Ebenfalls.“

„Dürfte ich dann Sie Beide hierher bitten?“

„Ist wirkliche Polizei im Hause, Joachim?“ fragte der Baron leise seinen Bedienten.

„Gewiß, Ew. Gnaden.“

„Weißt Du es ganz sicher?“

„Das ganze Haus ist voll. Der Wirth und alle die Leute kennen sie.“

„Dann wäre dieser Mensch doch kein Dieb, sondern ein Polizeihauptmann?“

„Gewiß ist er das, Ew. Gnaden.“

„Ach, Verehrteste, wie man hier in Berlin sich in den Leuten irren kann! Und – was fällt mir da ein!“

„Was fällt Dir ein, lieber Freund?“

„Der Graf Schimmel war also doch vielleicht ein Dieb.“

„Nicht blos vielleicht.“

„Und die Polizei hat ihn gesucht, und wir haben ihn verleugnet! Und – der Herr Staatsanwalt von Stolpe hat es mir einmal gesagt, nach dem neuen Strafgesetzbuche wäre das Begünstigung des Diebstahls, und wir könnten als Diebeshelfer, als Hehler, zur Untersuchung gezogen werden. Ein Baron und eine Baronin von Goddentov! Ich überlebte es nicht.“

„Mein Gemahl, ich habe Dir zu bemerken, daß ich meinerseits den Menschen nicht verleugnet habe.“

„Ach, meine Theure, das ist eine entsetzliche Lage.“ Der Baron mußte mit seiner Gemahlin in das Wohnzimmer gehen, wo der Polizeihauptmann auf sie wartete. Er ging wie ein armer Sünder. In der Thür faßte er jedoch wieder bessern Muth.

„Es ist ein Glück dabei,“ flüsterte er seiner Gemahlin in das Ohr, „diese Berliner Polizei ist sehr dumm, noch dümmer, als die Diebe hier. Auf den rechten Gedanken wird man nicht kommen.“

Der Polizeihauptmann war sehr höflich. „Herr Baron, erlauben Sie mir einige Fragen.“

„Was wünschen Sie?“

Der Beamte zog eine feine goldene Uhr hervor. „Ist Ihnen diese Uhr bekannt?“

Der Baron fuhr auf. „Es ist die meinige.“ Aber auf einmal ergriffen ihn wieder die alten Gedanken. „Herr,“ rief er wüthend, „so haben Sie sie mir doch gestohlen!“

Der Polizeibeamte blieb ruhig. Er zog eine Börse hervor. „Und diese Börse, Herr Baron?“

„Sie haben mir auch sie gestohlen.“

„Sie ist also gleichfalls die Ihrige. Ich bedaure nur, daß wahrscheinlich der Inhalt zur Hälfte fehlen wird. Darf ich fragen, wie viel Geld sie enthielt, als sie Ihnen gestohlen wurde?“

„Es mußten noch an hundert Thaler darin sein.“

„Also die Hälfte fehlt. Es sind jetzt noch funfzig Thaler darin. – Aber, meine gnädige Frau, gestatten Sie mir jetzt ein paar Fragen. Diese Damenuhr mit Kette –?“

„Ist mein Eigenthum!“ rief die Baronin.

„Und dieses Collier, diese Brosche?“

„Alles, Alles war mir gestohlen.“

„Wann und wo? wenn ich fragen darf.“

„Heute Nacht, hier aus meinem Schlafzimmer, unmittelbar an meinem Bette.“

Der Polizeibeamte wandte sich an den Bedienten Joachim.

„Hier, Monsieur, das ist ja wohl Seine Uhr?“

„Wahrhaftig, das ist sie. Herr – Herr Hauptmann, sind Sie ein Hexenmeister?“

Auch der Baron hätte das fragen mögen. Aber seine Gedanken sollten sich noch mehr verwirren. Der Polizeihauptmann öffnete die Thür nach dem Flur und winkte hinaus. Gensd’armen und Schutzmänner trugen zwei große Koffer in das Zimmer.

„Unsere Koffer!“ riefen der Baron und die Baronin.

„Ja,“ sagte der Polizeihauptmann. „Aber mehr kann ich Ihnen nicht zurückerstatten. Namentlich sind die Sachen Ihrer Kammerjungfer, gnädige Frau, wenigstens bis jetzt noch, spurlos verschwunden. – Doch noch eins können Sie auf der Stelle wieder erhalten, die Livree Ihres Bedienten.“

Der Beamte winkte nochmals in den Flur hinaus. Ein Gensd’arm trat mit – dem Grafen Schimmel herein. Der Graf Schimmel trug die Livree Joachims.

„Sie kennen doch den Menschen, Herr Baron?“ fragte der Polizeihauptmann.

Der Baron konnte nur mit dem Kopfe „Ja“ nicken.

Der Beamte ließ den Dieb wieder hinausführen. Der Baron fand die Sprache wieder, aber er begriff noch nichts.

