Die Gartenlaube (1859)/Heft 13

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 13. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Babeli.
Ein Bild aus Pestalozzi’s Knabenzeit von L. R.


Durch alle Länder deutscher Sprache geht in dankbarer Erinnerung der Name „Pestalozzi“. Millionen sind es, welche Pestalozzi’s Größe erkennen, und wenn sie auch nicht alle in die Tiefen seines Geistes und seines Werkes blickten, so wissen sie doch, daß er der Schöpfer einer neuen, naturgemäßen Bildungsbahn wurde.

Der ideale Mittelpunkt aller gedeihlichen Jugenbildung war für Pestalozzi die Wohnstube.

Wüßten wir auch sonst nichts von dem Manne, lieb würde er uns schon durch die Aussprüche werden, welche er in dieser Beziehung that. Nur einige davon wollen wir hören. Das ist um so nöthiger, da wir heute in seine eigene Wohnstube einen Einblick halten, ihn als Knaben im Hause seiner Eltern sehen werden.

„Wie die Krippe,“ so sagt Pestalozzi in seinen späteren Schriften, „wie die Krippe, in welcher der arme Heiland lag, erschien mir die Wohnstube des Volkes als die Krippe, von der aus das Göttliche und Heilige sich entfalten, keimen und reifen soll.“

„Im Heiligthume der Wohnstube wird das Gleichgewicht der menschlichen Kräfte in ihrer Entfaltung gleichsam von der Natur selbst eingelenkt, gehandhabt und gesichert.“

„In der Wohnstube des Menschen vereinigt sich Alles, was ich für das Volk und den Armen als das Höchste und Heiligste achte. Das Heil der Wohnstube ist es, was dem Volke allein zu helfen vermag, und das Erste, dessen Besorgung für dasselbe noththut. Von ihr allein geht die Wahrheit, die Kraft und der Segen der Volkscultur aus. Auf sie muß die Menschenfreundlichkeit unseres Geschlechtes einwirken, wenn sie nicht den Schein seines Wohles, sondern sein wirkliches Wesen bezweckt, wenn sie der Armuth in ihren Quellen vorbeugen und die Masse der Armen zur sittlichen, geistigen und häuslichen Selbstkraft erheben will, ohne die eine allgemeine Rettung von Volksarmuth, Volkselend und Volksverderben eben so wenig denkbar ist, als eine wahre National- und Volkscultur selbst.“

„Der einzig sichere Boden, auf dem wir der Volksbildung und Armenhülfe halber zu stehen suchen müssen, ist das Vater- und Mutterherz, das durch die Unschuld, Kraft und Wahrheit seiner Liebe Glauben und Liebe in den Kindern entzündet und so alle Leibes- und Seelenkräfte derselben zum Gehorsam in der Liebe und zur Thätigkeit im Gehorsam vereinigt.“

„Dem Herzen der Mutter muß es durch die helfende Kunst möglich gemacht werden, das, was sie beim Unmündigen durch Naturtrieb genöthigt thut, beim Anwachsenden mit weiser Freiheit fortzusetzen.“

„Wie wohl wird es mir in meinem Grabe sein, wenn ich es dahin gebracht, Natur und Kunst im Volksunterrichte so innig zu vereinigen, als sie jetzt in demselben gewaltsam getrennt, ja entzweit sind!“

Dies Wenige nur von dem Vielen, was er in dieser Beziehung sagt und wo er fast immer an die Wohnstube anknüpft. Wer sein Volk liebt, muß ja auch die Wohnstube kennen.

Und Pestalozzi liebte sein Volk. Gerade in der Wohnstube, gerade durch die ersten Jugendeindrücke war diese Liebe in ihm genährt worden, so gesund und frisch genährt, daß dieselbe späterhin ein unwiderruflicher Trieb, eine gewaltige Willen straft in ihm wurde. Sein armes, verachtetes Volk wollte er retten, retten durch die Erziehung, durch Bildung zu einer freien, wahrhaften Menschlichkeit.

Wo anders sollte er da auch lernen, als in der Wohnstube? Wo hinein anders blicken, als in das häusliche Leben? Nicht leugnen konnte er ja, daß das Volk sittlich, geistig und körperlich tief gesunken war. Nur in der Wohnstubenweisheit und in der Wohnstubenkraft erkannte er die Mittel zur Rettung, und klar war es ihm, wie nur von ihnen aus das Glück des Volkes sich erheben könne. Immer blickte er dabei zurück auf die Jahre seiner eigenen Kindheit, auf seine Eltern, auf die Wohnstube. Wie grüne Bäume ragten hier die Elemente naturgemäßer Erziehung ihm empor in der Sandwüste seiner Gegenwart. Die Liebe, die einst dort in sein Herz zog, das stille, göttliche Leben, das dort sich in ihm eingewurzelt hatte, begleitete ihn durch sein ganzes Streben und Thun. „Nicht das Buch, nicht Reihenfolgen von Elementarübungen, nein, das Leben, das von ihm ausströmte, bildete das Leben seiner Kinder; der Geist, der ihm aus Blick und Worten quoll, weckte ihren schlummernden Geist, die Hingebung und Treue, mit der er sie besorgte, öffnete ihr verschlossenes Herz und machte es für Opfer der Selbstüberwindung fähig. Er selbst mit seinem Vatersinn und seiner Muttertreue war die Methode.“

War aber sein Thun und Streben ununterbrochen darauf gerichtet, die einst empfangenen Segnungen der Wohnstube zu Segnungen seiner Schulstube zu machen und den Geist der Häuslichkeit in das öffentliche Erziehungshaus zu pflanzen, so werden wir es kaum bereuen, an die Schwelle des Elternhauses zu treten, wo der kleine Pestalozzi diesen Geist einst einsog.



„Gehe nur immer hin, Babeli, ich werde schon kommen, werde Deiner Mutter schon helfen!“ rief der Arzt Pestalozzi, seine Pfeife rauchend, zum Fenster heraus.

[178] „Wenn Ihr wolltet das Wägli nehmen, würde es rascher gehen, Herr Doctor,“ antwortete treuherzig ein blühendes Schweizermädchen von unten hinauf, „mein gut Mütterli hat den Augenschmerz doch so sturm und klagt so arg!“

„Gewiß, Babeli, ich komme sofort,“ versicherte der Arzt.

„Wollt also nicht lange mehr tubaken?“ fragte sie lächelnd und doch besorgt, „und wollt auch das Wägli nehmen?“

„Fahren werde ich nicht, aber reiten will ich, und das bald, Babeli,“ versprach Jener und blies die Tabakswolken in die Luft, während er mit Wohlgefallen das treue Mädchen betrachtete.

„Soll ich Euer Rößli satteln, Herr Doctor?“ fuhr Babeli drängend fort, „wenn nicht Mannenvolk im Haus ist, will ich’s thun; ich weiß, wie es Brauch ist bei den Rossen.“

„Siehst Du nun, daß ich sogleich kommen werde?“ entgegnete der Arzt, indem er den Pfeifenkopf ausklopfte und sich dann vom Fenster zurückzog.

Babeli nickte und lächelte ihm dankbar zu, eilte noch in die Apotheke und dann zur Stadt hinaus. Bald hatte sie Zürich hinter sich.

Reich sah es im Elternhause Pestalozzi’s nicht aus. Der Vater war Arzt, vorzüglich Augenarzt, und verdiente doch kaum, was er für die Familie brauchte. Aber in der Wohnstube sah es reinlich und blank aus. Der kleine Heinrich spielte mit seiner jüngeren Schwester zu den Füßen der hübschen, freundlichen Mutter. Zart sah er aus und schwächlich. Sein Bruder, der kräftiger war, hatte jetzt Medicin zu einem Kranken getragen. Dieser zählte einige Jahre mehr, als der kleine Heinrich, und der Letztere war jetzt fünf Jahre alt.

„Laß mich reiten, Väterli,“ sagte der Knabe mit fast kränklichem Tone, als der Arzt Pestalozzi ein Paar ziemlich unstattliche, eiserne Sporen anschnallte.

„Wenn ich wiederkomme, mein Bürschli,“ antwortete sanft der Vater, „jetzt muß ich schnell zu einer armen Frau, mein Heinrich.“

„Der thun die Aeugli weh?“ fragten die Kinder.

„Weh, sehr weh,“ entgegnete mitleidig die Mutter und strich den beiden Kindern mit liebender Hand über das Haar, indem sie die Arbeit bei Seite schob und nach der Thüre eilte.

„Mütterli, ich gehe mit in den Stall,“ sprach der kleine Heinrich und faßte die Hand der Mutter.

„Und ich trete an’s Fenster, wenn Väterli fortreitet,“ erklärte seine Schwester.

„Kannst Du mit den Kindern nicht in’s Freie?“ fragte der Mann seine Frau. „Doch ich sehe ja,“ setzte er sanft und bedauernd sogleich hinzu, „daß Du zu viel zu thun hast, und wie es daher auch heute nicht geht. Könnten wir nur ein Dienstmädchen halten!“

„Ach ja, das wäre wohl gut,“ versetzte lächelnd die Mutter, indem sie mit ihrem Manne und dem kleinen Heinrich die Treppe hinabging; „nicht für die Kinder möchte ich das Mädchen, denn die versorge ich am liebsten selbst, – aber zur Unterstützung und zum Rüsten in dem Hausgewese, da wäre uns ein Mädchen schier gut.“

„Es gibt auch solche, denen man getrost die Kinder anvertrauen kann,“ belehrte der Vater; „hätten wir z. B. die Babeli.“

„Ja, die Babeli, die Babeli!“ rief mit Wärme die Mutter. „Eine Babeli gibt’s doch nicht zum zweiten Male und die eine Babeli können wir ja doch nicht in Dienst bekommen.“

Unter diesem Gespräche waren sie in den Stall gelangt. Die Mutter half satteln und aufzäumen, und als der Rappe fertig stand und auch der Huf geschwärzt war, setzte der Vater den kleinen Heinrich auf das große schwarze Thier und führte es durch die Hausthür hinaus auf die Gasse. Dort hob er den Kleinen herab und schwang sich selbst in den Sattel. Im langsamen Schritte ritt er hinweg. Mutter und Kinder grüßten und winkten dem Reiter nach, als ginge er auf viele Wochen lang fort, und auch der Reiter schaute oft und grüßend rückwärts, Vor dem Thore endlich, als der Reiter ein kurzes Pfeiflein aus der Tasche gezogen und in Brand gesteckt hatte, nahm der Rappe einen schnelleren Schritt an.


Zwei Monate sind seitdem vergangen. Der Augenarzt Pestalozzi hat den Weg sehr oft in eins der einzeln stehenden Häuser gemacht, welche hinter dem Dorfe Höngg liegen, etwa eine gute Stunde von Zürich. Das Dorf breitet sich an den lieblichen, mit Weinbergen bepflanzten Abhängen hin, welche die reizenden Ufer des See’s begrenzen. Hier in dem friedlichen Dorfe Höngg lebt ein Großvater des kleinen Heinrich von mütterlicher Seite, und derselbe ist Ortspfarrer, ist geliebt als tüchtiger Hirt und Mensch. Wir können uns jetzt nicht bei ihm verweilen, sondern kehren zu seinem Schwiegersohne, dem Arzte, zurück.

Nicht bei dem gemüthlichen Pfarrer befindet sich dieser, sondern vor einem jener einzeln gelegenen Häuser. Und neben ihm steht die blühende Babeli und löst die Zügel des Pferdes, womit dasselbe an den Griff der Hausthüre angebunden war.

„Nun brauche ich nicht wiederzukommen, Alles gut nun, Babeli,“ sagte der Arzt Pestalozzi.

„Aber ich werde kommen, ich!“ antwortete freudig gerührt und mit leuchtendem Angesichte das Mädchen, „ich werde Euch, Herr Doctor, Euer Frauli und Euere Kinder besuchen jeden Sonntag und werde fragen, ob’s etwas zu schaffen gibt in Euerm Hausgewese. – Was Ihr auch sinnt und was Ihr auch denken möget,“ fuhr Babeli fort, als der Arzt schweigend und wie nachsinnend vor sich hinblickte, „glaubet nur nicht etwa, daß ich damit das Geld ersparen will. O, ich werd’ Euch Batzen, Kreuzer und Kronen bringen, die ich gesammelt hab’ und die oben liegen in der Truhe auf meinem Stübli! Saget nur, lieber Herr Doctor, was mein Mütterli schuldig ist. Aber kann man solche Gnad’ mit Kreuzern und Kronen bezahlen? Bei dem Herrgott muß man’s dadurch in’s Gleiche bringen, daß man nicht wüst lebt, sondern rechtschaffen, und den Menschen muß man Liebesdienst’ erweisen. Und das will ich, Herr Doctor, will Euch nicht nur bezahlen mit Geld, sondern auch mit Liebesdienst, will des Sonntags kommen zu jedem Geläuf’ und Werk für Euer Frauli und Euere Kinder. Habt Ihr doch meinem Mütterli das Augenlicht gerettet, Herr Doctor! Würde Mütterli doch blind sein, wenn Ihr nicht gekommen wäret einen Tag um den andern zwei Monate lang! Durch Euch hat der Herrgott geholfen! Wie sollt’ ich Euerm Hausgewese nicht Liebesdienst erweisen? – Ich will’s, ich will’s!“ setzte sie freudig und laut hinzu, „und ich weiß, daß Euerm Frauli gedient ist damit!“

Noch immer schwieg der Arzt Pestalozzi. Babeli ahnte nicht, wie wohlthuend ihn ihr Anerbieten bewegte.

„Und Kronen und Kreuzer bezahle ich Euch heute noch oder morgen.“ sprach Babeli weiter, „saget mir nur, was wir schuldig sind, Herr Doctor!“

Der Arzt spielte noch eine Weile sinnend mit dem Zügel seines Pferdes, und dann antwortete er halblaut:

„Deine Mutter ist mir nichts schuldig, Babeli, ich habe sie umsonst curirt. Aber Dich würden wir bezahlen, Dich, Babeli, – freilich nur mäßig –“

„Mich bezahlen?“ fiel Babeli ein, „Wäre es dann noch Liebesdienst, wenn ich Sonntags zu Euch käme? Und bin ich etwa in Höngg oder Zürich als geizig verbrüllt, daß Ihr so wüst Euch ausdrückt mit dem Bezahlen?“ fragte sie lächelnd. „Lieber Herr Doctor, ich bin froh, daß ich das Geld, welches ich verdient, niemals verleichtsinnigt hab’, aber geizig bin ich nicht. Also machet nur Rechnung, damit wir wissen, was wir schuldig.“

„Nichts schuldig, nichts,“ erklärte Pestalozzi wie schüchtern, „aber wenn wir so einen Dienstboten hätten, Babeli, - einen, wie Du bist, Babeli! wenn es ginge, daß Du zu uns zögest, – das würde gar gut sein für meine Frau und Kinder!“

Babeli griff nachdenkend in die Mähne des Pferdes. So stand sie eine Weile und schwieg, Pestalozzi fühlte sich verlegen, fast bereute er seine gesprochenen Worte.

Da aber erhob Babeli ihr schönes, schwarzhaariges Haupt. Wie Sonnenglanz strich ein dankvolles Lächeln über ihr blühendes, frisches Angesicht, und entschieden rief sie aus:

„Wer könnte darüber aufbegehren?! Mütterli wird nicht Gegenred’ haben und, Gotthard wird nicht sturm sein darüber! Wartet, Herr Doctor, ich will hinauf erst in’s Stübli!“

Mit diesen Worten eilte sie hinauf zur Mutter. Diese kam mit herab und erklärte, dankbar die Hand des Arztes fassend, ihre Einwilligung. Nach wenigen Minuten war Alles besprochen und abgemacht. Froh und heiter, wie er es seit lange nicht gewesen, wollte sich der Arzt auf den Rappen setzen.

„Noch nicht,“ bat Babeli, „denn es geht die Sach’ nicht allein über mich und Mütterli aus, auch, auch –“ setzte sie schüchtern hinzu, „auch Gotthard muß wissen davon.“

„Geh zu ihm,“ sprach die Mutter, „auch er wird nicht aufbegehrisch sein.“

[179] Babeli nickte. Dann schlug sie die Augen nieder und fragte leise: „Wollt Ihr mit zu ihm gehen, Herr Doctor?“

Da nickte still auch der Doctor. Er führte sein Pferd am Zügel und ging mit Babeli in das Dorf.

„Er ist brav,“ sprach leise Babeli, indem sie an der Seite ihres künftigen Herrn schritt, „er besitzt auch etliche Jucharten Land und ein Häusli, aber daß er ein gut Herz in sich hat, gilt noch höher; dort, dort!“ rief sie plötzlich laut, „dort am Zaune!“

Am Zaune seines Häusels stand Gotthard in Hemdärmeln. Babeli grüßte, gab ihm die Hand und erzählte. Nach wenigen Minuten wußte Gotthard Alles.

