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Die Gartenlaube (1859)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[409]

No. 29. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Volkesstimme.
Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Nach Besichtigung des Fensters stieg ich mit dem Bestohlenen die Treppe hinab, um die Oeffnung unter dem Scheunenthor in Augenschein zu nehmen; sie war, wie derselbe sie beschrieben hatte. Ein Mensch konnte durch sie bequem ein- und auskriechen. Und doch waren mir auf einmal Zweifel aufgestiegen. Ich kann nicht sagen, wie und wodurch zuerst. Aber als sie einmal da waren, wurde ich mir ihrer Gründe wohl bewußt.

Der Diebstahl war mit großer Verwegenheit und hartnäckiger Ausdauer, aber auch mit sehr großer Vorsicht und nur von einem Menschen ausgeführt, der genau im Hause Bescheid wußte, der namentlich sowohl dessen innere Einrichtung, wie das Vorhandensein und den Ort der Aufbewahrung des Geldes kannte. Ein solcher Dieb hätte nun aber auch meine Anwesenheit im Hause und in der Stube wissen müssen und unzweifelhaft sein Verbrechen auf eine andere Zeit verschoben. Sodann, wie kam der Bestohlene dazu, sein Geld, jene bedeutende Summe, sein gesammtes Erspartes, anstatt unten in seinem Wohn- und Schlafzimmer, hier oben in der unbewachten Kammer zu verwahren? Endlich, warum hatte er jenes Stillschweigen über das Verbrechen von mir gefordert? Der Diebstahl war also von ihm fingirt, vorgespiegelt? Die gefundenen Spuren waren von ihm selbst gemacht? Auch ein Grund dafür ließ sich, wie ich meinte, leicht auffinden.

Heimann, der angeblich Bestohlene, war in verbrecherischer Absicht während der Nacht an meiner Thür gewesen, hatte aber seinen Zweck nicht erreicht; er konnte, ja mußte sogar vermuthen, daß ich das Geräusch gehört und dadurch Verdacht geschöpft haben mußte. Um nun meinen Verdacht auf eine falsche Bahn zu lenken, hatte er den Diebstahl erfunden. Freilich war sein Benehmen so natürlich. Aber trug er nicht das Kainszeichen im Gesichte? Und vor Allem, wenn er wirklich nach der allgemeinen Volksstimme der gefürchtete freche und listige Dieb war, konnte er ein besseres Mittel erdenken, den gegen ihn herrschenden und ihm sicher nicht unbekannten Verdacht mit einem Male und für immer von sich abzulenken, als indem ich fast der Augen- und Ohrenzeuge eines gegen ihn mit großer Verwegenheit und List verübten Diebstahles werden mußte? Das allein, ohne daß ich irgend weiter die Absicht eines Verbrechens gegen mich anzunehmen brauchte, konnte erklären, warum er mich in sein Haus geführt und die Nacht dort gehalten hatte. Ich durfte ihn von meinen Zweifeln, von meinem Verdachte nichts merken lassen. Nur die behutsamsten, von Gericht und Polizei gemeinsam und gleichzeitig zu bewirkenden Nachforschungen konnten, wenn mein Verdacht ein gegründeter war, zur Ermittelung der Wahrheit führen. Nur eins mußte ich ihn fragen, um nicht durch zu große Zurückhaltung meinerseits in ihm Verdacht zu wecken.

„Sie baten mich vorhin, den Diebstahl geheim zu halten.“

„Ich bitte Sie noch darum.“

„Sie wissen, wer ich bin?“

„Sie sind der Herr Criminaldirector – Ihr Kutscher hat es mir gesagt.“

„Aber vermöge meines Amtes darf ich Verbrechen nicht verbergen.“

„Ich will Sie auch nur bitten, ungefähr acht Tage lang die Sache zu verschweigen.“

