Die Gartenlaube (1859)/Heft 12
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No. 12. | 1859. |
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Cécil von Sieveringk horchte erstaunt auf den Stimmenausdruck seines Onkels, dem nicht der geringste Spott, eher aber eine sonderbare Aengstlichkeit anhing.
„Wenn ich mich mit Bella zu verloben Lust gehabt hätte, so konnte ich dies Vergnügen schon vor Jahresfrist haben,“ warf er ruhig ein. „Eine Helene von Kursen vergißt man übrigens so leicht nicht.“
„So, so! Das ist mir lieb!“ stieß der Onkel Fabian hervor und schwieg dann wieder eine lange Zeit, bevor er weiter fragte: „Wo bist Du sonst noch gewesen?“
„In der Residenz, von dort aus nach Ballberg, um mich der Gräfin Theodora zu präsentiren und Ihre Erlaucht zu bitten, mir die erledigte Stelle eines Kammerrathes in ihrem kleinen Staate zu übertragen, was sie mir auch huldreichst auf die ganz specielle Empfehlung des Oberpräsidenten gewährt hat.“
„Bist Du toll, Cécil? Kammerrath in einem Winkelstaate – Du, einer vom Stamme Sieveringk!“ rief Onkel Fabian ganz entrüstet.
„Es würde mir leid thun, wenn ich mir Deine Ungnade zugezogen haben sollte,“ entgegnete der junge Mann sehr gleichmüthig, „allein die Sache ist nicht mehr zu ändern und ich bin jetzt nur hierher zurückgekehrt, um mein geheimnißvolles Verschwinden in den Augen derjenigen zu rechtfertigen, die ein Recht hat, mich zu tadeln. Gelingt es mir, den trüben Eindruck einer unverzeihlich kindischen Flucht vor dem Bilde einer „genaschten Brezel“ zu beseitigen, so ziehe ich als glückseliger Mensch in die Hallen des alten Schlosses ein, das ich theilweise bewohnen werde.“
„Wir fahren zuerst zu ihr,“ fiel Onkel Fabian zerstreut in seine Rede. „Ich muß meine Kinder noch sehen. Willst Du mit aussteigen? Nein? – Auch gut!“
Die Droschke erreichte in diesem Momente das Steinpflaster des Stadtthores und rollte, donnernden Kanonenwagen gleich, dahin. Beide Männer verstummten wieder, aber Cécil recapitulirte sich mit steigender Verwunderung das ganze bis dahin geführte Gespräch bis zu den merkwürdigen Schlußworten, die er unmöglich richtig verstanden haben konnte.
Und dennoch! Der Wagen hielt, der früher schon gegebenen Ordre gemäß, richtig vor dem hübschen, einstöckig langausgestreckten Hause der Justizamtmännin Starkloff und der Regierungsrath verließ mit Jünglingseifer denselben, um mit der Sicherheit eines gerngesehenen Bekannten rasch die Klingel an der Hausthür zu ziehen. Cécil blieb sitzen, lehnte sich weit aus dem Wagenschlage und starrte wie ein Träumender auf seinen Onkel, auf das Haus, das seine schönste Erdenfreude in sich barg, und auf die holde Gestalt Helenens, die selbst an der Pforte erschien, um mit der weichen Stimme des Bedauerns zu rufen:
„Ach, nun schlafen sie schon; wie sehnsüchtig haben die kleinen Herzen Minute auf Minute gezählt, bis der Schlaf die Worte „der Papa kommt“ von ihren Lippen nahm. Kommen Sie, Herr von Sieveringk, und sehen Sie die Kinder, aber wecken Sie sie nicht.“
Sie verschwand von der Thür und der Regierungsrath folgte ihr. –
Cécil begriff nichts, konnte auch nichts begreifen, verzehrte sich aber beinahe in dem heißen Wunsche, den Zusammenhang dieser abenteuerlichen Ereignisse zu erfahren. Wo war die Mutter dieser Kinder, daß sie der schützenden Obhut einer Fremden anvertraut waren? Sollte sie gestorben sein während der Zeit? Nein. So sah sein Oheim nicht aus, obwohl eine merkliche, ganz wesentlich einwirkende Wehmuth den Ton seiner Stimme dämpfte und den Inhalt seiner Rede stempelte. Eine Viertelstunde verweilte der Regierungsrath in dem Hause der Amtmännin, dem jungen Manne im Wagen däuchte es eine Ewigkeit. Die wenigen Wochen selbstgeschaffener Pein hatten seinem Charakter die nothwendige Reife des Mannes verliehen und ihn aus dem träumerischen Exaltationsstadium überschwenglicher Huldigung und Liebe zu den prosaischen Ueberlegungen für eine standesgemäße Existenz gebracht. Unter der Einwirkung dieser Gemüthsverwandlung hatte er sich um das Amt in der Besitzung der Gräfin Theodora von Ballberg beworben, dessen Verleihung ihn nun in den Stand setzte, als Bewerber um Helenens Hand in aller Form aufzutreten, während er vor sechs Wochen nur als leidenschaftlicher Liebhaber ihr Herz in Anspruch zu nehmen vermochte. Es war die Ruhe der Gewißheit eingekehrt, wo sonst die Wallungen idealer Ueberschätzungen gewaltet hatten, aber mit dieser Veränderung der Herzenstemperatur war die feste und edlere Zärtlichkeit des Mannesherzens in ihm aufgewacht, das nicht feig vor dem Urtheile der Welt zurückweicht, sondern mit seinem eigenen Leben und Blute den hohen Werth der Geliebten zu vertreten bereit ist.
Er war entschlossen gewesen, um Helenens willen mit seinem Onkel Fabian zu brechen, ihn zu meiden und dem Einflusse seiner Spöttereien Trotz zu bieten. Und siehe da! – er fand seinen Onkel Fabian in der Laune, den Freund des jungen Mädchens, das er spöttisch verunglimpft hatte, zu spielen. Was war vorgefallen, um [162] die Meinung, um die Stimmung und Handlungsweise dieses Onkels zu verändern? Ihm brannte das Herz, Helene zur Vertrauten seiner überstandenen Herzensqualen, die auf nichts begründeten, zu machen, aber dazu mußte er ihr allein gegenüber stehen, um die Demüthigung der Liebe nicht profanirt zu sehen. Sein Zustand enthielt Tantalusmarter, als er sich dicht vor ihrer Thür in den Wagen gebannt sah, während sich der Mann, der die Schuld an dem Zerwürfnisse zwischen ihnen trug, in ihrem Lächeln sonnen und die milde Freundlichkeit ihrer Worte genießen durfte. Schicksalstücke schien zu walten, um seine Strafe für die Feigheit, womit er vor dem Spotte des Onkel Fabian geflohen war, zu erhöhen. Es erschwerte seine Stellung gegen die Bewohnerinnen dieses Hauses, daß er vor ihrer Thür hielt und ruhig wartete, ohne von Sehnsucht getrieben zu werden, zu Helenens Füßen Abbitte für sein unverantwortliches Verschwinden zu leisten.
Jetzt nahten sich die Stimmen, die er nur ganz von fern und undeutlich vernommen hatte – das rauhe kräftige Organ der Tante Starkloff mischte sich mit den weichen, klingenden Tönen der jungen Dame und sein würdiger Oheim scherzte mit Beiden im anmuthigsten Dolce seiner Stimme. Ein stürmisches Gefühl packte ihn und unterjochte alle mühsam gepflegte Besonnenheit. – Er mußte Helene sehen! – Was sollte sie denken, wenn Onkel Fabian gesagt hatte: „mein Neffe Cécil wartet auf mich!“ Im Nu verließ er den Wagen und als die Damen den Regierungsrath abschiednehmend bis zum Hausflure begleitet hatten, stand der junge Mann plötzlich, wie aus der Erde gezaubert, vor Helene, faßte ihre Hände, preßte sie mit unbeschreiblicher Aufregung an seine feuchten Augen, an seine heißen Lippen und flüsterte:
„Helene! O Helene! – Morgen früh! – Darf ich kommen? Darf ich?“
„Ja,“ entgegnete fast bewußtlos vor Schreck das Mädchen. „Ja, morgen früh!“
„Morgen früh,“ jubelte Cécil und war wieder verschwunden. Gleich darauf rollte der Wagen die Straße hinab.
„Hilf Himmel, wer war denn das?“ schrie Frau Starkloff, zurückprallend und in großer Bestürzung ihre Nichte anstarrend, die sich bebend an ihre Schulter lehnte. „War es nicht Cécil? Der hat das Kommen und Verschwinden wohl seiner preiswürdigen Tante Olga abgelernt? Was sagte er, Kind, was?“
„Morgen früh!“ flüsterte das Fräulein ganz leise.
„Das scheint seine Devise zu sein!“ meinte die Dame trocken und zog ihre zitternde Nichte in’s Zimmer zurück. „Morgen, morgen, nur nicht heute – Kind, hoffe nicht wieder auf „morgen früh!““
Helene blickte zu ihr auf. Eine schwärmerische, glühende Freude verklärte ihr schönes Auge und verbreitete einen Heiligenglanz um ihr Haupt, aber sie gab ihren Gefühlen keine Worte, sondern hob nur bittend ihre Hände zu ihr empor.
„Nun, nun! Ich habe ja nichts dagegen,“ erwiderte Frau Starkloff, erschüttert von dem lebendigen Ausdrucke einer inneren Glückseligkeit, die der beste Beweis vom Dasein unveränderter Liebesgefühle war und sie zugleich belehrte, daß sie im großen Irrthume über die vernünftige Ruhe Helenens geschwebt hatte. „Wenn er nur „morgen früh“ wirklich kommt und sich einen tüchtigen Vorrath von gehaltvollen Entschuldigungsgründen mitbringt. Dein Glück ist mein zärtlichster Wunsch, Kind meiner Schwester, und ich habe, außer der sechswöchentlichen Abwesenheit Cécil’s ohne Urlaub, gar nichts gegen Deine Wahl einzuwenden.“
Ein prächtig durchwärmtes Zimmer, mit luxuriöser Beleuchtung und allen erforderlichen Anstallen zu einem späten Diner, empfing die beiden Herren von Sieveringk, als sie im Hause des Regierungsrathes ankamen. Doch nach der Hausfrau blickte sich Cécil vergeblich um.
„Ich muß wissen, was hier geschehen ist, was das zu bedeuten hat,“ dachte der junge Mann, sich schnell seines Reisepelzes entledigend, während sein Onkel vom Bedienten im Nebenzimmer umgekleidet wurde.
Gleich darauf trat der Regierungsrath zu ihm, warf sich tief athmend auf einen Sessel nieder und ließ seine Blicke rundum laufen. Sein Auge glänzte von einer zurückgehaltenen Thräne, als er es dann zu Cécil emporschlug, der voller Verwunderung zu ihm niederschaute.
„Ich habe doch noch mehr von dem Dinge, was man Herz nennt, in meinem halbhundertjährigen Körper, als ich selbst geglaubt habe, mon cher Cécil,“ begann er, mit dem besten Willen, sich selbst diesmal zur Zielscheibe seines Spottes zu machen. Er fühlte jedoch, daß es ihm mißlingen werde, und fuhr wehmüthig fort: „Sie wird mir fehlen, überall fehlen! Ich habe sie lieb gehabt mit ihrem sonderbaren, fast gespenstischen Wesen! Es wird mir oft sein, als husche sie hinter meinem Rücken in’s Zimmer, und wenn ich mich umschaue, wird es mir vorkommen, als sei sie, wie sonst wohl, eben wieder verschwunden!“
„Aber um Gotteswillen, Onkel, erkläre mir –“
„Still!“ unterbrach ihn der Regierungsrath, „still, laß mich in Frieden – ich will nun Ruhe haben!“
„Es thut mir leid, wenn ich Dich quäle, allein ich muß wissen, was geschehen ist, um den Bann gehoben zu sehen, in welchem jedes meiner Worte liegt, so lange ich, nicht unterrichtet, befürchten muß, eine wunde Stelle zu treffen. Wo ist Tante Olga? Was ist’s mit ihr, daß ich sie nicht finde?“
„Wo Olga ist?“ wiederholte Herr von Sieveringk mit einem Anklange tiefer, feierlicher Empfindung. „Bei ihrer Mutter ist sie – im Elternhause, bei ihrer Mutter, einer herrlichen, gütigen Frau, die, barmherzig und mild, sanft und geduldig das Joch tragen will, das der Wille des Höchsten ihr auferlegt hat. Was mit meiner Frau ist, weshalb sie von mir entfernt wurde? Ja, wie sage ich Dir das, ohne Dein ehrliches Sieveringk’sches Herz mit Entsetzen zu erfüllen? Olga hat die Natur der Elster, sie kann nichts Blankes sehen, ohne es – ohne es zu stehlen,“ schloß er dumpf und setzte sogleich hinzu, als Cécil eine Gebehrde des Abscheues machte: „Ruhig, kein Wort des Tadels! Ich betrachte sie als wahnwitzig! Und irre ich denn? Ist’s nicht ein Wahn, der zu stark ist, um von der Vernunft gefesselt zu werden? Ich habe sie lieb gehabt, sie ist die Mutter meiner theuren Kinder und um deswillen ehre ihr Andenken, tadele sie nicht!“
„Wirst Du auch auf Scheidung antragen?“ fragte Cécil beklommen.
„Nein! Wozu denn Scheidung? Trennung ist ja hinreichend, Trennung auf Nimmerwiederschen.“
„Wie hat Tante Olga aber in diese Trennung gewilligt, da sie ihre Kinder dabei eingebüßt?“ forschte Cécil theilnehmend.
Der Regierungsrath sah nachdenklich vor sich hin.
„Es ist etwas Eigenes in dieser Natur, was ich nicht begreife. Sie erkennt die fürchterliche Ehrlosigkeit ihrer Handlungen nicht an und bekämpft jeden Tadel mit dem Ausspruche: „Ich kann es nicht lassen!“ Hingerissen von meiner Empörung, versuchte ich das Aeußerste, um ihr das Licht der Erkenntniß anzuzünden. Vergeblich. Darnach faßte ich meine Entschlüsse. Ich mußte sie fassen, Cécil, und wenn es mein ganzes zeitliches Wohlbehagen gekostet hätte. Was sollte aus meinen Kindern werden?“
Der junge Mann neigte beistimmend sein Haupt und sein Oheim fuhr fort:
„Mir ist nur unbegreiflich, wie ich fünf Jahre mit Blindheit geschlagen neben Olga leben konnte, ohne Erkenntniß dessen, was in ihr lebte. Bei meiner Menschenkenntniß, bei meiner Welterfahrung, bei meiner Beurtheilungskraft – kannst Du mir’s erklären?“
„Ja, Onkel Fabian. Du liebtest Deine Frau, und in dieser Liebe lag die Idealisirung ihres Wesens, welches dem nüchternen Verstande nicht Stich gehalten hätte!“
Herr von Sieveringk sah seinen Neffen zerstreut an und wiederholte mechanisch:
„In dieser Liebe lag die Idealisirung ihres Wesens!“
Eine Todtenstille trat nach diesen Worten ein, dann richtete sich der Regierungsrath straff empor, machte einen Gang durch’s Zimmer und stellte sich dicht vor Cécil hin.
„Die Liebe ist gewichen, mon cher Cécil,“ sprach er in veränderten, Tone, „was hier in der Brust noch pocht und mahnt, ist das süße Gift der Gewohnheit. Auch das wird sich verlieren. Sie mußte fort! Ich fühlte mich den Kämpfen nicht gewachsen, die ihr systematisches Räubersystem in Aussicht stellte. Sie mußte fort! Meiner Kinder wegen. Sollte ich ein Hohnlächeln ertragen, wenn meine Tochter in der Blüthe ihrer Schönheit dereinst an der Seite einer solchen Mutter erschien? Daß die Kinder in der Gottesfurcht [163] ein Palladium gegen unerlaubte Wünsche erhielten, das verdanke ich Deiner Helene –“
„Helenen?“ rief Cécil überrascht. Ein flüchtiges Roth zeigte, daß er sich sehr deutlich der Erzählung von den geraubten Brezeln erinnere. Auch Onkel Fabian dachte daran, ließ es jedoch für den Moment nicht merken.
„Sie mußte fort,“ schloß er mit erhobener Stimme, „und sie ist wohl aufgehoben in den Armen ihrer Mutter, welche ihr Kind ungeachtet ihres Fehlens liebt. Wir wollen sie als todt betrachten, Cécil! Ob sie lebt und wie lange sie lebt – ich will nichts davon wissen. Ihr Herz ist ruhiger, als das meine. Sie liebte ihre Kinder mit der Natur eines Vogels, der seine Jungen verläßt, wenn sie flügge sind – lassen wir ihr diese trostvolle Ruhe und suchen wir sie zu vergessen. Sie ist todt für mich, todt für meine Kinder und todt für Jedermann, der es wagt, darnach zu fragen. Und ich will den sehen, der es riskirt, mich, den Fabian von Sieveringk, zum zweiten Male zu fragen, wenn ich die erste Frage zu ignoriren für gut finde.“
„Aber Olga? Du fehlst ihr – wer wird sie vor indiscreten Fragen schützen?“
„Der Volksaberglaube ihres Heimathlandes,“ tröstete ihn der Regierungsrath. „Man betrachtet sie dort mit scheuer Ehrfurcht, denn „die Wassernixe hat neben ihrem Taufsteine gestanden, und ihr den Salamandergeist zum Pathengeschenk eingebunden,“ flüstert sich das Fischervolk in die Ohren.“
Es entstand wieder eine jener unerquicklichen Pausen, wo sich der Geist willenlos in dem Chaos von Gedanken und Gefühlen verliert.