„Wenn es so steht,“ meinte er, „dann hast Du meine Zustimme, Babeli. Zum Glück ist’s nicht allzu weit nach Zürich, und ich komm’ jede Woch’ ein Mal, wenn’s der Herr Doctor permittiren will,“ wendete er sich an diesen.

„Ihr kommet ja in Ehren,“ antwortete Pestalozzi lächelnd.

„Du bist kein Hudel,“ sprach leise Babeli, „das weiß ich wohl, Gottard. Aber das ist nicht genug. Du mußt nun auch bedenken, wo ich bin. Wenn die Kinder da sind, darfst Du mir keinen Kuß geben, mußt Deine Kapp’ vom Kopfe nehmen, mußt nicht zärtlich thun, nicht ein Gered’ machen von Liebe, auch sonst nicht schwätzen, was unschön ist oder anstößig. Weißt Du, wie ich’s meine, Gotthard?“ –

„Weiß es,“ erklärte dieser.

„Und willst es thun?“ fragte so leise wie vorher Babeli.

„Will es, liebe Babeli,“ versprach Gotthard.

„So ist’s abgemacht, Herr Doctor, und nach acht Tagen ziehe ich in Euer Haus, und will Eure treue Magd sein,“ erklärte Babeli.

Der Arzt drückte Beiden die Hand. Bald trug der alle Rappe den glücklichen Vater nach Zürich.


Babeli ist eingezogen in das Haus des Arztes Pestalozzi. Die Truhe mit Wäsche und Kleidern hat Gotthard ihr hereingefahren auf dem Schubkarren. Wöchentlich einmal verläßt er Höngg, um seine Babeli zu sehen. Und wenn er sie sieht und spricht und die Kinder in ihrer Nähe sind, da nimmt er die Kappe vom Kopfe, gibt keinen Kuß, thut nicht zärtlich, schwatzt nicht, macht kein Gered’ von Liebe, sagt nicht etwas, das unschön wäre oder anstößig. Steht er aber ja einmal in Gefahr, sich zu vergessen, so weiß Babeli durch einen Blick, durch ein Wort ihn wirksam zu erinnern. Nur wenn er Abschied nimmt, und von der langen Woche spricht, die nun vergehen muß, ehe die Stunde des Wiedersehens schlägt, sucht sie ihm verstohlen die Hand zu drücken. Ist’s möglich, so schleicht sie ihm nach, und sieht es Niemand, so fällt sie ihm um den Hals, herzt und küßt ihn und spricht:

„Behüti Gott und werd’ kein Hudel!“

Dann eilt sie zurück in die Wirtschaft oder zu den Kindern. Zu den letzteren fast immer, und immer auch am liebsten. Mit ihnen spricht sie, mit ihnen singt und betet sie, mit ihnen springt sie im Grase herum, oder baut im Sande, oder geht weit hinaus mit ihnen in den Wald, auf die Wiesen, an den See. Des kleinen, schwächlichen Heinrich nimmt sie ganz besonders sich an. Klagt er unterwegs über Hunger und Durst, so erzählt sie ihm von einem Knaben, der im Walde sich verirrte, und einen ganzen Tag lang muthig Hunger und Durst ertrug. Wird Heinrich müde, dann nimmt sie ihn auf ihren Rücken, trägt ihn aber nicht länger, als dies nöthig erscheint und sie sich sagen darf, daß er wieder laufen könne. Haben die kleinen Wanderer ein weiteres Ziel erreicht, dann theilt Babeli Obst aus oder sie schafft Milch herbei. Sie erzählt von den Kühen im Stalle, von den Thieren im Walde, von den Vögeln in der Luft, von guten und garstigen Kindern in der Wohnstube und in der Schule. Vor allen gefällt das besonders dem kleinen Heinrich. Er sitzt an Babeli’s Seite oder auf ihrem Schooße, und blickt still in ihre Augen. Babeli bemerkt, wie trotz seines stillen Verhaltens der Dank in ihm doch weit wärmer sich regt, als in seinen beiden Geschwistern, und wie trotz seines linkischen, unpraktischen Wesens ein reicher, verheißungsvoller Kern in ihm liegen möge, welcher einst wohl treiben und sich entwickeln werde. – Das spricht Babeli auch daheim öfters gegen die Eltern aus. Diese geben ihr darin Recht, und freuen sich des Mädchens und seiner Art und Weise gar sehr.

So hatte sich für Eltern und Kinder durch Babeli ein kleiner Himmel erbaut. Mit stillen Sternen spannte er sich aus über die Wohnstube, über die Schlafkammer, über Küche, Pferdestall und Spielplätze. Ueberall waltete das sinnige Mädchen mit Herz und Hand für die Herrschaft und für die Kinder in unermüdeter Treue. Von ihrer äußeren Schöne schien Babeli so wenig zu wissen, wie von ihrem innern Werthe. Unbewußt bauete sie den Himmel, unbewußt leuchtete sie an ihm, – da plötzlich aber trübte sich derselbe.


Einige Monate erst befindet sich Babeli in Diensten. Da kommt in sturmvoller Nacht ihr Herr einmal heimgeritten von seiner ärztlichen Praxis. Heute steigt er krank vom Pferde. Babeli hat gewartet. Sie kocht nun Thee, sie wärmt das Bett aus, sie tritt leise auf, damit die Herrin nicht gestört wird im Schlafe. Dabei tröstet sie den krank Heimgekehrten und meint, es werde durch einen guten Schlaf die Natur sich helfen und morgen Alles gut sein.

Aber der Kranke schlief nicht, die ganze lange Nacht hindurch nicht. Babeli kam und sah nach von Viertelstunde zu Viertelstunde. Und nicht nur zu dem Kranken, auch an das Bette der Herrin und an die Betten der Kinder schlich sie jedesmal auf den Zehen. Nichts sollte die Schlafenden stören. Sie allein wollte es erzwingen, daß am Morgen Alles wieder im Gleise sei ohne Beihülfe, ohne Sorge und Bekümmerniß der guten Herrin, ohne Störung der Kinder.

Der Morgen kam – die Krankheit war gewachsen. Sie wuchs fort von Stunde zu Stunde; noch immer, – von Tag zu Tag. Der kranke Arzt erkannte vollkommen seinen Zustand, wenigstens die Gefahr. Auch ein herbeigerufener College erkannte dies Alles.

Noch war der Kranke still. Nach einigen Tagen aber ließ er sein liebes Weib an das Bette treten. Er sprach nun, – dann tröstete er die Weinende.

„Schicke mir die Babeli herein,“ sprach er noch freundlich, nachdem er getröstet hatte.

Und Babeli trat hinein. Sie zog die Schuhe von ihren Füßen, leise ging sie an das Bette. Ob auch ihre Augen feucht glänzten, sie weinte doch nicht. Ein stilles, ergebenes Lächeln leuchtete aus ihrem Angesichte, eine höhere Ruhe umfloß ihre ganze blühende Gestalt. Sie neigte das schöne Haupt, sie legte sanft ihre Hände auf des Kranken Hände.

„Babeli,“ hob der Kranke an, „Babeli, verlasse meine Frau nicht. Wenn ich todt bin, so ist sie verloren, und meine Kinder kommen in harte fremde Hände. Ohne Deinen Beistand vermag sie es nicht, meine Kinder bei einander zu halten. Babeli, o wenn ich auf Dich bauen könnte, wenn ich wüßte, daß Du meine Frau nicht verlassen wolltest!“

Und tiefer noch neigte sich Babeli. Lächelnd blickte sie in seine Augen, und mit leiser Stimme, aber feierlich sprach sie:

„Ich verlasse Euer Frauli nicht, wenn Ihr sterbet! Ich bleibe bei der Wittwe bis in den Tod, wenn sie mich nöthig hat!“

Diese wenigen Worte nur sprach sie. Schnell erhob sie sich dann, rief die Frau und die Kinder herbei, wiederholte vor Allen ihr voriges Versprechen und blickte dabei still zum Himmel empor.

Es entstand unter Frau und Kindern ein leises Weinen.

„Nicht doch, nicht doch,“ mahnte lächelnd Babeli, „er braucht Freude.“

„Du hast sie mir gegeben, Babeli,“ antwortete der Kranke, „ich sterbe ruhig, sterbe in dieser Freude.“

Und empor hob Babeli den kleinen Heinrich mit den Worten:

„Die Freude muß sich verdoppeln. Eure Kinder sind all’ gut, werden all’ Euch Ehr’ bringen. Aber ich denk’, dieser hier am meisten! Er ist nicht schön von Gesicht, aber schön von Gemüth. Ich will’s ihm mit dem Frauli schon erhalten!“

Der Vater lächelte nach Frauli und den Kindern hin. Durch einen Blick dankte er noch der Babeli – dann wendete er sich, und schlief ruhig ein, um nicht wieder zu erwachen.

Babeli hat treu gehalten, was sie versprach.


So oft späterhin der große Erzieher und Menschenfreund Heinrich Pestalozzi von seinem Vater sprach, so oft er seiner Mutter gedachte und der Entbehrungen, unter welchen letztere mit aufopfernder Liebe ihn und seine Geschwister erzog, erwähnt er auch die Treue der Babeli. Sein ganzes Leben blieb ihm das Andenken an sie unvergeßlich.

Was ist aus ihr geworden? Hat sie sich noch verbunden mit Gotthard? Wo lebte sie, wie erging es ihr, war ihr das Schicksal günstig oder ungünstig? Wir wissen es nicht. Nirgends findet man Weiteres über ihr Leben, und Niemand wohl kennt das Grab der treuen sinnigen Magd.

[180] Setzen wir ihr einen Denkstein durch Pestalozzi’s eigene Worte.

„Ihr Wort“ – sagt er – „beruhigte meinen sterbenden Vater, sein Auge erheiterte sich, und mit diesem Trost im Herzen schied er. Sie hielt ihr Versprechen, und blieb bei meiner Mutter bis an ihren Tod. Sie half ihr ihre drei armen Waisen durchschleppen durch alle Noth und durch allen Drang der schwierigsten Verhältnisse, und zwar mit einer Ausdauer und zugleich mit einer Umsicht und Klugheit, die um so bewundernswürdiger ist, als sie eben erst aus einer armen Dorfhütte in die Stadt gezogen war. Aber sie war in derselben zu solcher Würde und Treue der Gesinnung erstarkt durch hohen, einfachen Glauben. So schwer auch immer die gewissenhafte Erfüllung ihres Versprechens war, so kam ihr doch nie der Gedanke in die Seele, daß sie aufhören dürfe oder aufhören wolle, dieses Versprechen ferner zu halten. Sie förderte auf alle Weise die äußerste Sparsamkeit, die unserer Mutter Lage gebot. Wo es aber Ehrenausgaben, Neujahrsgeschenke, Trinkgelder und dergleichen galt, da wurden solche – trotz aller Einschränkung – fast über das Vermögen sehr ehrenfest bestritten. Ich und meine Geschwister hatten immer sehr feine Sonntagskleider, aber wir durften sie nur wenig tragen und mußten sie, sobald wir heimkamen, wieder ablegen, damit sie recht lange als Sonntagskleider getragen werden konnten. Erwartete die Mutter einen Besuch, so wurde die einzige Stube, die wir hatten, mit aller Kunst, die uns möglich war, in eine Besuchsstube umgewandelt.“

Wie mächtig dies Alles auf die Seele des kleinen Heinrich einwirkte, läßt sich gar nicht verkennen. Sein ganzes späteres Leben zeugt davon.

In der Wohnstubenweisheit, in der Wohnstubenkraft suchte er hauptsächlich das Heil und die Erlösung, denn die Wohnstube aus seiner eigenen Kindheit stand ihm leuchtend vor dem Auge. Hatte er in derselben auch Noth und Armuth kennen gelernt, so fehlte es in ihr doch nicht an großer, aufopfernder Liebe. Ein erhebendes Bild der Treue war ihm aufgestellt in der Babeli, dem schlichten Mädchen aus niedrigem, armen Stande. Durch solchen Anblick, durch solch ein Zusammenleben erwuchs in dem Knaben der kräftige Keim zu jener Selbstüberwindung, die der Mann Pestalozzi in seinem späteren Leben so kernig und ehrenfest zeigt. Hier in der Wohnstube ahnte er zuerst die hohe Kraft, die in jeder Menschennatur liegt und aus ihr sich heben läßt, wenn eben die Wohnstube nicht verkrüppelt, nicht verunstaltet wird. Diese Ahnung wurde bald in ihm zur Erkenntniß, und die Erkenntniß führte ihn zu der Grundansicht, welche alle seine Bestrebungen leitete, als er dann auftrat als Erzieher und Bildner der Bettelkinder, sowie der Kinder der Großen und Reichen.




Die Luftbahn auf den Rigi.

Ein neues Project, welches kürzlich in einer interessanten Schrift der Oeffentlichkeit übergeben wurde, ist so sehr geeignet, das Interesse der reiselustigen Welt zu erwecken, daß wir uns nicht enthalten können, dieselbe, mit Bewilligung des Verfassers, der uns außerdem mit den nöthigen Unterlagen unterstützte, in Auszügen aus seiner Schrift unsern Lesern mitzutheilen. Für den Laien, hoffen wir, wird unsere Darstellung genügen; demjenigen aber, der sich speciell für die Sache interessirt, rathen wir an, die wissenschaftlich und gründlich abgefaßte Schrift[1] selbst zu lesen. Dieselbe beginnt folgendermaßen:

Die Gondel in der Rollenbahn.

„Es sind noch nicht hundert Jahre verflossen, seit unsere Straßen in höchst schlechtem Zustande waren. In ihrer Richtung größtentheils nur den durch die Natur selbst gebahnten Wegen, Bächen und Schluchten folgend, wiesen sie selten eine Spur technischer Thätigkeit auf. Plumpe Karren, Saumpferde, Reitpferde, Sänften waren die Transportmittel; langsam und mühsam war der Verkehr. Nur Wenige sahen die Welt in großem Umkreis. Man blieb bequem zu Hause, weil sich keine angenehmen, die Reiselust aufreizenden Verkehrsmittel boten. – Wie ist dies nun Alles anders geworden! Breite, ebene, kunstmäßig ausgeführte Straßen verbinden fast alle Ortschaften, überschreiten Flüsse, Schluchten und Berge. Bequeme Postwagen, elegante Kutschen, mit raschen Pferden bespannt, beleben sie. Noch mehr! Eisenstraßen, mit weiser Berechnung, unwiderstehlicher Ausdauer und siegreicher Kühnheit ausgeführt, verbinden Länder und Völker, und auf ihnen führen gewaltige Dampfwagen mit langen Wagenzügen auf einmal Hunderte von Reisenden und mächtige Waarenlasten mit rasender Schnelligkeit ihrem Bestimmungsorte zu.

Es gibt indeß immerhin noch Orte, wo selbst bei sehr großem Postverkehr die alten, unbehülflichen Verkehrsmittel existiren, weil die Localität zu große Schwierigkeiten für Anwendung der neuen bietet. Ich meine hiermit namentlich diejenigen Orte, wo ein starker Verkehr mit hochgelegenen Punkten stattfindet, und weise als ganz auszeichnendes Beispiel auf den weltbekannten Rigi in der Schweiz hin. Jährlich wird dieser Berg von tausend und tausend Reisenden aus allen Weltgegenden besucht. Bis zu seinem Fuße werden dieselben auf die angenehmste Weise durch rasche Dampfschiffe geführt; dann beginnt aber ein sehr beschwerliches Steigen, welches drei gute Stunden dauert. Ein Theil der Reisenden keucht mühsam zu Fuß den Berg hinan, andere lassen sich durch Reitpferde hinauf tragen – eine wahre Tierquälerei – die dritten übergeben ihren trägen Leib sogar einer Sänfte, welche von Männern getragen wird – eine wahre Sklavenarbeit. – Oben angekommen, findet man dann wieder allen möglichen Comfort, stattliche Hotels, elegante Zimmer, feine Mahlzeiten, ohne daß man daran denkt, welch’ große Mühe die Herstellung all’ dieser Bequemlichkeiten auf einer Höhe von 5500 Fuß (über Meer) verursacht hat, und immer noch verursacht. Bei Betrachtung dieses primitiven Verkehrszustandes ist mir denn schon vor mehreren Jahren der Gedanke gekommen, ob es in unserer, an vorzüglichen Verkehrsmitteln so reichen Zeit, überhaupt bei dem so sehr gehobenen Zustande der Bau- und Maschinentechnik, nicht möglich wäre, auch für den Verkehr mit Höhen eine Einrichtung zu treffen, die in den Leistungen mit den Eisenbahnen in der Ebene zu vergleichen wäre.

Wohl scheint auf den ersten Blick eine schiefe Eisenbahnebene mit stationären Dampfmaschinen (wie sie anderwärts für Uebersteigung geringer Höhen schon angewendet wurde) die anwendbarste

[181]

Die Luftbahn auf den Rigi.