„Könnten Sie mir den Grund sagen?“

Er besann sich. Dann sagte er: „Ich habe eine Vermuthung, wer der Dieb ist, wer alle die anderen Diebstähle in der Gegend verübt hat. Dieser Diebstahl hat mich auf einmal darauf gebracht. Gestern Abend in der Heide, als Sie den Unfall halten und ich an Ihnen vorbeieilen wollte, war ich schon auf einer Spur –“ Er brach plötzlich ab. Dann fuhr er fort: „Aber ich darf Ihnen nicht mehr sagen. Nur ich allein kann den Dieb entdecken und überführen und zugleich wieder zu meinem Eigenthume kommen, jeder Andere würde mir Alles verderben; auch die Polizei und die Gerichte. Glauben Sie mir das. Lassen Sie mich daher allein handeln, nur die acht Tage lang. Ich bin ein ruinirter Mann, wenn ich mein Geld nicht wieder bekomme. Und nur ich allein kann es mir wieder verschaffen, wenn kein Mensch weiter von dem Diebstahle erfährt. Meine Leute wissen noch nichts und werden auch nichts erfahren.“

Er sprach so wahr und überzeugend, daß ich mir beinahe über meinen Verdacht gegen ihn Vorwürfe machte. Ich versprach ihm, acht Tage lang den Diebstahl geheim zu halten und keine amtlichen Schritte in der Sache zu thun. Wie die Sache stand, konnte ich das, ohne, nach aller Wahrscheinlichkeit, ihr erheblich zu schaden. Jedenfalls war es mir eine Gewissenssache, auf einen durch keine Thatsache unterstützten Verdacht hin dazu beizutragen, daß der Mann nicht wieder zu seinem Vermögen komme. Ich that nur noch eins. Die Fußspuren unter dem Fenster, von denen er gesprochen Halle, mußten nach acht Tagen verwischt sein. Auf sie konnte gleichwohl Vieles ankommen. Ich ging in den Garten, sie zu besichtigen. Ich fand sie unter dem Fenster. Jemand war dort hin- und hergegangen. Aber der Dieb, oder wer es sonst gewesen sein mochte, war auch hier vorsichtig gewesen. Die Spuren waren, und zwar unzweifelhaft absichtlich, so verwischt, daß man ihre Beschaffenheit unmöglich [410] erkennen konnte; ich konnte nicht einmal unterscheiden, ob sie von einer oder von mehreren Personen herrührten. Ich ließ mich jedoch die Mühe nicht verdrießen, sie weiter als blos an jener Stelle unter dem Fenster zu verfolgen; sie konnten gar zu wichtig werden. Anfangs war meine Mühe vergeblich, denn sie verloren sich in einem harten Erdwege; aber an dessen Ende hatte der Dieb über die Hecke des Gartens setzen müssen, und unmittelbar an derselben hatte der Weg eine weichere Stelle, und hier fand ich die frisch eingedrückte[WS 1] Spur eines Fußes. Ich glaubte noch zu erkennen, wie der Mensch namentlich den vorderen Theil des Fußes fest eingedrückt hatte, um mit einem tüchtigen Satze sich in die Höhe zu schwingen. Die Spur zeigte einen ziemlich kleinen Mannsfuß, der einen Schuh oder Stiefel ohne Absatz getragen hatte. Andere, besondere Merkmale hatte er nicht. Ich zeichnete auf einem Bogen Papier, den ich mitgenommen hatte, eine vollkommen genaue Abbildung der Spur.

Ich hatte diese Verfolgung der Spur allein vorgenommen, selbst ohne Wissen des Bestohlenen. Er war im Hause geblieben. Ich kehrte jetzt in dasselbe zurück, um unbemerkt meine Abbildung mit seinem Fuße wenigstens im Allgemeinen zu vergleichen. Ich hatte ihn in der Küche, dem gewöhnlichen häuslichen Aufenthalte, verlassen. Bei meiner Rückkehr war er nicht mehr da. Die Thür stand offen, und ich war daher durch diese ohne Geräusch eingetreten. Schon beim Eintreten hörte ich ein Gespräch in jener Stube neben der Küche, welche der Hausherr mir am gestrigen Abende als die gewöhnliche, zugleich zum Schlafgemache dienende Wohnung bezeichnet hatte. Ich unterschied die Stimmen von Mann und Frau. Ich mußte unwillkürlich hinhören. Sie sprachen nicht leise, sie schienen kein Geheimniß zu haben. Was ich hörte, ließ mich den Zweck meines Eintretens vergessen. Der Mann hatte der Frau den erlittenen Verlust mitgetheilt. Die vollständige Fassung, die er mir gegenüber bewahrt hatte, schien ihn dabei verlassen zu haben. Die Frau tröstete ihn. „Wir werden nicht zu Grunde gehen, lieber Mann.“