„Genug nun der wüsten Träumerei, mon cher Cécil,“ begann Herr Fabian, sich aufrüttelnd und zu seinem gewöhnlichen Tone übergehend, „genug der traurigen Reminiscenz, laß uns begraben, was todt ist, und Gras auf dem wachsen lassen, was begraben ist. Du bist hinlänglich von dem unterrichtet, was zu wissen Dir noth thut. Jetzt bitte ich Dich um dreierlei: bedaure nichts – frage nichts und halte keine moralischen Reden. Ich huldige nun einmal den Lehren des Epikur, der das Laster haßte, weil es sein Wohlbefinden störte, und der die Tugend liebte um des ruhigen und süßen Wohlbehagens willen. Mein Wohlsein war gefährdet, das mußt Du einräumen, deshalb unterwarf ich mich dem Seelenschmerze und verbannte meine Frau von meiner Seite. Man könnte dies einen Beweis der raffinirtesten und ausgeprägtesten Selbstsucht nennen, ich gebe es zu, allein vernünftig betrachtet, ist es nur die richtigste Lebensphilosophie. Komm, mon neveu – ich bin sehr hungrig!“
Das Essen wurde servirt und so lange der Bediente im Zimmer war, unterhielten sich die beiden Herren von gleichgültigen Reiseerlebnissen. Kaum aber schloß sich die Thür hinter demselben, so rief der Regierungsrath in ganz wiederhergestellter Laune:
„Apropos, mon cher Cécil! Ich bin Dir Jahreszahl und Datum der Geschichte schuldig geblieben, die ich Dir vor Deiner Abreise von Helene Kursen erzählte –“
„Bitte, bemühe Dich nicht,“ fiel Cécil lachend in seine Rede.
„Es war justement vor zehn Jahren, als sich die Deutschen auf’s Revolutionsspielen einüben wollten.“
Ein zürnender Blick war Cécil’s ganze Antwort. So boshaft angelegt hatte er sich den Spott seines Onkels doch nicht gedacht. Eine Kindergeschichte? Eine Kindernäscherei? Und deshalb hatte er sechs Wochen des reinsten Liebesglückes geopfert?
Wenn Onkel Fabian die geringste Anlage dazu gehabt, hätte, verlegen werden zu können, so wäre er es jetzt geworden, wo sein eigener Neffe mit Fug und Recht durch sein Stillschweigen eine Art Verachtung auszudrücken beliebte.
„Du bist mir viel Dank schuldig,“ sprach er, aber statt jeder Spur von Verlegenheit, mit unverwüstlichem Humor, „denn Du findest Fräulein von Kursen unendlich verschönt durch das fromme Lächeln der Ergebung in einen hohem Willen. Die stille Duldung kleidet das Mädchen vortrefflich, mon cher Cécil! Was hast Du ihr denn heut Abend in aller Eile zugeflüstert? Doch nicht etwa, daß Du sie liebst? Das wäre fatal! Du machtest mich dadurch gerades Weges zum Lügner, denn ich habe der rechtschaffenen Tante Starkloff erzählt, daß Du Dich mit Schön-Bella Hanstein verlobt hättest.“
Cécil lächelte. „Sie wird Dir nimmermehr geglaubt haben.“
„Doch, doch!“ betheuerte Onkel Fabian eifrig. „Sie hat’s geglaubt! Woher sonst der verklärende Schmerz?“
Er betonte die beiden letzten Worte so durchaus komisch, daß Cécil nichts Besseres thun konnte, als laut auf zu lachen.
„Onkel, Du bist unverbesserlich!“ rief er dann. „Aber laß es Dir gesagt sein, von jetzt an bin ich den Einwirkungen Deines Spottes vollständig entwachsen!“
„Das freut mich! Wahrhaftig, bist Du so weit? Nein, das freut mich! Wozu willst Du aber dann noch Kammerrath in Ballberg’schen Diensten werden? Wenn Du keine Furcht mehr vor meinem Spotte hast, kannst Du ja immerhin hier bleiben. Ueberlege Dir das Weitere, mon cher Cécil!“
Es wäre thöricht, zu erzählen, welche Seligkeiten der nächste Morgen mit seinen Erklärungen keimen und gedeihen ließ. Wer jung gewesen ist, kennt die brennenden Worte der Liebe, die so schnell verlodern, und weiß, daß jedes Menschenherz seine Liebe für die stärkste, treueste und edelste hält. Was sich Helene und Cécil anvertrauten, klang ungefähr so und wurde für den Augenblick mit so hingebender Leidenschaft betheuert und geglaubt, daß jeder Zweifel eine Sünde gewesen wäre.
Interessanter würde es sein, das Gesicht und die gelegentlichen Ausrufungen der Justizamtmännin Starkloff belauschen zu können, die diesem ungeahnten Ausgange der Liebestragödie mit Kopfschütteln ihre Billigung zusagte. Um ihre Nichte mit ihren gescheiterten Liebeshoffnungen einigermaßen zu rächen, hatte sie den Pfeil gegen den Regierungsrath von der längst gespannten Sehne schlüpfen lassen und siehe da – die Rache war ganz unnöthig gewesen.
Im Stillen verwunderte sie sich über das unaussprechlich große Glück, das aus den Blicken der beiden jungen Leute leuchtete, weil sie hinter der Ruhe Helenens gar keine so große Liebe vermuthet hatte, allein sie war so gescheidt, von ihren geringen Beurtheilungstalenten nichts zu verrathen.
Daß Cécil sich anderweitig placirt hatte und fest darauf bestand, mit Helene nach Ballberg zu ziehen, machte sie erst verdrießlich, obwohl sie die ihr mitgetheilten Gründe für diesen Entschluß gelten lassen mußte. Sie blieb aber darnach einsam in ihrem comfortabel eingerichteten Elternhause zurück, das sie in Gemeinschaft mit Helene ererbt hatte. Nach und nach ergab sie sich indeß in dies Mißgeschick und als endlich der Regierungsrath zu der improvisirten Verlobung hinzukam, und ihr den Vorschlag machte, „sich gegenseitig in ihrer Einsamkeit zu ergänzen,“ da war sie vollkommen damit zufrieden, und schlug willig in seine dargebotene Rechte.
Onkel Fabian hatte sich ihre Achtung durch die kräftige Entschlossenheit erzwungen, womit er ohne Rücksicht auf sich selbst seiner Ehre und seinen Kindern die Gattin zum Opfer gebracht und sie zartsinnig dem Schutze ihrer Mutter überantwortet hatte. Sie erkannte sehr wohl aus seiner verfallenen Gestalt und aus seiner oftmals wehmüthig ernsten Stimmung, wie viel er dabei gelitten hatte und noch immer litt, und sie ehrte seinen Schmerz nicht allein durch die respektvollste Discretion, sondern auch durch schlagende Beweise einer tiefen herzinnigen Theilnahme.
Sie wurden einig, sogleich nach Helenens Verheirathung mit einander Haus zu halten, wozu der Raum in dem Hause der Amtmännin vollkommen hinreichend war. Aber bevor sie den Contract dieses neuen Lebensplanes vollgültig machte, erklärte sie dem Regierungsrathe ganz offenherzig ihre Betheiligung an der Entlarvung seiner Gattin, um spätern Zerwürfnissen zuvorzukommen. Zu ihrem Erstaunen gewahrte sie, daß sie demselben nichts Neues sagte. Er wußte Alles, was in dieser Angelegenheit von ihrer Seite geschehen war, und er hatte ihr nicht darüber gezürnt, daß sie sein Lebensschiff etwas schonungslos in die brandenden Wellen des Zufalles geleitet und es dem Sturme preisgegeben hatte. Sie blieben gute Freunde, und es erwuchs gewiß dem schwer heimgesuchten Manne aus dieser Freundschaft das Gute, daß die ehrenwerthe Bevölkerung der Stadt mit großer Schonung und Milde Alles beurtheilte, was er zur Rettung seines Lebensfriedens für gut befunden hatte.
Jetzt regieren sie sich Beide mit den Kräften ihrer Eigenthümlichkeiten. Wenn Onkel Fabian gutmüthig spottet, so gibt sie ihm eine Zurechtweisung voll gelinder Grobheit. Dabei überwacht [164] sie mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt die beiden Kinder ihres Hausgenossen, und hat ein scharfes Auge für die Aufsicht der Dienstboten.
Frau Olga ist aus den Reihen der Lebendigen gestrichen, ohne gestorben zu sein. Ihr Name wird nie genannt und ihre Kinder vermissen sie unter der gesteigerten Zärtlichkeit ihres Vaters nicht. Zu seiner unaussprechlichen Freude zeigt sich, trotz der aufmerksamsten Beobachtung, keine Spur der mütterlichen Begabung, weder die der Elsternatur, noch die des Salamanders. Er preist Gott dafür!
In dem reizenden Neckarthale, lieblich von Weinbergen umkränzt und von den fernen Höhen der „rauhen Alp“ wie von treuen Wächtern behütet, liegt das freundliche Tübingen, wo Uhland, der deutsche Liedersänger, an der Brücke in dem trauten Hause wohnt. In der Nähe erhebt sich der Oesterberg mit dem kleinen Weinbergshäuschen, worin Wieland seinen „Oberon“ gedichtet hat. Noch eine Reliquie birgt die Stadt in ihren Mauern, zu der wir jetzt unsere Schritte lenken.
Wir steigen eine schmale Treppe hinauf und gelangen in ein thurmähnliches Erkerzimmer mit der entzückendsten Aussicht auf Berg und Thal. Rings umher steht der einfachste Hausrath, ein hölzerner Tisch und zwei Sessel; in einem Winkel ein Clavier mit verstimmten und zerrissenen Saiten, ein treues Bild einer gestörten Menschenseele. Der Bewohner dieser fast ärmlichen Räume starrt uns mit scheuen und stumpfen Blicken an; aber die Gegenwart unseres Begleiters, eines wackeren Tischlermeisters, dem das Haus gehört, macht ihn freundlicher, so daß er uns nicht, wie es sonst seine Gewohnheit den Fremden gegenüber ist, mürrisch und aufgebracht den Rücken kehrt. Die hagere Gestalt richtet sich empor und antwortet auf unseren Gruß mit einer tiefen Verneigung, die voll Grazie wäre, wenn sie nicht etwas gezwungen Krampfhaftes verriethe. Das Profil des uns zugewandten Gesichtes zeigt eine hohe gedankenschwere Stirn, freundliche, wenn auch erloschene, aber nicht seelenlose, liebe Augen; über Wangen, Mund und Nase liegt ein eigenthümlich schmerzlich kranker Zug ausgebreitet, der mit einem plötzlichen convulsivischen Zucken abwechselt, von dem der ganze Körper erschüttert wird. Er trägt ein einfaches graues Wamms, in dessen Seitentaschen er seine Hände zu verbergen liebt. Die ganze Erscheinung trägt die Spuren einer früheren großen Schönheit und Anmuth an sich, die weder von den Jahren, noch vom Unglück gänzlich verwischt worden sind. Unwillkürlich müssen wir bei seinem Anblicke an eine mächtige vom Mond beglänzte Ruine denken und unsere Seele fühlt sich von Mitleid und tiefer Wehmuth ergriffen, ehe wir noch sein Schicksal kennen. Auf unsere freundliche Anrede erwidert er mit einem Schwall von unverständlichen Worten ohne jeden Sinn und Zusammenhang. Er nennt uns bald Ew. Majestät, bald Ew. Heiligkeit und überhäuft uns mit den verschiedensten Titeln. Länger können wir nicht zweifeln, daß wir es mit einem Wahnsinnigen zu thun haben. Da plötzlich fällt sein Auge auf ein Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tische liegt; er greift danach und liest anfänglich mit tonloser Stimme, dann immer lebendiger und erschütternder daraus folgende Stelle vor:
„Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft stehe ich stille vor Dir in liebender Betrachtung und möchte Dich denken! Aber wir haben ja nur Begriff von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.
„Da ich noch ein stilles Kind war und von dem Allen, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all’ den Mühen des Herzens und all’ dem Sinnen und Ringen?
„Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, so lange es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist.
„Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.
„Der Zwang des Gesetzes und des Schicksales betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.
„In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichthum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.
„Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh’ es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluches, daß es, wie sie, im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.“
Während er liest, leuchtet der göttliche Strahl der Poesie um seine hohe, weiße Stirn wie Sonnenschein über einer Winterlandschaft. – Wir glauben einen großen Dichter zu hören, einen gottbegeisterten Sänger. Mit einem Male läßt er aber seine Stimme sinken, sein Gesicht verzerrt sich zu einem widerwärtigen Lachen.
„O schön, schön, Ew. Majestät!“ ruft der Unglückliche, indem er das Buch fallen läßt. Wir heben es auf und lesen den Titel: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Jener Wahnsinnige, der uns wieder dumpf brütend anstarrt, ist der Verfasser dieses wunderbaren Werkes, ist der Dichter Hölderlin.
Ueber dreißig Jahre verharrte er in diesem bedauerungswürdigen Zustande. Welche Verhältnisse und Schicksale diesen edlen Geist zerrüttet, diesen Genius wie ein Frostreif in seiner Blüthenpracht getroffen, bleibt ein psychologisches Räthsel, das trotz mancher Andeutungen und Anhaltepunkte aus seinem Leben noch immer nicht gelöst ist. – Hölderlin war einer der bedeutendsten Dichter, welche Deutschland besessen, ein eben so eigenthümliches als hervorragendes Talent; aber das Geschick verstattete ihm nicht, den ihm gebührenden Platz einzunehmen. Mitten in seiner Entwickelung traf ihn das grausige Loos des Wahnsinnes wie der Blitzstrahl, welcher nicht das niedere Gestrüpp, sondern nur die stolze, königliche Eiche schlägt.
Er war wie Schiller, mit dem er eine gewisse Verwandtschaft zeigt, in dem an Dichtern und Denkern so reichen Schwaben am 29. März 1770 geboren. Frühzeitig verlor er seinen Vater, so daß die Mutter fast allein die Erziehung des begabten Knaben leitete. Der vorzugsweise weibliche Einfluß in seiner Jugendzeit entwickelte zwar den Sinn für alles Gute und Schöne, aber auch eine gewisse Schüchternheit, ideale Schwärmerei, eine überwiegende Empfindlichkeit und leichte Verletzbarkeit im Zusammenstoße mit der rauhen Wirklichkeit. Die schöne Natur, in der Hölderlin fortwährend lebte, unterstützte seinen Hang zur Zurückgezogenheit; er liebte selbst als Kind nicht die lärmenden Spiele seiner Altersgenossen, denen er die einsamen Wanderungen in der herrlichen Umgebung vorzog.
Diese Neigung hielt ihn jedoch nicht ab, mit Fleiß seine Studien zu verfolgen; er besuchte die lateinische Schule in Nürtingen, wo seine Mutter wohnte. Unter den Zöglingen dieser Anstalt befand sich mit Hölderlin zugleich der später so berühmt gewordene Naturphilosoph Schelling. Beide Knaben wurden bald miteinander bekannt und befreundet, gleiche Liebe zu den Wissenschaften und Bewunderung für das classische Alterthum verband sie auf das Innigste. Von Nürtingen kam Hölderlin wohl vorbereitet auf das Seminar nach Maulbronn. Hier entwickelte sich bereits sein poetisches Talent; er galt bei seinen Lehrern für einen talentvollen Schüler, der „auch schöne deutsche Verse mache.“ Besonders aber fühlte er sich schon damals von den Dichtern Griechenlands angezogen und seine Vorliebe für Hellas und die Vergangenheit einer schöneren Zeit erfüllte ihn mit einer Sehnsucht, welche sich später zu krankhafter Schwärmerei steigern sollte. Auch die Liebe, diese stete Begleiterin der Poesie, näherte sich ihm in Gestalt einer jugendlichen Beamtentochter, mit welcher der siebzehnjährige Hölderlin bald in den Kreuzgängen des Klosters, bald in den benachbarten Baumgärten oder in den frischen, von schönen Seen durchzogenen Wäldern in der Umgebung verstohlen zusammenkam. Ihre Gespräche beschränkten sich meist auf poetische Eindrücke und Empfindungen, wie aus den noch vorhandenen Briefen hervorgeht. So schildert Hölderlin einmal seiner Louise, so hieß das Mädchen, mit besonderer Rührung den tiefen Eindruck, welchen das Gebet des greisen, der Klosterschule würdig vorstehenden Prälaten während eines furchtbaren Gewitters auf ihn gemacht, und sie wiederum beneidet ihn in ihrer Antwort um diesen frommen Genuß.
Dieses an sich unschuldige Verhältniß mag allerdings dazu beigetragen haben, seine ohnehin lebendige Phantasie noch mehr zu [165] reizen und die Empfindsamkeit seines Herzens zu erhöhen; seine Poesie erhielt aber Nahrung und Leben.
Im Herbst des Jahres 1788 bezog er die Landesuniversität Tübingen, wo er sich auf Wunsch seiner Mutter dem Studium der Theologie widmete, nicht aus innerem Beruf, aber auch nicht mit Widerstreben, wie von verschiedenen Seiten behauptet wird. Das Zusammenleben mit verschiedenen jungen Leuten, von denen einige später zu der größten Berühmtheit gelangten, übte einen vortheilhaften Einfluß auf sein ganzes Wesen aus. Mehrere bedeutende Jünglinge näherten sich ihm trotz seiner Zurückgezogenheit und schlossen sich ihm an. Diese Freundschaft gewann schon durch seine körperliche Schönheit etwas Idealisches, seine Studiengenossen haben oft von ihm erzählt, „wenn er vor Tische auf- und abgegangen, sei es gewesen, als schritte Apollo durch den Saal.“ Zu diesem anziehenden Aeußeren gesellte sich eine angeborene dichterische Melancholie, welche ihm einen eigenen, wunderbaren Reiz verlieh. Unter seinen Freunden nahmen die Studenten Ludwig Neuffer und Rudolph Magenau die erste Stelle ein; Beide beschäftigten sich, wie Hölderlin, mit Poesie und theilten sich gegenseitig ihre ersten Versuche mit. Unter den Ausländern zogen ihn Leo von Seckendorff und Sinclair, aus einer vornehmen schottischen Familie stammend, besonders an. Letzterer, ein bedeutender und interessanter Mann, der später die diplomatische Laufbahn einschlug, griff im ferneren Leben überaus thätig in Hölderlin’s Schicksal ein. Auch der berühmte Hegel, welcher in Tübingen damals Theologie studirte, trat ihm nahe. Hegel ließ damals seine künftige Bedeutung nicht im Entferntesten ahnen; man wußte nur, daß er sich viel mit Kant beschäftigte, außerdem galt er für einen eifrigen, feinen Tarokspieler, liebte die Gesellschaft und war in Betreff seines Umganges nichts weniger als wählerisch. – Mit Hölderlin verband ihn ein gleiches philosophisches Streben und seine Bekanntschaft mit den Griechen, namentlich mit Sophokles.