„Aber wie ist das Alles zugegangen?“

„Sehr einfach, Herr Baron. Den Herrn Grafen Schimmel – er heißt eigentlich Schwarz und ist ein berüchtigter Berliner Dieb – hatte ich gestern erkannt, als Sie auf dem Bahnhofe ausgestiegen. Es war mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß er Ihnen Uhr und Börse gestohlen habe. Ich ließ ihn auf der Stelle verfolgen; aber er war schon fort, spurlos fort. Es kam darauf an, seiner habhaft zu werden, und zwar mit den gestohlenen Sachen. Es war schwierig. Daß er nicht nach Hause ging, war klar, denn er hatte auch mich gesehen. Berlin ist groß. Wo ihn finden? Der Zufall mußte zu Hülfe kommen, und es kam auch so. Heute früh wurde mir die Anzeige, daß hier in diesem Hause ein Einbruch verübt sei. Der zu Bestehlende hatte bei seiner unvermuthet früheren Rückkehr die Diebe in voller Arbeit gefunden. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Er war leise an ein Seitenfenster des Hauses getreten, unter dem er vorhin einen Schutzmann bemerkt hatte, und hatte diesem seine Entdeckung mitgetheilt. Der Schutzmann hatte auf der Stelle Hülfe herbeigeholt. Man war in das Haus gedrungen, hatte aber leider nur einen Dieb gefangen; der zweite war auf unbegreifliche Weise plötzlich verschwunden. Es blieb nur ein Verdacht, und zwar der, daß er hier, in diesem Zimmer, bei Ihnen eine Zuflucht gefunden habe. Sie leugneten das ab. Man glaubte Ihnen und begnügte sich damit, die Ein- und Ausgänge des Hauses zu besetzen.

„Der gefangene Dieb war zu keinerlei Geständniß zu bewegen gewesen. Er war verschwiegen und seinem Cameraden treu, wie alle Berliner Diebe, und hatte auch die gewöhnliche Ausrede derselben, ein Unbekannter habe ihn in Haus und Zimmer geführt, um ihm seine Commode öffnen zu helfen, zu der er den Schlüssel verloren und aus der er noch in der Nacht etwas holen müsse. Als bald darauf Leute herbeigekommen, sei der Mensch ohne Weiteres aus dem Fenster auf die Straße gesprungen und habe ihn im Stiche gelassen.

„Leider war mir die Anzeige des Vorfalles nicht sogleich in der Nacht, sondern erst heute Morgen gemacht worden. Ich erwog alle Umstände, auch den Verdacht, daß der entkommene Dieb in Ihrem Zimmer müsse Aufnahme gefunden haben. Ich erfuhr Ihren Namen. Auf einmal fiel mir der Dieb Schwarz ein, den Sie für einen Grafen Schimmel hielten. Wenn der Zufall gewollt hätte, daß er gerade in demselben Hause, in welchem Sie Ihre Wohnung genommen, ein neues Verbrechen versucht hatte! Wenn er Sie noch einmal getäuscht hätte! Es war das Alles auf einen [158] Zufall gebaut. Aber wie oft muß der Zufall helfen! Und einen völlig Unbekannten hätten Sie der Polizei nicht abgeleugnet. Schwarz mußte der zweite Dieb sein. Und mir blieb kein Zweifel mehr, daß er auch aus dem Hause entkommen war. Dieses war fortwährend besetzt geblieben, man hatte nur unverdächtige Leute hinausgelassen, allein unter diesen auch Ihren Bedienten, Herr Baron; man hatte den Mann nicht gekannt, aber Ihre Livree. Und dieser Bediente war – früh ausgegangen und nach einer Stunde noch nicht zurückgekehrt. Schwarz mußte in der Livree Ihres Bedienten das Haus verlassen haben. Und nun hatte ich auch seine weitere Spur. Er mußte sich vor allen Dingen der Livree entledigen, denn er konnte nicht zweifeln, daß sie sofort sämmtlichen Polizeibeamten Berlins signalisirt wurde; sein nächster Weg hatte ihn daher zu seinem gewöhnlichen Hehler führen müssen. Er hatte deren zwei; zu dem einen schickte ich Leute, zu dem andern begab ich mich sofort selbst. Und ich traf ihn da. Nicht nur ihn, sondern auch alle Sachen, die er Ihnen gestohlen hatte, mit Ausnahme derer der Kammerjungfer; wo er diese gelassen hat, weiß ich noch nicht. Bei dem zweiten Hehler hatten meine Leute die beiden Ihnen am gestrigen Nachmittage entwendeten Koffer gefunden.“

Der Baron begriff nun auch.

„Und was sagt dieser freche Dieb jetzt?“ fragte er.

„Er leugnet vorläufig Alles. Später wird er schon Ausreden genug haben, denn dumm sind die Berliner Diebe nicht.“

„Hm, hm,“ sagte der Baron.

Der Polizeihauptmann entfernte sich wieder. Der Baron und die Baronin waren wieder allein. Sie sahen sich an.