[182] Einrichtung auch für die Ersteigung des Rigi zu sein, und ich will zugeben, daß die Ausführung möglich wäre. Wenn man jedoch bedenkt, daß es sich um die rasche Ueberwindung der den Transportgegenständen innewohnenden Schwerkraft bis auf eine Höhe von 4200 Fuß (vom Zugersee an gerechnet) handelt, wozu eine sehr bedeutende mechanische Arbeit nothwendig wäre; daß ferner die Bahn eine nicht gar steile Neigung haben dürfte, folglich in bedeutender Länge sich an dem Berge herumziehen und dabei großartige Terrainhindernisse treffen würde: – so wird es klar, daß dieses System der Communication an solchem Local nicht passend ist. Nein, nein! Es gibt andere Mittel! Wir haben eine Maschine, welche für diesen Zweck die trefflichsten Eigenschaften besitzt, eine Maschine, deren ganzes Wesen darin besteht, daß sie, einmal hergerichtet, ohne ferneren Kraftaufwand der Schwerkraft auf eminente Weise entgegenstrebt, zum Voraus und beständig dieselbe überwindet in einem der Größe der Maschine entsprechenden Maße.

Diese längst bekannte, vielbewunderte Maschine ist – der Luftballon.

Das Wort ist ausgesprochen, und ich sehe meine Leser lächeln, den Kopf schütteln, und höre sie hundert Einwendungen vorbringen. Ganz begreiflich. Als mir zum ersten Male dieser Gedanke kam, habe ich es gerade so gemacht. Doch hielt ich einmal fest, daß, was Niemand bestreiten kann, der Luftballon, wie gar keine andere Vorrichtung, geeignet ist, Lasten in große Höhen zu heben.

An eine freie, willkürliche Fahrt mit dem Ballon durch die Luft richtete ich meine Gedanken nicht; zum Voraus schien mir dies eine unerreichbare Sache, und die Studien, die ich über die Geschichte der Luftschifffahrt und die bis in die neueste Zeit darin gemachten Versuche und Projecte machte, haben mich einsehen lassen, daß der freien, willkürlichen Luftschifffahrt immer noch die größten, bedenklichsten Hindernisse entgegenstehen, daß, trotz vielfacher Anstrengungen genialer Männer, für die willkürliche Lenkung der Luftballone noch so viel wie Nichts gethan ist und daß die Aussichten zur Lösung dieses Problems sehr gering sind. Nein, ich hatte eine andere Idee für die Anwendung der Luftballone zur Ersteigung hoher Punkte der Erdoberfläche: Der Ballon muß nämlich an einer zu dem zu erreichenden Punkte schief aufsteigenden Bahn mittelst Rollen geleitet werden und wird auf diese Weise unfehlbar sein Ziel erreichen.

So abenteuerlich dieser Gedanke anfänglich schien, so erschien mir doch diese (durch vielleicht mögliche Ausführung) in Aussicht stehende Verkehrsweise so ausgezeichnet, daß ich die Idee eifrig weiter verfolgte und nun, nach Ueberwindung mancher Irrthümer und Schwierigkeiten, zu dem fast sicheren Resultate gelangt bin, daß die Sache auf eine für den lebhaftesten Verkehr genügende, in den Leistungen wohl mit den Eisenbahnen in der Ebene zu vergleichende Weise ausführbar ist.“

Nun führt der Verfasser zuerst den Beweis, daß es eine ausführbare Sache sei, einen soliden luftdichten Ballon (von Kautschuk, mit Wasserstoffgas gefüllt) anzufertigen, welcher 20 Personen mit 10 Centner Reisegepäck in die Höhe heben kann. Nach verschiedenen Untersuchungen über die nothwendige Fahrsteigkraft, über die Fahrgeschwindigkeit, welche zu 10′ per Secunde höchstens ½ Stunde für die ganze Fahrt) angenommen wird, und nach Beschreibung seiner ersten mangelhaften Projecte über das Constructive der Luftbahn, gibt uns der Verfasser in Wort und Bild eine genaue Beschreibung des Systems, die wir hier in Kürze andeuten wollen.

Die Luftbahn besteht aus einem doppelten eisernen Schienengeleise, welches auf ziemlich hohen, hölzernen Gestellen ruht, die etwa 20–30′ von einander entfernt befestigt werden. Das obere Schienenpaar dient den sich darin bewegenden Rollen als Bahn für die Auffahrt, das untere ist für die Thalfahrt bestimmt. An der Achse der doppelten Rolle ist der Ballon befestigt und an derselben Achse hängt unterhalb der Schienengeleise die zur Aufnahme der Reisenden und des Gepäckes dienende Gondel, welche mit einem leichten Dache gedeckt werden kann. An derselben hängt ein tonnenförmiger Wasserbehälter.

Die Bahn, welche vom Zugersee, am Fuß des Rigi, direct auf den Kulm zu führen wäre, ist, der Bodenbeschaffenheit folgend, 15–45 Fuß zur Horizontalen geneigt. Es ist durchaus nicht nothwendig, daß die Neigung auf der ganzen Länge der Bahn gleichmäßig sei, nur müssen die Uebergänge von einer schwächeren zu einer stärkern Neigung, um unangenehme Stöße beim Fahren zu vermeiden, nicht im Winkel, sondern im Bogen geschehen. Ebenso ist es nicht nöthig, daß die Bahn immer ein und dieselbe Richtung einhalte; man braucht nur auf die gewöhnlichen Eisenbahnen hinzublicken, um auch hier die Anwendung krummer Bahnen zuzugeben.

Diese Eigenschaften der Luftbahn machen sie besonders geeignet, Terrainschwierigkeiten leicht zu überwinden, zumal wenn man noch erwägt, daß sie nicht unmittelbar auf dem Erdboden selbst ruht. Die Terrainbauten würden also bei weitem nicht so kostspielig und großartig ausfallen, als sie bei gewöhnlichen Eisenbahnen so oft vorkommen.

Um an den Endpunkten der Bahn, den Stationen, das Fuhrwerk in Stillstand bringen zu können, ist nichts weiter erforderlich, als daß die Bahn daselbst horizontal geführt werde. Auf den Stationen sind die Ballons im Freien vor Anker zu legen, wenn man nicht vorzieht, große Schuppen zur Aufnahme derselben zu bauen. Ferner ist ein Laboratorium zur Fabrikation des Wasserstoffgases mit Gasometer herzustellen, um die Ballons stets gefüllt zu erhalten. Diese letzteren müssen möglichst gasdicht sein; Klappen sind daher an ihnen nicht anzubringen und die einzige, zum Füllen nöthige Oeffnung ist auf’s Sorgfältigste zu schließen, denn auch bei der Thalfahrt soll kein Gas entlassen werden.

So werden bei der Luftbahn alle Bedingungen erfüllt, auf deren Lösung die freie Luftschifffahrt noch immer harrt.

Das Steuer des Ballons ist die feste Bahn, die Triebkraft aufwärts ist die Steigkraft selbst, und die Triebkraft abwärts ohne Gasverlust ist einfach damit herzustellen, daß das Gewicht der Gondel größer gemacht wird, als dasjenige ist, welches der Ballon zu tragen vermag. Die Rolle senkt sich dann auf die unteren Schienen und die Rückfahrt geht, je nach der Größe des Uebergewichts, schneller oder langsamer von Statten. Für alle Fälle würde an der Rolle eine wirksame Bremsvorrichtung anzubringen sein, damit die Fahrt nach Belieben gehemmt werden kann.

Womit ist aber das vorhin erwähnte Uebergewicht herzustellen? Das einfachste Mittel ist das Wasser, und der Verfasser beweist, daß es leicht möglich ist, durch Ansammeln des Regen- und Schneewassers in einem Reservoir so viel zu erhalten, daß dasselbe zur Thalfahrt für die ganze Reisesaison ausreichen würde, selbst beim lebhaftesten Verkehr.

Wie ist es aber mit dem Einfluß des Windes auf die Fahrt? Bei Sturmwind ist die Bahn nicht zu befahren. So kühn auch im Allgemeinen die menschlichen Unternehmungen in unserer Zeit sind – die Natur setzt ihnen überall Grenzen. Posten und Eisenbahnzüge bleiben im Schnee stecken; der Schiffer muß zu Zeiten sein Fahrzeug willenlos den Wellen überlassen; – und die Luftbahn muß bei Sturmwind ihre Ballons müßig stehen lassen. Keineswegs aber ist der Betrieb der Luftbahn bei mäßigem oder sogar ziemlich starkem Winde unmöglich; denn die mächtig aufstrebende Kraft des Ballons, mit der des Windes verglichen, ergibt, daß die erstere nur vom Sturmwind übertroffen wird.

Wie steht es aber mit der Rentabilität der Luftbahn? In den letzten Jahren betrug die Zahl der Rigireisenden wohl jährlich 30000, und wäre die Bahn in Betrieb, so würde sich diese Zahl unzweifelhaft bedeutend vergrößern. Das Angenehme, Interessante, Schöne einer solchen Fahrt wäre eine mächtige Anziehungskraft für die gesammte reiselustige Welt. Rechnen wir aber nur 20000 Reisende, welche die Luftbahn benutzen würden, und stellen wir die Taxe für Auffahrt sammt Rückfahrt auf 5 Franken (ein Pferd kostet 10 Franken), so hätten wir eine Einnahme per Saison von 100000 Franken, womit ein Capital von 2 Millionen Franken zu 5 Procent verzinst würde. Die Eisenbahnen in der Schweiz brauchten für die Anlage und den Betrieb bei größtentheils schwierigen Verhältnissen ein Capital von etwa 1 Million Franken für eine Schweizerstunde Bahnlänge. Die Luftbahn auf den Rigi würde nur die Länge einer Schweizerstunde erhalten, an ihrer Rentabilität dürfte daher kaum mehr zu zweifeln sein.

Herr Architekt Albrecht hat selbst die Formation des Rigi untersucht, um für die Luftbahn ein günstiges Tracé aufzufinden. Es ist ihm gelungen. Der Kamm, welcher sich von der Kulmspitze in nordwestlicher Richtung gegen Immensee herunterzieht, würde sich dazu eignen. Diesem müßte man bis ungefähr in die Höhe des sogenannten Seebodens folgen, von dort aber das Tracé in nordöstlicher Richtung gegen den Zugersee, nach Rickenbach (zwischen [183] Arth und Immensee herabführen. Diese Linie zeigt, einige Felswände abgerechnet, in ihrem Längenprofil beständig sehr günstige Neigungen von nicht unter 20 und nicht über 45 Grad. Die Länge dieses Tracé beträgt etwa eine Schweizerstunde.

Außer dem Rigi würde noch der vielbesuchte Niesen ein zur Luftbahn sehr günstiges Terrain bieten.

Der Verfasser beweist nun noch, daß seine Luftbahn selbst dem größten Verkehr genügen würde, und schließt sein interessantes Werkchen mit den Worten: „So nehmt sie hin, „die Luftbahn“, beguckt sie, untersucht sie! Mag sie auch mitunter, wie überhaupt alle neuen Gedanken, von Vielen bespöttelt werden, so zweifle ich doch nicht, daß ein großer Theil der Gebildeten zugeben wird, daß die Idee im Princip richtig ist, und daß bei tieferem Eingehen auf den Gegenstand sich immermehr die Ueberzeugung aufdrängt, daß die Ausführung möglich ist.

„Ich kann schließlich nicht unterlassen, nachdrücklich zu praktischen Versuchen aufzufordern, und lade Alle, welche sich für die Sache interessiren, ein, sich auch dafür zu bethätigen. Meinerseits bin ich gerne bereit, mitzuwirken, und könnte nötigenfalls über das Constructive noch weitere, detaillirte Angaben machen.“




Die deutschen Vorschuß-Vereine.
Von Schulze-Delitzsch.

Die glänzende Anerkennung, welche das deutsche Associationswesen auf dem Congresse deutscher Volkswirthe zu Gotha im September vorigen Jahres gefunden hat, bezog sich namentlich mit auf unsere Vorschuß- und Creditvereine, welche, aus Selbsthülfe und Solidarität gegründet, die Aufgabe, dem unbemittelten Gewerbtreibenden das nöthige Capital zu seinem Geschäftsbetriebe zuzuführen, trotz ihres erst so kurzen Bestehens in überraschender Weise gelöst haben. Sie sind eine eigenthümlich deutsche Form der Genossenschaft, welche weder in England, noch in Frankreich vorkommt, und in dem ganz besonders dem deutschen Wesen eignen Streben gegründet, vermöge dessen unsere Handwerker und Arbeiter soviel als möglich ihre vereinzelte gewerbliche Selbstständigkeit zu behaupten suchen und sich sehr schwer zu genossenschaftlichem Gewerbebetriebe für gemeinsame Rechnung entschließen, vielmehr die Genossenschaft, wo es immer geht, nur zur vortheilhafteren Beschaffung der Vorbedingungen eines lohnenden Gewerbetriebes für den Einzelnen benutzen. Daß sie aber eben so fruchtreich, ja unentbehrlich bei weiterer Verbreitung des Associationswesens sein müssen, ist klar, indem die alsdann vielleicht zu erwartende Steigerung des Verkehrs der Productiv-Associationen der Vermittelung von Associations-Banken gar nicht wird entbehren können, wie sich schon jetzt darin zeigt, daß die bestehenden Rohstoff- und Consum-Vereine zu den regelmäßigsten und sichersten Kunden der Vorschußvereine gehören.

Ueber die Einrichtung derselben verweise ich auf mein Schriftchen: „Vorschußvereine als Volksbanken“ (Leipzig, bei E. Keil), welches in einigen Wochen in zweiter, ganz umgearbeiteter Auflage erscheinen wird, sowie auf frühere Mittheilungen in diesem Blatte, da hier nur die Umrisse im Allgemeinsten angedeutet werden können.

Die Vorschußvereine sind überall, ohne Mitwirkung von Capitalisten, durch Zutritt der kleinen Gewerbtreibenden und Arbeiter gegründet, welche sich derselben bedienen wollen, so daß die Kunden zugleich die Träger des Geschäfts sind, welches nur seinen Mitgliedern creditirt, die durch Gründung eines solchen Vereines also ihrem eigenen Bedürfnisse abhelfen. Der Fond wird durch Beiträge derselben und Anlehen von Dritten aufgebracht, für welche letztere Alle solidarisch, d. h. Jeder für das Ganze haften. Zu regelmäßigen Beiträgen sind die einzelnen Mitglieder, meist in Form von Monatssteuern, so lange verpflichtet, bis bei jedem ein festnormirter Betrag, ein Geschäftsantheil, in der Casse gebildet ist, welchem auch bis dahin die Dividenden zugeschrieben werden. Indem man die letzteren nach Höhe dieses Guthabens eines jeden Einzelnen in der Vereinscasse vertheilt, gewährt man den Mitgliedern den größten Reiz zur Verstärkung der Monatssteuern, also zum Sparen, und erreicht auf diese Weise, durch Anspornung des Eigeninteresse’s, die Anfänge eigener Capitalbildung für die Mitglieder viel rascher, als auf jedem anderen Wege, mit ihr aber die Grundlage alles wirthschaftlichen Gedeihens, worauf wir den größten Werth legen. Denn die Leichtigkeit, Credit zu erhalten, ist für den unbemittelten Gewerbtreibenden, wenn nicht das Anwachsen der Deckungsmittel damit Hand in Hand geht, nicht selten ein zweischneidiges Schwert, welches sich wider ihn selbst kehrt. So aber, wo er genöthigt ist, durch allmähliche, ihn nicht belästigende Steuern sich eine Summe anzusammeln, zu welcher noch der Reingewinn des Vorschußgeschäfts (sonst das thatsächliche Monopol der Capitalisten) als Dividende fließt, wird nicht blos für die Bank selbst, dem Publicum gegenüber, in einem den Mitgliedern gehörigen Grundstock, welcher mehr und mehr fremde Gelder entbehrlich macht, ein fester Anhalt, eine sichere Garantie gewonnen, sondern auch für den von dem Einzelnen zu beanspruchenden Credit. Es ist dies ein Vorzug, den unsere Vorschußvereine vor allen ähnlichen Instituten dieser Art voraus haben, der ihre segensreiche Wirkung hauptsächlich bedingt und sie zu einem so wichtigen Hebel für die Hebung der arbeitenden Classen macht.

Zum Belege des Gesagten mögen nun hier von einigen Vereinen die Resultate nach den mitgetheilten Rechnungsabschlüssen in den Hauptbeziehungen eine Stelle finden, wobei auf die verschiedenen Zeitstufen ihrer Entwickelung Rücksicht zu nehmen ist.