„Aber es ist ein großes Unglück.“

„Wir bedurften ja des Geldes nicht, wir haben hier Alles bezahlt. Außerdem leben wir sparsam, sind fleißig und der Hof ist einträglich. Es fehlt uns an nichts, und wenn kein Unglück kommt, so können wir in ein paar Jahren den Verlust ersetzt haben. Darum tröste Dich, mein guter Mann, und laß uns Gott danken, daß er nichts Schwereres über uns geschickt hat. Es hatte Dir oder unseren lieben Kinderchen ein Unglück zustoßen können.“

Die Frau sprach Alles mit einer außerordentlich weichen, innigen, so recht tief aus dem Herzen kommenden Stimme. Sie mußte ein braves Herz haben und mit diesem den Mann so recht innig lieben. Ich meinte, sie zu sehen, wie sie mit dem schönen, feinen, blassen Gesichte, das ich gestern Abend nur im Fluge hatte betrachten können, liebend und bittend vor ihm stand, ihn zu ermuthigen und aufzurichten. Den finsteren Mann, mit dem unheimlichen Kainszeichen im Gesichte! Er hatte aus ihren Worten eins aufgegriffen.

„Wenn kein Unglück kommt, sagst Du? Wenn es nun kommt? Gerade dazu lag das Geld da.“

„Laß uns nicht daran denken,“ unterbrach ihn rasch die Frau.

„Doch, doch. Müssen wir nicht daran denken? Was dann?“

„Gott wird für uns sorgen.“

„Gott? –“

Auf einmal hörte ich ein Wort, über das mir das Blut in den Adern erstarren wollte. Sie hatten bisher Beide deutsch gesprochen. Ich hatte nicht darauf geachtet, trotz dessen, was der alte Bauer mir über die fremde Sprache gesagt hatte, in der sie mit einander redeten, wenn sie sich ganz allein glaubten. Der Inhalt ihres Gesprächs hatte mich nicht daran denken lassen. Um so mehr überraschte, ergriff mich das fremde Wort, das ich jetzt auf einmal hörte. Es war nur ein einziges Wort und hatte so völlig gleichgültige Bedeutung.

„Klausik!“ flüsterte der Mann, sich selbst unterbrechend, plötzlich, rasch, hastig, wie in völliger Vergessenheit, der Frau zu. Gleichzeitig öffnete er die Thür, um zu sehen, ob Jemand in der Küche sei.

Klausik! Es war ein litthauisches Wort. Es heißt „Horch!“ Aus Litthauen waren sie? Litthauer? Eine Fluth von Gedanken überstürzte mich; eine Fluth von Erinnerungen und Combinationen. Ich war, wie ich bereits oben erzählte, mehrere Jahre in Litthauen Criminalrichter gewesen. Alle schweren Verbrechen, die dort verübt und deren Thäter unbekannt geblieben waren, alle schweren Verbrecher, von denen ich gehört, die ich aber nicht selbst kennen gelernt hatte, standen vor mir, und Alles vereinigte sich in dem Manne mit dem Kainszeichen, der in diesem verborgenen Erdwinkel sich zu verbergen gesucht hatte, den die allgemeine Volksstimme für einen Verbrecher erklärte, der noch so eben an Gottes Vorsehung und Barmherzigkeit gezweifelt hatte. Mein Kopf verwirrte sich. Ich hatte nur einen klaren Gedanken, daß ich dem Manne, der mich beobachtete, kein Zeichen einer Ueberraschung zeigen dürfe. Ich sammelte mich. Auch er hatte sich zusammen genommen und trat mit einem möglich gleichgültigen Gesichte zu mir in die Küche. Zugleich kam von einer anderen Seite, vom Hofe her, mein Kutscher herein. Er meldete mir, daß mein Wagen wieder in Ordnung, daß er angespannt und Alles zur Abreise bereit sei. Die Kosten der Reparatur des Wagens hatte er berichtigt. Ich dankte dem Hauswirth, gab seinen Leuten ein Trinkgeld und reiste dann ab.