„Ich glaube beinahe, er hat Recht, meine Gemahlin. So dumm sind diese Berliner Diebe doch nicht.“

„Aber auch die Berliner Polizei ist nicht so dumm, mein lieber Freund.“

„Hm, meine Liebe, da könnte man doch noch einige Bedenken haben. Was hat denn dieser Polizeihauptmann, der freilich kein Dieb, sondern ein wirklicher Polizeihauptmann ist, eigentlich gethan? Ueberall ist ihm der Zufall zu Hülfe gekommen. Und, bei Lichte besehen, bin ich es, der ihm diesen Zufall zu Hülfe geschickt hat. Denn hätte ich nicht den klugen Einfall gehabt, den Dieb, der sich für einen Grafen Schimmel ausgab, die Nacht über hier bei uns aufzunehmen, jener Polizeihauptmann mit der ganzen Berliner Polizei würde nie darauf gekommen sein, daß er in diesem Hause den Einbruch verübt hatte. Also mir allein verdankt man den Erfolg.“

„Du hast Recht, lieber Baron. Kehren wir aber möglichst schnell nach Hinterpommern zurück.“




Wanderungen im südlichen Rußland.

Von Dr. Wilhelm Hamm.
2. Die Steppe.

Sie dehnt sich aus von Meer zu Meere;
Wer sie durchritten hat, dem graust.
Sie liegt vor Gott in ihrer Leere,
Wie eine leere Bettlerfaust.
Die Ströme, die sie jach durchrinnen,
Die ausgefahrnen Gleise, drinnen
Des Colonisten Rad sich wand;
Die Spur, in der die Büffel traben,
Das sind, vom Himmel selbst gegraben,
Die Furchen dieser Riesenhand.

Wenige Minuten vor Thorschluß war es, als unser Reisewagen an der Chersoner Tamoschna, dem nordöstlichen Thore der Stadt Odessa, hielt. Bekanntlich hat dieselbe zur Zeit noch einen Freihafen, es darf demnach Niemand die Stadt verlassen, ohne sich einer Visitation nach zollpflichtigen Gegenständen unterworfen zu haben, und Punkt acht Uhr des Abends im Sommer fällt der Schlagbaum, der jeden Ausgang überhaupt verbietet, es sei denn in Kronangelegenheiten oder mit einer Specialerlaubniß des Gouverneurs. Wir ergaben uns gehorsam der Untersuchung, die Koffer, welche unter dem Schutz des leibeignen Dieners Ilia in einem besondern offenen Wagen, einem der berüchtigten Perekladnoi, folgten, mußten geöffnet, der Paß und Passagierschein vorgewiesen werden – Alles dies ging rasch und zu völliger Zufriedenstellung beider Theile vor sich. Wir hatten vier Postpferde vor einem trefflichen Brougham aus dem berühmtesten Pariser Atelier von Bender, die Postillone kannten den Edelmann, welchen ich begleitete, und seine Trinkgelder sehr gut, und so hatten wir über die Beförderung keineswegs zu klagen. Auf allen Poststationen waren die Pferde im Augenblick bereit, und geschont wurden sie nirgends. Es war eine wunderschöne Julinacht; unvergeßlich ist mir insbesondere eine Strecke vor der ersten Station Staraja Dosinofka, wo wir so dicht am Ufer des brandenden Meeres hinfuhren, daß die Wellen bis unter die Räder spülten.

Die ersten Strahlen der Morgensonne beleuchteten eine weite, von Hügeln durchwellte Ebene, welche schon den Charakter der Steppe trug, aber deren noch engbegrenzter Horizont nicht das Gefühl der Unendlichkeit hervorrief, das die eigentliche Steppe sicher kennzeichnet. Einen Büchsenschuß weit von der einsamen Poststation erhoben sich wunderliche Steinkreuze aus dem Gestrüpp, hier war ein verlassener Friedhof. Ich hatte Muße, zwischen diesen Denkmälern eine Viertelstunde umherzuwandeln; die Gräber sind von einem ovalen, regelmäßig geschichteten Steinhaufen überragt, erst aus diesem erhebt sich das griechische Kreuz mit seinem doppelten Querbalken und seinen kreisrunden Enden. Ein quadratischer Platz war mit einer Brustmauer umgeben; hier, erklärte mein Reisegefährte, hat früher ein Kirchlein gestanden, und die Stätte des Altars ist auf ewige Zeiten hinaus geheiligt, daher sie sorgsam vor der Entweihung durch den Fuß unreiner Thiere geschützt wird.

Nachdem uns unterwegs der aus der Krim zurückkehrende Prinz Albrecht von Preußen begegnet war, erreichten wir bei guter Zeit des Morgens das Plateau, von dessen mäßiger Höhe ein wundervoller Blick verstattet ist über die silberne Riesenschlange des Bug und jenseits die große Kriegsstadt Nicolajeff, deren Halbinsel der mächtige Strom in weitem Bogen umgürtet. Eine merkwürdige, während des Krimkrieges von dem genialen General Tottleben construirte schwimmende Brücke aus lauter Baumstämmen führt über den Fluß, welcher hier breiter ist, als der Rhein an irgend einer Stelle. Schwerlich hat jemals ein Deutscher nach dem Erbauer Zeit und Gelegenheit gehabt, diesen Brückenbau so zu studiren, wie ich; ich muß jedoch die Erzählung des merkwürdigen Abenteuers, das mich einen ganzen Tag lang (15. Juli 1858) von früh neun Uhr bis Abends sieben Uhr auf und zum Theil halb unter demselben festhielt, auf ein andermal verschieben.