Betrachten wir zunächst den ältesten und ersten darunter, den Vorschußverein zu Delitzsch, welcher anfangs, vom Mai 1850 bis zum Herbst 1852, in alter Weise, nach dem kläglichen Almosenprincip organisirt war, von welchem so viele auch jetzt, trotz Wissenschaft und Erfahrung, nicht los können. Man hatte einige hundert Thaler geschenkweise und als unzinsbare Darlehen aufgebracht, die man in kleinen Posten gegen einen äußerst geringen Verwaltungskostenbeitrag auslieh und wobei man das, was nicht unrettbar verloren ging, meist wieder einklagen oder doch sehr mühsam einziehen mußte, bis im Herbst 1852 durch den Obengenannten die Reorganisation nach den jetzigen Grundsätzen erfolgte, welche den meisten später gegründeten zum Muster diente. Es ergeben sich hier folgende Zahlen, wobei alle Summen nur in Thalern ausgerückt sind:

1. Jahr der Wirksamkeit. 2. Mitgliederzahl am Jahresschl. 3. Summe d. im J. gegeb. Vorsch. u. Prolongationen. 4. Guthaben od. Geschäftsantheil d. Mitgl. 5. Reserve. 6. Ganzer Betriebsfond am Jahresschl.
1850–1852 117–30 825 47 108 230
1853 175 8440 195 204 2067
1854 210 15,012 558 235 3560
1855 256 19.810 1548 255 5096
1856 301 24,532 2729 303 6039
1857 350 30,958 3871 368 9784
1858 382 45,197 4830 394 12,987

Hier stellt sich so recht der Unterschied zwischen dem alten Princip der Unterstützung und dem jetzt dem Vereine zu Grunde liegenden der Selbsthülfe heraus. Während in der Zeit vom Mai 1850 bis October 1852 – zwei Jahre und fünf Monate – nur 825 Thaler im Ganzen als Vorschüsse gewährt wurden und die Mitgliederzahl von 117 auf 30 heruntersank: eine solche Steigerung des Verkehrs von 1853 ab mit jedem Jahre! Und dies in einer Landstadt von 5000 Einwohnern mit gewöhnlicher Handwerksindustrie, wo noch dazu die städtische, höchst bedeutende Sparcasse eine gefährliche Concurrenz macht, welche von ihren Gewinnüberschüssen ebenfalls Vorschüsse zu geringeren Zinsen gegen Pfand und Bürgschaft gewährt.

Von großem Interesse ist ferner der Verlauf der Dinge in Eisleben (Bergstadt von 14,000 Einwohnern), wo sich besonders durch die Bemühungen des dasigen ausgezeichnet tüchtigen Geschäftsmannes, Herrn Söngel, ein Vorschußverein ganz in der Art des Delitzscher im Jahre 1854 bildete. Da die Behörde in jener Zeit den Verein für concessionspflichtig achtete und die Concession an höchst erschwerende, jede freie Bewegung lähmende Bedingungen knüpfte, so gestaltete man denselben Anfang October 1856 in eine [184] Disconto-Gesellschaft, ein gewöhnliches Societäts-Bankgeschäft um, in welchem jedes Mitglied sich mit einem Geschäftsantheile von mindestens 10 Thaler, welcher allmählich eingezahlt wurde, beteiligen mußte, und gab die Vorschüsse in der Form von Wechseldiscontirungen, was um so weniger Schwierigkeiten machte, als man bereits vorher sich von den Mitgliedern Wechsel statt gewöhnlicher Schuldscheine hatte ausstellen lassen. Das Geschäft nahm folgenden Aufschwung:

1. Jahr der Wirksamkeit. 2. Mitgliederzahl am Jahresschl. 3. Summe der im Jahr gegebenen Vorschüsse. 4. Guthaben od. Geschäftsantheil d. Mitgl. 5. Reserve. 6. Ganzer Betriebsfond am Jahresschl.
1854 735
1855 101 6416 180 118 2359
1856 255 30,929 3814 343 14,867
1857 295 83,716 8267 639 35,970
1858 340 302,738 18,527 873 95,605

wobei zu bemerken ist, daß das Geschäft erst in dem letzten Quartal 1854 begann und die erste Rechnung deshalb erst Ende 1855 abgeschlossen ist, gegenwärtig jedoch das Rechnungsjahr jedes Mal vom ersten Juli bis letzten Juni des nächsten Jahres läuft.

Einen sehr bemerkenswerthen Gang nahmen die Dinge in Leipzig, wo im Sommer 1856 besonders durch die rastlosen Bemühungen des durch seine gemeinnützigen Bestrebungen bekannten Advocaten Winter ein Vorschußverein nach dem Plane der unsrigen zu Stande kam, nachdem ein vom dasigen Innungsmeisterverein schon 1854 aufgestelltes Project daran gescheitert war, daß das dazu erwählte, zum Theil aus reichen Kaufleuten bestehende Organisationscomité die Begründung eines solchen Instituts auf Selbsthülfe und Gegenseitigkeit für unmöglich erklärte, vielmehr durch unzinsbare Darlehen und Geschenke einen bedeutenden Fond von 8540 Thalern zusammenbrachte und damit die Darlehnsanstalt für Gewerbtreibende gründete. Dieser wesentlich auf Mildthätigkeit, Hülfe von außen basirten Anstalt gegenüber hat sich unser Vorschußverein, ohne alles Zuthun der Capitalisten, ohne jede Subvention, blos aus eigener Kraft seiner Mitglieder – meist aus dem kleinen Gewerbsstande – in der kurzen Zeit seines Bestehens aus den bescheidensten Anfängen heraus dergestalt entwickelt, daß er dieselbe an Umfang seines sich stets steigernden Verkehres bereits jetzt überflügelt. Derselbe betrug nämlich:

1. Jahr der Wirksamkeit. 2. Mitgliederzahl am Jahresschl. 3. Summe der im Jahr gegebenen Vorschüsse. 4. Guthaben od. Geschäftsantheil d. Mitgl. 5. Reserve. 6. Ganzer Betriebsfond am Jahresschl.
1856
(nur 5 Monate)
126 1547 198 13 1133
1857 400 32,747 2140 135 13,049
1858 700 64,179 6929 383 22,676

Ueberhaupt waren von fünfundzwanzig Vorschußvereinen, von denen die meisten erst seit einem und zwei Jahren bestanden, im Jahre 1857, nach den mitgetheilten Rechnungsabschlüssen, 643,879 Thaler Vorschüsse gewährt worden, ein Betrag, der sich 1858 nur allein bei diesen fünfundzwanzig Vereinen (wie der Vorgang von Eisleben zeigt) verdoppelt hat. Nun sind aber gegenwärtig bereits achtzig bis neunzig solcher Vereine in Deutschland im Gange, woraus man sich einen Begriff von der Bedeutung dieser Institute für unsern Kleinverkehr machen kann, da ihr Gesammtumsatz nach Millionen berechnet werden muß. Dies haben denn auch sämmtliche deutsche Regierungen, mit alleiniger Ausnahme der hannöverschen, anerkannt und jede Hemmung, wie sie besonders in dem leidigen Concessionswesen und der damit verbundenen Controle und Bindung des freien Geschäftsverkehres lag, beseitigt. Gerade in Hannover aber, wo, nächst der preußischen Provinz Sachsen, die Genossenschaften dieser Art, bei der Kernhaftigkeit und Intelligenz des dortigen Handwerkerstandes am freudigsten aufblühten, sind eine ganze Anzahl der in der gedeihlichsten Wirksamkeit begriffenen Vereine (in Hannover, Hildesheim, Peine, Celle, Emden, Lüchow, Alfeld u. a.) durch die Concessionsverweigerung unterdrückt, und es ist noch fraglich, ob dieselben vielleicht unter anderer, die Einmischung der Behörden, als eines mit der Wirksamkeit dieser Banken unverträglichen Elementes, ausschließenden Form je wieder in Wirksamkeit treten werden.

Die bedeutendsten der jetzt begehenden Vereine, außer den genannten, sind die in Meißen, Zerbst, Sangerhausen, Luckau und Dresden, von denen jeder der vier ersteren im Jahre 1858 sicher gegen 100,000 Thaler und darüber an Vorschüssen ausgegeben hat (die vollständigen Rechnungsabschlüsse liegen noch nicht vor), der letztere aber im Jahre 1858, als im ersten seiner Wirksamkeit, gleich mit 41,056 Thaler Vorschüssen begann. Von den Leitern dieser Vereine sind namentlich die Herren Advocat Hallbauer in Meißen, Buchhändler Behm in Zerbst, Amtsrichter Steinacker in Sangerhausen, Destillateur Zopp in Luckau, Haushofmeister Schöne und Advocat Miller in Dresden als besonders verdiente Förderer der guten Sache zu erwähnen, von denen Herr Hallbauer in einer sehr schätzenswerthen Schrift: „Ueber Vorschuß- und Credit-Vereine mit besonderer Rücksicht auf den Credit-Verein in Meißen. Meißen, 1857.“ für die Verbreitung der Vereine besonders für Sachsen Propaganda macht, und die Eigenthümlichkeiten des von ihm mit so vielem Erfolge geleiteten Vereins, welcher von der königlich sächsischen Regierung in liberalster Weise Corporationsrechte erhalten hat, entwickelt.

Hoffentlich wird der im nächsten Herbst in Frankfurt a. M. wieder zusammentretende Congreß deutscher Volkswirthe auf die fernere Entwickelung des Genossenschaftswesens namentlich in Süddeutschland vortheilhaft einwirken und dazu helfen, daß die Rechnungsabschlüsse der Vereine nebst sonstigen Nachrichten besser, wie bisher, eingehen und die für Fortbildung der Sache unerläßliche Statistik vervollständigt werden kam.




Aus dem Affenleben.
Von Dr. Ludw. Brehm.[WS 1]

Wenn man dem weniger mit dem Thierleben Vertrauten etwas aus demselben erzählt, was höhere geistige Kräfte bekundet, hört man gewiß die Worte des Fischers in Tell:

„Ihr seid nicht klug – ein unvernünft’ges Vieh –“

und wenn man mit denen des Jägers darauf erwidert:

„Ist bald gesagt. Das Thier hat auch Vernunft!“ –

pflegt man selten Beifall, sondern vielmehr meist entschiedenen Widerspruch zu ernten. Dem ungeachtet behaupte ich: „Das Thier hat Vernunft!“ – Es hat noch andere Geistesgaben; denn es hat Herz und Gemüth: es hat Mitgefühl für die Schwäche anderer Thiere und sucht dieser abzuhelfen, so gut es eben kann. Und dabei berücksichtigt es nicht einmal seine Art allein, sondern dehnt häufig sein Mitleid auch auf andere, ihm eigentlich fremde Geschöpfe aus. Dazu gibt uns das Pflegeelternwesen der Thiere herrliche Belege. Ich will einige selbst gemachte Erfahrungen hierüber mittheilen.

Während meines langjährigen Aufenthaltes in Afrika hatte ich überall, wo es anging, eine mehr oder minder zahlreiche Thiergesellschaft um mich. Im Ostsudan lebte ich eigentlich meine Thieren mehr, als den Menschen, und das hatte seinen guten Grund. Die dortigen Menschen verstanden mich nicht oder waren Leute, denen man lieber aus dem Wege geht, als daß man sie aufsucht. Deshalb befand ich mich wohler unter meinen Thieren, welche zuweilen fast sämmtliche Räumlichkeiten meiner Wohnung im Besitz hatten.

Unter Anderen hielt ich gleichzeitig über ein Dutzend Affen lebendig, große und kleine, Meerkatzen und Paviane. Jedes dieser merkwürdigen Thiere hatte sein eigenes Wesen und gab mir Gelegenheit zu höchst anziehenden und unterhaltenden Beobachtungen. Der eine war zänkisch und bissig, der andere friedfertig und zahm, der dritte mürrisch, der vierte ewig heiter, dieser ruhig und einfach, jener pfiffig schlau und ununterbrochen auf dumme oder boshafte Streiche bedacht; alle aber kamen darin überein, daß sie größeren [185] Thieren gern einen Schabernack anthaten, kleinere beschützten, hegten und pflegten und sich selbst jede Lage erträglich zu machen wußten. Dabei lieferten sie täglich Beweise eines überraschenden Verstandes, wahrhaft berechnender Schlauheit und wirklich vernünftiger Überlegung, zugleich aber auch der größten Gemüthlichkeit und zärtlichsten Liebe und Aufopferung anderen Thieren gegenüber, so daß ich die komischen Gesellen täglich lieber gewann. Ich hatte in den Urwäldern des Inneren häufig Proben ihrer sprüchwörtlich gewordenen Mutterliebe und ihres gegenseitigen Zusammenstehens zu Schutz und Trutz gesehen, sollte sie aber doch erst in der Gefangenschaft gründlich kennen lernen.

Während einer Reise auf dem blauen Flusse brachten mir die Sudanesen eines schönen Nachmittags fünf frisch gefangene Meerkatzen zum Verkauf. Ich freute mich ungemein, mir gute Reisegesellschaft erwerben zu können, und brachte alle fünf gegen Erlegung der geforderten Summe von zehn Neugroschen unseres Geldes an mich. Aber ich hatte mich sehr verrechnet, indem ich geglaubt hatte, lustige Reisegefährten zu erhalten. Es waren Affen, denen ich das schwere Loos der Gefangenschaft zugedacht hatte, „metamorphosirte Menschen“, wie sie Wagler nennt. Die Thiere saßen stumm und traurig an einem Bord des Schiffes, wo sie der Reihe nach angebunden worden waren, und bedeckten sich das Gesicht mit beiden Händen, wie tief betrübte Menschenkinder. Die leckerste Speise blieb unberührt; und sehr schwermüthige Gurgeltöne drückten offenbar Klagen gegen das unerbittliche Schicksal aus. Wahrscheinlich beriethen sie sich auch nebenbei, was unter diesen schlimmen Umständen am zweckmäßigsten gethan werden könnte. Wenigstens schien ein darauf hindeutendes Ergebniß die Folge ihrer Gurgelei zu sein: am anderen Morgen war nur ein Affe auf dem Schiffe zu sehen, alle übrigen hatten sich Nachts auf- und davongemacht. Ich untersuchte die zurückgelassenen Stricke; kein einziger war zerrissen, wohl aber hatten die Thiere alle Knoten sorgfältig gelöst. Das konnte blos gegenseitig geschehen sein, sonst hätte sich der Zurückgebliebene auch befreit. Bei genauerer Prüfung ergab es sich, daß er von seinen Mitgefangenen nicht hatte erreicht werden können. Später sah ich es übrigens mit an, wie ein Affe den andren seiner Bande entledigte. Das heißt nun doch gewiß treue Hülfe in der Noth und echt menschlich – vernünftig gehandelt.

Der noch vorhandene Affe war ein Männchen und erhielt, wie so viele seiner Art, den beliebten Namen Koko. Er trug sein Geschick mit Würde und Fassung. Die erste Untersuchung hatte ihn gelehrt, daß seine Fesseln für ihn unlösbar seien; deshalb fügte er sich, als echter Weltweiser, gelassen in das Unvermeidliche, begann zu fressen und trieb Possen. Mit uns wollte er sich jedoch nicht befreunden; er biß heftig um sich, wenn sich ihm Jemand nahte. Doch sollte das bald anders werden. Sein Herz bedurfte eines Gefährten und Gespielen. Oft sah er verlangend nach am Schiffe vorübergehenden Hunden: – ich glaubte, das geschähe aus Groll, und that ihm damit großes Unrecht. Eines Tages bemerkte ich, daß Koko seine Wahl getroffen hatte. Sie war sonderbar genug. Meine Leute hatten aus demselben Walde, in dem der Affe das Licht der Welt erblickt hatte, auch einen jungen Nashornvogel aus dem Neste genommen, welcher aufgefüttert wurde. Derselbe hatte ungefähr die Größe eines starken Chinahahns, sah nichts weniger als anmuthig aus und war still und langweilig. Ihn hatte sich der Affe zum Pflegling auserkoren: das männliche Säugethier einen tölpischen, ungeschickten, größeren Vogel! Es ist unmöglich, die komischen Scenen alle zu beschreiben, welche nun folgten. Sobald sich der Vogel seinem Pfleger näherte, ergriff ihn dieser bei seinem ungeheueren Schnabel, zog ihn zu sich heran, streichelte ihn und begann dann die Schmarotzer, mit denen das Thier seine große Noth hatte, abzulesen.

Diese liebevoll gewährte Erleichterung schien ihm ungemein zu behagen und erwarb dem Affen bald sein Herz. Schon nach wenig Tagen ließ er sich von seinem vierhändigen Freunde Alles gefallen. Dieser legte ihn auf die Seite oder auf den Rücken, um ihn auf der Brust zu untersuchen, der Nashornvogel blieb liegen; er brachte die Federn in Unordnung; ihr Träger ließ es sich gefallen, ja, er sträubte sogar diejenige Stelle seiner Bedeckung, unter welcher sich der Affe zu schaffen machte; dieser packte ihn am Schnabel, am Halse, an den Beinen, den Flügeln, dem Schwanze, riß ihn an sich: er ließ Alles über sich ergehen. Tagtäglich besuchte er den Affen viele Male, fraß ihm das vor ihm liegende Brode weg, putzte sich in seiner Nähe und schien jenen fast herausfordern zu wollen, sich wieder mit ihm zu beschäftigen. Er verweilte stets so lange in der Nähe seines Freundes, bis er seinen Zweck erreicht hatte, und Koko mit dem alle Affenbeschäftigungen kennzeichnenden Ernste sein Reinigungswerk von Neuem begann.