In solch’ anregender Umgebung mußte sich Hölderlin’s Geist immer freier und bedeutender entwickeln. Mit besonderer Vorliebe trieb er Philosophie und das Studium der alten Classiker, in die er sich nach und nach immer mehr versenkte, so daß er in einer mit der Gegenwart scharf contrastirenden Welt völlig heimisch wurde und eine fremde Denkweise sich zu eigen machte. Aber auch sein gesellschaftliches Talent entwickelte sich in gewinnender Weise. Eine ihn überall empfehlende Lieblingsbeschäftigung war die Musik; er nahm Unterricht bei dem berühmten blinden Flötenspieler Dulon, der sich einige Zeit in Tübingen aufhielt, und bald erklärte der Meister, daß sein Schüler nichts mehr bei ihm zu lernen habe. Mit seiner ersten Geliebten stand er als Student noch in Verbindung, aber da ihm die Schwierigkeit, sich mit dem Mädchen verbunden zu sehen, immer klarer entgegentrat, je älter er wurde, und da sich keine Aussicht auf eine frühzeitige Versorgung zeigte, wurde von ihm das ohnehin nur lockere Verhältniß aus der Jugendzeit gelöst. Eine neu aufkeimende Neigung zu der Tochter eines Tübinger Professors, welche er unter dem Namen Lyda besang, war nicht glücklicher, da die Eltern der Verbindung entgegen waren und jede fernere Annäherung abschnitten. – Diese Neigungen scheinen indeß Hölderlin nicht tiefer berührt zu haben; erst später sollte er die Gewalt der wahren Liebe kennen lernen, welche sein dämonisches Schicksal hauptsächlich mit herbeiführte.
Die heranbrechende französische Revolution übte einen mächtigen Einfluß auf Hölderlin und seine Studiengenossen. Wie überall in Deutschland wurde das welterschütternde Ereigniß besonders von der Jugend anfänglich mit Begeisterung aufgenommen; sie hoffte davon die Verwirklichung ihrer Ideale, die Wiederkehr der großen Vergangenheit, einen Freistaat im Sinne der Republik eines Plato, eine Wiedergeburt der Menschheit und Thaten, würdig des alten Sparta und Athen. Am Geburtstage der französischen Republik wurde von den Studenten auf dem Tübinger Marktplatze ein Freiheitsbaum errichtet und mit berauschender Freude umjubelt. Hegel galt für einen entschiedenen Republikaner und Hölderlin selbst erwartete für Deutschland einen ähnlichen gewaltigen Umschwung und eine Verjüngung der alten, verrotteten Zustände. – Der deutsche Geist brachte es jedoch nicht weiter, als zu einer Umwälzung auf dem abstracten Gebiete der Gedankenwelt; hier hatte Kant eine Revolution angeregt und einen Kampf hervorgerufen, an dem sich Hölderlin lebhaft betheiligte. Durch Jakobi’s Schriften wurde er auch mit Spinoza bekannt gemacht und schwärmte bald für eine pantheistische Weltanschauung, welche mit der von ihm bewunderten griechischen Götterwelt vollkommen harmonirte.
Aber weder die Politik noch die Philosophie waren im Stande, ihn der Poesie untreu zu machen; in ihr fand er die höchste Befriedigung, das Ziel seines brennenden Ehrgeizes. Nicht wenig trug zu dieser entschiedenen Richtung das Vorbild seines Landsmannes Schiller bei, dessen persönliche Bekanntschaft er bei einem Besuche desselben in Schwaben gemacht hatte. Deutlich tragen auch die ersten Gedichte Hölderlin’s die Spuren dieses Einflusses und das oft in einem Grade, daß man Schiller selbst zu hören glaubt, wenn Hölderlin in seinem Gedichte „das Schicksal“ singt:
Mit ihrem heil’gen Wetterschlage,
Mit Unerbittlichkeit vollbringt
Die Noth an einem großen Tage,
Was kaum Jahrhunderten gelingt.
Und wenn in ihren Ungewittern
Selbst ein Elysium vergeht,
Und Welten ihrem Donner zittern –
Was groß und göttlich ist, besteht.
So verfolgte Hölderlin immer mehr eine Richtung, welche ihn seinem eigentlichen Berufe, der Theologie, entfremdete und überhaupt an die Stelle des praktischen Lebens eine Welt der Ideale setzte. Im Herbst 1793 verließ er die Universität, unentschieden [166] wegen seiner zukünftigen Laufbahn. Einstweilen nahm er durch Schiller’s Vermittlung die Stelle eines Erziehers in dem Hause der bekannten geistreichen Frau von Kalb an, aber ungeachtet diese Freundin Schiller’s gewiß Alles aufbot, ihm seine Stellung angenehm zu machen, so verließ er dieselbe schon nach kurzer Zeit, um sich nach Jena zu begeben, wohin er durch Fichte’s berühmte Vorlesungen und durch den Verkehr mit Schiller sich mächtig gezogen fühlte. Der Letztere nahm den lebendigsten Antheil an den poetischen Arbeiten seines jüngeren Landsmanns, von dem er mehrere Gedichte und ein Fragment des Hyperion in der von ihm herausgegebenen neuen „Thalia“ veröffentlichte.
Da Hölderlin in Jena trotz seiner und Schiller’s Bemühungen kein gesichertes Einkommen sich verschaffen konnte, so mußte er wieder in die Heimath und zu seiner Mutter zurückkehren, die es nicht an liebevoller Unterstützung fehlen ließ. Mit der Vollendung des Hyperion und kleinerer literarischer Arbeiten beschäftigt, erhielt er auf die Empfehlung seines Freundes Sinclair das Anerbieten, eine Hofmeisterstelle in einem angesehenen Hause in Frankfurt a. M. zu übernehmen. Dies Verhältniß entschied über sein Geschick, und legte wahrscheinlich den Grund zu seinem nachfolgenden Wahnsinn. Bald machte die Frau vom Hause, eine geborne Hamburgerin und nach dem einstimmigen Urtheile Aller, die sie gesehen, mit einem vortrefflichen Charakter edles Zartgefühl und eine hohe Bildung vereinend, den tiefsten Eindruck auf die jugendliche Phantasie des Dichters. Anfänglich übte diese Neigung den vortheilhaftesten Einfluß auf Höderlin aus; wozu auch der erneuerte Umgang mit Hegel viel beitrug, der ebenfalls in Frankfurt eine Stelle als Hauslehrer gefunden hatte. Die Liebe zu jener ausgezeichneten Frau, welche er unter dem Namen „Diotima“ verehrte, schien seine poetische Schöpferkraft von Neuem anzufeuern; er dichtete mehrere bedeutende Gesänge, welche er Schiller mittheilte. Dieser verfolgte mit wahrhaft väterlich freundschaftlicher Gesinnung die Entwicklung des jüngeren Hölderlin, über dessen Wesen er schon damals folgenden höchst charakteristischen Brief an den minder für ihn eingenommenen Goethe schrieb:
„Es freut mich, daß Sie meinem Freunde und Schutzbefohlenen nicht ganz ungünstig sind. Das Tadelnswürdige an seiner Arbeit ist mir sehr lebhaft aufgefallen; aber ich wußte nicht recht, ob das Gute auch Stich halten würde, das ich darin zu bemerken glaubte. Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erste Mal, daß mich der Verfasser an mich erinnerte. Er hat eine heftige Subjectivität und verbindet damit einen gewissen philosophischen Geist und Tiefsinn. Sein Zustand ist gefährlich, da solchen Naturen so schwer beizukommen ist.“
Nur zu richtig hatte Schiller Hölderlin’s Zustand beurtheilt, obgleich derselbe vorläufig sich in seinen neuen Verhältnissen überaus glücklich fühlte. Er hatte einen Verleger für den ersten Theil seines „Hyperion“ gefunden, und beschäftigte sich mit der Vollendung dieses eigenthümlichen Romans, der, was Schönheit der Sprache und Tiefe der Gedanken betrifft, zu dem Vorzüglichsten gerechnet werden darf, was die deutsche Literatur aufzuweisen hat, und, wenn auch hier und da an Heinse’s Ardinghello anklingend, diesem in sittlicher und ethischer Beziehung unendlich überlegen ist, obgleich das lyrische Element auf Kosten der epischen Verwicklung vorwaltet. Die erhabensten Gefühle, Liebe, Freundschaft und Begeisterung für das Vaterland, geben dem Inhalt eine hohe Bedeutung für alle Zeiten.
Auch auf dem dramatischen Gebiete wollte Hölderlin wirken, und lange beschäftigte er sich mit dem Plane zu einem Trauerspiele, welches den König Agis von Sparta zum Helden haben sollte.
Unterdeß aber wuchs die Leidenschaft zu der Mutter seiner Zöglinge in einem Grade, daß er füglich nicht länger in ihrem Hause bleiben konnte, ohne sich und die Frau, welche seine Liebe erwiderte, zu verderben. Nach schweren Kämpfen, von denen seine Gedichte und die Briefe aus jener Zeit Zeugniß ablegen, riß er sich mit blutendem Herzen von ihr los. Er fand eine Zuflucht bei seinem treuen Sinclair in Homburg, der Alles anwendete, um den an Leib und Seele kranken Freund zu zerstreuen und herzustellen. Mit ihm wohnte Hölderlin dem bekannten Congresse in Rastadt bei, wo er jedoch weniger den politischen Vorgängen, als seinen literarischen Arbeiten Aufmerksamkeit geschenkt zu haben schien. Die deutsche Versunkenheit und Zerfahrenheit indeß, welche damals in grauenhafter Weise zuerst zum Vorschein kam, konnte sicher ihm nicht entgehen, und der Schmerz über diese erbärmlichen Zustände hallte in seinen spätern Gedichten klagend nach. Dieses Weh über den Verfall des Vaterlandes und die Gesinnungslosigkeit des deutschen Volkes steigerte sich in Hölderlin, dem die ideale Heldengröße des alten Hellas vorschwebte, zu einer Bitterkeit und Verstimmung, welche nicht ohne Einfluß auf seine spätere Geistesstörung blieb. Noch aber siegte seine Willenskraft über die äußeren und inneren Bedrängnisse; obgleich in seiner Jugendkraft gebrochen und vielfach tief verletzt, ließ er es nicht an neuen Versuchen fehlen, um sich mit dem Leben wieder auszusöhnen. Zunächst suchte er in neuen Arbeiten Trost; er schrieb den zweiten Theil des Hyperion, ohne jedoch den befriedigenden Abschluß für den Roman zu finden; auch vollendete er das Trauerspiel Agis, das leider durch einen Zufall im Manuscript verloren gegangen ist. Dagegen wurden die Fragmente einer andern Tragödie, „Empedokles“ erhalten, die trotz ihrer wunderbaren Gedankentiefe und der bedeutenden ihr zu Grunde liegenden Idee ein mehr lyrisches als wahrhaft dramatisches Talent bekundet. –
Mit diesen poetischen Beschäftigungen wechselten verschiedene Pläne, um sich eine gesicherte Existenz zu begründen. Zuerst beabsichtigte Hölderlin die Herausgabe eines periodischen Journals, das indeß nicht zu Stande kam; ebensowenig gelang es ihm, eine Anstellung als Docent an der Universität Jena zu erlangen. Wie nicht unwahrscheinlich, trat ihm hier Goethe hindernd entgegen, dessen objektiv abgeschlossene Natur sich mit einem so subjectiv zerfahrenen Charakter am wenigsten vertragen konnte. Noch in seinem Wahnsinne zeigte Hölderlin einen gewissen Widerwillen, wenn man in seiner Gegenwart den Namen Goethe’s erwähnte.
Kränkelnd, unzufrieden und in seinen Plänen gescheitert, kehrte Hölderlin von Neuem in das Haus der liebevollen Mutter zurück. Er sah alle seine Schulfreunde, die das praktische Leben besser verstanden, mehr oder minder versorgt und untergebracht, geehrt im Staatsdienst oder durch eigene Thätigkeit unabhängig, während er im reifen Mannesalter noch immer zum Theil auf die Unterstützung der Seinigen angewiesen war, und es zu nichts gebracht hatte. – Sein Stolz und ein empfindlicher Ehrgeiz litten unter diesem Zustande; es duldete ihn nicht länger in der Heimath, und er nahm deshalb mit Freuden wieder eine Hauslehrerstelle in Bordeaux bei dem Hamburgischen Consul an. Hier fühlte er sich auch anfänglich zufrieden; die südliche Natur des Landes, der classische Boden, den er betrat, die zarte, rücksichtsvolle Behandlung schien einen günstigen Einfluß auf sein verwundetes Gemüth auszuüben. Da traf ihn aller Wahrscheinlichkeit nach, plötzlich und unerwartet die Nachricht von der Krankheit und dem Tode jener Frau, die er noch immer heiß und innig liebte. Dieser letzte Schlag genügte, um den in allen Lebenshoffnungen betrogenen Dichter zu vernichten; seine Willenskraft, die nie besonders stark gewesen, wurde vollständig gelähmt, sein krankhafter Geist nun gänzlich zerrüttet. Man braucht nicht, wie Waiblinger, der mit Hölderlin später viel verkehrte, zu sinnlichen Ausschweifungen seine Zuflucht zu nehmen, um den jetzt mit Gewalt hervortretenden Wahnsinn zu erklären. Minder wichtige Momente, als der Tod einer angebeterten Geliebten, das Scheitern aller Aussichten und der Jammer über den Verfall des Vaterlandes, genügen wohl selbst einen gewöhnlichen Menschen, geschweige einen solchen Dichtergeist wahnsinnig zu machen.
Nachdem Hölderlin seine bisherige Stellung heimlich verlassen und ohne Aufenthalt ganz Frankreich zu Fuß durchwandert hatte, erschien er plötzlich wieder in der Heimath und bei seinen Freunden. So erzählt der Dichter Matthisson, daß er ruhig in seinem Zimmer gesessen, als sich die Thür geöffnet und ein Mann hereingetreten, den er nicht gekannt. Er war leichenblaß, abgemagert, von hohlem, wildem Auge, langem Haar und Bart und gekleidet wie ein Bettler. Erschrocken steht Matthisson auf, das schreckliche Bild auffassend, das eine Zeit lang verweilt, ohne zu sprechen, sich ihm sodann nähert, sich über den Tisch hinüber neigt, häßliche, ungeschnittene Nägel an den Fingern zeigt und mit dumpfer, geisterhafter Stimme murmelt: „Hölderlin.“ Und sogleich ist die Erscheinung fort und Matthisson hat Noth, sich von dem Eindrucke dieses Besuches zu erholen.
Hölderlin blieb anfänglich im mütterlichen Hause, wo er sich auch zu erholen und, abgesehen von einigen Anfällen, ruhiger zu werden schien. Er kehrte sogar zu seiner Lieblingsneigung, der Poesie zurück, indem er sich bald mit eigenen Dichtungen, bald mit Uebersetzungen aus dem Griechischen beschäftigte, welche allerdings neben [167] großen Schönheiten bereits die Spuren geistiger Zerrüttung an sich trugen.
Jetzt, im Unglücke, sollte auch Hölderlin einen Beschützer an einem deutschen Fürsten finden. Der Landgraf von Hessen bot dem kranken Dichter die geeignete Stelle eines Bibliothekars mit einem kleinen Gehalte an, und Hölderlin war auch scheinbar so weit hergestellt, um seinen Posten antreten und nach Homburg reisen zu können, wo der treue Sinclair durch liebevolle Pflege und Theilnahme ihn vollends herzustellen glaubte. Diese Hoffnungen sollten indeß nicht in Erfüllung gehen; bald zeigten sich von Neuem die Spuren des Wahnsinns, der in Raserei ausartete, so daß der Kranke einer Heilanstalt übergeben werden mußte. Als unheilbar entlassen, fand Hölderlin die liebevollste Aufnahme in der Familie eines wohlhabenden und gebildeten Tischlermeisters, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.
Sein Wahnsinn nahm zwar eine mildere Gestalt an, aber nichts desto weniger kehrte seine Vernunft nicht mehr zurück. Theilnahmlos ging er wie ein Schatten durch das Leben; nur die Nachricht von der Befreiung Griechenlands schien ihn aus seinem dumpfen Hinbrüten zu wecken. Bald verfiel er jedoch wieder in seinen früheren Stumpfsinn. – Nur die Muse war ihm treu geblieben; er schrieb und dichtete selbst in seiner Krankheit, wobei die wunderbare Erscheinung sich kund gab, daß die poetische Form und der Rhythmus von ihm streng beobachtet wurde, während er nicht die Kraft hatte, den Gedanken festzuhalten. So schleppte der geniale Dichter ein freudenloses, stumpfes Dasein bis in’s höchste Alter hin. Er starb über 70 Jahre alt am 7. Juni 1843. Seiner Leiche folgten trotz des eingetretenen Unwetters außer den Verwandten viele Studirende und Professoren. In dem Augenblick, wo der Sarg des Unglücklichen in das Grab gelassen wurde, brach die Sonne aus dem dunklen Gewölk hervor. – Der Tod hatte den Dichter von jedem irdischen Jammer befreit und seine Seele schwang sich, erlöst von den Banden des Wahnsinns, aufwärts zur Unsterblichkeit.
Von E. A. Roßmäßler.
Orientalischer Luxus ist eben so sprüchwörtlich, wie man unter orientalischen Perlen stillschweigend „echte“, die besten Perlen, gegenüber den für weniger gut gehaltenen „occidentalischen“ versteht. Edelsteinschmuck ist ein Abzeichen stolzer Pracht, der Perlenschmuck verleiht dem Träger, und wäre es ein Nena Sahib, den würdevollen Glanz, den allein das mit edelm Geschmack gewählte Seltene verleihen kann. Ich weiß nicht, wie weit das Gleichniß in Geltung steht: „Perlen bedeuten Thränen“; jedenfalls trägt es dazu bei, die tiefere Bedeutung derselben, den Edelsteinen gegenüber, auszudrücken. Eine sinnige Symbolik liegt in einem Hochzeitsgebrauche der Indier, welchen Ruschenberger erzählt. Man pflegt dabei eine frische Perle, als Sinnbild der jungfräulichen Reinheit, zu durchbohren.