Das Unheil, welches uns betroffen, nöthigte zur Rast in Nicolajeff, wir waren auch viel zu erschöpft, um eine zweite Nacht im Wagen zubringen zu wollen. Erst um die Mittagszeit des nächsten Tages verließen wir die großartige Schöpfung des vorigen Kaisers, der hier binnen kürzester Frist eine Stadt von ungeheurer Ausdehnung aus dem Boden gezaubert hat, deren Arsenale und Marinevorräthe selbst dem Erstaunen abzwingen müssen, der Woolwich und Toulon gesehen hat. Aber still ist es geworden in den Straßen und in den Werkstätten, die hohen Essen dampfen spärlich oder nicht mehr, die ungeheueren Hämmer der Ankerschmiede rasten, und zwischen den Tausenden von eisernen Schiffskanonen, die hier in langen Gallerien friedlich lagern, sprossen Blumen hervor und Gras. Wer ein Stück von der großen Wunde sehen will, die der Pariser Frieden Rußland geschlagen hat, der braucht nur nach Nicolajeff zu reisen; aber welcher Politik er auch angehören mag, er wird trauern darüber, daß so tüchtige Männer – viele Tausende – und mit ihnen eine Stadt von mehr als hunderttausend Einwohnern plötzlich, durch ein einziges Machtwort, von der Höhe tüchtiger, gewerblicher Thätigkeit in den faulen Sumpf des Nichtsthuns, der Armuth und des Siechthums geschleudert worden sind.

Wolkenlos war der blaue Himmel, als wir abfuhren, aber kaum nach einer Stunde bedeckt mit schweren dunklen Massen, und aus ihnen entlud sich ein furchtbares Gewitter in einer Heftigkeit, von welcher der Nordländer gar keinen Begriff hat. Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag folgten einander fast ohne Unterbrechung, der Regen schoß herab nicht wie ein Regen, nein, gleich einem Wasserfall, in wenigen Augenblicken erschien weit und breit umher das Land als ein See, und der Weg als ein reißender Bergbach. [159] Daß wir bald nach dem Ausbruch des Unwetters die Station erreichten, half wenig zum Besten von Menschen und Thieren, denn bei diesem plötzlichen Klaffen der Wolkenschleuße genügten ein paar Secunden zu so vollständiger Durchträufung, daß alles Nachfolgende gar nicht mehr beachtet zu werden brauchte. Auf Postillone und Pferde wird nicht Rücksicht genommen, deshalb ging es mitten im furchtbarsten Ausbruch des Gewitters unaufhaltsam weiter, nur waren dem Viergespann noch zwei Vorpferde zugegeben worden, auf deren einem ein zwölfjähriger Junge saß und den Kantschu schwang wie ein Alter. Das war eine Fahrt! Der schwarze Boden des Weges war durch den Regen in einen weichen Brei verwandelt, in welchen die Räder des leichten Wagens einsanken bis an die Naben; da galt es nun, diesen und den Hufen des Gespanns gar keine Zeit zum Versinken zu gönnen, und so flogen wir denn dahin ventre à terre oder vielmehr à bourbe. In wenigen Augenblicken war für uns, die wir bei geschlossenen Fenstern im Innern saßen, die Außenwelt verschlossen durch einen Vorhang von zähem, braunem Schlamm, der den ganzen Wagen incrustirte; wie die Postillone ausgesehen haben, konnte sich blos die Phantasie vorbilden. Kaltblütig unterhielt mich mittlerweile mein Freund von den vielen Unglücksfällen, welche bei dergleichen Kirchthurmrennen vorzukommen pflegen. Besonders gefährlich ist die Position des Vorreiters. Stürzt sein Sattelpferd, so vermag das nachfolgende Gespann unmöglich in der wildesten Carriere plötzlich anzuhalten, es schießt mit dem Wagen und seinen Auf- und Insassen über das am Boden liegende Thier hinweg, und es entsteht ein furchtbarer Knäuel, bei dessen endlicher Lösung nicht Alles wieder auf die Beine kommt, was vorher darauf gewesen war; glücklich, wenn nur ein paar Pferde darauf gegangen sind; gewöhnlich bleibt aber der Vorreiter auf dem Wahlplatz als Opfer seines halsbrechenden Berufs; aber es ist nur ein Junge. Warum also viel darüber reden? Versuchen wir lieber, den schlimmen Weg zu verschlafen. Ich gestehe, mir war dies nicht möglich, und ich suchte unbemerkt einige gelinde Vorkehrungen gegen einen unvorhergesehenen Anprall zu treffen; mein Begleiter lächelte mit geschlossenen Augen. Ohne Rast, ohne Abwechslung in der Gangart, aber auch ohne Unfall ging es weiter. Von der Gegend war nichts zu sehen, die Gewöhnung stählte gegen die Furcht; spät in der Nacht erreichten wir endlich das Ziel.