So lebten die beiden Freunde mehrere Monate lang miteinander. Wir waren nach Charthum zurückgekehrt; der Vogel lief frei im Hofe herum, während Koko angefesselt worden war; auch das that der Liebe keinen Abbruch, denn nach wie vor ging der inzwischen dem Gängelbande entwachsene Pflegling zu seinem Beschützer und Reiniger. Der Tod löste das schöne Verhältniß: Koko war wieder allein und langweilte sich. Mit vorüberschleichenden Katzen Freundschaft einzugehen, schien ihm nicht gelingen zu wollen; wenigstens kam es einmal zwischen ihm und einem mißliebig gestimmten Kater zu argem Kampfe, welcher trotz entsetzlichem Zischen und Miauen, Gurgeln und Schreien unentschieden blieb, obwohl er mit dem Rückzuge des wahrscheinlich unversehens von dem Affen ergriffenen Mäusejägers endete.

Da erhielten wir einen ganz jungen Affen von Koko’s Art zum Kauf. Unser Freund schien närrisch vor Freuden, als er das kleine Thierchen erblickte, und streckte verlangend die Hände nach ihm aus. Wir ließen den Kleinen los und er lief von selbst zu jenem hin. Welches Vergnügen drückten jetzt die Gurgeltöne des so lange vereinsamt Gewesenen aus! Er erstickte seinen angenommenen Pflegesohn fast mit Zärtlichkeitsbezeigungen. Zunächst begann er sodann die allersorgfältigste Reinigung desselben. Jedes Stäubchen wurde entfernt, jeder Stachel, jeder Splitter, wie sie in jenen kletten-, distel- und dornreichen Ländern immer im Haar der Säugethiere zu finden sind, wurde abgelesen, herausgezogen, weggekratzt. Dann folgten neue Umarmungen, neue Schmeicheleien und Liebesversicherungen in Gurgeltönen, neue Beweise unbegrenzter Zärtlichkeit. Wenn Jemand Miene machte, den Kleinen zu ergreifen, wurde der Alte ganz wüthend; wenn ihm einer von uns seinen Liebling abgenommen hatte, traurig und unruhig. Während das Aeffchen fraß, verwandte er kein Auge von demselben; der unbedeutendste Vorfall machte ihn besorgt. Der Kleine hing nun ebenfalls sehr bald mit großer Hingebung an seinem Wohlthäter und bewies ihm dann auch jenen kindlichen Gehorsam, welcher die Affen sehr auszeichnet, im vollen Maße. Ein Uneingeweihter würde den großen Affen nimmermehr für ein Männchen, den kleinen niemals für dessen Pflegekind, sondern jenen nur für die zärtlichste Mutter, diesen für das treugehorsamste Kind gehalten haben.

Koko hatte Unglück. Sein neuer, ihm so innig geist- und herzverwandter Pflegling starb bei aller ihm erwiesenen Sorgfalt. Ich habe oft tiefe Trauer bei Thieren (namentlich bei Vögeln) beobachtet, wenn ihnen der Gefährte entrissen wurde: etwas Aehnliches aber, als den nun sich äußernden Schmerz des armen Affen, sah ich weder früher noch später wieder. Zuerst nahm er seinen todten Liebling in die Arme, hätschelte und liebkoste ihn, ließ die liebevollsten Töne hören, setzte ihn dann an seinem bevorzugten Platze auf den Boden, sah ihn immer wieder zusammenbrechen, immer unbeweglich bleiben – und brach nun stets in wahrhaft herzbrechende Klagen aus. Die sonst so unangenehmen Gurgeltöne gewannen einen Ausdruck, wie ich ihn vorher nie vernommen hatte: sie wurden weich, ergreifend, ton- und klangreich und dann wieder unendlich schmerzlich, schneidend und verzweiflungsvoll. Immer von Neuem wiederholte er seine Bemühungen und erschöpfte sich in Liebesbeweisen; immer wieder sah er keinen Erfolg und von Neuem begann er zu jammern und zu klagen. Es war nichts Thierisches mehr an ihm zu bemerken; sein Schmerz hatte ihn vergeistigt, veredelt durch und durch. Ich ließ ihm seinen theuern Todten endlich wegnehmen und über die unser Gehöft umgebende Mauer werfen. Er gebehrdete sich, als ob er toll geworden wäre, hatte in wenig Minuten seinen Strick zerrissen, sprang über die Mauer hinweg, suchte sich seinen Pflegling, nahm ihn wieder in die Arme, drückte ihn liebevoll an sich und kehrte von selbst nach seinem Platze zurück, wo er alsbald seine Bemühungen, den Todten zu erwecken, wieder erneuerte. Der sonst so schlaue Affe schien Alles vergessen zu haben. Er ließ sich ohne Mühe wieder fangen und anbinden; nur wenn wir ihm seinen Liebling wegnehmen wollten, wurde er wüthend, biß und kratzte. Und doch mußte das endlich geschehen. Die kleine Leiche begann zu verwesen und verbreitete bald einen unleidlichen Geruch. Dazu kam, daß Koko weder fraß, noch sonstwie Lust am Leben zeigte und mir zu der begründeten Furcht Anlaß gab, daß [186] er ebenfalls zu Grunde gehen könne. Wir nahmen ihm also sein Pflegekind nochmals und begruben es in unserem Garten. Nach wenigen Minuten war Koko wieder frei, durchsuchte klagend das Gehöft, alle Zimmer und den Garten, ohne sich ergreifen zu lassen, sprang über die Mauer des nächsten Grundstücks, durchsuchte dieses ebenfalls – und kam nie wieder. Gegen Abend hatte man einen Affen bei dem Dorfe Butri, wo keine wild vorkommen, im Walde gesehen.

Ich würde diese Geschichte, so anziehend sie mir auch erscheint, kaum der Mittheilung werth gehalten haben, wäre sie eine vereinzelt dastehende gewesen. Das ist aber nicht der Fall. Alle Affen, welche ich kennen lernte, zeigten dieselbe Liebe für kleinere und schwächere Thiere, alle denselben Hang, bei ihnen Pflegeelternstelle zu übernehmen. Ich besaß, ebenfalls im Ostsudan, eine weibliche Meerkatze, welche mit ihrem eigenen Kinde gefangen worden war. Die Mutter behandelte dasselbe so zärtlich, so liebevoll besorgt und so aufopfernd, daß sie hierin keiner Menschenmutter nachstand, wohl aber mancher als Muster hätte dienen können. Es scheint unter den jungen Affen viele Krankheiten zu geben; denn auch das Kind dieser Aeffin starb. Seine Mutter gebehrdete sich nicht so auffallend, wie Koko, sondern trug ihren Schmerz lautlos. Sie ließ es sich auch ziemlich ruhig gefallen, daß wir ihr das todte Aeffchen, welches sie ebenfalls fest in den Armen hielt, entrissen: – aber sie fraß von Stunde an keinen Bissen mehr, und war am zweiten Tage todt! Hierüber brauche ich nichts weiter zu sagen, diese Thatsache spricht für sich selbst.

Jedoch bin ich mit meinen Affengeschichten noch nicht zu Ende. Neben den Meerkatzen hielt ich, wie bemerkt, auch Paviane (namentlich Cynocephalus babuin, Desm. und C. Sphinx). Sie übertrafen die Meerkatzen in jeder Hinsicht an Verstand, und standen ihnen auch an Gemüth ziemlich gleich. Der klügste, den ich besaß, erhielt den Namen Atile. Kaum acht Tage waren hinreichend, sie an ihre Namen zu gewöhnen, von fünf, die wir zusammen besaßen, hörte und antwortete bald nur derjenige, welcher gerufen wurde. Um jedem seinen Besitzer und Herrn kenntlich zu machen, verfuhren wir höchst einfach so, daß ein Fremder dem Affen mit Prügeln drohete, und sein Herr ihn dann jedes Mal augenscheinlich in Schutz nahm. Dies war hinreichend, um das kluge Thier zu bewegen, bei der geringsten Veranlassung seine Zuflucht bei seinem Gebieter zu suchen. In Zeit von drei Tagen lernten alle Paviane auf einem Esel reiten, weil ihnen mit Schlägen gedroht wurde, wenn sie von dem Rücken desselben herabsprangen. Kunststücke der verschiedensten Art konnten ihnen nach drei- bis viermaliger Uebung stets beigebracht werden.

Perro war klug, nachdenkend, berechnend und erfinderisch. Sein Lieblingssitz war eine den Sonnenstrahlen ausgesetzte Mauer. Zur Mittagszeit hielt er sich eine kleine Strohmatte als Sonnenschirm über den Kopf. Auf einer Barke angekettet, trank er, indem er sich an seinem Strick über Bord herabließ, den einen Fuß in’s Wasser tauchte und dann ableckte. Er löste jeden Knoten und jedes zusammengebundene Stück Zeug ohne Umstände und immer regelrecht auf. Auch er, ebenfalls ein männlicher Affe, hatte die Leidenschaft, kleinere Thiere an sich zu nehmen, und sie mit ausgelassener Freude zu liebkosen und zu hätscheln. Bei unserem Einzuge in Alexandrien wurde er an dem Gepäckwagen angebunden. Unterwegs entdeckte er eine Hündin mit vier oder fünf mittelgroßen Jungen, welche, wie es in Egypten häufig zu sehen ist, von ihrer Mutter in einem mitten auf der Straße gescharrten Loche gesäugt wurden. Augenblicklich sprang der Affe vom Wagen herab, riß ein Junges weg, nahm es in einen Arm und vertheidigte sich mit außerordentlichem Muthe gegen die wüthenden Anfälle der Hündin. Dabei war er genöthigt, auf seinen beiden Hinterfüßen zu laufen, und zugleich auf die Bewegungen des Wagens zu achten, um nicht unter ein Rad desselben zu kommen, mußte der Hündin stets kampffertig gegenüberstehen, und durfte auch sein Pflegekind nicht vernachlässigen; aber alles dieses wußte er herrlich auszuführen. Ein unabsehbarer Menschenstrom folgte dem Wagen, da alle Araber lebhaften Antheil an diesem eigenen Schauspiele nahmen. Perro wurde von ihnen mit Schmeichelworten und Liebkosungen beglückt und in seinem Kampfe gegen die Hündin gelegentlich kräftig unterstützt.

In dem Hause, welches uns beherbergte, erhielt er nun eine Dachkammer eingeräumt, und wurde mit Futter für sich und seinen Pflegling wohl versorgt. Beim Anblick der leckeren Milch, welche zur Nahrung des Hundes dienen sollte, schien jedoch die Selbstsucht stärker zu sein, als die Liebe zu seinem Hündchen. Er trank die Milch allein, und hielt dabei das hungrige Pflegekind wohlweislich vom Napfe ab. Dieses befand sich überhaupt bei allen Liebesbeweisen in einer ziemlich traurigen Lage. Unbesorgt um das Wesen und die körperliche Beschaffenheit desselben Unternahm der Affe mit gewohnter Meisterschaft gymnastische Uebungen, welche sicher jeden Seiltänzer beschämt haben würden, das tölpische Thierchen jedoch oft augenscheinlichen Gefahren aussetzten. Wenn es winselte, hätschelte und wiegte er es in seinen Armen, bis es wieder ruhig geworden war, dann begann das alte Spiel wieder – und das Hündchen blieb immer hungrig dabei. Dies bewog uns, es sobald als möglich seiner rechtmäßigen Mutter zurückzugeben; allein es gelang uns erst während der Nachtruhe des Affen, diesem sein an das Herz gedrücktes Kleinod zu entreißen.

Nicht minder merkwürdig, als es diese Pflegelust der größeren Affen ist, erscheint mir auch das Betragen der gepflegten Affen. Meine Aeffin Atile, welche ich mit einer erwachsenen männlichen Meerkatze mit in die Heimath gebracht hatte, besaß die Leidenschaft zum Pflegen kleiner oder ihr schwach erscheinender Geschöpfe ebenfalls in hohem Grade. Alle Mütter unseres Dorfes lernten bald sich scheuen, mit kleinen Kindern in der Nähe des Affen vorüberzugehen, weil Atile stets die größte Sehnsucht an den Tag legte, an den Wickelkindern die Stelle einer Wärterin zu vertreten.

In Ermangelung solcher Pfleglinge begnügte sich die Aeffin mit anderen Thieren. Junge Katzen schien sie sehr zu lieben; jedoch verfuhr sie nicht immer sehr säuberlich mit ihnen. Einem Kätzchen, welches sie gekratzt hatte, untersuchte sie die Tatzen, und biß die ihr gefährlich erscheinenden Klauen ohne Umstände ab; ein anderes Kätzchen gab bald nach einer sehr stürmischen Umarmung den Geist auf. Mit unserm alten grilligen Hunde, welcher viele Jahre lang unbestritten das Recht des Alleinherrschens gehabt hatte, lebte sie in arger Fehde. Wenn sich derselbe zum Schlafe niedergelegt hatte, wurde er gewiß stets von ihr muthwillig aus seinen süßesten Träumen geweckt. Leise schlich sie sich an ihn heran und zog ihn plötzlich heftig am Schwänze. Der Hund fuhr wüthend auf und schnappte nach dem gehaßten Störenfried; dieser aber sprang gerade über den Erzürnten weg, und ergriff ihn wieder am Schwanze; der Hund drehete sich, der Affe mit, und beide lärmten und tobten dabei um die Wette, bis der Hund vor Wuth schäumte: dann ging Atile befriedigt von dannen. So konnte ihr nur noch die Gesellschaft der Meerkatze gestattet werden. Sie pflegte nun diese, Hassan mit Namen, mit aller Liebe, deren ihr Herz fähig war – und Hassan, der erwachsene männliche Narr, ließ es sich nicht nur sehr gutwillig gefallen, sondern suchte und verlangte die Pflege der größeren Aeffin. Er schlief stets in Atile’s Armen, und beide hielten sich dann so fest umschlungen, daß es aussah, als wären sie nur ein Wesen. Sobald es etwas kalt war, kam er und bat um Liebe, und Atile’s Herz konnte dann nie widerstehen. Beide unterhielten sich lange und umständlich mit höchst verschiedenen kurzen Gurgeltönen, deren Bedeutung auch wir einigermaßen verstehen lernten, da wir die verschiedenen Ausdrücke der Liebe oder des Hasses, des Zornes, Schmerzes, der Klage über Hunger oder Kälte u. s. w. bald richtig zu deuten wußten. Von dem Augenblick der Annahme Hassans behandelte ihn Atile ganz als ihr Kind, und Hassan bewies ihr auch in jeder Hinsicht kindlichen Gehorsam, wie jenes Aeffchen seinem Pfleger. Er folgte der Atile überall hin, wohin sie von uns geführt wurde, und kam sogleich in das sonst von ihm sehr gemiedene Zimmer, wenn seine Freundin dort verweilte. Da er vollkommen frei war, hatte er ein sehr weites Feld zu seinen Ausflügen; jedoch unternahm er nur in Gesellschaft seiner Pflegemutter größere Spaziergänge. Dabei verfolgte jeder seinen eigenen Weg; Atile, als Erdaffe, mied die Bäume, Hassan suchte sie auf; das störte jedoch das gute Einvernehmen keineswegs, und die Unterhaltung wurde auf so verschiedenen Wegen nicht abgebrochen.

Der kalte Winter endete Hassans frischfröhliches Leben im zweiten Jahre seines Aufenthaltes in Deutschland. Atile war sehr traurig und stieß Tag und Nacht auch Menschen deutliche Klagetöne aus. Andere Pfleglinge behagten ihr nicht mehr; deshalb überließen wir sie schließlich einem durchreisenden Affenbesitzer, welcher ihr andere Unterhaltung gewähren konnte. –

Ich könnte von meinen Affen noch sehr viel erzählen, wenn ich nicht fürchten müßte, den mir gestatteten Raum dabei zu überschreiten. Nur Eines noch glaube ich nicht verschweigen zu dürfen. [187] Atiles Herz hatte nur für eine Liebe Raum. Sie liebte mich schwärmerisch, nächstdem meinen Bruder, dann folgte mein Vater und schließlich ihre Pflegerin. Mit dieser war sie so lange freundlich, bis mein Vater erschien; diesem schmeichelte sie, bis sie meinen Bruder sahe, und letzteren verließ sie, sobald ich mich ihr nahete. Es kam oft vor, daß sie denselben, welchen sie eben geliebkost hatte, plötzlich biß, weil sie den höher in ihrem Herzen Stehenden erblickte. Ich stand so hoch in ihrer Liebe, daß ich ihr immer gleich blieb. Selbst wenn ich sie züchtigte, zürnte sie mir nicht, wohl aber stets dem Nächsten, welchen sie sahe, weil sie glauben mochte, seinethalb die Schläge empfangen zu haben. Deshalb wurde sie auch nie durch Strafe gebessert, ich und sie waren beständig im Rechte; aber die andern Menschen erschienen ihr als die Sündigen, denen sie gelegentlich ihren Haß mit tüchtigen Bissen bethätigen mußte.