Wir begegnen dem Perlenluxus zu allen Zeiten und bei allen Völkern, in deren Bereichen sich Perlen finden. Die ältesten Geschichtsurkunden schmücken die Mächtigen der Erde mit Perlen und wenden sie, wie noch heute wir, als Gleichniß des Kostbarsten, Edelsten an.
Am frühesten und am allermeisten war die Perle in Indien ein Gegenstand der Prachtliebe, denn die indischen Gewässer sind auch heute noch am reichsten an den schönsten Perlen. Wenn man weiß, wie beschwerlich die Perlenfischerei ist und daß nur in den wenigsten vom Meeresgrunde heraufgeholten Muscheln sich Perlen finden, dann muß man billig staunen über die unermeßlichen Perlenmengen, von welchen uns die Reisenden berichten, wenn sie die Pracht indischer Fürsten erzählen. Bei den Chinesen wurden schon über 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung Perlen, und zwar anfangs Süßwasserperlen, als Tribut gezahlt, und als Columbus den gefundenen neuen Weltlheil betrat, überraschte den mit Undank belohnten dienstbeflissenen Diener seiner Herrschaft der Perlenschmuck der Eingeborenen, die ihn im Golf von Paria bewillkommneten, und in seinem Eifer, die Habgier Spaniens zu füttern, fiel ihm verheißungsvoll des Plinius Entstehungsgeschichte der Perlen ein; denn hier fiel Thau die Menge und an den Wurzeln der Strandgewächse hingen zahllose Muscheln, der fallenden Tropfen gewärtig. Der Tempel in Mexico, in welchem Montezuma sein Nachtgebet verrichtete, strahlte von Goldblechen und Perlen und so fanden des Columbus Zeitgenossen und nächste Nachfolger in den neu entdeckten Landen Perlenluxus und Perlenverehrung überall bereits vor.
Daß bei den Egyptern die Vorliebe für Perlen groß war, haben wir schon durch Kleopatra gelernt. In Griechenland scheinen sie vor des Aristoteles Zeit (geb. 384 v. Chr.) unbekannt gewesen zu sein, während sie bei den Medern und Persern schon nach den Siegen über Crösus (557 v. Chr.) höher als Gold und Edelsteine gehalten wurden. In Rom stieg der Perlenluxus im letzten vorchristlichen Jahrhundert zu einer solchen Höhe, daß die Schriftsteller dagegen eiferten. Julius Cäsar schenkte der Servilia eine Perle im Werthe von 330,000 Thlr. Etwas später, zu Plinius Zeit, trug Lollia Paulina, des Cajus Caligula Gemahlin, bei einer Verlobungsfeier einen Schmuck von grünen Edelsteinen und Perlen, dessen Werth von 2,200,000 Thlr. sie schriftlich beweisen zu können versicherte. Auf den Brustbildern römischer Frauen sehen wir häufig das trilinum, d. i. einen Schmuck aus drei Perlenschnuren, von denen die oberste straff am Halse anliegt und die beiden anderen in sanften Bogen herabhängen. Eine zweifache Schnur hieß dilinum, und eine einfache monile. Um sich vor den feilen Dirnen auszuzeichnen, die sich die beliebten Perlen-Ohrgehänge auch zu erwerben wußten, überboten sie die vornehmen Damen durch crotalia, was man mit Klappergehänge übersetzen könnte, denn sie hießen so nach dem Klappern, was die zwei und drei birnförmigen nebeneinander angebrachten Perlen hervorbrachten und so durch ihr kostbares Getön das nahe Ohr kitzelten.
Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir den Perlenluxus überall hin verfolgen. Die aus Amerika kommende Perlenfluth kühlte die Liebhaberei dafür bedeutend ab und die Edelsteine drängten sich für lange Zeit von allen Seiten in die von den Perlen verlorenen Positionen ein. In neuester Zeit aber gewinnen sie ihr altes Recht allmählich wieder, und bei der vor zwei Jahren stattgehabten Krönung Alexanders II. in Moskau war der österreichische Gesandte Fürst Esterhazy mit Perlen übersät, dessen Kleid, selbst die Stiefelschäfte, anstatt mit Gold, mit Perlen gestickt war.
Indem wir nun zu der Perlenfischerei übergehen, haben wir zunächst zu fragen, wo man überhaupt Perlen fischt, und wir ahnen aus dem bisher Gesagten bereits, daß die Perlenmuscheln ein größeres Verbreitungsgebiet haben, als man gewöhnlich glaubt. Vor Kurzem wurde in diesem Blatte das Meer als die Fundgrube eines unermeßlichen Silberschatzes dargestellt; es ist eine solche in viel mehr praktischer Weise auch hinsichtlich der Perlen, denn in den Meeren der heißen Zone und den den Tropengürteln zunächst liegenden bis in die Breiten von Nordcalifornien sind die Perlenmuscheln verbreitet. In noch weiter von dem Erdgleicher entfernten Lagen tritt das Meer die Sorge für die Perlenbildung dem Süßwasser ab, denn z. B. Irland und ganz Scandinavien bis nach Lappland bergen in dem kalten Wasser ihrer Bäche die nicht blos auf Europa beschränkte, sondern auch in Nordamerika lebende Flußperlenmuschel, Unio margatifer.
Die wichtigsten und wahrscheinlich am längsten ausgebeuteten Fischereigebiete liegen jedoch zwischen den indischen Meeren und der Südsee, zwischen den dort liegenden großen Inselgruppen und in der Nähe der Insel Ceylon, namentlich in der Meerenge, welche diese von dem Festlande trennt und wo von 1506 an nacheinander die Portugiesen, Spanier und Holländer den Markt beherrschten. Neben den ceylonischen sind dort namentlich die Fischereien von Bahrein im persischen Golf und Dahalak von Alters her ergibig und berühmt, doch mögen die zahllosen Einbuchtungen des inselreichen indischen Meeres noch viel zahlreichere Fischereiplätze haben, als deren jetzt ausgebeutet werden. Das ganze rothe Meer, vielleicht mit Ausnahme seines gegen den Ocean offenen Theiles, dient den Perlenmuscheln zum Aufenthalt. Jedoch wird von den nördlichen [168] Theilen aus mehr mit den Schalen als mit Perlen ein beträchtlicher Handel getrieben. Möbius zählt weiter in seinem, im vorigen Artikel erwähnten Buche eine große Menge Plätze des großen Oceans auf, aus denen hervorgeht, daß man diesen mit demselben Recht ein großes Perlenmeer nennen kann. Cook fand Perlenmuscheln an der Ostküste von Neuholland. Auf beiden Seiten Amerika’s werden jetzt an vielen Orten große Mengen von Perlenmuscheln gefischt. Doch sind die Fischereien der Inseln Margarita und Cubagua, im caraibischen Meere, wo Columbus am 15. Aug. 1498 die gesuchten Perlenschätze fand, in neuerer Zeit vernachlässigt, obgleich die hier gefischten alle anderen amerikanischen Pcrlen an Größe und schöner Form übertreffen haben sollen. In Florida fand Hernando de Soto Unmassen von Perlen vor, welche aus den Gewässern der Bahamastraße stammten.
Es wurde schon früher gesagt, daß die Perlen des Meeres von verschiedenen Muschelarten und zwar meist aus der Gattung Avicula herstammen. Die ceylonische Perlenmuschel ist nur 2–2½ Zoll breit und 2½–3 Zoll hoch, sie ist also nicht die, welche uns die großen, bis ein Pfund schweren Schalen liefert, welche letztere meist über Manila von den Sulu-Inseln kommen. Jene soll die Avicula radiata und ihr dünnes Perlmutter werthlos sein. Uebrigens liegt die Naturgeschichte der See-Perlenmuscheln noch sehr im Argen.
Die Perlenfischerei ist oft genug beschrieben worden und zwar nicht selten auf Kosten der Lunge der Taucher, welchen man mehr, als billig ist, dabei zumuthete. Selten vermag ein Taucher länger als eine Minute, ohne Athem zu schöpfen, unter dem Wasser zu bleiben, ja die meisten eilen schon nach 53–57 Secunden wieder an das lebenspendende Element, obgleich auch Fälle von größerer Tauchfertigkeit vorkommen. Die Leichtgläubigkeit für übertriebene Angaben über die Zeit des Tauchens hat ihren Grund in der merkwürdigen Ungeübtheit der Meisten in der Schätzung kleiner Zeitmaße, die man fast immer überschätzen hört. Eine halbe Minute, nach einer Secundenuhr genau gemessen, nicht Athem zu schöpfen, ist für Viele schon eine große Anstrengung.
Im Jahre 1833 waren 125 Boote mit je 10 Tauchern, die sich zu 5 ablösten, also mit zusammen 1250 Tauchern in der Meerenge von Ceylon beschäftigt. Nach einer Durchschnittsannahme berechnet Möbius, daß 150 Boote in 20 Tagen dem Meeresgrunde 60 Millionen Muscheln entreißen, wobei jeder Taucher durchschnittlich 40–50 Mal täglich hinunterfährt und 1000–4000 Muscheln heraufschafft, nachdem er die Byssusfäden zerrissen hat, mit denen die Muscheln am Meeresgrunde festsitzen. Es ist also bei den zahlreichen Fischereistellen im Occan die Zahl der jährlich erbeuteten Muscheln gewiß ungeheuer groß und man kann es glauben, daß ganze Muschelbänke dadurch erschöpft werden können, wenn man die Fischerei unausgesetzt betreibt. Jedoch länger als 6–7 Jahr die Bänke ruhen zu lassen, soll wenigstens in den ceylonischen Gewässern mit Verlust verbunden sein, indem man dann viel todte Schalen findet. Man schließt daraus, daß die Muscheln nicht länger leben, was im Vergleich zu den Süßwasser-Perlenmuscheln eine sehr kurze Lebensdauer sein würde. Man findet die werthvollsten Perlen in einer Tiefe von 3–15 Faden auf Korallenriffen. Doch sind die Perlen des persischen Meerbusens höher geschätzt, weil sie härter als die von Ceylon und daher dauerhafter sind.
Es mag ein abenteuerliches Schauspiel sein, wenn auf das Signal des Regierungsschiffes dort im März, und April von allen Seiten die Taucher mit ihren Booten und gewinnsüchtige Speculanten zu vielen Tausenden zusammenströmen und sich dann für kurze Zeit unter dem glühenden Sonnenstrahl auf dem unwirthbaren Küstensande, der oft nicht einmal Trinkwasser bietet, eine umfangreiche Stadt aus Hütten und Zelten erhebt. Unter den flüchtigen Ansiedlern sind alle Classen vertreten, Jongleurs und Tänzerinnen, Priester und vor allen Haifischbeschwörer, denen für ihre schützenden Zauberformeln ein Theil der Beute zufällt.
Daß die Flußperlenmuscheln nicht minder verbreitet sind, wurde bereits erwähnt; und wie von denen des Meeres muß man auch von diesen sagen, daß ihre Naturgeschichte noch sehr lückenhaft ist, und man namentlich die die Perlen liefernden Arten Asiens und Amerika’s nicht vollständig kennt. In Europa ist es fast nur die schon mehrmals genannte Art, Unio margaritifer.[1] Sie lebt in dem hellen Wasser der Gebirgsbäche an solchen Stellen, wo diese einige Fuß Tiefe haben und nicht zu schnell fließen. Dabei scheinen sie sich am liebsten an solchen Stellen aufzuhalten, welche einen kiesigen oder wenigstens grobsandigen Boden haben. An solchen Stellen stecken sie oft zu vielen Hunderten dicht neben einander im Boden, ohne ihren Platz zu verlassen, während sie in sandigem Grunde lebendiger herumkriechen. In Deutschland ist diese Muschel als Perlenerzeugerin wohl am längsten aus der Elster und einigen Bächen des sächsischen Voigtlandes bekannt. Sie findet sich aber auch an sehr vielen andern Orten der nördlichen Hälfte von Deutschland; scheint dagegen im Süden zu fehlen. Das gleiche Verhältniß scheint in Frankreich stattzufinden, während sie jedoch Graëlls in Arragonien angibt, dessen Bergnatur und Wasserreichthum dem Vorkommen der Muschel allerdings günstig ist. Außerordentlich verbreitet ist die Flußperlenmuschel in Nordeuropa, wo sie selbst in den kältesten Lagen gedeiht. An einigen Orten, z. B. im sächsischen Voigtlande, wird die Perlenfischerei als Regale betrieben, was freilich nirgends viel abwirft. In dem liefländischen Bache Waidau wurden sonst viel Perlen gefunden, welche die Bauern um ein billiges Geld an die Juden verkauften, einen Holzlöffel voll für einen Silberrubel. Auch im eigentlichen Rußland werden Flußperlen gefunden, namentlich in den Gouvernements Nowgorod, Twer und Pskoff. Nächst Sachsen scheint Norwegen und Nordirland besonders reich an schönen Flußperlen zu sein. Wo die Flußperlenfischerei systematisch betrieben wird, sind die Perlenbäche in Bezirke eingetheilt, welche in längeren Zwischenräumen abgesucht werden. Dabei werden die Muscheln nicht getödtet, sondern mit einem meißelartigen Werkzeug etwas geöffnet und nach Perlen untersucht. Solche, in denen man eine sogenannte unreife Perle findet, werden äußerlich mit einem Zeichen versehen und wieder in das Wasser geworfen. 1832 sagte mir ein Beamter der sächsischen Perlenfischerei, daß man (damals) noch lebende Muscheln mit Zeichen aus dem vorigen Jahrhundert finde. Dies ist meines Wissens der einzige Fall, daß wir eine zuverlässige Kunde über die lange Lebensdauer der Muscheln besitzen. Sonst kann man nur aus der Dicke der Schale hierüber Schlüsse machen.
Meist oder wenigstens sehr oft sind die perlenführenden Flußmuscheln an ihrer etwas unregelmäßigen Gestalt schon äußerlich als solche zu erkennen, obgleich der umgekehrte Fall kein sicheres Zeichen von Abwesenheit einer Perle ist. Die Bezeichnung „unreif“ bezieht sich ohne Zweifel lediglich darauf, daß die Perle im Mantel des Thieres sich nicht in dem Bereiche der Absonderung des reinen Perlenmutterstoffes, sondern in dem des Säulenstoffes und des Oberhautstoffes befindet, und eine solche Perle kann nicht eher reif, d. h. nicht eher schön perlmutterglänzend werden, als bis sie in eine dazu geeignete Lage kommt. Es käme also darauf an, ob es gelänge, daß sie von dem Rande des Mantels, wo jene Stoffe ausgeschieden werden, mehr nach hinten zu gedrückt werden könnte. Es scheint aber gerade bei der Flußperlenmuschel häufiger als bei den Seemuscheln jede beliebige Stelle des Mantels Oberhautstoff ausscheiden zu können, denn man findet selten ein Exemplar, welches nicht inwendig olivengrüne wolkenförmige Flecken zeigte.
Was den Handel betrifft, so beginnt er bei den Meerperlen meist schon an der Meeresküste, unmittelbar nachdem die Muscheln herausgebracht sind; und zwar beginnt er mit einer Art Lotteriespiel, indem die in Haufen getheilten Muscheln noch ungeöffnet verkauft werden. Ein solcher kann lauter Nieten, er kann aber auch einen oder einige große Treffer enthalten. Meist enthält eine Muschel, wenn sie überhaupt perlenhaltig ist, nur eine Perle, es kommen aber auch zuweilen mehrere darin vor, ja man fand einmal 87 gute Perlen in einer Muschel. Meist läßt man auf einer festen, etwas geneigten Stelle des Bodens die Muschelthiere faulen, was bei der großen Sonnenhitze in wenigen Tagen erfolgt. Dann wird der stinkende Brei in Holztrögen mit Wasser ausgewaschen, wobei die Perlen zu Boden sinken, um dann durch gewöhnlich neun verschiedene Siebe in eben so viele Größengrade sortirt werden. Die Schalen der leeren Muscheln sind dann doch wenigstens ein etwas besserer Trost, als das Papier durchgefallener Lotterieloose. Sie sind in neuerer Zeit, weil Perlmutterzierrathen jetzt besonders beliebt sind, sehr im Preise gestiegen. In den Jahren 1848–1856 kamen von den Sulu-Jnseln 827,300 engl. Pfund nach Europa, deren Preis gegen sonst von 8 Dollar auf 28 Dollar für das Pecul (gleich 140 engl. Pfd.) gestiegen war. In den [169] Jahren 1853–1855 war der Durchschnittspreis eines Zollcentners in Hamburg 9 Thlr. 16 Sgr.
Hinsichtlich des Werthes unterscheidet man Lothperlen, Barokperlen, Zahlperlen und die ganz kleinen als Saatperlen oder Perlenstaub. Die Lothperlen werden nicht einzeln, sondern nach dem Gewicht verkauft, und dabei bestimmt wieder die Zahl der Perlen, welche auf ein Loth gehen, den Preis eines Lothes. Die Barokperlen sind große, unregelmäßig gestaltete Perlen mit buckeliger Oberfläche. Sie werden mit Verwendung von Gold- und Edelsteinen zu allerhand Figuren verarbeitet. Im Dresdner Grünen Gewölbe finden sich eine Menge derartiger Kleinodien, unter andern ein Männchen, an dem eine sehr große Barokperle den Leib vom Gürtel bis zu den Knieen bildet, seine weiten Pluderhosen darstellend. Die Zahlperlen sind die größten, welche einzeln verkauft und oft zu außerordentlich hohen Preisen bezahlt werden.