Aus dem Wagen steigend, umringte uns sofort eine Meute knurrender Hunde, eine Alte mit einer Laterne verscheuchte die bösartigen Thiere, und küßte mit tiefer Verneigung wiederholt den Rockärmel ihres Herrn und Gebieters, dann öffnete sie die Thüre seines Palastes oder vielmehr Landsitzes. Ländlicher hatte ich allerdings bis dato nichts gesehen; ein großes Zimmer und ein Cabinet bildeten die gesammten Räumlichkeiten, sie waren einfach mit Kalk geweißt, d. h. wo noch der Bewurf hielt; das Mobiliar bestand aus einem Tisch, einem Stuhl, einer Feldbettstatt mit Matratze und einem Leuchter. Also einfach. Kerzen hatte mein Gefährte mitgebracht, einen wohlversehenen Flasckenkeller ebenfalls. In der dem Herrenhause gegenüber befindlichen Wohnung ward es lebendig, verzweiflungsvolles Hühnergeschrei und ein durch die offene Thüre sichtbares hoch aufloderndes Feuer eröffneten beruhigenden Trost. Jetzt kamen die Leibeigenen, den lang abwesend gewesenen Herrn zu begrüßen. Den Vornehmsten darunter, dem Verwalter und dem Schafmeister, ward die Ehre der Umarmung und des Kusses, die Andern begnügten sich mit Handschlag und Aermelküssen. Vieles hatte der Edelmann zu fragen und zu hören. Während dessen beschäftigte ich mich mit der Möblirung des großen für mich bestimmten Zimmers. Einige Koffer und ein Regenschirm machten in dieser Hinsicht allerdings keinen sonderlichen Effect, desto größeren aber das rasch aufgeschlagene Bett, welches die Hälfte des Raumes einnahm, und aus einigen gewaltigen Heubündeln ebenso einfach als zweckmäßig bereitet ward. Nicht lange und ein wahrhaft luxuriöses Mahl dampfte auf dem Unicum der Tische, darunter die köstlichen Pascharski-Cotelettes aus Hühnerfleisch, welche nur russische Köche zu bereiten wissen, und denen zu Ehren Kaiser Nicolaus manche Fahrt gemacht hat zu dem Postmeister Pascharski, der sie erfand in einer Stunde der Noth und Inspiration, als der Czar vor seinem Hause hielt, ein Mahl begehrte und nichts vorhanden war, wie einige lebensmüde Hühner. Aber nachdem die Begierde des Trankes und der Speise gestillt war – führte die Schaffnerin mich zu dem schön bereiteten Lager – um mit Homer zu reden.

Bald umfing mich der tiefe Schlaf der Ermüdung, allein er wich ab und zu dem Erscheinen allerlei kleiner Gespenster, welche wahrscheinlich den Fremden strafen wollten für sein unbefugtes Eindringen in ihr lang gehegtes Asyl. Von den Gästen im Heu gar nicht zu reden, an diese wird man im Süden bald gewöhnt, wenn sie es nur nicht so arg treiben, wie verschiedene Gattungen blutdürstiger Zecken, von welchen eine sogar nur den Ausländer anzapfen soll. Aber es flirrte und schwirrte sonderbar, stieß und trommelte an die Scheiben, rauschte und surrte so überlaut, daß ich endlich beschloß, auf die Ruhestörer Jagd zu machen. Mit einigem Gefühl von Schrecken und Ekel bekam ich große, lebhaft sich sträubende, wollig anzufühlende Geschöpfe in die Hand, welche sonderbar schrieen, als ich sie unbarmherzig todtquetschte – es waren prächtige Todtenköpfe, wie sich beim Morgenlichte ergab, die Sehnsucht und der Stolz junger deutscher Schmetterlingssammler, hier ganz ordinäre, überall verbreitete Abendfalter. Nach der Jagd wollte ich wiederum einschlafen, aber der erzwungene Waffenstillstand dauerte nicht lange; mit dem ersten Grauen des Morgens begannen die Fliegen munter zu werden, welche Decken und Wände betüpfelten, und ihre unverschämten Spaziergänge mit den kitzelnden Beinen erzürnten mich endlich so sehr, daß ich aufsprang und hinauseilte vor die Thüre des Hauses.