Ich mußte jetzt meine Gedanken ordnen, klar machen und überlegen, was weiter zu thun sei. An eine Vergleichung meiner Abbildung der Fußspur mit dem Fuße des Bestohlenen hatte ich nicht mehr gedacht. Man ist zu Zeiten ein schlechter Criminalbeamter. Aber der Fuß lief mir ja, nicht davon, wenn der ganze Mann nicht weglief. Und dann, war jenes Gespräch zwischen Mann und Frau nicht auch der sicherste Beweis, daß der Diebstahl wirklich verübt und nicht ein vorgespiegelter war? Freilich, konnte es nicht auch darauf berechnet sein, daß ich es hören werde? Mein Kutscher hatte nun nicht genug die gute Aufnahme zu rühmen, die er gefunden hatte. – Ich konnte meine Gedanken ordnen; aber klarer sah ich darum nicht. Von allen Verbrechern und Verbrecherinnen jenes Landes, an die ich zurückdenken mußte, wollte Niemand zu dem Manne und zu der Frau passen, unter deren Dache ich Aufnahme gefunden hatte; das Alter war anders gewesen, die Person, der Grad von Bildung, Alles. Nur ein Bild wollte sich besonders hervordrängen; es war das eines Verbrecherpaares. Aber die Frau, oder vielmehr das Mädchen, lebte nicht mehr; sie hatte auf entsetzliche Weise, durch das eigene Verbrechen, in der Flammengluth ihre schwere Schuld büßen müssen.

Vor der Hand konnte ich nichts machen. Selbst von brieflichen Erkundigungen nach Litthauen hin war bei dem Wenigen, das ich als Anhalt angeben konnte, kein Resultat zu hoffen. Ich mußte jedenfalls warten, bis ich Gelegenheit haben werde, über die beiden Menschen Näheres zu erfahren. Diese Gelegenheit bot sich dar, wenn ich nach Ablauf jener acht Tage weitere Untersuchungen über den verübten Diebstahl einleiten durfte und mußte. Ich beschloß, so lange zu warten; ich sollte es jedoch nicht müssen. – Am dritten Tage nach jenem nächtlichen Abenteuer ließ sich eine Frau Heimann bei mir melden. Es mußte die Frau des verdächtigen Mannes sein, bei dem ich übernachtet hatte, dieselbe Frau, die ich damals nur flüchtig, mit halbem Blicke gesehen hatte. Was konnte sie von mir wollen? Sie wünsche mich eilig, dringend zu sprechen, sagte der Gerichtsbote, der sie anmeldete, Sie sei in großer Aufregung, sie könne ihre Thrönen nicht zurückhalten. Ich ließ die Frau sofort zu mir kommen. Ich erkannte sie wieder, wie flüchtig ich sie auch nur gesehen hatte, wie sehr das Gesicht von Schmerz und von heftigem Weinen entstellt war. Es war schön, dieses blasse, feine, regelmäßige Gesicht mit seinen großen, schwarzen, melancholischen Augen mit dem Ausdrucke eines Grames, eines Leidens, das von dem heutigen heftigen Schmerze nicht erst erzeugt sein konnte, der schon seit Jahren die feinen Züge durchzogen, aber auch veredelt haben mußte. Ihre ganze schlanke Gestalt war schön. Es lag etwas außerordentlich Anziehendes, beinahe Ergreifendes in ihrer Erscheinung. Sie trug auf ihrem Arme ein Kind von einem halben Jahre, einen Säugling, von dem die Mutter sich nicht hatte trennen können. Das Kind erhöhte das Interesse für sie.