Das Gewicht, welches beim Perlenhandel zum Grunde gelegt wird, ist, wie überhaupt bei dem Juwelenhandel, das Karat = 4 Grän. Ein Loth Hamburger Bankgewicht enthält 71 Karat. Nach der Angabe von Möbius bestimmt man den Preis besonders schöner und großer Perlen folgendermaßen. Man kommt zunächst über den Karatpreis der Perle überein, wobei man eine 1 Karat wiegende kleine Perle von derselben Schönheit der Form, Farbe und des Wassers zum Grunde legt. Diesen Werth multiplicirt man mit dem Quadrat des Gewichtes der zu schätzenden Perle, und multiplicirt das gefundene Product nochmals mit 8. Nehmen wir z. B. den Karatpreis zu 1 Thlr. an und das Gewicht der zu schätzenden Perle zu 5 Karat, so ist der Preis derselben fünf mal fünf 1 Thlr. = 25 Thlr. mal 8 = 200 Thlr. Vollkommen runde Perlen vom reinsten Wasser kosten ungefähr: 2 Grän schwer 11/5–1½ Thlr., 3 Grän schwer 3–3½ Thlr., 1 Karat schwer 4½–5 Thlr., 2 Karat 5–6 Thlr., 3 Karat bis 40 Thlr., 4 Karat bis 50 Thlr. Eine einzelne Perle wird weniger theuer bezahlt, als dieselbe in einer Schnur bezahlt werden würde, weil die Zusammengehörigkeit vieler vollkommen gleicher Perlen natürlich den Werth jeder einzelnen erhöht. In Hamburg wird eine Schnur von 70–80 dreikaratigen (ungefähr erbsengroßen) Perlen mit 4 bis 6000 Thlr. bezahlt, also durchschnittlich 70 Thlr. für eine, während eine einzelne davon nicht viel mehr als halb so viel Werth sein würde. Hier ist also der Partiepreis höher als der Stückpreis, während es sonst gewöhnlich umgekehrt ist. Gehen von Lothperlen 2–300 auf ein Loth (zu 71 Karat), so ist sein Preis 100 Thlr., wenn 6–700, nur 50 Thlr.
Die Perleneinfuhr nach Europa ist beträchtlich, obgleich wahrscheinlich eine noch größere Menge in Asien verkauft wird. Von 1837–1855 war die geringste Ziffer der jährlichen Einfuhr in Frankreich 310,400 Franken, die größte dagegen 2,433,000 Fr. In Englind wurden 1853, 1854 und 1855 für 132,212 Pfund Sterling Perlen eingeführt. Paris ist jetzt der hauptsächliche Perlenmarkt Europa’s; für Deutschland ist es Leipzig. Natürlich verschwindet dagegen der Ertrag der Flußperlenfischerei. In Sachsen war der durchschnittliche Jahresertrag von 1730–1804 135 Thlr. (152 Perlen), von 1805–1825 102 Thlr. (122 Stück Perlen) und 1826–1836 81 Thlr. (142 Perlen), also fortwährend im Abnehmen, zuletzt auch der Perlengüte nach. Gleichwohl geben die Flußperlen den Meerperlen an Schönheit zuweilen kaum etwas nach, wenn sie letztere auch nicht an Größe erreichen. Im Grünen Gewölbe zu Dresden befinden sich einige Schnuren von Elsterperlen, welche den daneben liegenden orientalischen wenig nachstehen. Die Herzogin von Sachsen-Zeitz besaß einen vaterländischen Perlenschmuck, welcher einen Werth von 40,000 Thlrn. hatte. Doch verschwinden diese Werthe gegen die Perlenwunder des Meeres. Die größte Perle, welche Tavernier auf seinen vierzigjährigen Reisen durch die Türkei, Persien und Indien bei dem König von Persien fand, war 35 Millimeter lang und 27 Millim. breit, also etwa eirund und kostete 128,000 Thlr. Auf der Londoner Ausstellung 1851 war eine allerdings etwas buckelige Riesenperle von 2 engl. Zoll Länge ausgestellt.
Wir lernten, daß an die krankhafte Verwendung eines Ueberrestes von jenem Baustoff, mit welchem ein auf der Stufenleiter des Systems sehr tief stehendes Thier sein Gehäuse baut, sich eine lange Folge von menschlichen Mühen und Sorgen, Wünschen und Leidenschaften reiht. Vielleicht mußten Tausende von armen Tauchern ihr Leben auf das Spiel setzen, um in Form von kleinen Perlen auf den üppigen Leib eines Nabob ein Capital zu häufen, mit dessen Zinsen hundert Arme den Kummer von ihrem Lager verscheuchen könnten.
2. Eine aristokratische Republikanerin.
Wie selten kommt im menschlichen Leben die Erscheinung starker Charaktere vor, die allen Wechsel der Schicksale mit Ruhe und Seelengröße ertragen! Die politischen Wogen, welche seit 70 Jahren Frankreich von Zeit zu Zeit überfluthen und manche Höhe erniedrigt haben, mußten nothwendiger Weise auch solche Charaktere hervorbringen. Ohne weitere Theorie will ich lieber gleich ein Beispiel anführen, die Geschichte einer Frau erzählen.
Im Jahre 1850 lernte ich in einem ärmlichen vierten Stocke der Rue Miromenil die siebzigjähre, blinde Madame de Montercy kennen. Wer es nicht weiß, dem will ich es sagen, daß der Name Montercy zu den ältesten und aristokratischsten Namen gehört, daß man erwarten darf, einen Träger dieses Namens in einem prächtigen Hotel des Faubourg St. Germain zu finden, daß man billig erstaunen kann, wenn man ihm in einer ärmlichen Wohnung der Faubourg St. Honoré begegnet. – Die Schicksale, die Madame de Montercy blind, arm, vergessen in die vergessene Mansarde getragen, sind romanhafter Natur, nein, besser gesagt, historischer Natur; und wie ihr Gespräch eine große Geschichtslection, so war ihr ganzes Leben eine Chronik der letzten 70 Jahre.
Madame de Montercy, geborne Mademoiselle de Montercy, war die Tochter des Capitains der Garden im Versailler Schlosse. Diesen hohen Grad nahmen nur Edelleute aus alten Geschlechtern ein. Ihre erste Jugend verbrachte Mademoiselle, nach der Sitte der Zeit, im Kloster der Karmeliterinnen zu Paris; die Klosterdamen des 18. Jahrhunderts gaben den ihnen anvertrauten adeligen Fräulein eine freisinnigere Erziehung, als man heute in manchen bürgerlichen Familien gibt. Der Geist der Aufklärung, der freisinnige Geist des 18. Jahrhunderts, der Geist der Encyklopädisten, mit dem selbst die Könige spielten, den Souveräne, wie Joseph II., selbst au sérieux nahmen, drang durch die Klostermauern und die Klöster selbst lieferten Vertheidiger und Jünger der Aufklärung. In diesem Geiste wurde Mademoiselle de Montercy erzogen. Sie verließ oft das Kloster, um ihre Eltern in Versailles zu besuchen. Dort wurde sie mit der Princesse Lamballe bekannt und endlich, trotz des Altersunterschiedes, intim befreundet. Als die Revolution ausbrach, glaubten die Eltern klug zu handeln, wenn sie ihre Tochter im Kloster, in diesem Hafen der Ruhe, ließen. Aber die Septembertage mit ihren Schrecken klopften auch an die Klosterpforte. Die Nonnen mit ihren Zöglingen flüchteten durch eine Hinterpforte, während die Septembriseurs das Hauptthor stürmten. Aber wohin flüchten? Die Frauen wußten nicht recht, was in der Welt vorging und daß der Krieg allen Klöstern galt; sie flüchteten daher in’s Kloster der Karmeliter, der Mönche, unter deren unmittelbarem Oberbefehl sie standen. Dort angekommen, fanden sie die Mönche, wie sie sich zum Tode bereiteten.
In der That stürmten die Septembriseurs herein und die Frauen und Mädchen hatten das gräuliche Schauspiel anzusehen, wie die Mönche vor ihren Augen massacrirt wurden. Aber da die Septembriseurs es in diesem Kloster nur auf die Mönche abgesehen hatten, konnten sich die Frauen im Getümmel retten. Sie flohen hinaus in das Gedränge der revolutionirten Straße. Sehe jede, wie und wohin sie sich rette! Im Augenblicke sind sie getrennt. Allein und verlassen eilt Mademoiselle de Montercy durch die blutbefleckten Straßen, über Leichname, durch das Gedränge eines wüthenden Volkes, einer flüchtigen, entsetzten Menge. So kommt sie auf den Pont-neuf – und da wird ihr ein Schauspiel, dessen Erinnerung aus ihrem Gedächtnisse sich nie verwischen, das sie noch in ihrer letzten Stunde, mit ihrem letzten Hauche beklagen wird. Sie sieht den schönen Kopf der Prinzessin von Lamballe auf der Pike ihres Mörders; sie sieht den schönen, blassen Kopf, der im Triumph dahingetragen wird. Mademoiselle de Montercy fällt in Ohnmacht, und es ist ein Wunder, daß sie auf dem [170] Pont-neuf nicht zertreten worden ist. Erst in später Nacht erwacht sie und schleicht sich weiter, und es gelingt ihr, erst zu entfernten Anverwandten, dann zu ihren Eltern zu gelangen, die sie schon als todt beklagt hatten. – Die Revolution geht ihren gewaltigen, schicksalvollen Gang unaufhaltsam immer weiter bis zu ihrem gewaltigsten, blutigsten Ausdrucke. Die Schreckenstage sind da. Der König und die Königin sind gefangen. Die Prinzen und Aristokraten wandern aus. Monsieur de Montercy will sein Vaterland nicht verlassen, aber als ein alter Aristokrat und als Capitain der Garden ist er mit seiner ganzen Familie verdächtig und wandert mit seiner Frau, seinen zwei Söhnen und seiner Tochter in die Conciergerie.
Als die Familie verhaftet wurde, war die Mutter eben in ein leichtes, weißes Mousselinkleid gekleidet. Während der Haft und des Processes, nur um sich zu beschäftigen, stickt sie Veilchen in die weiße Mousseline, und da sie endlich an der Seite ihres Gatten auf die Guillotine wandert, ist sie ganz von blauen Veilchen bedeckt. Sie hat das Beispiel gegeben und alle in der Conciergerie verhafteten Damen fangen zu sticken an und sticken Blumen in ihre Kleider, um so geschmückt auf das Schaffot zu gehen. „Nicht viele,“ sagt mir die blinde Frau, „haben ihre Arbeit so weit beendigt, wie meine Mutter.“
Dem Vater und der Mutter folgen die beiden Brüder. Mademoiselle ist nun allein in der Welt, und in welcher Welt! Sie weint Tag und Nacht. Wenn sie auch von der Guillotine gerettet ward, dieses lange und tiefschmerzliche Weinen, diese bitteren Thränen legen den Grund zu einer Krankheit, die sie dereinst in ewige Nacht tauchen wird. –
Jeden Morgen tritt ein Commissair in’s Gefängniß und liest eine Liste von Namen ab; es sind die Namen der fournée, der Lieferung, die heute der Guillotine in den unersättlichen Rachen geworfen wird. Nach dem Tode der Eltern und Brüder hört Mademoiselle de Montercy der Ablesung der Liste mit Ruhe zu: es ist ihr gleichgültig, ob auch ihr Name gelesen werde. Das sechzehnjährige Geschöpf ist des Lebens müde. Aber Tag um Tag vergeht; ihr Name wird nicht verlesen, und nach und nach stellt sich die Lust zum Leben wieder ein, und sie beginnt zu zittern, wenn der Commissair die Namen verliest.
Aber die Reihen in ihrem Gefängniß werden immer lichter; endlich muß die Reihe an sie kommen; schon längst stand sie vor Fouquier-Tinville, dem schauerlichen Höllenrichter, schon längst ist das Todesurtheil über sie gesprochen. Jede Nacht betrachtet sie als die letzte und zittert der Dämmerung entgegen, die sie auf dem verhängnißvollen Karren sehen soll. In der Todesangst weicht der wohlthätige Schlummer, der ihrer Jugend in allen Leiden bisher treu geblieben, von ihr. Drei und vier Nächte sind vorübergegangen und sie hat kein Auge geschlossen. Endlich in der fünften Nacht ist die Natur stärker, als die Todesangst, und sie sinkt in einen Starrschlaf, der einer tiefen Ohnmacht ähnlich ist.
Endlich weckt sie ein Geräusch. Sie sieht sich um: das Gefängniß ist leer. Diesen Morgen hat man es gereinigt, d. i. man hat den ganzen Rest auf die Guillotine gebracht, ohne Ceremonie, ohne Namensverlesung. In ihrem Starrschlafe ist sie durch den ganzen Vorgang nicht geweckt worden und in der Dämmerung hatte man sie nicht bemerkt, da sie in einem dunkeln Winkel des Gefängnisses, hinter Stroh versteckt, geschlafen hat. – Das Geräusch, das sie jetzt geweckt, kommt vom Gefängnißwärter, der hereinkam, um das Gefängniß zur Aufnahme neuer Gefangener vorzubereiten. Er ist entsetzt, wie er das schlaftrunkene Mädchen erblickt, das sich dort in dem Winkel die Augen reibt und sich zu besinnen sucht. – „Sie sind noch hier?“ ruft der Gefängnißwärter.– „Was ist vorgegangen?“ fragt die Angeredete. – Ohne zu antworten, tritt der Mann rasch entschlossen an sie heran, faßt sie um den Leib, trägt sie aus dem Gefängniß und hinaus aus der Conciergerie und setzt sie vor die Thür, auf den Boden. „Retten Sie sich!“ raunt er ihr dringend zu und Frl. de Montercy flieht in das Labyrinth der Straßen und ist frei und vom Tode gerettet, ehe sie sich besinnen kann.
Entfernte Anverwandte nehmen sie auf. Aber sie ist arm; sie besitzt nichts mehr auf dieser weiten Erde; das ganze Vermögen der Familie ist zu Grunde gegangen. Ein Todesurtheil schwebt immer noch über ihrem sechzehnjährigen Haupte. Um sie zu retten und zu versorgen, verheirathet man sie, ohne sie weiter zu fragen, mit einem Cousin, Herrn v. Montercy, der sich der Republik angeschlossen und als ihr Beamter eines der neuen Departements verwaltet. Das Departement liegt an der Grenze der Vendée, wo der große legitimistische Krieg, ein Bürgerkrieg in seiner scheußlichsten Gestalt, wüthet. Jeden Augenblick kommen versprengte Vendéer herüber; von Montercy’s Pflicht ist es, auf sie zu fahnden und sie den Gerichten der Republik zu überliefern. Aber sein altadeliges Herz ist in ihrem Lager – und doch darf er sich nicht compromittiren, darf seine Neigungen nicht verrathen. Er begnügt sich damit, auf die Vendéer lässig zu fahnden, und überläßt es seiner Frau, sie werkthätig zu retten. Man kann sich Niemand anvertrauen, man muß Alles selbst besorgen, und Madame de Montercy versteckt die flüchtigen Vendéer in ihrem eigenen Hause, in der Präfectur selbst. Sie trägt ihnen in der Nacht das Essen zu, das sie sich selbst vom Munde abspart, um den Verdacht der Diener nicht zu wecken, wenn sie mehr Speisen als gewöhnlich bereiten ließe. Sie schafft Verkleidungen herbei und wenn Gefahr droht, steigt sie selbst zu Pferde und geleitet die Verfolgten in der Nacht durch die Wälder, die sich damals zwischen Tours und Blois ausdehnten und die sie eigens durchforscht hat, um alle ihre Verstecke und Seitenpfade kennen zu lernen.
Einmal entdeckt man einen Verborgenen in ihrem Hause; um ihn zu retten, läßt sie ihn für ihren Liebhaber gelten und sich vor der Welt von ihrem Manne mißhandeln. Ihre nächtlichen Ausflüge werden auch bemerkt; sie kommt in den Ruf eines verworfenen Weibes und ihr Mann jagt sie fort, nachdem er heimlich unter Thränen Abschied genommen von der heldenmüthigen Frau. Sie geht ruhig nach Paris zurück, denn der Krieg ist beendet und Niemand mehr zu retten. Ihr Gemahl gibt sein Amt auf und folgt ihr. Er stirbt und hinterläßt eine hülflose Wittwe mit einer Tochter.
Während Frankreichs Glorie die Welt erfüllt, lebt eines seiner heldenmüthigsten Kinder, Madame de Montercy mit ihrem Kinde lange, lange Jahre hindurch in der bittersten Noth. Die Tochter des alten Hauses arbeitet für die Damen des neuen Adels, um ihr Kind zu ernähren. Eines Tages begegnet sie im Palais Royal einem jener Flüchtigen, die sie gerettet. Tage lang hatte sie ihn in ihrem Hause versteckt und mit aller List und allem Muthe des Weibes die Verfolger von seiner Spur abgelenkt; sie hatte ihn mit ihrem Brode gespeist und ihren letzten Pfennig ausgegeben, um ihm eine Verkleidung zu verschaffen; endlich hatte sie ihn in wilder Nacht durch den Wald geleitet, bis er in Sicherheit war. Es war eine jener nächtlichen Promenaden, die sie um ihren guten Ruf gebracht. Jetzt war dieser Mann in Aemtern und Würden, denn er war in das kaiserliche Lager übergegangen. Dies wußte Madame de Montercy nicht, aber man sah es seinem ganzen Wesen an, daß es ihm wohl ging. Vielleicht konnte er nun helfen in ihrer Noth, ihr wenigstens Arbeit verschaffen, sie als Arbeiterin empfehlen. So redet sie ihn denn an. Aber der Mann ist in großer Verlegenheit und versichert endlich, sie nicht zu kennen und daß sie sich gewiß irre. – Madame de Montercy hat sich nicht geirrt; aber der Mann war nun kaiserlicher Beamter und wollte an seine legitimistische Vergangenheit nicht erinnert sein. Das konnte ihm möglicherweise schaden. – Madame de Montercy lächelte und entschuldigte sich für ihren Irrthum und lächelnd hat sie mir die Geschichte erzählt.
Napoleon fällt; Ludwig XVIII. besteigt den Thron Frankreichs. Madame de Montercy verläßt ihre Mansarde und geht nach Versailles und in das Schloß. Die Wachen wollen die arme Frau im alten abgetragenen Kleide nicht vorlassen: der Nachfolger ihres Vaters selbst, der Capitain der Garden, weist sie zurück. Die arme Frau befiehlt ihm im Tone der Majestät: „Sagen Sie dem König, Mademoiselle Montercy wünsche ihn zu sprechen, wolle ihn sprechen.“
Der Officier gehorcht unwillkürlich. Was darauf folgt, versetzt sämmtliche Vorsäle und alle anwesenden Hofleute in Erstaunen. Der König hat sie nicht vorgelassen! Nein! Er ist selbst herausgekommen bis in den Saal der Garden und hat sich vor Mademoiselle de Montercy tief geneigt; dann hat er ihr den Arm geboten und sie in sein Cabinet geführt, als führte er eine Königin.