Welch’ ein Anblick! Der Sonne goldener Ball war eben am Horizont emporgestiegen und endlos, unermeßlich nach allen Richtungen breitete sich aus die Steppe. Derselbe Eindruck, großartig und doch herzbeklemmend, befiel mich, den ich empfunden, als ich einst zum ersten Male aus der Koje auf das Verdeck stieg und rings nur Himmel und Wasser erblickte. Wie damals das Schiff, so waren jetzt die paar dürftigen Häuslein hinter mir das Einzige, was an den Menschen erinnerte in der stillen, großen Oede, in welche das Auge sich verlor bis in meilenweite blaue Fernen. Das braune Grün, welches die Fläche überzog, ward hier und da vom Wind in leisen Wellen bewegt, da und dort erstieg aus einer Senkung ein Hügel, gleich einer stillstehenden Woge, und die funkelnden Thautropfen an den Fahnen der Halme glichen dem Schaume der rollenden Wasser. Statt der spitzbeschwingten Möven kreisten langsam Raubvögel über ihrem Jagdreviere, sonst kein lebendes Wesen weit und breit. Vergebens späht der Blick im ganzen Umkreise nach einem Gegenstande, an dem er haften könne; eintönig, ohne Unterbrechung dehnt sich das braune Gefilde, kein Strauch, kein Baum, kein Fels, kein Rauch aus einem wirthlichen Schornsteine, der des Menschen Nähe verkündet – nur Steppe, weiter nichts als Steppe. Wunderbar sind die gewaltigen, zerklüfteten Bergriesen der Schweiz mit dem diamantengekrönten Scheitel, prachtvoll und romantisch blicken die blauen Augen italienischer Seen aus dem Kranze ihrer Ufer zum Himmel auf, furchtbar und erdrückend in seiner Größe ist draußen das hohe, finstere Meer oder die an die Klippen donnernde Brandung – aber eben so mächtig ist der Eindruck, welchen die Steppe macht in ihrer nackten Leere, durch die Unermeßlichkeit und grauenvolle Einsamkeit, in deren Mitte sie den Menschen versetzt. Und derselbe schwindet nicht, man gewöhnt sich keineswegs daran – täglich erwacht er auf’s Neue und täglich gewinnt er an Tiefe. So wenigstens habe ich es empfunden, der ich viele Wochen lang gewohnt mitten in den Steppen, in dem kleinem Choutor – (tatarisches Wort für Sommerwohnung, Villa; allgemein gebräuchlich) – welchen ich beschrieben. Daß aber nicht allein in ihrer ungeheueren Ausdehnung, sondern auch in ihren Einzelnheiten die Steppe vielfach Interessantes bietet, davon hoffe und wünsche ich die werthen Leser zu überzeugen.

Aus meiner Betrachtung ward ich etwas prosaisch geweckt und geschreckt durch den plötzlichen wüthenden Anfall eines Hundes, zu welchem sich sofort die ganze Meute von gestern Abend gesellte. Die Köter sahen verzweifelt wild aus, ihr zottiges graubraunes Fell, die falschen Augen und riesigen Fangzähne, die sie mir höchst ungastfreundlich wiesen, unterschieden sie fast nicht von dem Wolfe, dessen Enkelkinder sie sicherlich sind und welcher dennoch ihr größter Feind ist. Mit strategischer Vorsicht und beständigem Bücken nach nicht vorhandenen Steinen bewerkstelligte ich meinen Rückzug bis zu einem an der Wand des Hauses lehnenden Knüttel, dessen Besitz mir sogleich die gehörige Autorität verschaffte. Durch den Höllenlärm der Hofwächter waren aber mittlerweile auch die übrigen Bewohner des Choutor erwacht; bald brodelte der Samowar und nach dem Frühstück begann die Besichtigung des Gehöftes. Sie war in wenigen Minuten beendet, denn zu sehen gab es eigentlich nichts, als die beiden strohgedeckten Wohnungen, einen ditto Schafstall und ein rohes, vernachlässigtes Gehege, welches den [160] übrigen Heerden nothdürftigen Schutz gegen die Winterstürme gewährte – aber nur von den Seiten, nicht von oben, denn es war nicht überdacht. Und doch besaß das Gut, in dessen Kern wir uns befanden, nicht weniger als 16,000 Morgen Flächeninhalt und gegen 10,000 Stück Vieh, vorzugsweise Schafe. Aber nur 100 Dessätinen[WS 1] (400 Morgen) davon waren mit Getreide bestellt, alles Uebrige freie Weide, jungfräuliches Land. Hier ist noch Raum für kommende Geschlechter, und Jahrhunderte wird es dauern, bis sich die Nachbarn mit den Ellnbogen stoßen, wie so häufig bei uns.

Zwei lebhafte Klepper der kleinen Steppenrace, die sich aus den kirgisischen und don’schen Pferdeschlägen gebildet hat, in Doppelpony-Größe, führten uns alsbald in rascher Spazierfahrt durch das weitläufige Besitzthum; sieben Werst hatten wir zu fahren, bis wir die Grenze erreichten, längs deren sich in verhältnißmäßig schmalem Streifen das cultivirte Land hinzog, wo der stattliche Ghirka-Weizen eben in voller Ernte befindlich war. Und hier durfte ich auch zum ersten Male erstaunen aber die wunderbare Fruchtbarkeit des Steppenbodens, denn ich vermochte den mitgebrachten Maßstab der Cultur der gepriesensten Länder anzulegen.