Vier Musikantengräber.
Erinnerungsblatt von August Silberstein.

Der Mensch holpert und stolpert heute so vielfach auf allen Lebenswegen, daß nach dem üblichen Sprichworte: „hier liegt ein Musikant begraben“, die ganze Welt oder Erdrinde mit Musikanten unterlegt sein müßte.

Sollte diese Unterlage neuerer Zeit mit Virtuosen ausgeführt worden sein, so wäre allerdings dem Schicksale und der Weltordnung das Aufbringen der nöthigen Virtuosenmenge nicht schwer geworden, und wir würden daraus mit Recht die verderbenbringende Gefahr der modernen Virtuosen nicht nur bei ihren Lebzeiten, sondern auch für nachfolgende Zeiten erkennen.

Will der Leser aber mit mir ohne Anstoß auf und an Musikantengräber treten, so will ich ihn auf eine Stelle führen, wo ein „Quartett“ in so unmittelbarer Nähe begraben liegt, und eine tiefe Harmonie ausgezeichneter Meister hergestellt ist, wie sonst nirgends.

Die geweihte Stätte gehört zu Wien, dem klingenden und singenden Wien, das, wenn es so viel Metall in den Säcken, als in den Kehlen, so viele Kunde in allen andern Arten, als in den Tonarten, so viel Klang in den eisernen, als in den Klavierkasten, so viele ausgezeichnete Köpfe innerhalb der „Stadtlinien“, als in den Notenlinien, so viele Schlüssel zu den Bank- und diplomatischen, als zu den Musiknoten hätte – wahrhaftig die beneidenswertheste Primstimme in dem Concerte der Völker führen würde.

Die Welt weiß es, Wien ist die erste Musikstadt Deutschlands, vielleicht des Erdenrundes; hier haben die bedeutendsten Musiker gelebt, begonnen und geendet, und wenn man eigentlich wissen will, wo sie begraben sind – dürfte man nur Umschau in den fast zahllosen Vereinen, Orchestern, Chören und Aufführungen halten.

Doch betrachten wir alle diese Scherzworte als in dem Häusergewirre Wiens gesprochen, aus dem wir allmählich zur geweihten Stätte, von der ich gesprochen, hinausgepilgert, und wir sind bereits in dem angrenzenden Orte Währing angelangt, wir stehen bereits vor einem schwarzen Kirchhofgitter, durch das die Grabmäler stumm und ernst, die Bäume und Blumen wie ein milder Trost grüßen – wir schreiten den etwas aufsteigenden letzten Weg links an der Mauer hinauf – der Kies knirscht unter unsern Füßen, gleichsam grollend ob der eindringenden Störung in das Reich der Todten – wir halten bangend an, wir stehen vor einem wildbewachsenen Grabhügel und einem flachen Gruftsteine daneben, die beiden ragenden Denkmäler zu Häupten besagen: „Hier ruhen die Gebeine von Seyfried und Clement!“ Und wenn wir den Blick um wenige Schritte vorwärts, rechts nach der Mauer wenden, winkt uns ein Baum, fesselt uns sicher ein Kranz – sie gehören zu den Gräbern Beethoven’s und Schubert’s, die nur durch ein einziges fremdes getrennt sind.

Welcher Klang, welche Fülle von Sang in diesen Worten! Wer denkt nicht an die Worte des „Wanderer“, der stets und stets die Welt umkreist, des „Wanderer“ von Schubert: „Ich wandle still, bin wenig froh!“ Wer denkt nicht bei dem wehenden Strauche mit pochendem Herzen an die zitternden Laute aus Schubert-Goethe’s „Erlkönig“: „Was birgst Du so bang’ Dein Gesicht?“ Wer will die Worte vergessen aus Beethoven’s „Fidelio“: „Ich habe Dich wieder!“ Soll ich die markerschütternden Klänge „Egmonts“, die süßen Lieder Klärchens heraufbeschwören – will nicht das ganze Reich der Töne, mit aller Lieblichkeit, mit aller Gewalt und Erschütterung, von dem einfachen Sang „Adelaidens“ bis zu den donnernden Chören der Völkerschlachten, den zerschmetternden eines jüngsten Gerichtes und den thränenheischenden eines „marche funèbre“ auf uns eindringen?

Und Seyfried und Clement? – Ihr greisen Häupter, die ihr die Catalani gehört und den Congreß nach Napoleons Verderben erlebt, erhebt euch mit freudeglänzenden Augen und jugendfrischem Erinnerungslächeln bei dem Gedanken an den deutschen Paganini, Clement, dem in seiner Klangesfülle kronentragende Häupter die Noten umgeblättert; – hier liegt er nun still und stumm – bis der Himmelsbogen auf diesem hohlen Erdkasten die nie gehörte Cantate und Auflösung aller Fugen streicht!

Den Namen Seyfried werden wohl nur ganz Musikunkundige und Literaturnovizen mit fragender Miene begleiten. Wollte ich ihnen den Mann näher bringen, müßte und könnte ich den ganzen Raum dieser Blätter mit der Aufzählung seiner Werke und seines Wirkens in der „Musikperiode“ füllen. Erstere allein bilden eine ganze Bibliothek. Möge man lachen oder weinen, Oper oder Posse, Kinderlied oder Grabgesang, Hymnen oder Requiem – Seyfried hat deren eine Menge geschrieben. „Der Löwenbrunnen“, „Zemire und Azor“, „Cyrus“, „Roderich und Kunigunde“, die stets beachtenswerthe Parodie, erinnern an seinen Namen. Es ist ein ergreifendes Memento des Schicksals, daß er wenige Schritte von dem Manne begraben liegt – Beethoven – dem er die Leichenmusik geschrieben, den er mit neuen Klagelauten der Phantasie zur letzten Stätte und gerade hierher geleitet. Seine eigene berühmte Grabmusik hat sich Seyfried später selbst geschrieben.

Nun wohl – ein solches Quartett, eine solche harmonirende, an Tönen überreiche und doch stille Gesellschaft findet sich in so engem Kreise doch nicht wieder beisammen!

Wenn das jüngste Gericht in die Posaune stößt – sollte man nicht etwa meinen, daß es von hier aus die Stimmung und Noten verlangt, oder etwa wegen falschen Blasens corrigirt werden wird? Wenn die Vögelein irgendwo auf nächtlichen Zauberbäumen und in geheimnißvollen Halmen ihre Melodien lernen, gewiß hier, und von hier aus fliegen sie und verbreiten herzerquickende Gesänge.

Mein treu begleitender Leser denkt gewiß bei diesen Worten vor Allen an Beethoven! Wir Deutsche dürfen ihn auch niemals vergessen, als einen deutschen Mann. Er ist dreifach theuer, als Meister, als Mann der Heimath und als – ein Unglücklicher!

Ueber seinem Grabe grünt das Andenken seiner Ehre und seines Wehes; jedes Blatt auf seinem Baume spricht rastlos sich regend davon. Er, der Meister der Töne, war taub – ihm, der das Reich des zaubervollsten Sanges und Klanges einer horchenden, entzückten Welt erschloß, ihm drang kein einziger Ton mehr in das lebend verschlossene Ohr! Er, der den umringenden Hunderten von Musikern Gesetze gab, schritt mitten unter ihnen und seinen Werken umher, und die klangvoll sich regenden Hände und Instrumente waren ihm gleich den Bewegungen eines stummen Ameisenhaufens – nicht mehr!

Beethoven – taub! Der Meister der Töne, der fast zauberisch über sie gebietet, keinen einzigen zu seiner Erquickung; – es ist der König, der im goldenen Palaste darbend vergeht – es ist der sterbende Moses, dem das gelobte Land offen – er darf seinen Fuß nicht darein setzen!

Der schmerzenreiche, siechende Beethoven war aber ein vollkräftiger Mann der Despotie gegenüber! Er, der von Napoleon im Anfange schwärmerisch den Schutz der Freiheit und des Glückes gehofft, faßte das ganze Reich seiner Empfindungen und die angestaunte Größe des Andern zu einer „Symphonie Napoleon“ zusammen, in der Absicht, sie dem Gewaltigen huldigend zu reichen; als er aber den „Empereur“ in voller Entfaltung kennen lernte, schleuderte er zornig die Symphonie zur Erde, zerriß und zerstampfte den Titel. – Würde und Lohn waren vergeudet; als „Symphonia eroica“ staunt die Welt das Werk an, und als der Held auf [188] Helena saß, sagte Beethoven, auf den Schluß-Trauermarsch deutend: „Ich hab’s ihm vorher gesagt!“

Will man etwas Drolliges und Treffliches von ihm hören, das sich zugleich alle Künstler vorzüglich merken, und wodurch sie ihn zum Patron erwählen können? – Sein Bruder war ein reich gewordener geldstolzer Bet… (nicht mehr!). Am Neujahrstage sendete derselbe an den Meister eine Karte: „Johann van Beethoven, Gutsbesitzer“; Ersterer nahm sofort ein Stück Papier, schrieb darauf: „Ludwig Beethoven, Gehirnbesitzer“, und sendete dasselben dem Herrn Bruder. – Gutsbesitzer! welcher stolze, erhebende, permanente Titel! Freilich langt er weder für den Gothaer Hof-, noch für den Adelskalender aus. Aber Beethoven strebte nicht ernstlich hinein, trotz seiner Dankbarkeit für die hohen Gönner, die ihn schützten und stützten. – Als die Wiener Adelskammer in der berüchtigten Proceßangelegenheit wegen seines Neffen um den Adelsbrief fragen ließ und wo er ihn habe, deutete er auf Kopf und Herz und rief! „Hier!“ Kraft dieser trefflichen Urkunde verschmähte er einst auch einen Orden für eine dem König von Preußen gesendete Symphonie. Als der Gesandte, Graf von Hatzfeld, undiplomatischer Weise anfragen ließ, was er vorziehe, einen Orden oder 50 Ducaten, rief Beethoven, daß es der Graf im Nebenzimmer hören konnte, rasch und laut: „Fünfzig Ducaten!

Das war ein Mann, der den Werth seiner selbst und die Würde eines Ehrenzeichens zu schätzen wußte. Wo er seinen Adelsbrief trug, dort war er auch mit Orden geschmückt! Seine „Vittoria-Schlacht“ zum Besten der deutschen Krieger bei Hanau wurde von Meistern, wie noch kein musikalisches Werk zuvor, aufgeführt. Schuppanzigh spielte die erste Violine, Spohr die zweite und Maiseder die dritte. Saliere leitete die Pauken und Kanonaden, Hummel führte die Trommel. Das war eine Schlacht voll Sieg und Eichenlaub! Er war eine Größe für die Welt, er war aber auch, mitten in seiner Größe, ein schlichter, bescheidener Sohn! Die Welt vergnügte sich damit, sein Genie mit einer hohen Geburt zu verbinden, man nannte ihn einen natürlichen Sohn Friedrich Wilhelm’s II. – Beethoven, anstatt hieraus Vortheil ziehen zu wollen, gab sich die erdenklichste Mühe, um Gegenbeweise herbeizuschaffen und nach seinen eigenen rührend-zärtlichen Worten „die Rechtlichkeit seiner Mutter“ herzustellen.

Denken Sie an St. Marc-Girardin, den Franzosen und Feder-Virtuosen der Neuzeit, der öffentlich seinen Vater auf der Höhe suchte und seine Mutter in die Tiefe des Schlammes drängte! Denken Sie an den armen deutschen Künstler gegenüber der heiligen Gestalt seiner Mutter!

Sie ruht in Frieden zu Bonn bei ihrem Gemahl, dem kurfürstlichen Tenoristen, begraben, zu Bonn, wo der erzene Beethoven auf dem Markte prangt, wo der Unsterbliche 1770 wie ein schwacher Morgenschimmer auftauchte, emporwachsend zur lichterfüllenden, strahlenreichen Sonne, die im vollsten Schmucke unterging und gleich einem versengten Baume im Walde das Gerippe zurückließ, das hier unter dem Steine mit der Überschrift „Beethoven“ liegt.

Wie „Vittoria!“ weht es um den Namen und liebend hat sich die Seele oben sicherlich jenen geeint, die in reizender Gestalt, mit Sehnen und Unerreichbarkeit verbunden, auf Erden wandelten!

Der liebenswürdige Bruder, der dem sterbenskranken das Bündel Heu versagte, ist sicher nicht darunter. Es handelte sich um ein Heu-Bad. „Mein Heu ist nicht kräftig genug!“ lautete die Antwort. – Welcher Heukenner! – Buridans Genosse hätte nicht scrupulöser sein können!

Weniger tragisch und weniger komisch, weniger hoch und tief war Schubert’s Leben. Wie eines seiner kurzen anmuthigen und bewegenden Lieder war es. Er war der Sohn eines Wiener Schullehrers. Er lebte, wirkte und starb. Das Trefflichste und Schmerzlichste sagt die Inschrift seines Grabdenkmales:

Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz,
Aber noch viel schönere Hoffnungen.
 Franz Schubert liegt hier!
Geboren 31. Jänner 1797, gestorben 18. November 1828.
 31. Jahre alt.

Einunddreißig Jahre alt! In diesen Worten liegt das Bewältigendste der ganzen Kunde. Diesem Manne stand kein Hof, kein Potentat, kein weltbewegendes Ereigniß, keine Neuerung zur Seite, – so jung, so hülflos, so schlicht war er, und er zieht ein Sieger durch die ganze Welt!

Das ist die Kraft der Weihe, die Gewalt der Empfindung, das Göttliche der wahren Kunst, was uns vor dieser erzenen Büste beugen macht und jedes Hälmlein an den Kränzen, die Verehrer an sie hängen, heilig erscheinen läßt!

Wem die Thräne der Wehmuth an dieser Stelle über die Wange rieselt, der braucht sich nicht zu schämen, diese sofort unter der Thräne zum Lächeln zu verziehen. Wir wenden uns rasch zu dem Grabe eines andern Musikanten, und das Wort „Musikant“ liegt so nahe dem Begriffe „Durst“, daß man durchaus diese alte Verbindung hier nicht zu stören braucht.

Der alte Clement würde sofort aufstehen, uns eine Prise aus einer goldenen Potentatendose schenken, die er so oft „versetzt“, und über die Sonderbarkeit des Zusammenhanges zwischen Durst und Musik mit uns lachen!

Wenn Bläser ihr „Mundstück“ statt an Metall zur Abwechselung an Gläser zu setzen versuchen, darf uns dies nicht wundern, wie kommen aber die Geiger dazu? – Das muß der Baum, der noch vor-geigen-zeitig sog und Flüssigkeit verlangte, das müssen die Darmsaiten machen!

Clement würde keinen Augenblick angestanden haben, diese Lehre anzunehmen. Er war Anlaß der Bewunderung für Deutschland und England, in denen er reiste, aller Größen des Wiener Congresses. Kaiser Alexander von Rußland war sein Hauptverehrer. Bei einem Hoffeste spielte Clement, die Anwesenden waren entzückt, Kaiser Alexander nähert sich dem wunderbaren Geiger, denn er meint, das kostbare Instrument müsse mit Schuld an den überraschenden Tönen sein – er prüft Clements Geige, und siehe da, sie ist die elendeste Groschengeige, die man sich denken kann! Der Kaiser läßt sofort dem Wundermanne ein kostbares Instrument überreichen. Nächster Tage verlangt Alexander, den Mann mit der kostbaren [189] Geige wieder zu hören; aber Clement kann nicht spielen – er hat nun gar keine Geige mehr – er hat alle beide, die Groschen- und die kostbare Geige, auf irgend einem Altar (mit Trankopfer) dargebracht! Der zweiten Großmuths-Geige soll es nicht besser ergangen sein, bis Alexander dem umgekehrten Diogenes beiläufig sagen ließ: „Gehen Sie gefälligst aus meiner Ducaten-Sonne, nehmen Sie Ihre Tonne in Acht, denn so viel Geld, als Sie dafür brauchen, habe ich nach dem Kriege gar nicht.“

Clement war schon Geigenvirtuose im siebenten Jahre und von allen Höfen gehätschelt. Sein Vater, ein herrschaftlicher Tafeldecker, lehrte ihn selbst das Geigen, die Catalani reiste längere Zeit mit ihm, bei Haydn’s großem Doctorfest in London war er der erste Solist, König Georg sein Gönner, in Prag wirkte er an der Seite C. M. v. Weber’s, in Wien an der Seite Seyfried’s, bei welchem Capellmeister er treu zur Rechten ruht als erster Geiger.