„Retten Sie meinen Mann!“ rief sie hastig. „O Herr, lieber, lieber Herr, retten Sie ihn. Sie allein können ihn retten.“ Sie wollte, mit dem Kinde in dem Arme, vor mir niederfallen. Ich war furchtbar ergriffen. Nicht von der Angst der Frau, die allerdings einer Todesangst glich. Etwas Anderes war es: die Sprache, die Bewegungen der Frau. Das waren vollständig Aussprache, Betonung, Wendungen, mit denen die Litthauer, wenn sie des Deutschen mächtig sind, diese Sprache reden. Nur in Litthauen hatte ich es erlebt, daß die Frauen – der unteren Stände – wenn sie recht dringende Bitten hatten, in die Kniee sanken, die Stiefel, [411] den Saum des Rockes dessen umfaßten, an den ihre Bitten gerichtet waren. – Das Bild des litthauischen Verbrecherpaares stand wieder vor mir. Und diese schöne, unglückliche Frau mit dem blassen, leidenden Gesichte, mit dem tiefen Schmerze, mit der Todesangst um den Mann, gehörte zu dem Paare? – O doch, auch ihre Angst ergriff mich. Ich ließ sie sich setzen. Sie mußte mir dann erzählen.

Ihr Mann hatte ihr den Diebstahl mitgetheilt. Er hatte ihr auch anvertraut, daß er auf Jemanden Verdacht habe, und ihr diesen genannt. In dem Kirchdorfe, zu dessen Kirchspiele auch der Hof ihres Mannes gehörte, wohnte schon seit acht bis neun Jahren ein alter Mann, von dem es hieß, daß er früher in dem Nachbarlande einen bedeutenden Holzhandel betrieben und dabei viel Geld verdient habe, und der sich in das Dorf zurückgezogen hatte, um dort seine alten Tage in Mühe zuzubringen. Er lebte ganz allein in einem kleinen Hause, das er sich in einer abgelegenen Gegend des Dorfes gekauft hatte. Er war ein alter Junggeselle, der wenig zugänglich, aber dennoch im Dorfe beliebt war, weil er der regelmäßigste Besucher der Kirche war, den Armen Gutes that, gegen mäßige Zinsen Gelder auslieh und Schuldner nicht drückte. Er hieß Keller. Diesen Menschen hatte ihr Mann wegen des gegen ihn verübten Diebstahles in Verdacht.

Das schleichende Wesen des Menschen, der Niemandem in die Augen sehen konnte, war ihm schon lange aufgefallen; er hatte es in Verbindung gebracht mit den vielen Diebstählen, die seit einem halben Jahre begangen waren. Er hatte ihn beobachtet, um so mehr, als es ihm nicht entging, daß er selbst, Heimann, für den Urheber dieser Diebstähle gehalten werde, und als ihm der Gedanke kam, jener möge seine, des Fremden, Ankunft in der Gegend benutzt haben, um verdachtlos endlich wieder zu einem Gewerbe zu greifen, das er wahrscheinlich schon vor Jahren im Auslande getrieben, und mühsam genug so manches Jahr seitdem hatte unterlassen müssen. Schon mehrere Tage vor dem Diebstahl hatte er den Mann am Abend in der Umgegend seines Hofes umherschleichen sehen; er hatte ihn jedoch nicht mit voller Sicherheit erkannt. Dasselbe war am Abend vor dem Diebstahl der Fall gewesen. Er hatte ihn in der Heide gesehen, unweit des Weges, der von dem Kirchdorfe nach der Bauerschaft führte, in welcher der Heimann’sche Hof lag. Um sich zu vergewissern, daß er sich nicht irre, hatte er, ehe der Andere ihn bemerken konnte, rasch einen Seitenweg eingeschlagen, der ihn Jenem gerade entgegenführen mußte.

Auf dem Wege hatte ich ihn angerufen, und um mir Hülfe zu leisten, hatte er seine weitere Verfolgung aufgegeben.

In der Nacht war er bestohlen. Nur Keller konnte nach seiner Meinung der Dieb sein, er mußte diesen entdecken, er mußte wieder zu seinem Gelde kommen. Wie das anfangen?

Bei Tage saß der fromme Mann Keller in der Kirche oder in seinem Hause und betete; bei Nacht mußte er also seinem Verbrechen leben.