Das ganze Südrußland, vorzugsweise Neurußland geheißen, weil es zu den jüngsten Erwerbungen des großen Czarenreiches gehört, ist in der Urzeit unstreitig ein unermeßlicher See gewesen, dessen östliche und westliche Ufer in dem Hindukuschgebirge Asiens und in den Karpathen Ungarns emporstiegen. Als die gewaltige Wassermasse, Bahn brechend, ablief, ließ sie auf den Trillionen von Schalthieren des Untergrundes eine ungeheuere Masse von Schlamm zurück, gebildet aus verwesten Organismen und fein geschlämmten Erden in inniger Vermischung; dieser Urschlamm bildet jetzt den berühmten Tschernosem, die unerschöpfliche schwarze Ackererde des Landes, welche sich in der Mächtigkeit von wenigen Zollen bis zu 15 Fuß und darüber auf dem Muschelkalk abgelagert hat. Diesem Boden verdankt es der Landstrich, daß er, fast ohne alle jene künstliche Hülfe, welche bei uns die Pflanzenproduction erheischt, die noch lange Zeit ausreichende Quelle der Körnergewinnung für einen großen Theil der übrigen Welt ist. Freilich gehört noch ein wesentliches Agens zur völligen Entwickelung dieser Fruchtbarkeit, nämlich genügende Feuchtigkeit; denn hier brennt die Sonne mit heißestem Strahl und versengt in kurzer Frist die junge grüne Saat zu bleichen verschrumpften Greisenhalmen, wenn von den Niederschlägen des Frühjahres nicht ein genügender Ueberrest im Boden geblieben ist. Wenn aber dies der Fall oder der Vorsommer zeitweilig erfrischende Schauer bringt, dann entwickelt sich die Vegetation in fast unglaublicher Ueppigkeit. Die ganze Steppe überzieht ein dichter Teppich hochhalmiger Gräser, deren Aehren und Rispen sich manchmal bis zur Mannshöhe erheben; durchflochten ist er in saftigem Gewirr mit allerlei Kräutern, Ranken und Stauden, aus welchen prächtige Blumen bald einzeln die Köpfchen strecken, bald sich zu ganzen bunten Matten, Steppengärten, vereinen. Mit Verwunderung erblickt der fremde Wanderer da und dort Kinder der Flora wild und gedeihlich emporwachsen, die er daheim kümmerlich in Töpfen hegt; mit Entzücken pflückt er im engsten Umkreise einen Strauß, wie ihn zierlicher kein civilisirter Garten zu bieten vermag. Wie man inmitten der Alpengletscher zuweilen einen kahlen Fels mit Dammerde bedeckt und darin die prächtigsten Alpenblumen wuchern sieht – die sogenannten Gletschergärten – so schmücken sich auch in der Steppe vorzugsweise nur einzelne Stellen mit Farben und Düften, ohne daß man wüßte, wie und warum; vielleicht muß man wieder weit wandern, ehe man ein zweites, ähnliches Plätzchen findet.

Neben dem Nützlichen und dem Schönen erhebt sich aber auch das Widerwärtige und Schädliche; das ist der Burian, unter welchem Gesammtnamen man alle unnützen Stauden der Steppen begreift. Merkwürdige, geheimnißvolle Gewächse sind darunter: die Steppennadel, deren spitzer, mit Widerhaken gezähnter Samen den Thieren durch Haut und Muskeln dringt in ihr Herz und Eingeweide, so daß sie elendiglich erliegen müssen; das „betrunkene Kraut“, dessen Genuß die Pferde toll macht und lähmt, während es den Rindern nicht schadet; die Choleraklette, welche zum ersten Male mit der Seuche erschienen und ein specifisches Heilmittel gegen diese und die Hundswuth sein soll, und der Kurai. Letztere Pflanze, das gemeine Salzkraut, verdient besondere Erwähnung, da sie zu einem sonderbaren Phänomen Anlaß gibt, von dem ich mehr als einmal Augenzeuge gewesen bin.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Bücher-Absatz in Deutschland. – Seit Jahrzehnten hat in Deutschland kein belletristisches Werk einen solchen Erfolg gehabt, als Freytag’sSoll und Haben“. Eine aus guter Quelle geschöpfte Uebersicht über die verschiedenen Ausgaben des genannten Romanes vom Tage seines Erscheinens an bis auf die letzten Wochen wird dies deutlicher machen. „Soll und Haben“ erschien zuerst Ende April 1855 in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Schon im Juli desselben Jahres folgte eine zweite, nicht ganz zwei Monate darauf eine dritte Auflage, jede von 750 Exemplaren. Acht Wochen später verließ die vierte, wieder 1000 Exemplare stark, die Presse, und ehe ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten verflossen war, wurde eine fünfte nöthig, welche in 1500 Exemplaren abgezogen wurde. Man konnte nach den bisherigen Erfahrungen annehmen, daß damit der Bedarf des Publicums, welches fünf Thaler für einen Roman zahlen kann, so ziemlich erschöpft sein werde. Es war nicht so, und im November veranstaltete der Verleger eine sechste Ausgabe, welche 2000 Exemplare stark war.