Es mußte die unerhörteste Macht des Weines sein, wenn er ankämpfend gegen ihn so weit unterlag, daß er irgend eine durchgelesene Partitur nicht ohne hineinzusehen trefflich dirigiren konnte, und jener Wein war gar nichts werth, der ihn nicht so inspirirte, daß er alles mögliche einmal Gehörte in vollster Reinheit und bewältigendster Tonfülle wiedergab. – Die alten Fiaker in der Nähe des Theaters an der Wien und dessen Wirthshäusern wußten in den dreißiger Jahren schon im dichtesten Dunkel der Nacht, wen eine sorgsame Frau mit den schwierigsten sonderlichsten Manövern dahintransportirte – es war der „Congreß-Geiger“, den seine Frau kummervoll und frierend vor einer Wirthshausthüre bis tief in die Nacht erharrt hatte, um ihn vor Schaden zu wahren.

Wenn der liebe Herrgott nach des Dichters Ausspruch „griff in das Paradies um einen Weinstock süß“, so hat sich Clement sicher in jener Gegend angesiedelt und spielt dafür allen Engelschaaren oben die erstaunlichsten Passagen und Variationen. – Und wenn Haydn, Mozart, Gretry, Cherubini, Mehul, Beethoven etc. etwas in ihren Werken vergessen haben, so wenden sie sich sicherlich an den alten Seyfried, der darin noch besser Bescheid wußte, als sie selbst. Bei Nacht erheben sich wahrscheinlich Beethoven und Schubert und klopfen dem Capellmeister leise auf die Schulter; und sobald der nahe Geiger klopfen hört, erhebt er sich auch im Sternenschimmer und setzt sich mit der Geige auf sein Grab, und die Vöglein hören im Traume aus den Flageolett-Tönen, welche Stümper sie sind, und es entstehen ringsum die wunderbarsten Sänge, Chöre und Klänge. Das schlafende Wien nicht und kein menschliches Ohr vernimmt es; wenn die Sterne verglimmen und aus der Nacht der Tag sich gebärt, da ist Alles wieder still und starr – ein Leichenplatz – ein Friedhof!

Beethoven – Schubert – Seyfried – Clement, es spricht sich, wie von den vier Saiten einer gewaltigen Lyra, die Welt oder wenigstens „Herz“ heißt. – Hier bedeutet das Ganze nur eine Spanne Friedhofssand.

Die Männer, die sich im Leben nahe waren, ruhen nun fast nebeneinander in Frieden. Die umstehenden zahlreichen Kreuze und Steine sind wie ein rastlos horchendes Publicum, das diesen Meistern und ihren Concerten zuhört. Stürzend und zu ihren Füßen rollend unterbrechen sie manchmal, sonderbar applaudirend, die Stille. Sie werden fast sämmtlich zerbröckelt sein und vergehen; aber diese Steine wird eine ehrfurchtgebietende Macht erhalten und unangetastet stehen lassen, wie jenen Gellert’s zu Leipzig an der Stelle, wo ein Friedhof war und alle Gräber verschwunden sind, bis auf das eine.

Treten wir zurück von diesem stillen, geweihten Orte, gedenken wir, das Gitter schließend und dem Gewirre der Stadt entgegen gehend, nur jener Worte eines Isis-Tempels, die Beethoven mit eigener Hand sich abschrieb und vor sich auf den Schreibtisch stellte: „Ich bin, was da ist, ich bin Alles, was war und sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben!“




[190]
Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
2. Am Kreuzwege.

Nach dem Glauben des Mittelalters eigneten sich die Kreuzwege ganz besonders zur Vollbringung aller Werke, welche über die gewöhnliche Ordnung der Welt hinausgehen. Das gegenwärtige nüchterne Zeitalter legt zwar auch noch dem Kreuzwege eine gewisse Bedeutung bei, allein nur insofern, als von demselben aus am besten diejenigen Werke beobachtet werden können, welche wider die gewöhnliche Ordnung der Welt laufen.

Als man Hexen und Zauberer folterte und verbrannte, Geister citirte, Amulete trug, Krankheiten besprach und Freikugeln goß, hielten sich an den Kreuzwegen alle überirdischer Künste verdächtigen Personen auf und brachten diese Stellen in einen so bösen Leumund, daß Jahrhunderte dazu gehört haben, ihren gekränkten Ruf einigermaßen zu reinigen und wieder herzustellen. Heute haben an den Kreuzwegen lediglich diejenigen Personen festen Fuß gefaßt, welche mit nichts weniger als überirdischen Künsten nur den gemeinen Gang der Dinge ununterbrochen erhalten und alle unvorhergesehenen und muthwilligen Störungen desselben beseitigen wollen.

Wo in Berlin sich zwei Hauptstraßen in einem rechten, stumpfen oder spitzen Winkel durchschneiden, sieht man an einer Ecke einen ernsthaften Beamten mit langsamen Schritten auf- und abgehen oder mit achtsamen Blicken die gesammte Umgebung, die mit Pferden, Hunden oder Menschen bespannten Wagen, die vorübereilenden Personen, die spielenden Kinder, die Thüren der Häuser und offenen Geschäfte beobachten. Der Beamte trägt einen blauen, knapp militärisch anschließenden Waffenrock, darunter einen kurzen Infanteriesäbel, und bei schlechtem Wetter einen minder kriegerisch aussehenden Paletot; sein Haupt ist gleich dem Kopfe, welcher aus Macbeth’s Hexenkessel jenen magischen Polizeibericht abstattet, mit einem Helme bedeckt, dessen neusilberner Beschlag herrlich im Sonnenscheine leuchtet und selbst das Dunkel eines trüben Regentages erheitert. Der geschilderte Beamte gehört zu den Schutzmännern des Polizeireviers und hat dafür zu sorgen, daß alle Angehörigen des modernen Staates sorgfältig die zahlreichen Regeln befolgen, ohne deren Beobachtung jeder Mensch sich der Gefahr aussetzt, unter die unregelmäßigen Verba versetzt und demgemäß in einer besonderen Abtheilung der gesellschaftlichen Grammatik, Stadtvogtei genannt, conjugirt zu werden.

Die Pflicht des auf dem Polizeiposten stehenden Schutzmannes ist eine sehr ernste und verlangt eine ganz außerordentliche Aufmerksamkeit. Deshalb wird ihm von seinen Befehlshabern auch kein Schilderhaus gewährt, dessen sich sonst jeder Musketier oder Füselier erfreut; er ist angewiesen, jedem Wetter Trotz zu bieten und durch keine Strapazen in der Ausübung seines Amtes sich irre machen zu lassen. Nicht einmal für ein wasserdichtes Kleidungsstück als leibliches portatives Schilderhaus, wie es der englische Polizeimann in dem schützenden Wachstuchkragen besitzt, ist gesorgt; der Berliner Schutzmann am Kreuzwege erfreut sich bei Sturm und Regen, Hagel und Schneegestöber keines besseren Schutzes, als der erste beste Baum an der Landstraße unter ähnlichen Umständen.

Da der heutige Bürger, mag er immerhin die Jahre und die Weisheit Nestor’s erreichen, niemals für mündig erklärt werden kann, sondern stets einer gewissen Anleitung, Ueberwachung und Zurechtweisung bedarf, weil bekanntlich die Vorschriften der ihn leitenden Behörden zu zahlreich und eigenthümlich sind, um in ihrem Umfange und in ihrer Tiefe von dem gewöhnlichen Menschenverstande begriffen zu werden, so ist ihm der Schutzmann als Vormund gesetzt worden. Aber wie es in dem Charakter dieses schönen, herzansprechenden Amtes liegt, soll der Schutzmann ihm auch als rächender Freund, als freundlicher Gehülfe und thatkräftiger Beistand dienen, falls der unmündige Bürger mit eigenen Mitteln und Kräften nicht auszukommen vermag. Wenn die Magd des Bürgers irgend eine Ungehörigkeit sich hat zu Schulden kommen lassen, wenn ein unvorhergesehener Eindringling in seine Wohnung nicht freiwillig das Feld räumen will, oder ein Bekenner der Lehre des weisen Proudhon einen Angriff auf sein Eigenthum macht, darf er unverzüglich den Schutzmann als nächsten Vertreter der Staatsgewalt herbeirufen und seine Einmischung in Anspruch nehmen. Der Fremde erkundigt sich bei dem Schutzmanne nach der Wohnung der Leute, denen er einen Besuch abstatten will, nach den Bureaux der Stadtpost und andern amtlichen Gebäuden, der Einheimische fragt ihn in kritischen Erkrankungsfällen nach dem nächsten Arzte oder, wenn es die Beförderung eines sehr eiligen kleinen Ankömmlings in das Erdenleben gilt, nach der nächsten Hebamme. Der Schutzmann weiß das Alles und theilt es mit der größten Zuvorkommenheit mit. Als guter Mensch macht es ihm Freude, seinen Mitbürgern verbindlich sein zu können und nicht immer die scharfen Stacheln seines Polizeicharakters hervorkehren zu müssen.

Am liebenswürdigsten tritt er als Vormund kleiner verlorengegangener Kinder auf. So eben ist ein Exemplar von etwa drittehalb Jahren gefunden worden. Da steht es, die mit Pelz besetzte ruppige Kappe in entsetzlicher Todesangst tief in die Augen gedrückt, in einem abgeschabten blauen Tuchmäntelchen, unter dem aus den Höschen hinten ein Fragment des Hemdes schüchtern den Tag begrüßt; das Kind reibt mit blaugefrorenen Händchen die weinenden Augen. Eine Haufe Menschen drängt sich um das arme Knäblein und macht es mit den albernsten Fragen vollständig verwirrt. Nur ein intelligenter Schusterlehrling, der eben commandirt war, ein Paar versohlte Stiefeln auszutragen und eine Obertasse mit Syrup einzuholen, hat sofort Rath in der schwierigen Lage der christlichen Bevölkerung gewußt und auf eigene Verantwortung den Schutzmann benachrichtigt.

Der polizeiliche Soldat nähert sich bedachtsam der Gruppe, mehrere alte Weiber mit Körben voll Brod und Kartoffeln laufen ihm voraus, einige alte Junggesellen folgen ihm, begierig die abschreckenden Folgen des ehelichen Lebens in diesem flagranten Unglücksfalle kennen zu lernen. Er zertheilt den Haufen und stellt sich vor den unglücklichen Kleinen.

„Wie heißt Du denn, Kleiner?“

Wenn der Kleine seinen Namen wirklich wüßte, vermöchte er ihn doch unter dem schrecklichen Eindrucke der über ihm hangenden Obdachlosigkeit nicht zu nennen; er schweigt und heult gottesjämmerlich weiter.

„Wo wohnst Du, Kleiner?“

Natürlich kann der Kleine eine so schwierige Frage noch weit weniger beantworten. Er steht ohne alle Legitimation da.

„Nun, komme nur mit mir, Deine Mutter wird Dich schon von uns abholen. Weine nicht, weine nicht, liebes Kind; es hat nichts zu sagen.“

Mit diesen Worten ergreift der Schutzmann den Verirrten bei der Hand und schlägt den Weg nach dem Bureau des Reviercommissariats ein. Die versammelte Menge folgt schweigend und sichtlich befriedigt durch den Ausgang des Abenteuers, der Kleine aber läßt sich vertrauensvoll abführen, er stellt jetzt ein auf Zeit adoptirtes Polizeikind vor und wird als ein lebendiger Gegenstand der Registratur, als ein zweibeiniges Actenstück – etwas Werthvolleres kennt man ja in Deutschland kaum – betrachtet und vorläufig aufbewahrt. Inzwischen findet sich auch die verzweifelnde Mutter mit gesträubten Haaren ein und erhält ihren verlaufenen Sprößling mit der Ermahnung zurück, ihm durchaus keine körperliche Züchtigung angedeihen zu lassen, auf welche der erfahrene Schutzmann aus ihrem offensiven Mienenspiele schließen mag.

Nicht immer ist der Wächter am Kreuzwege solch’ ein idealer Schutzengel in Uniform; weit häufiger gleicht er einem strafenden und rächenden Genius.

Da sich die Auserwählten des Volkes, die Abgeordneten und Landboten im Parlamente, nicht einmal im geschlossenen Saale, in Gegenwart der Minister, eines hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums zu vertragen pflegen, sondern jede Gelegenheit bei den Haaren ergreifen, einander unangenehme Dinge zu sagen, kann man es dem ungebildeten Volke auf der Straße wahrlich weit weniger verargen, wenn es mündlich, und nach Befinden der Umstände auch wohl handgreiflich, aneinander geräth. In solchen Fällen ist der Schutzmann von Amtswegen verpflichtet, die Wortwechsler oder Combattanten zur Ordnung zu rufen.

Das Pflaster ist aufgerissen und die Arbeiter bringen im Schweiße ihres Antlitzes die Straße wieder in Ordnung. Da erscheint ein [191] Müßiggänger, erlaubt sich anzügliche Bemerkungen gegen die fleißigen Steinsetzer und erhält sie in reichlichen Maße zurück. Anfangs bewegt sich die Unterhaltung noch im Style einer lebhaften Conversation; da verabreicht der Pflastertreter dem officiellen Pflastersetzer einen Backenstreich und der Krieg ist ausgebrochen. Die Werkzeuge werden fortgeworfen, der Händelsucher drückt kampfesmuthig die Mütze in den Nacken und ballt beide Fäuste gegen die wild heranstürmende Uebermacht. Er sieht eine Prügeltracht mit Bestimmtheit voraus, allein er bedarf ihrer täglich, zur Belebung seines Nervensystemes. Sie ist ihm das, was dem blasirten Elegant Abends eine Balletvorstellung, ein kleines Hazardspiel, ein Tanz mit emancipirten Frauenzimmern. Der Wasserfreund braucht eine kalte Uebergießung, der Rheumatiker eine Anzahl elektrischer Schläge; unser Raufbold läßt sich minder wissenschaftlich abfinden. Ihm genügt eine allgemeine körperliche Erschütterung, eine kräftige trockene Abwalkung des Leders.

Vom Kreuzwege aus ist glücklicher Weise sein Beginnen schon bemerkt und beobachtet worden. Der Schutzmann kennt das unverträgliche Temperament des Zänkers, und schreitet mit festem Fuße auf ihn zu. Jetzt spiegelt sich in seinen Gesichtszügen nicht das zärtliche Wohlwollen eines besorgten Kinderfreundes ab; aus seinem Auge funkelt der zornige Blitz des beleidigten Gesetzes. Auch das ihn begleitende Gefolge ist aufgelegt; man erwartet ein Ereigniß, etwas wie eine rettende That. Schon hat er die Gruppe der tragischen Helden erreicht, die defensive Partei leidlich sanft bei den Armen fortgeschoben, aber den Schuldigen packt er hart und unerbittlich, gleich dem classischen Schicksal, und zwar hinten beim Rockkragen. Der Griff ist kühn und Widerstand unmöglich. Die angewandte Kraft hat einige Aehnlichkeit mit der eines Schraubendampfschiffes, und der Unheilstifter sieht sich mit der Geschwindigkeit von zwei Meilen die Stunde auf die Polizei gewirbelt. Die Scene hinterläßt einen ernsten, nachhaltigen Eindruck. Männer, denen es nicht an Zeit gebricht, versammeln sich auf der Straße zu einem wissenschaftlichen Congreß, man bespricht die Maulschelle, wie sie gegeben worden und wie sie besser hätte gegeben werden können, man betrachtet nachdenklich die Stelle, wo der Hauptangriff stattgefunden, man erörtert die Möglichkeit der Flucht, und stellt endlich die Hypothese auf, der Angreifende werde wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden sitzen müssen, falls nicht noch anderweitige Posten gegen ihn zur obrigkeitlichen Verrechnung kämen. So vergeht eine Stunde und der Schutzmann stellt sich wieder am Kreuzwege ein.

Man hat ihn abgelöst und der neu Ankommende ist ein ganz anderes Individuum, allein das Volk kümmert sich nicht darum; ihm gilt nur der hochwichtige Charakter des Amtes, nicht der des damit betrauten Menschen. Es gibt sogar naive Gemüther, die ihn auf seinem Posten in Permanenz glauben. Behorchen wir ein wenig Fräulein Mathilde, die jüngste Tochter eines übermüthigen Rentiers, die sich, ziemlich weit von ihrer Wohnung, an unserem Kreuzwege ein Rendezvous mit einem jungen Architekten gibt.