Ludwig XVIII. hat für Madame de Montercy gethan, was sie von ihm verlangte; er hat ihr eine kleine Pension ausgesetzt, von der sie und ihr Kind bescheiden, beinahe nothdürftig leben konnten. Er hatte ihr eine Stelle am Hofe angeboten; sie nahm sie nicht an, denn sie fühlte sich nicht zu einer Hofdame geboren, und ihre Grundsätze vertrugen sich nicht mit den Grundsätzen, die am Hofe Ludwigs XVIII. gepredigt wurden. Auch an der Entschädigung, die zum Nachtheile des Landes den Emigranten und denen, die in der Revolution ihre Güter verloren, geboten wurde, wollte sie keinen Antheil haben. Ihr genügte der kleine Jahresgehalt. Diesen hat Ludwig Philipp und später auch die Revolution von 1848 bestätigt.
Wird sie endlich in diesem kümmerlichen Hafen Ruhe finden, die vielgeprüfte edle Dulderin? – Nein! Ihre Thränen, die sie geweint, [171] als sie den schönen Kopf der Prinzessin von Lamballe auf der Pike, als sie Vater, Mutter, Brüder auf’s Schaffot gehen sah, waren bittere Thränen, sie haben in ihren Augen ein Gift zurückgelassen, das sie früher oder später tödten muß. Und diese kranken Augen, die sich im Weinen geübt, haben in der Zeit der Noth Tage und Nächte lang, Jahre lang angestrengt auf der Hände Arbeit gesehen; sie müssen erliegen. Frau von Montercy steht noch in der Blüthe ihrer Jahre, als sich die ewige Nacht verhüllend, undurchdringlich, unzerreißbar und unbarmherzig auf sie herabsenkt. Sie erwacht eines Morgens und glaubt, es sei noch Nacht – es war Tag für alle Welt; für sie allein blieb die Nacht zurück; sie war auf beiden Augen erblindet.
So habe ich sie kennen gelernt. Da saß sie, wie das Bild der Sage. Ihr Auge war geschlossen für alle Dinge, die sie umgaben; aber ihr geistiger Blick war rückwärts gekehrt in die Vergangenheit, wie der Blick des „rückwärts gekehrten Propheten“, des Historikers. Stunden lang saß ich bei ihr, und sie erzählte und ich wurde nicht müde, ihr zuzuhören. Ihr Geist war bis in das späte Alter frisch geblieben, und die Vergangenheit wurde immer lebendiger in ihr, je mehr sie sich ihrem Ende näherte. Alles erlebte Leid konnte eine gewisse Heiterkeit, alles Drangsal eine hohe Klarheit ihres Geistes nicht verdunkeln. Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts hatte sie gebildet und hatte sich im Laufe der langen Jahre, der langen Erfahrungen und mit den Fortschritten der Zeit selber größer und breiter in ihr ausgebildet. So kam es, daß diese Frau, die durch die Excesse einer Revolution so Unsägliches gelitten, doch den Segen der Freiheit zu würdigen verstand, und so habe ich noch das Wunderbarste aus dem Leben und Charakter dieser merkwürdigen Frau zu berichten: Sie war bis an den letzten Hauch eine Republikanerin! Ihre Aufopferung für die Vendéer wird dadurch nur noch erhabener; sie übte sie nicht, wie jene berühmten royalistischen Frauen der Chouans, aus Parteileidenschaft und politischer Ueberzeugung, sondern aus reinster liebevollster Menschlichkeit. Es waren die humanistischen, philanthropischen Grundsätze des achtzehnten Jahrhunderts, die sich in ihr zu solcher Menschlichkeit verklärten.
So ist es auch natürlich, daß sie die Ansichten und Vorurtheile ihrer Standesgenossen im Faubourg St. Germain nicht theilte. Die Welt, welche die große französische Revolution begraben, hielt sie für todt, und sie hoffte und wünschte ihre Auferstehung nicht. Niemand war beredter, als diese Tochter uralter Geschlechter, wenn sie die düstern Seiten der alten Zeit, die lichten der Gegenwart schilderte; wenn sie die Zukunft ausmalte, die sich noch immer aus den Grundsätzen von 1789 entwickeln könne. Von den blutigen Episoden der Revolution sprach sie mit derselben Einsicht, wie der Königsberger Philosoph, als von traurigen unglückseligen Einzelnheiten, die in der großen Weltgeschichte, im Angesicht der großen Triumphe der Gesellschaft, nichts zu bedeuten haben. War sie darum eine Verrätherin? Mußte sie darum ihre Freunde vergessen?
Sie starb am 13. Januar 1853, und ihre letzten Worte waren: „La pauvre princesse! la pauvre princesse!“ Die menschliche Klage über das traurige Schicksal der schönen Prinzessin Lamballe war der letzte Laut, der über die Lippen der edlen Dulderin, der guten und weisen Madame de Montercy ging. Ein solches Ende war ihrer würdig. Wir begruben sie an einem kalten Wintertage; ein kleines Häuflein meiner Freunde folgte ihrem Sarge, der auf dem Montmartre liegt. Kein Monument, kein Wappen schmückt die Grabstätte dieser letzten Tochter eines altberühmten Hauses.
Es war im Herbste des Jahres 1848, als ich die sächsische Schweiz und mit ihr auch den Königstein, jene interessante, 1400 Fuß hohe, im In- und Auslande allbekannte Felsenveste, besuchte. Mein Führer nannte mir die Unglücklichen, die hier gefangen gesessen, zum Theil auch ihr Leben verloren hatten, und eben standen wir an jener Stelle, wo der berüchtigte Alchymist Klettenberg die Schuld, einen Fürsten betrogen zu haben, mit dem Leben bezahlen mußte. – In tiefes Sinnen verloren, folgte ich meinem Begleiter. Jene Zeit, in der sich Aberglauben und Dummheit mit frecher Sittenlosigkeit paarte, stand lebhaft vor meiner Seele. Welche Finsterniß mag in den Köpfen geherrscht haben, als dieser freche Charlatan seinen König um einige Millionen Thaler ärmer machte! Welchen Dank verdienen nicht besonders die Männer, welche die Natur dem Volke verständlich zu –
„Und hier ist auch der Ort, wo im März dieses Jahres der Schornsteinfeger in die Festung eingestiegen ist.“
Mit diesen Worten weckte mich der Führer aus meinen Träumen auf. – Ich trat an die Brustwehr und schaute in die mehrere hundert Fuß messende Tiefe hinab.
„Wie ist das aber möglich? Wie kann ein Mensch an diesem steilen Felsen heraufklettern?“
„Ja, uns ist’s auch ganz unglaublich vorgekommen, und doch ist’s an dem. Sehen Sie, da in jener Felsspalte ist er heraufgestiegen, dort auf dem Vorsprunge außerhalb der Brustwehr hat er ausgeruht und dann ist er vollends hereingesprungen. Alles am hellen lichten Tage.“
Wieder sah ich in die Tiefe. Es durchrieselte mich eiskalt. – Die steile Felswand ist an dieser Stelle, es ist die dem Städtchen Königstein und der Elbe zugewendete Ostseite, gegen 400 Fuß hoch; mehrere Kirchthürme aufeinander gesetzt würden nicht heraufragen, und da ist ein Mensch herangekommen! –
Zehn Jahre später fuhr ich, von Prag kommend, mit dem Dampfschiffe der sächsischen Hauptstadt zu. Wieder sah ich den Königstein und gedachte seiner seltsamen Ersteigung. Ich trat an die Brüstung des Dampfbootes und maß mit den Augen die Höhe des Felsens. Fast wollte mir’s vorkommen, als habe ich ein Märchen erzählen hören. Neben mir stand ein junger Mann und schaute ebenfalls zur Festung hinauf. Zu ihm wandte ich mich:
„Halten Sie es für möglich, jenen Felsen zu ersteigen, ohne auf dem gewöhnlichen Wege hinaufzugelangen?“
„Warum nicht? Vor zehn Jahren habe ich den Versuch selbst gewagt.“
Erstaunt sah ich meinen Nachbar an. Seine Gestalt war klein, aber kräftig; er mochte etwa dreißig Jahre alt sein. Ich glaubte, er habe mich nicht recht verstanden, und erklärte ihm, daß ich den Königstein meine.
„Ganz recht, gerade von hier aus kann ich Ihnen die Spalte zeigen, in der ich hinaufgeklettert bin.“
„Sie sind also der Schornsteinfeger, der –“
„Ja wohl, der bin ich, und wenn Sie mich anhören wollen, so erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte.“
Mit großem Danke nahm ich dies freundliche Entgegenkommen an. Wir rückten unsere Sessel zusammen, brannten frische Cigarren an und mein Nachbar begann:
„Ueber meine erste Lehrlings- und Gesellenzeit brauche ich Ihnen wohl nicht viel erzählen. Die Schornsteinfegerjungen sind alle wilde und verwegene Buben, ich aber war einer der wildesten und übertraf sie alle an tollkühnen Stückchen. Meine Meister konnten mich wohl gebrauchen, aber meine tollen Streiche gefielen ihnen weniger, und so war ich denn viel auf der Wanderschaft. So war’s denn auch im Jahre 1848. Die Eltern waren mir inzwischen gestorben; wollte ich nicht hungern, so mußte ich Arbeit suchen. Eben wurde die sächsisch-böhmische Eisenbahn gebaut, da wollte ich mit helfen und bekam auch hier im Städtchen Königstein Arbeit zugesichert. Gänzlich ohne Geld war ich Sonnabends angekommen, und erst künftigen Montag sollte das Verdienen beginnen. Wovon einstweilen leben? Mit vieler Mühe gelang es mir endlich, im Gasthofe ein Unterkommen zu finden und gegen Abgabe meines Passes etwas Essen zu erhalten. Mit schwerem Herzen schlief ich auf meiner Streu ein.
„Bei meinem Erwachen fand ich mich von meinen Schlafgenosscn verlassen. Es war ziemlich spät; die Glocken läuteten bereits in die Kirche. Ich hatte nichts zu versäumen und überlegte, wie ich den Sonntag verbringen wollte. In die Gaststube wagte ich mich nicht, weil ich nicht bezahlen konnte – leise schlich ich mich in das Freie, um mir die Gegend genauer anzusehen. Vor mir lag die Festung und erregte meine vollste Aufmerksamkeit. Ich stieg darauf los und fragte die mir begegnenden Leute, ob man in die Festung dürfe. Wer Bekannte oben habe, hieß es, oder 1 Thlr. 10 Ngr. zahle, der könne hinein. – Mir fehlte das Eine, wie das Andere; ich begnügte mich deshalb mit der äußeren Ansicht [172] und sprang, ich war damals achtzehn Jahre alt, ohne mich um den Weg zu kümmern, den untern Berg hinauf. Bald stand ich auf dem sogenannten Patrouillenwege, am Fuße des hohen Sandsteinfelsens, auf dem die Festung erbaut ist. Wie Sie von hier aus sehen können, ist’s die Ostseite und zugleich die steilste Felsenpartie.
„Ich blickte an der Felswand hinauf und gedachte eines Gesprächs, das einst während meiner Lehrzeit zwischen Meister und Gesellen geführt wurde. Sie redeten vom Königstein und der Gesell behauptete, es sei möglich, in die Festung zu kommen, ohne auf dem gewöhnlichen Wege durch’s Thor zu gehen. Mein alter Meister schüttelte den Kopf; es kam ihm unglaublich vor. Ich hörte still zu. – Jetzt stand ich vor der Felsenwand und sah darin die Risse und Spalten, von denen damals der Gesell gesprochen hatte. – Wie der Blitz fuhr mir der Gedanke durch die Seele, gleich auf der Stelle hinaufzusteigen. Das konnte ein Mittel werden, alle meine Verlegenheiten zu beseitigen. – Ich komme glücklich hinauf; man lacht, wundert sich darüber, gibt mir zu essen, vielleicht belohnt man mich sogar für mein Wagniß mit Geld. Und wenn mir das Glück recht günstig, so treffe ich dort oben meinen Bruder, der Soldat war.
„Ich rüste mich zum Aufsteigen. Genau besehe ich die Felsenrisse; nur einer führt bis hinauf; er ist oben mit der Brustwehr überwölbt – einmal dort, werde ich mich leicht über die niedrig scheinende Mauer hinwegschwingen können. Die Stiefeln würden mich beim Steigen hindern; ich entledige mich ihrer, binde sie zusammen und hänge sie um den Hals, so daß sie an der Brust liegen. Meinen Stock, den ich mir kurz zuvor im Walde abgeschnitten, lehne ich neben den Felsenriß und klettere nun in demselben wie in einem Schornsteine hinauf.
„Ich weiß nicht, lieber Herr, ob Sie einmal einen Schornsteinfeger haben steigen sehen? Wir gebrauchen dabei besonders die Kniee, stemmen sie gegen die Vorderwand, mit dem Rücken lehnen wir uns fest an die Hinterwand und schieben uns so die Esse hinauf. Die Hände gebrauchen wir dabei weniger, die haben mit dem Besen zu thun. Auf diese Weise stieg ich im Risse in die Höhe. Er mochte im Durchschnitt etwa 1½ Elle breit sein, wurde manchmal schmäler, erweiterte sich aber auch zuweilen bis zu zwei Ellen. Vor und hinter mir hatte ich Felsen, linker Hand das Elbufer und rechts den immer enger werdenden, sich im Felsen verlaufenden Riß. So viel als möglich suchte ich an der Außenseite des Felsensprunges zu klettern, da er nach innen zu naß und schlüpfrig wurde.
„Die Kräfte waren noch frisch; ich stieg im Anfange rasch vorwärts und war schon ein hübsches Stück in die Höhe, als es im Städtchen zehn Uhr schlug. Hier und da wuchsen auf meinem Wege kleine Gebüsche, besonders Stachelbeersträucher. Beim geringsten Versuche, mich daran festzuhalten, gaben sie nach und stürzten in die Tiefe hinab; sie waren im Felsen zu locker eingewurzelt. Immer höher stieg ich; aber auch immer öfter mußte ich innehalten, um neue Kraft zu gewinnen. So bin ich etwa die Hälfte hinauf, – da stoße ich auf einen Sandsteinblock, der im Risse klemmt. Wahrscheinlich war er beim Baue der Brustwehr heruntergefallen und hier hängen geblieben. Ich versuche, ob er fest liegt, trete darauf, setze mich, er wankt nicht. Neuer Muth durchströmt meine Adern; ich kann ausruhen.
„Da sitze ich nun, mit dem Rücken dem Felsen zugekehrt, und freue mich der schönen Aussicht. Tief unten liegt das Städtchen; die Elbe blitzt im Sonnenscheine und gleich Nußschalen schwimmen die Schiffe auf ihr hin. Mir gegenüber erhebt sich der Lilienstein. Aber wir haben die Gegend vor uns, was brauche ich sie Ihnen weiter zu schildern? Ich steige in meiner Spalte weiter. Plötzlich prasselt unter mir etwas den Riß hinunter; mir ist’s, als ob der Felsen wanke – erschreckt halte ich inne. Mein Ruhestein, jedenfalls durch meine Körperschwere gelockert, ist hinuntergestürzt. Einige Minuten früher, und ich lag mit ihm dort am Felsen zerschellt. Ich schaue hinab in die gähnende Tiefe; ein kalter Schauer überläuft mich. – Glauben Sie aber nicht, lieber Herr, daß ich deshalb ängstlich wurde. Schornsteinfeger sind solche Dinge gewohnt und ich kenne überhaupt Furcht nur dem Namen nach.
„Gewaltsam raffe ich mich zusammen und klettere wsiter. Wieder erschwert mir im Spalt wachsendes Gestrüpp meinen Weg. – Vorwärts! – Der Felsenriß wird enger, kaum kann ich mich hindurchwinden; er erweitert sich, ich kann ihn kaum mehr ausspannen. Die Zeit beginnt mir entsetzlich lang zu werden. Mir ist’s, als ob ich schon Tage lang in dieser Spalte, stecke. Wenn mich jetzt Schwindel erfaßt! – Wenn ich ausgleite, rettungslos bin ich verloren! Ich schaue empor, ob ich bald am Ziele. Der Riß windet und krümmt sich, ich kann das Ende nicht erblicken.[2] Ein fieberhaftes Drängen ergreift mich. Höher, höher! – Der Spalt wird weiter und weiter, jetzt kann ich ihn nicht mehr ausspannen, und somit auch nicht weiter klettern. Ueber mir wölbt sich die Brustwehr, sie ragt über den Felsen hervor. Von unten so unbedeutend aussehend, stellt sie sich mir entsetzlich groß, ein unüberwindliches Hinderniß entgegen. Kalter Schweiß rinnt mir über die Stirn. Ich kann nicht weiter. Ich bin verloren und aus der Tiefe schaut der Tod zu mir herauf. Jeder Nerv spannt sich. An die Außenseite des Risses kletternd, beuge ich mich so weit als möglich hervor und spähe umher, ob Rettung möglich. Dort, etwa zwei Ellen von mir, ist ein Felsenvorsprung. Wenn ich ihn erreichen könnte! Ein Vöglein fliegt zwitschernd vorüber und läßt sich auf ihm nieder. Der Vorsprung verläuft sich nach dem Risse zu, so daß er vielleicht eine halbe Elle davon als handbreit vorstehende Felsenkante erscheint. – Könnte das meine Rettungsbrücke werden?