Inzwischen war der Wunsch laut geworden, der Roman möge auch den weniger bemittelten Schichten des Volkes zugänglich gemacht werden. Diesem Wunsche entsprach die Ausgabe, welche in der Ostermesse 1858 die Presse verließ. Sie war zu dem Preise von 1 Thlr. 10 Ngr. zu haben, und daß sie ein Bedürfniß erfüllte, bewies sich dadurch, daß binnen sechs Wochen die 5000 Exemplare, aus denen sie bestand, abgesetzt waren. Eine weitere Auflage, ebenfalls 5000 Exemplare stark, war fast eben so rasch vergriffen, und soeben verläßt die dritte, wiederum in 5000 Abzügen, die Presse. So sind denn binnen 3½ Jahren nicht weniger als 7000 Exemplare der Ausgabe zu 5 Thlr. und 15,000 der Volksausgabe von „Soll und Haben“ auf den Büchermarkt gelangt – ein Phänomen, welches allerdings kein absoluter Beweis für den Werth des Buches, wohl aber ein entschiedener Beweis dafür ist, daß dasselbe mit seiner Sprache den Geschmack und mit den in ihm verkörperten Gedanken und Bestrebungen die Gedanken und Bestrebungen eines sehr großen Theils unserer Nation, und zwar nicht blos der Vornehmen und Reichen, getroffen hat.

Der Erfolg von „Soll und Haben“ hat sich aber nicht auf Deutschland beschränkt. Zunächst erschienen sehr bald nach den ersten Leipziger Auflagen mehrere Nachdrucke in Amerika. Der erste war der in H. Börnsteins „Anzeiger des Westens“, welcher den Roman im October 1855 brachte. Ein zweiter erschien im März des nächsten Jahres in der von G. Schneider und Daniel Hertle redigirten „Täglichen Illinois-Staatszeitung“, und ein dritter um dieselbe Zeit als Band für sich in der Buchhandlung von Ed. Bühler u. Comp, zu St. Louis. Letzterer, 1 Band in einer Art Lexikonformat, ist auch in typographischer Beziehung ein Muster der Art, wie man nicht drucken soll.

Inzwischen machte der Roman auch im Auslande von sich reden und bald hörte man von verschiedenen Uebersetzungen. Zuerst erschien 1856 bei Heckenast in Pesth eine ungarische, dann folgte 1857 eine schwedische, in demselben Jahre eine französische im „Moniteur“, die dann auch apart in 2 Bänden erschien, im Herbst desselben Jahres drei englische, denen 1858 noch eine vierte folgte, die später von einer New-Yorker Firma nachgedruckt wurde. Neuerer Zeit[WS 2] sind noch eine holländische und eine italienische Uebersetzung angekündigt.

Der Erfolg des Freytag’schen Buches steht übrigens nicht vereinzelt da. Stolle’s historischer Roman „1813“ wurde in drei Auflagen gedruckt, deren jede mindestens 1000 Exemplare anzuschlagen sein dürfte. Später erschien derselbe Roman in der Gesammtausgabe der Stolle’schen Schriften in 5000 Exemplaren, die nach drei Jahren bereits vergriffen und von zwei neuen Auflagen von je 1000 Exemplaren ersetzt wurden. Außerdem erschienen holländische und französische Uebersetzungen. Wir können also annehmen, daß auch dieser Originalroman in 10,000 Exemplaren in Deutschland allein verbreitet ist. In Amerika ist er vielfach nachgedruckt worden.

Freytag’s Erfolge, so bedeutend diese auch sind, bleiben indeß noch weit hinter denen Wilh. Hauff’s zurück. Dessen Roman „Lichtenstein“ erschien zuerst (bei Brodhag in St.) in zwei Auflagen, die uns zu 3 und 4000 Exempl., zusammen also auf 7000 Exempl. angegeben werden. Diesen beiden Auflagen folgten, wie wir aus bester Quelle schöpfen, im Jahre 1840–41 eine dritte Auflage von 10,000, 1846 eine vierte Auflage von abermals 10,000 Exempl. und 1853 die fünfte (sogenannte Classiker-)Auflage von 15,000 Exempl., in demselben Jahre eine sechste Auflage mit Stahlstichen von 2000 und 1856-57 eine siebente Stereotyp-Auflage von 5000 Exempl., der in diesem Jahre, da der Vorrath zu Ende geht, eine achte Auflage folgen muß. Der Gesammtabsatz in Deutschland – der amerikanische Nachdruck nicht zu rechnen – darf also auf 50,000 Exempl. geschätzt werden, ein Resultat, dessen sich in Deutschland kein zweiter Romanschriftsteller rühmen kann.

Das Glück eines unserer Dichter ist auch das Glück der Nation, der er angehört, auf die sein Ruhm zurückfällt. Goethe – um Großes mit Kleinerem zu vergleichen – wies, als man ihm von dem Streite, ob er oder Schiller der Größere, redete, die Frage als müßig ab. „Die Deutschen sollten Gott danken, daß sie zwei solche Kerle hätten.“

B. K.


Berichtigung. In Nummer 9 ist auf Seite 121, Spalte 1, Zeile 34 von oben ein Druckfehler stehen geblieben, den die geehrten Leser gefl. berichtigen wollen. Der Dichter des Liedes: „Wir hatten gebauet“ heißt nicht Bieger, sondern Binzer.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist das russische Flächenmaß Dessjatine. 100 Dessjatinen entsprechen ca. 1100 ha.
  2. Vorlage:Zeitt