„Lieber Heinrich,“ flüstert die schüchterne Blüthe, „ich zittere davor, daß dieser Mann uns erkannt hat. Wir können hier vorübergehen, wann wir wollen, so steht er an der Ecke, und sieht mich mit so durchbohrenden Blicken an. Gott, wenn Papa unser Verhältniß durch ihn erführe: ich stürbe des blassen Todes!“

Zum Trost aller liebenden Herzen können wir mittheilen, daß es Heinrich gelingt, die besorgte Mathilde zu beruhigen und sie zu überreden, daß der Polizei zwar viel bewußt sei, daß sie aber zum Glück nicht Alles wisse.

In den Nachmittagsstunden tritt ein Zustand von verhältnißmäßiger Ruhe ein. Dem Schutzmann wird Muße zu leichtem Geplauder gegeben. Der beleibte Hauswirth an der Ecke öffnet das Fenster, bietet ihm eine Prise Carotten und erkundigt sich nach dem Befinden des unbekannten Herrn, der vor vier Wochen aus dem benachbarten Schlächterladen eine prächtige Hammelkeule entfremdet hatte, aber durch die Achtsamkeit des Schutzmannes dabei erwischt worden war. Dieser bedauert, daß er keine Auskunft geben könne, spricht aber die Vermuthung aus, daß der Herr sicherlich noch sitzen und keine Hammelkeule, wohl aber die unter dem Namen Kaldaunen begriffenen inneren Theile desselben Thieres in den verschwiegenen Gemächern der Stadtvogtei speisen werde. Dem dicken Hauswirth will das offenbar einleuchten, und der Schutzmann ertheilt in der Zwischenzeit einem Droschkenkutscher auf der Station des Kreuzweges einen kleinen Verweis, weil er sich einer Fahrt unter dem Vorwande, er habe noch nicht umgespannt, hatte entziehen wollen, droht zornig einem Dienstmädchen, die das Tischtuch am offenen Fenster auf die Straße ausschüttelt, und gibt zwei kleinen Jungen väterliche Ermahnungen, da sie zum bleibenden Nachtheile ihrer Stiefeln mitten im Rinnsteine spazieren gehen. So rückt die vierte Nachmittagsstunde, um welche die Jugend aus den Stadtschulen entlassen wird, allmählich heran. Während mehrere Dienstmädchen mit großen Töpfen voll blauangelaufener Milch zum Vesperbrod vorübergehen und mit dem Schutzmann schäkern, schlägt es auf dem nahen Kirchthurme vier Uhr. Einige Minuten später erschallt von dem großen düstern Gebäude aus der Mitte der Straße her ein Geschrei, als ob der bethlehemitische Kindermord zum zweiten und verbesserten Male aufgelegt werden solle, ein Geschrei, daß Jeder nach dem schwarzen eisernen Windfahnenmann auf dem hohen Schornstein der Fabrik sieht, ob er nicht vor Schreck in Ohnmacht fällt; alles Volk erschrickt, nur nicht der Schutzmann. Er weiß, daß die Stadtschule geschlossen ist, und daß Berlins „wilde verwegene Jagd“ nach Hause stürmt. Er erträgt den haarsträubenden Scandal, wie der Weise die unabwendbaren Uebel des menschlichen Daseins, z. B. den Katzenjammer. Der erfahrene Beamte hat aber seine Ausdauer überschätzt; es gibt Verknüpfungen irdischer Begebenheiten, denen nur die seltenste Heldengröße gewachsen ist.

Das Unheil entwickelt sich aus einem benachbarten Keller, dessen Inhaber alkoholhaltige Getränke zwar nur im Detail, aber leider an Leute, die sie en Gros trinken, feilbietet und verkauft. Schon in den Mittagstunden war bei ihm einer jener kühnen Forscher, die ihr Leben auf Entdeckungsreisen nach Schnapsläden zubringen, vor Anker gegangen, und hatte Untersuchungen mit dem Senkblei seiner Gurgel angestellt. So sehr diese ihn auch wissenschaftlich befriedigt haben mögen, fand wunderbarer Weise doch der Wirth des Locals keinen Grund – ihn länger da zu behalten. Ob er nicht bezahlt, oder eine andere Unbill begangen, ist gleichgültig, es steht nur fest, daß er genau sieben Minuten nach vier Uhr aus dem Keller hinaus und in die Straße hinaufgeworfen, seine Weste aber als Pfand zurückbehalten wurde, was den galanten Wirth andererseits nicht verhinderte, ihm seinen alten Hut mitten auf die Straße nachzuschleudern. Wer wagte zu leugnen, daß das Zusammentreffen dieses Verbannten mit der Stadtschuljugend ein verhängnißvolles genannt werden muß? Nicht nur der Schutzmann, sondern auch der berauschte Kellermann, jeder in seiner besonderen Stellung zu der Oeffentlichkeit, blicken gespannt auf die kommenden Ereignisse. Letzterer lehnt sich vorsorglich mit dem Rücken gegen die Mauer des nächsten Hauses, und gedenkt die muthwillige junge Mannschaft vorübertoben zu lassen. Doch ach, er verräth unbedachtsam diese seine Hoffnung durch ein ziemlich lautes Selbstgespräch, und ein aufmerksamer Knabe bleibt stehen, um dem philosophischen Gedankengange des Monologs zu folgen. Der Kellermann fühlt sich durch den kleinen Zuhörer beleidigt und lallt ihm ein Schimpfwort entgegen. Kaum ist es aber den bebenden Lippen entflohen, so stößt der aufmerksame Knabe mit gellender Stimme das Kriegsgeschrei: „Pietsch! Pietsch!“ aus, womit der kleine Berliner einen durch beharrlichen Trunk um den Gebrauch seiner Urtheilskraft gekommenen und den Angriffen der lieblichen Kindheit nicht mehr gewachsenen Mann im reiferen Lebensalter versteht. Der Kellermann hat nicht sobald diesen schrecklichen Ruf vernommen, als er sich der ganzen Gefahr bewußt wird, denn er ist in der That der erste berühmteste Pietsch des Stadtviertels. Er versucht davonzukommen und taumelt langsam das Trottoir entlang. Doch schon stürzen zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Knaben auf ihn los, und unter einem furchtbaren Heulen und Pfeifen der Hoffnung Preußens muß der Bejammernswerthe schnell wieder eine feste Stellung einzunehmen suchen.

Jetzt schreitet der Schutzmann ein. Zunächst schreckt er durch Drohungen die Jungen zurück und diese, von düstern Schauern vor der Polizei erfüllt, flüchten zwanzig Schritte weit und ordnen sich am Gestade des Rinnsteines im Sinne des antiken Chores, bereit, die Handlung mit lyrischen Lauten zu begleiten oder auch rächend daran Theil zu nehmen, im schlimmsten Falle aber auszureißen. Der Schutzmann ermahnt den Trunkenbold, nach Hause zu gehen; dieser betheuert, daß er sich schon zu Hause befinde, und legt sich, in der Meinung, sein Bett vor sich zu haben, der Länge nach auf das Pflaster nieder. Jubelgeschrei der Jugend, neue Beschwörungen des Schutzmannes, dann einige gewaltsame, aber vergebliche Versuche, den Unglücklichen auf die Beine zu bringen; ein kecker Bube wirft nach ihm mit einer Mohrrübe und ein alter Herr, der in der Nähe wohnt und an einer Geschichte der Lacedämonier arbeitet, steckt [192] den Kopf zum Fenster hinaus und erkundigt sich, ob ein Aufstand der Heloten ausgebrochen sei. Was sollen wir weiter sagen? Die Dunkelheit bricht herein, ehe zwei christliche Männer gefunden und überredet werden, den Trunkenbold umsonst nach Hause zu schleppen; mehrere Mütter kommen und holen ihre Knaben vom Schauplatz mit Püffen nach Hause; gegen sechs Uhr Abends ist der Friede leidlich wieder hergestellt, die Frachtwagen langen an, um die zu versendenden Güter nach den Bahnhöfen zu fahren, die Droschken bringen das schaulustige Publicum in’s Theater, die unruhigeren Elemente der Straße sind sämmtlich verstummt und der Schutzmann ist von seinem Kreuzwege erlöst. Nimmt man ihn nicht noch in Anspruch, um den gordischen Knoten irgend einer verworrenen Mägdeangelegenheit zu lösen, wird nicht noch ein schon frühzeitig am Abende stehlender ungeschickter Dieb ergriffen: so hat er für heute Ruhe und darf sich aus dem stürmischen Leben in das Bureau des Revierhauptmannes zurückziehen, wo in einer dicken Tabakswolke die Schreiber in Uniform sitzen und Alles, was sich im Revier zuträgt, in der Santa Casa graueingebundene Register schreiben.


Blätter und Blüthen.

Das deutsche Lied und Frau Schröder-Devrient. Es ist so viel über die Bedeutung des deutschen Liedes und dessen Mission geschrieben worden, daß es Wasser in die Donau tragen hieße, wollte man noch einmal in Ausführlichkeit darauf zurückkommen. Ueberall, wo das deutsche Lied erklingt, erobert es im Sturme die Herzen und schmiedet Fesseln der Sympathie für unser schönes Vaterland. Dort, wo man – Dank unserer politischen Schwäche – Deutschland und der Deutschen sonst nur mit höhnischem Achselzucken gedenkt, in den parquetirten Salons von Paris und London und Petersburg, da durchwandert der deutsche Genius siegend die Säle in Gestalt des „deutschen Liedes“ und die stolzen Lady’s und reich geschmückten Herzoginnen des Kaiserreichs unterwerfen sich tiefergriffen der Macht des unwiderstehlichen Eindrucks. Singend und klingend lebt es im Herzen des Deutschen fort, wohin und wie weit er sich auch fortwendet von dem Vaterlande. Der Auswanderer in Amerika, der tief in den Wäldern oder Prairien mit Groll im Herzen des Landes gedenkt, das einst seine Heimath hieß, er zerdrückt die Thräne im Auge, wenn in der Ferne ein deutsches Lied erklingt, das mit einem Schlage alle die süßen Erinnerungen an die schon halb vergessene und doch so liebe Heimath zurückzaubert. Mit seiner Einfachheit, mit seiner tiefgefühlten Wahrheit, mit seiner Innigkeit und Wärme kettet es die Herzen an unsere nationalen Klänge, die so schön, so lieb und ergreifend keine zweite Nation zu schaffen vermag.

Um die hohe Bedeutung und Macht des deutschen Liedes begreifen und würdigen zu können, muß man es aus dem Munde von Sängern oder Sängerinnen hören, die ein Herz haben für deutsche Kunst und deutsche Auffassung. Deutschland ist nicht arm an ausgezeichneten Sängerinnen, die ihre schöne Kunst zu etwas mehr als zu Rouladen und Trillern verwenden, aber was Innigkeit und Feuer des Vortrags, was Verständnis; des deutschen Liedes anlangt, werden sie alle überstrahlt von einer jetzt schon alternden, aber musikalisch ewig jungen und genialen Frau – der Schröder-Devrient. Wer diese Frau – sie ist im Jahre 1806 geboren – vor wenigen Wochen in Dresden und Leipzig gehört, wie sie excellirte in den Schubert’schen und Schumann’schen Liedern: „Der Wanderer“, „Trockne Blumen“, „Ungeduld“, „der Erlkönig“, „Ich grolle nicht“, im Mendelsohn’schen: „Es ist bestimmt in Gottes Rat!“; diese Lieder, die wir Alle so oft und übersatt und doch niemals so innig, so groß gedacht und tief gefühlt, wie von dieser Frau, gehört haben, der wird und muß uns bei stimmen. Jedes Lied ist eine Herzerquickung, der Ton fällt wie frischer Thau in die Seele! Deutsches Wesen und deutsche Innigkeit bat vielleicht nie eine deutsche Sängerin so großartig und herzinniglich aufgefaßt, wie diese geniale Frau, an der die Jahre machtlos vorüberstrichen. K.     


König Glaß. Ein kürzlich in London erschienenes Buch, dessen Verfasser Dr. Knighton ist, enthält unter andern folgende interessante Erzählung, deren Inhalt gewiß der deutschen Leserwelt noch nicht bekannt ist. Fern in der Südsee liegt ein Eiland, Aumda genannt, welches so entlegen ist, daß es selten ein Schiff zu Gesicht bekommt, wenn man den schmutzigen Wallfischfänger abrechnet, der hin und wieder hier anlegt. Diese Insel wurde während der Gefangenschaft des Kaisers Napoleon auf St. Helena von der englischen Regierung mit einer Artillerieabtheilung besetzt, und in diesem Commando diente als Corporal ein Mann, Namens Glaß, welchem das öde Eiland so wohl gefiel, daß er beschloß, einem Robinson ähnlich, sein noch übriges Leben hier zu verbringen.

Als die Insel wieder aufgegeben und seine Dienstzeit abgelaufen war, brachte er diesen Entschluß wirklich zur Ausführung. Die Regierung ging ihm dabei hülfreich an die Hand und er ward, mir Weib und Kindern so wohl, als auch mit mehreren seiner Freunde, die er für seinen Plan gewonnen hatte, nach seiner 1100 Meilen vom nächsten bewohnten Orte entfernten Insel zurückgebracht. Dieselbe war vor der Besetzung durch das erwähnte Commando nie bewohnt gewesen, aber diese hatte sie in etwas für die Aufnahme der kleinen Colonie vorbereitet.

Glaß landete im Jahre 1623 mit 6 Gefährten, welche sämmtlich verheirathet waren und zusammen 11 Kinder hatten, und schon 1829 zählte, einer sichern Quelle vom Cap der guten Hoffnung nach, der junge Staat 29 Seelen, nämlich 7 Männer, 6 Frauen (eine war gestorben) und 16 Kinder. Im Jahre 1849 waren 86 Einwohner auf der Insel; Glaß lebte noch immer als Monarch dieses kleinen Reiches. Man hatte 600 Acker Land urbar gemacht und der Viehstand hatte sich bedeutend vermehrt, denn aus 5 Stück Rindvieh waren 100 geworden und die Zahl der Schafe war von einem Dutzend auf 300 gestiegen. Die Schweine und Ziegen, die noch von der Besetzung durch die Soldaten her da waren, waren wild geworden und auf der ganzen Insel zu finden. Alles war in einem viel versprechenden Zustande und man konnte sehen, daß Glaß sein Scepter gut zu führen verstehe. Er hatte und hat vielleicht noch alle einem Fürsten nothwendigen Eigenschaften und war der König und der Priester seines Volkes zugleich. Dieses betrachtete ihn als den Weisesten der Weisen und liebte ihn dabei wie einen Vater! trotzdem aber hielt er streng auf Ordnung und seine Unterthanen hatten eine heilsame Furcht vor ihm.

Am meisten mußten sie die Wallfischfänger fürchten, deren Mannschaft in der Regel das Eigenthum Anderer nicht sehr achtet, und in früheren Jahren floh Glaß mit seinen Gefährten in das Gebirge, welches die halbe Insel einnimmt, sobald man ein solches Schiff auf dieselbe zukommen sah. Ein 8000 Fuß hoher Berg nahm dann Heerden und Familien in seinen Schluchten auf, und die Räuber fanden gewöhnlich nicht, was sie brauchten. Im letzterwähnten Jahre jedoch war die Bevölkerung der Insel bereits mächtig genug, um sich vor solchen Angriffen zu schützen, und so sehr man früher der Annäherung eines Schiffes mit Besorgniß entgegengesehen hatte, eben so sehr war man jetzt darüber erfreut. R. W.     


Die Journalistik in der Schweiz. Wohl kein Staat in Europa hat im Verhältniß seiner Bevölkerung eine solche Menge periodisch erscheinender Blätter auszuweisen, als die Schweiz.

Im Jahre 1858 erschienen nämlich in derselben 260 periodische Schriften, wovon 181 in deutscher, 70 in französischer, 7 im italienischer und 2 in romanischer Sprache, Davon wurden ausgegeben: 44 täglich, 70 wöchentlich 2 bis 4 Mal, 91 wöchentlich einmal, 55 alle 14 Tage oder monatlich. Auf die vier Landessprachen vertheilt, kommt ein täglich erscheinendes französisches Journal auf 28,695, ein deutsches auf 29,588, ein italienisches auf 50,296 und ein romanisches auf 14,000 Einwohner der betreffenden Sprache.

In diesem Jahre hat sich die Zahl der periodisch erscheinenden Blätter jedenfalls noch vermehrt.



Schach.


Aufgabe Nr. 4.
Von Herrn G. Seeberger in Graz.
Schwarz.

Weiß.
Weiß zieht an und setzt im vierten Zuge matt.


Berichtigung.

Die letzte Aufgabe von Dufresne enthält einen Druckfehler. Statt des Springers ist auf b 4 ein weißer Thurm zu stellen.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen. Ernst Keil. 


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Luftbahn auf den Rigi.“ System einer Communication mit Höhen, mit Anwendung der Luftballons als Locomotiven, von Friedr. Albrecht, Architekt. Mit 4 Tafeln Abbildungen. Winterthur, in Commission der Steiner’schen Buchhandlung. 1859.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. dem Inhalt nach von Alfred Edmund Brehm. Siehe auch Teil 2.