„Ich hatte mich wieder gefaßt. Langsam griff ich hinüber; gleich eisernen Klammern gruben sich meine Finger in die Felsenkante. Jetzt fühlte ich, daß die Hände fest ruhten, und zog nun allmählich den Körper nach. So hing ich an der steilen, gegen 400 Fuß hohen Felsenwand da, mich nur auf die Kraft meiner Finger verlassend. Wider Willen zwang es mich, in die Tiefe zu schauen; ich konnte sie nicht mit dem Auge ausmessen. In diesem Augenblicke der höchsten Gefahr war ich am besonnensten; ich wußte, daß ich das Letzte wagte. Eine Hand der andern nachgreifend, so mit gebogenen Armen weiter klimmend, gelang es mir, mein Ziel zu erreichen. Ich hob mich empor, legte mich mit dem Oberkörper auf den Vorsprung und war gerettet.
„Es währte ziemliche Zeit, ehe ich mich so weit erholt hatte, daß ich an die Vollendung meiner Reise denken konnte. Ich besah mir meinen derzeitigen Aufenthalt. Der Vorsprung ist etwa vier Quadratellen groß. Vor mir erhob sich die fünf Ellen hohe glatte Brustwehr. Sie ist aus großen, in Kalk eingesetzten Sandsteinquadern erbaut; Wind und Wetter haben im Laufe der Jahre den Kalk zwischen den Steinen mehrere Zoll tief ausgewittert. Ich hänge meine Stiefeln wieder um, aber jetzt so, daß sie auf den Rücken zu liegen kommen, greife mit den Fingern in die Steinfugen, setze die Zehen darin ein und steige so an der Mauer in die Höhe. Die obersten Steine sind glatt und schräg gearbeitet und stehen wenigstens eine halbe Elle gleich einem Dache vor. Zwischen diese schräg liegenden Steine, die zum Glück nicht so breit sind, kann ich mit der ganzen Hand hineingreifen. Ich versuche erst, durch eine Schießluke einzusteigen, doch die sind zu glatt ausgearbeitet; ich muß daher über eine Erhöhung zwischen zwei Luken klettern. Mit der rechten Hand mich in einer Fuge festhaltend, gebe ich der linken einen Schwung und suche die innere oberste Mauerkante zu ergreifen. Es gelingt. Ich fasse fest an, ziehe die rechte Hand nach, erhebe den Körper und – schaue in’s Innere der Festung. Mir gegenüber ist ein Haus, dahinter Wald, rechts und links die Schildwachen, die auf mich zukommen. Ein Augenblick ist hinreichend, mich dies sehen zu lassen. Schnell beuge ich mich mit dem Kopfe nieder, um nicht von den Schildwachen bemerkt zu werden.
„Während ich wie eine Schwalbe an der Mauer klebe, mich nur mit den Händen knapp an der Kante haltend, läuten unter mir in der Stadt die Glocken zu Mittag. Da überkam mich das Zittern. – Lieber Herr, wir Schornsteinfeger wissen, was das zu bedeuten hat. Die Kraft wird plötzlich alle, die Sinne schwinden, Hände und Füße ziehen sich krampfhaft zusammen und – im nächsten Augenblicke stürzt man herunter. Da raffe ich meine letzten Kräfte zusammen. Jetzt oder nie! Ein gewaltiger Schwung, ein gewaltiges Heben, und ich bin in der Festung. In demselben Augenblicke durchzuckt mich ein entsetzlicher Schmerz; ein eiserner Pflock, auf den ich gesprungen, drängt sich zwischen die beiden kleinen Zehen meines rechten Fußes und reißt mir die Hälfte derselben weg. Durch den Blutverlust und die Anstrengung erschöpft,, wanke ich noch einige Schritte und sinke dann halb ohnmächtig auf den Rasen hin.
Nach einiger Zeit bemerkte mich die Schildwache. Mein Anzug, aus einem Soldatenfracke, schwarzen Beinkleidern und einer braunen Plüschmütze bestehend, mochte ihr doch etwas feindlich vorkommen.
[173]
„Wer da?“ rief mich die Schildwache an. – „Sebastian Abratzky aus Mahlis.“ – „Wie sind Sie hierhergekommen?“ – „Dort herauf.“
Dies schien dem Soldaten Spaß zu machen; indeß meine ganze Erscheinung, die verwundeten Füße, die Blutspuren erregten doch sein Bedenken und er erklärte, mich arretiren zu müssen. Das [174] war gegen meine Berechnung, lieber wollte ich wieder über die Brustwehr den Felsen hinabklettern. Natürlich wurde ich daran verhindert und mußte mich in mein Geschick fügen. Eine Schildwache rief der andern die unerhörte Neuigkeit zu. Die Patrouille kam, zufälligerweise auch der Adjutant, und wir marschirten der Hauptwache zu; voran der Officier, dann ich entblößten Fußes und mit den Stiefeln auf dem Rücken, hinter mir die Wache.
„Ich war auf’s Aeußerste ermattet; der Hunger peinigte mich ganz entsetzlich; ich hatte nur den einen Wunsch, recht bald etwas zu essen. Der Officier, der vor mir herschritt und den ich seines Federhutes halber für den Festungscommandanten hielt, konnte vielleicht zur Befriedigung meines heißesten Wunsches beitragen; ich bat ihn deshalb um etwas Essen. Mein Versuch mißglückte aber, ich erhielt nicht einmal Antwort. Wir kamen zur Wache. Die Kunde meines Wagnisses hatte sich bereits verbreitet und neugierig schauten die Soldaten den kecken Schornsteinfeger an. Alles lief zusammen. Bald erschien der Commandant und nach vorläufigem Verhör wurde ich in die sogenannte Mohrenkammer abgeführt, ein Gefängniß, das besser ist, als der Name vermuthen läßt. Meine Bitte um Essen war doch nicht fruchtlos gewesen – ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß ich tüchtig zugelangt habe. Der Nachtisch wurde mir aber bitter verdorben. Meine Thür öffnete sich. Ein Officier trat herein, von einem Corporal und dem Schließer begleitet, ich wurde an Händen und Füßen gefesselt. Vergebens betheuerte ich meine Harmlosigkeit; ich weinte und bat. Es half Alles nichts. Die Thür schloß sich und ich war allein mit meiner Kette und meinen Gedanken. Was sollte das werden? Mir bangte vor der Zukunft. Ich erhob die Hand; die Kette klirrte. Beim genauen Besehen derselben fand ich, daß sich die Schelle mit leichter Mühe abstreifen ließ. Jetzt regte sich mein Stolz. Soll ich einmal Fesseln tragen, so mögen es auch solche sein, die mich drücken. Ich rief den Schließer, der bald eine andere Kette brachte.
„Am andern Morgen trieb mich die Langeweile zur abermaligen Untersuchung meines Fußgeschmeides. Das Schloß war ein sogenanntes deutsches; mit Hülfe eines krummgebogenen Nagels gelang es mir, dasselbe zu öffnen, und ich verkündete den draußen stehenden Soldaten, daß ich mich durch die schwarze Kunst fessellos gemacht habe. Eiligst kam der Wachtmeister mit der dritten Kette gelaufen.
„Inzwischen war das Kriegsgericht zusammengetreten und ich wurde vor dasselbe citirt. Auf Befehl des Auditeurs fielen meine Fesseln. Ein scharfes Examen begann. Ich war sehr ruhig und erzählte den Herren einfach das, was ich Ihnen bereits mitgetheilt habe. Im Anfange wollte man wohl meinen, es sei Gefahr vorhanden; man wollte nicht glauben, daß ich einer so geringen Sache halber das Leben gewagt; indeß stellte sich meine Ungefährlichkeit gar bald heraus. Fessellos wurde ich zurückgeführt. Man behandelte mich freundlich und heilte meine verwundeten Füße.
„Zehn Tage nach meiner Gefangennahme erschien in meiner Zelle eine Patrouille, aus einem Corporal und drei gemeinen Soldaten bestehend; draußen erwartete uns der Commandant, in seinem Gefolge der Adjutant, ein Maurermeister und der Wachtmeister. Ich mußte genau die Stelle meines Einsteigens angeben; dann stiegen wir den Felsen auf dem gewöhnlichen Fahrwege hinunter, und auch hier mußte ich den Felsenriß bezeichnen, in dem ich heraufgeklettert war. Zugleich erbot ich mich, die Reise, noch einmal vorzunehmen, wurde aber bedeutet, daß man an der ersten Probe schon genug habe. Ich wurde darauf in das Gefangniß zurückgebracht. – Andern Tags wurde ich abermals vor’s Kriegsgericht gestellt und mir meine Freiheit mit der Bemerkung verkündet, daß ich mich in meine Heimath zu verfügen habe. Die Untersuchungshaft, die nun bereits zwölf Tage gedauert hatte, sollte ich als Strafe für meine Verwegenheit ansehen. Mitleidige Seelen hatten Reisegeld für mich gesammelt. Der Wachtmeister führte mich zum Thore hinaus, gab mir meinen Paß und – ich war wieder ein freier Mann. – Eine lustige, einträgliche Fahrt war aber die Reise in meine Heimath; wo ich hinkam, da mußte ich mein Abenteuer erzählen und dann sammelte man für mich.
„Und nun zum Schluß muß ich Ihnen noch den Beweis geben, daß ich wirklich jener Schornsteinfeger bin.“ – Mit diesen Worten langte er aus seiner Brieftasche einen Paß hervor. Ich las:
„Der hier vom 19. bis heute wegen unbefugten Einsteigens in Arrest gewesene Johann Friedrich Sebastian Abratzky wird nach beendigter Untersuchung über Dresden und Wilsdruff in seine Heimath nach Mahlis gewiesen.
„Festung Königstein, den 31. März 1848.
Ich schrieb mir das interessante Actenstück ab, gab dann den Paß zurück, der wieder sorgsam in der Brieftasche verwahrt wurde, und nahm Abschied von dem kühnen Kletterer.
„Glückliche Reise, lieber Herr,“ rief er mir zu, als das Dampfboot bei Pillnitz anlegte, und bald war er meinen Blicken entschwunden.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
2. Die Steppe. – (Schluß.)
Wenn im Herbst die Winde schärfer über die Ebene zu pfeifen beginnen, dann fängt auf einmal da und dort die Steppe zu wandern an. In der That erscheint es dem Neuling, als löse sich die Rasendecke des Bodens freiwillig los, rolle sich zusammen und kugele nun in lustigen Sprüngen vor dem Winde her, schneller, als das schnellste Roß zu laufen vermag. Bald schreitet die räthselhafte Bewegung vor in langgestreckten, fast geradlinigen Kämmen, gleichsam in Ordnung gehalten von höherem Willen, bald bricht sie diese Linien und wirbelt im tollsten, ungeberdigsten Tanze umher, daß man glauben möchte, neckische Kobolde trieben da ihr Wesen. Manchmal stauen sich die rollenden Massen an irgend einem unsichtbaren Hinderniß, „auf des Vormanns Rumpf steigt der Hintermann,“ Gewicht hängt sich an Gewicht, Hügel erbauen sich, lustige Säulen und Thürme, wie von Spinnen gewebt, bis endlich das Ganze den Halt oder Schwerpunkt verliert, überkugelt und nunmehr, vom schadenfrohen Wind zerblasen, mit doppelter Eile wieder vor diesem dahinflieht. Die Russen nennen diese Erscheinung Perekatipole, d. i. Wandern des Feldes, und freuen sich ihrer, denn sie bringt ihnen willkommenen Brennstoff. Alle jene kugelnden Gebilde sind nämlich Stauden des Salzkrautes, deren Aeste beim Zusammendörren sich zu einem Ball zusammenwölben, und deren Stengel oberhalb der Wurzel abfault, worauf dann der Wind die merkwürdigen Pflanzenleichen schaarenweise über die Steppe jagt.
Oft scheint eine einzige Pflanzenart sich großer Regionen der Steppe vorzugsweise bemächtigt zu haben; so erblickt man häufig so weit das Auge reicht, völlig ebene dunkelgelbe Flächen, gebildet aus den breiten Dolden einer Gattung Wolfsmilch, welche kein Thier berührt. An besonders günstigen Stellen erheben sich wahre Gebüsche, Buriandickichte, gebildet von stacheligen Disteln und Kletten, die fast in Baumesstärke und Höhe emporwachsen, und ihre bewehrten Aeste malerisch ausbreiten, gleich riesenhaften Armleuchtern. Schlanke, blüthenvolle Königskerzen schießen dazwischen empor wie gelbe Lanzen; große Flockblumen, graue Wermuthbüsche und wuchernde Amaranten verschränken sich zu einem fast undurchdringlichen Urwald im Kleinen. Solch ein Versteck ist das Sommerlager der Wölfin, wohin sie sich behutsam flüchtet, um ihre Jungen zu bergen vor den vielen Feinden, an deren Spitze der Herr Gemahl und Vater steht; hier wohnt der unheimliche Scheltopusik, eine harm- und fußlose Eidechse, deren Größe und Schlangengestalt den Wanderer, der sie im Sonnengenuß aufstört, oft jählings erschreckt, so daß er mit entsetztem Sprunge zurückfährt, denn er hat erzählen hören von fabelhaften Giftschlangen der Wüste; aber mehr noch erschrickt das Thier und wie ein Blitz ist es im Dickicht verschwunden. So leer und öde die Steppe auch dem Hinblick darüber erscheint – wie eine leere Bettlerhand, sagt der Dichter – ein so mannichfaltiges, wimmelndes Leben birgt sie doch in ihrem Schooße. Lange Heerzüge von Ameisen durchkreuzen nach allen Richtungen hin den Halmenwald, prächtige Schmetterlinge, zahllose Fliegen und Bienen tanzen und summen über den Blumen, während große Spinnen arglistige Brücken bauen von Stengeln zu Stengeln, so daß oft eine ganze Strecke mit ihrem Gewebe übersponnen ist. Heuschrecken und Grillen zahlreicher Arten hüpfen und fliegen durch [175] das Grün; Blindmolle und Zieselmäuse sonnen sich vor ihren unterirdischen Bauten; hoppelnd kommt Meister Lampe daher, cavalierement jede Gefahr verachtend; Zwergtrappen fahren auf aus dem Buriannest, kreischende Falken und Weihen streichen niedrig dahin, mit scharfem Auge nach Beute spähend.
Alles dies und noch viel mehr hat mir die Steppe gezeigt auf der täglichen Wanderung, die ich, theils in Begleitung meines Gastfreundes, theils allein und ziellos, regelmäßig unternahm im Wagen, zu Pferd und zu Fuß. Einen vollen Monat verbrachten wir in der Einöde; dann und wann wurden die Nachbarn besucht – der nächste blos etwa 120 Werst weit! – aber auch die Nachbarn wohnten mitten in der Steppe. Jagdzüge und ritterliche Uebungen verkürzten die Zeit, welche übrig blieb nach einer oft anstrengenden Thätigkeit, und die wiederholte Besichtigung des weitläufigen Gebietes und seines Zubehörs hielt uns stets in Athem. Zu dem letzteren rechne ich vorzugsweise die großen Heerden, welche es einzig ermöglichen, der Steppe genügenden Nutzen abzuringen.
Es gehört wenig Phantasie dazu, sich urplötzlich in die südamerikanischen Pampas versetzt zu wähnen, wenn ein Tabun halbwilder Steppenpferde mit donnerndem Hufschlag daherbraust, der Tränke zu, hinter ihnen drein wilde, dunkelhäutige Tataren oder Zigeuner in der malerischsten Tracht der Zerrissenheit; voran der führende Hengst, den Kopf hoch, die Ohren gespitzt, mit weit aufgeblasenen Nüstern, als suche er herausfordernd die Gefahr; rechts und links in der bräunlichen Staubwolke lustig springende Füllen, zuweilen von ihrer Mutter mit strafendem Biß genöthigt, sich nicht zu weit von dem Trupp zu entfernen. Die wilden Augen, die langen, gewellten Mähnen, welche oft bis herab zu den Knieen reichen, die schweren, verworrenen Schweife, die den Boden fegen, und die große Verschiedenheit in der Färbung der Thiere – obwohl das Fahle immer vorherrscht – vervollständigen den Eindruck, welchen die oft gelesene Beschreibung und die Catlin’schen Abbildungen der Mustangheerden hinterlassen haben. Und merkwürdig ist die Aehnlichkeit der Gebräuche, welche so weit von einander entfernte Völker sich zu einem und demselben Zwecke angeeignet haben. Wie der Gaucho oder Comanche den Lasso, so führt der Tatare und Kirgise den Arkan, die gefürchtete Riemenschlinge, die er mit unfehlbarer Sicherheit wirft und damit ein bestimmtes Pferd aus der Mitte des Tabuns herausholt. Dann aber muß man die Thiere sehen, wenn der Arkan über ihren Häuptern schwirrt! Mit verzweifelnder Hast drängen sie hinweg von dem Opfer, bäumen sich, schlagen, um Raum zu gewinnen, Wiehern und Angstgeschrei erfüllt ohrzerreißend die Luft, bis der zusammengeballte Knäuel sich gelöst hat, und nunmehr die Pferde nach allen Richtungen der Windrose auseinander stieben. Allein die Rufe der Leithengste locken die Gescheuchten bald wieder in die eifersüchtig gehüteten Trupps zusammen, und nicht lange, so ist die Gefahr vergessen, während sie in der Gestalt der gut berittenen Hirten schon wieder ganz nahe ist. Es gibt kein aufregenderes Schauspiel, als solches Pferdejagen.
Aber dabei muß man auch die Tataren sehen. Die verschiedenen Völkerschaften der russischen Steppen, Kosaken, Baschkiren, Tschuwaschen, Mordwinen und Zigeuner sind sammt und sonders vortreffliche Reiter und von frühester Jugend an auf dem Pferde, so daß sie vollständig mit ihm zusammenwachsen. Allen voran aber ist der Tatar als verwegenster Reiter, kühner Rossebändiger und gewiegter Pferdekenner; daneben hat er in seiner ganzen Haltung wie in den Gesichtszügen etwas Nobles und Ritterliches, welches den übrigen genannten Racen abgeht. Jedoch der Schein trügt; wer dies erfahren will, braucht sich mit ihm nur in irgend einen Handel einzulassen, am liebsten in einen Pferdehandel. Mit dem Arkan in der Hand, zeigt er sich aber durchaus nur von der vortheilhaften Seite. Das auserkorene Thier, meistens ein dreijähriges Fohlen, das noch niemals des Menschen Hand und Macht erprobt hat, macht erschreckt verzweiflungsvolle Anstrengungen, um der Schlinge zu entgehen, aber dadurch zieht sich diese nur immer enger zusammen und schnürt ihm dermaßen den Hals zu, daß es röchelnd hinstürzt. Wie eine Katze arbeitet sich nun der vom eigenen Pferde gesprungene Tatar, Hand um Hand vorgreifend, an dem Arkan hin, bis zu dem zappelnden, bewußtlosen Wildling; in einem Augenblick ist demselben ein Zaum über den Kopf gestreift, ein Gebiß in das Maul geschoben; dann wird die furchtbare Schlinge gelöst. Zu sich kommend, liegt das Fohlen einen Augenblick da in stillem Staunen, auf einmal wird ihm das Bewußtsein seiner Lage, wie der Blitz springt es auf die Beine – aber umsonst, eben so rasch sitzt schon sein Bändiger auf seinem Rücken. Mag dann das entsetzte Roß thun und versuchen, was es nur will, es gelingt ihm nicht mehr, seine alte Unabhängigkeit zurückzuerobern. Freilich schießt es kreischend, schlagend, schüttelnd, um sich beißend, in tollen Sätzen hinaus in die Steppe, aber in wenigen Stunden kommt es zurück, gebändigt und gelehrig; es ist der Civilisation gewonnen und läßt sich den Sattel auflegen. Oder auch muß man die Tataren sehen bei einem Wettrennen, ihrer größten Belustigung, namentlich wenn es ihnen gelungen ist, einige Theilnehmer nicht aus ihrem Stamme, einen kecken Muschik oder einen selbstgenügsamen Colonisten, dafür zu gewinnen. Mit diesen spielen sie im Anfang, wie die Katze mit der Maus, und so vollendet sind ihre Reiterkünste, daß sie auf’s Haar genau zu berechnen wissen, wenn es Zeit ist, alle Kraft zu entfalten. Darin trügen sie sich nie, und bei allen Steppenrennen sind stets nur die Tataren die Sieger; ihre ausgezeichneten Pferde – größer wie diejenigen der eigentlichen Steppenrace – haben sogar schon manches Vollblut geschlagen, das Jahre lang auf dem Turf den Preis da- von getragen hatte.
Dann wiederum besuchten wir die Rinderheerden, die in großen Trupps von mehreren hundert Stück da und dort weideten. Es sind prächtige Thiere, von der im ganzen Südosten Europa’s verbreiteten sogenannten podolischen Race, von weißgrauer Farbe und mit großen, nach einwärts gekrümmten Hörnern. Das stete freie Leben Jahr aus Jahr ein in der Steppe hat ihnen den dummstieren Ausdruck genommen, der sie da kennzeichnet, wo sie nur im Stalle gehalten werden; mit großen klugen Augen blicken sie umher, muthig schnaubend senken sie die Hörner und scharren mit den Füßen, wenn sie Gefahr wittern, etwa ein unbekannter Hund naht; aber plötzlich ergreift sie doch eine Furcht, und schlank und leicht fliegen sie dahin über das Blachfeld, wie Hirsche, die Schweife hoch in der Luft, brüllend und den Boden stampfend. Leider decimirt eine furchtbare Seuche, die Rinderpest, alljährlich die Heerden dieser nützlichen Thiere in erschreckender Weise. Dieselbe kommt immer aus dem Osten, aber Niemand weiß bis heute, wo sie zuerst auftritt und wie sie entsteht. Der über allen Begriff abergläubische Bauer der Steppen identificirt die Seuche einem geheimnißvollen überirdischen Wesen, der Pestjungfrau, Morr genannt, die auf weißen Fittigen schauerlich über die Länder schwebt, und die Orte aufsucht, welchen sie Opfer auferlegen will, wobei sie in höchst irregulärer Weise vom geraden Wege abweicht und oft viele Werste überspringt, um plötzlich in einem Bezirk aufzutauchen, wo man gar nicht an sie gedacht hat. Die Ceremonien, welche die Landleute, oft mit dem Beistand ihrer Popen, gegen das Gespenst vornehmen, sind höchst sonderbar. Sobald die Seuche ausgebrochen ist, eilt, was von Menschen Leben und Bewegung hat, nach der Kirche, worin eine feierliche Messe celebrirt wird. Nach derselben schreitet Kind und Kegel in langem Zug hinaus vor das Dorf, auf einen geeigneten Platz; gewählt wird zu der Proccdur am liebsten eines der kreisrunden Tatarengräber oder ein anderer schmaler Hügel. Mitten durch denselben ist ein schmaler Stollen gegraben, so daß eben zwei Menschen sich neben einander hindurchdrängen können. Vor dem jenseitigen Ausgange ist ein ungeheurer Haufen Burian aufgethürmt. Mittlerweile sind die gesammten Rinderheerden des Dorfes herbeigetrieben worden und werden von berittenen Hirten auf dem Platze gehalten. Die ältesten und angesehensten Einwohner schreiten zuerst durch den Höhlengang, sie sind bewaffnet mit zwei Stäben von verschiedenem Holz; durch rasches, fortgesetztes Drehen des härteren in dem weichen müssen sie ein Feuer entzünden, um den Burian anzubrennen; auf andere Weise ist dies nicht erlaubt, es müssen sogar währenddem die Feuer in allen Behausungen sorgfältig gelöscht sein. Durch das brennende Geniste eilen die Aeltesten; sobald der Rauch emporwirbelt, werden auch die Heerden stückweise in den Gang und durch das Feuer getrieben; ihnen folgen zuletzt alle Männer des Dorfes; Weiber und Kinder bleiben nur Zuschauer. Ist dieser Exorcismus vorüber, dann geschieht sorglos nicht das Mindeste mehr gegen die Seuche; es braucht kaum gesagt zu werden, wie wenig er hilft.
Das werthvollste Product der Steppen ist die Wolle ihrer Schafheerden, die sich von Jahr zu Jahr in erstaunlichem Maße vermehren, da die Gutsbesitzer eingesehen haben, wie wenig Stutereien und Rindviehzucht da einbringen, wo es an genügendem Absatz fehlt. Um einen Begriff von der Ausdehnung dortiger Schäfereien zu geben, führe ich an, daß ein deutscher Colonist in der Molotschna, Friedrich Fein, ein schlichter würtembergischer Bauer, [176] welcher mit nichts begonnen hat, als seiner Hände und seines Kopfes Kraft, gegenwärtig 700,000, sage siebenmalhunderttausend Merinos besitzt! Im großen Durchschnitt nur 5 Pfund Wolle – ungewaschen wegen Wassermangel! – auf das Haupt gerechnet, während man sonst stets 7–9 Pfd. annimmt, und das Pud zu 6 Rubel, dem jetzigen Preis, so hat der Mann ein jährliches Einkommen von 525,000 Rubel Silber blos von seinen Schafen, Verkauf von Zucht- und Schlachtvieh gar nicht gerechnet. Da darf es auch nicht wundern, daß er vor einigen Jahren dem Herzog von Anhalt seine großen Besitzungen in Neurußland abgekauft und den Betrag dafür baar auf den Tisch gelegt hat. Seine einzige Tochter hat er an seinen Schafmeister verheirathet.
Das eingeborne Schaf der Steppe ist das mit dem Fettschwanz, ein Abkömmling der syrischen Race, von welcher man fabelt, daß sie die schweren Fettschwänze auf kleinen Rollwagen hinter sich her schleppen müsse. Leider hat die Schafzucht hier mit mancherlei Gefahren zu kämpfen, von welchen man im übrigen Europa wenig weiß. Die furchtbarste darunter sind die Schneestürme im Winter. Ohne daß der erfahrene Schafmeister – beiläufig gesagt, fast immer ein Deutscher und gewöhnlich ein Sachse – aus seiner praktischen Meteorologie im Voraus davon Kunde hat, bricht plötzlich ein furchtbarer Sturm daher aus Norden oder Nordosten. In einem Augenblick ist die ganze Luft erfüllt von zusammengefrorenen, halb consistenten Schneekörpern, oft von bedeutender Größe, welche mit betäubendem Geprassel herniederschlagen und selbst dem Muthigsten alle Besinnung zu benehmen vermögen. Wer von einem solchen Sturm inmitten der Steppe überrascht wird, dem bleibt nichts übrig, als sich niederzusetzen, den Mantel über den Kopf zu ziehen und zu warten, während ihn der Himmel unbarmherzig bis auf’s Blut peitscht. Die armen Schafe besitzen nicht die Geduld, deren Sinnbild sie sind; das schmerzhafte Auftreffen des Hagels, der pfeifende Wind, die schneidende Kälte, die er mit sich bringt, regen sie nach und nach auf bis zur Raserei; dazu kommt noch, daß die fallenden, breiigen Flocken auf ihrem Körper haften bleiben und fest frieren, wobei namentlich die Augen dermaßen incrustirt werden, daß sie völlig blind sind. Dann ist aber auch kein Halt mehr – Schäfer und Hunde, selbst wenn sie im Stande wären, sich frei zu bewegen, verlieren die alte Gewalt – unaufhaltsam stürzt die ganze Heerde davon in dichtgedrängter Schaar, immer gerade aus, über Hügel und Thal, durch Sumpf und Liman – oft ist es geschehen, daß auf diese Weise Tausende von Schafe auf einmal in den Gewässern umgekommen, und gar häufig ist der Ingul von den Dämmen ihrer Leiber bis zur Gefahr geschwellt worden. Auch wenn ein besserer Stern die rasenden Thiere an die Wand eines jähen Absturzes oder an eine Mauer führt, wo die ersten erschöpft zusammenbrechen und alle andern dann, wie gebannt, laut keuchend und die Köpfe unter die Leiber drängend, unbeweglich stehen bleiben, sind sie noch nicht gerettet, wenn der Schneesturm anhält, und oft dauert er mehrere Tage lang. Denn gelingt es dem pflichtgetreuen Schäfer auch, der Heerde nachzufolgen und sie endlich zu entdecken, so gibt es gar kein Mittel, die Thiere wegzubringen, als sie einzeln fortzutragen. Vielleicht ist aber das nächste Gehöft meilenweit, und es sind mehrere Tausend Schafe! Auch der Wolf holt manches schöne Stück, trotz aller Aufmerksamkeit der Hirten und Hunde. Die letzteren begnügen sich gewöhnlich damit, den wilden Feind durch Bellen abzuwehren; daß sie ihn angreifen, kommt sehr selten vor.
Noch eines wunderbaren Schauspiels will ich gedenken. Wer hat nicht gelesen oder gehört von den Steppenbränden in Amerika? Auch die europäische Steppe brennt häufig, ja alljährlich, denn nicht anders weiß der Bauer den überhand genommenen Burian zu bewältigen und Raum zu schaffen für süßes Gras, als durch des Feuers Macht. Ohne große Vorsicht geht er dabei zu Werke, höchstens daß er die Windrichtung so wählt, um seine Wohnung und seine Schober nicht in Gefahr zu bringen. Das Abbrennen der Steppen geschieht im Herbst, öfter noch im zeitigen Frühjahr. Aus Erfahrung kennt der Landmann im Voraus ziemlich genau die Grenzen, welche der Brand innehalten, die Hemmnisse, vor welchen er erlöschen wird; darnach richtet er sich, und hat dann weiter nichts zu thun, als an gelegener Stelle anzuzünden. Mit leisem Zischen schießt nun plötzlich die Feuerschlange durch das dürre Gras, aber man erblickt nicht sie selbst, nur ihre Wirkung, die schwarzverbrannten oder aschweißen Reste auf dem Boden; eine Zeit lang gewahrt man darauf fast gar nichts mehr und glaubt den Brand erloschen; plötzlich flammt prasselnd mit heller Lohe ein gewaltiger Burianbusch empor, im Nu erfaßt die Gluth seine Nachbarn, die hohen, ästigen Stengel drehen und winden sich wie in Schmerzen, laut knistert und knallt es, eine gewaltige Feuersäule steigt himmelan, nur einen Augenblick sichtbar, dann sinkt nach der erbarmungslosen Vernichtuug der höherstehenden Gewächse das Element wiederum wie beruhigt herab in das niedere Gras und frißt darin weiter. Es gebehrdet sich dabei fast wie ein lebendes, höchst capriciöses Wesen, einige Zeit lang scheint es unbeweglich zu stehen, auf einmal aber läuft es mit Pfeilesschnelle, gleichsam dem Winde voraus, eine lange Zeile vorwärts und läßt einen ganzen Streifen völlig unberührt, welchen man nunmehr für verschont hält; plötzlich aber steht auch dieser in Brand, man weiß nicht wie; der Luftzug scheint fast keinen Einfluß auf die Flamme zu haben, so zickzackartig, schlangengleich fährt sie einher. Nach und nach beginnt eine immer dichter werdende rothe Rauchwolke sich über den Boden zu lagern, seltsam wogt und wälzt sie hin und her, vorwärts und rückwärts; bald hebt sie sich empor und verstattet völlig freien Durchblick, bald rollt sie sich in dichte Ballen zusammen und streicht vor den züngelnden Flammen dahin, ähnlich den langen Wogenkämmen des unruhigen Meeres.
Jeder heftigere Windstoß schleudert den Brand weit hinaus in die Steppe, so daß er einem entfesselten Strom ähnlich dahin und dorthin sich ergießt, bisweilen Inseln bildend, die er aber später gleichfalls überfluthet, und der unheimliche Anblick wird erhöht durch die Unsichtbarkeit der Flammen im hellen Tageslicht, die sich nur zeigen, wenn besonders dichte Massen auflodern. Ein brenzlicher Geruch, dem des erstickenden Torffeuers ähnlich, erfüllt weit und breit die Luft, in welcher Milliarden von schwarzen Stäubchen und Fäserchen umhertanzen und in einem Augenblick den Zuschauer überpudern; die Wärme des Bodens, welchen die Flamme verlassen hat, ist sehr fühlbar. Das großartige Schauspiel fliehender Heerden von Büffeln oder Antilopen, dazwischen Puma’s oder Leoparden, wie in den Prairien und Pampas der neuen Welt und in den Savannen des Caplandes, fehlt hier gänzlich und ich bedaure sehr, einem solchen drastischen, obgleich etwas abgenutzten Motiv der Schilderung entsagen zu müssen; hier wird es höchst kärglich repräsentirt durch arme Nager und Haidevögel, die aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben werden, durch einige flüchtige Hasen und durch Raubvögelschwärme, welche dem Qualm von ferne folgen, um nach gerösteten Leckerbissen zu spähen. Nur sehr selten mag es stattfinden, daß Heerden oder einzelne Weidethiere von einem Steppenbrand überrascht werden; von dabei vorkommenden Unglücksfällen hört man niemals erzählen.
Eigenthümlich erscheint das Aussehen der abgebrannten Steppe mit ihrer leichten, dünnen Aschendecke und den schwarzen Pflanzenresten, welche bald ihre Form verlieren, denn der Regen wäscht Alles durcheinander und hinab in den von tausend feinen Rissen klaffenden gleich einem Schwamm porösen Boden. Kaum sendet aber die Frühlingssonne die ersten intensiv warmen Strahlen, so verwandelt sich auf einmal, wie durch einen Zauber, daß schmutzige Grau der Fläche in ein hellgoldiges Grün; Millionen feiner Blattspitzen keimen[WS 1] daraus empor und bilden in wenigen Tagen einen dichten Teppich, welcher ebenso sehr das Auge erfreut, wie Gaumen und Magen der in der langen Winterhaft elend heruntergekommenen Nutzthiere. Das Behagen muß man sehen, mit welchem sie der langentbehrten Weide zueilen, und die Schnelligkeit, mit der sie im Ueberflusse die verlorenen Kräfte und die Körperfülle wiedergewinnen, um den fabelhaften Reichthum dieses jungfräulichen Bodens kennen und würdigen zu lernen.
Noch Vieles könnte ich erzählen aus den russischen Steppen: von dem Nomadenleben der Hirten, von den sonderbaren Völkerstämmen, die sie bewohnen, von den Wagenkarawanen, deren endlose Reihen dem Markte von Odessa oft weit, weit her die goldenen Körner der Ceres zuführen, von den Lagern ihrer Führer und der Jagd nach den während der Nacht entlaufenen Zugthieren, von den Schenken und Ansiedelungen, von den Brunnen mit Wasserhandel und den Arbusenverkäufern an den breiten Wegen, wo jeder Wagen eine neue Spur nimmt, wie es ihm beliebt, und gar Manches über die großen und kleinen Leiden, welchen der Wanderer in jenen Regionen nicht entgeht. Aber ich fürchte, die Geduld des Lesers schon zu lange in Anspruch genommen zu haben, und darf ihn kaum mehr ersuchen, mich zu begleiten auf einer abenteuerlichen Steppenfahrt in der Richtung von Balta nach Odessa, auf deren letzter Station, von Kasapontska ab, etwa 48 Werst weit, mich ein deutscher Stellmacher, Bischofberger heißt der Gute, fuhr oder vielmehr nicht fuhr; denn zwei Stunden nach der Abfahrt war er dermaßen in Schnaps betrunken, daß er sich zurückwarf auf meinen schmalen Strohsitz und mir die Lenkung des armseligen Einspänners überließ. Da hatte ich denn Gelegenheit, die Steppe in allen möglichen Hinsichten und Beleuchtungen kennen zu lernen, denn statt um 8 Uhr Abends anzulangen, fuhr ich bis 3 Uhr Morgens meinen branntweintodten Kutscher in der Irre herum spazieren. An diesen Abschied von der Steppe will ich gedenken mein Leben lang!
Sonderbar, daß gerade den Bewohnern der dürftigsten Regionen der Erde die Liebe zu ihrer kargen Heimath so tief in das Herz gewachsen ist! Auch der Sohn der Steppe fühlt sich nirgends wohl, als in ihrer Mitte, und daraus versetzt, erfaßt ihn unbezähmbares Heimweh, Ueberschleicht doch auch mich, der ich im Ganzen nur kurze Zeit mich ihrem Reize hingegeben, trotz aller reichlich genossenen Entbehrungen und kleinen Miseren, zeitweise eine Sehnsucht nach dem weiten, unbeschränkten, freien Gebiete der Steppe.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: keinem