Heimann begab sich jeden Abend in die Nähe des Keller’schen Hauses, und ließ dessen Ein- und Ausgänge die ganze Nacht nicht aus den Augen. Zwei Nächte hatte er vergeblich auf der Lauer gestanden, der Mensch hatte sich nicht sehen lassen, sich nicht gerührt, Haus und Umgebung waren still und dunkel geblieben.

Am dritten Abend war er wieder hingegangen. Es war am Abend vor dem Tage, an welchem die Frau bei mir war. Er war nicht zurückgekehrt. Aber schon früh am Morgen war die Gegend in einer eigenthümlichen Unruhe gewesen. Auch an dem Heimann’schen Hofe waren Menschen hin und her gerannt. Der Frau hatte sich eine große Angst bemächtigt. Es war ihr vorgekommen, als wenn die Menschen nach ihrem Hause, nach ihr so sonderbare Blicke richteten. Sie hatte ihre Leute ausgeschickt, sich zu erkundigen, was vorgefallen sei. Man habe in der Nacht im Dorfe einen Dieb, einen Räuber gefangen, war ihr berichtet worden, dann, an der Keller’schen Wohnung sei der Dieb gefangen, endlich, ihr Mann sei es. Ihr Mann habe in der Nacht dem Keller sein Hab und Gut stehlen wollen, dreihundert Stück Friedrichsd’or, die der alte brave Mann sich mühsam erspart und für seine alten Tage zurückgelegt habe. Aber Keller habe den frechen Räuber ertappt, mit ihm gerungen, um Hülfe gerufen und ihn gehalten, bis Hülfe gekommen sei.

Endlich habe man den verwegenen, gefährlichen Dieb und Räuber, der so lange die Gegend unsicher gemacht, so viele Verbrechen verübt, dem man so lange nachgespürt, dessen man nie habe habhaft werden können.

Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Nachbarschaft verbreitet. Von allen Seiten war man nach dem Dorfe zusammengelaufen. Alles war mit wüthender Freude über den Fang hingerannt. Im Zusammentreffen hatte Zorn und Wuth sich gesteigert. Man müsse sofort über den Verbrecher Gericht halten, die Strafe müsse auf der Stelle folgen; bei den Gerichten werde ein so schlauer und gewandter Verbrecher sich durchlügen. Eine vorläufige Freisprechung sei ja das gewöhnliche Ende der langwierigen, jahrelangen Untersuchungen gegen solche listige Diebe.

Der Fanatismus des Volkes ist leicht erregt, und Elemente und Gründe zu einer Lynchjustiz finden sich nicht blos in Amerika.

Heimann war in das Gemeindehaus des Dorfes gebracht. Der Schulze des Dorfes hatte ihn dort gleich anfänglich eingesperrt, bevor das Volk tumultuarisch geworden war. Er war dann darin belagert, man hatte sein Herausgeben verlangt, aber der Schulze hatte dieses verweigert.

Die unglückliche Frau war auf diese Nachrichten zu dem Dorf geeilt, und hatte vergeblich die Unschuld ihres Mannes betheuert. Man hatte sie nicht zu ihm lassen wollen, man hatte nur die Herausgabe des Räubers verlangt, um an ihm eine Strafe zu vollziehen, wie ein solcher Bösewicht sie verdiene.

In ihrer Angst hatte die Frau keinen andern Rath gewußt, als zu mir zu eilen. Sie war nach Hause zurückgekehrt, hatte einen Wagen anspannen lassen, und war zu mir herübergefahren. Sie bat mich, sie zu dem Dorfe zurückzubegleiten. Ich sei der Einzige, der ihren Mann retten könne. Ich wisse, daß ihr Mann nicht der Dieb, sondern der Bestohlene sei. Sie flehte mich an, ihn zu retten. Das waren die Mittheilungen, die Bitten der Frau.

Sie hatte Recht; ich konnte ihren Mann retten, ich mußte ihn retten, vollständig, wenn er wirklich der Bestohlene war, was ich jetzt leicht glaubte ermitteln zu können. Wenigstens vor der Wuth des Volkes, wenn ich auch nicht sofort seine Unschuld herausstellen konnte.

Ich fuhr auf der Stelle hinaus nach dem Dorfe. Bei dem Landrathsamte requirirte ich Gensd’armen, die meinem Wagen vorausreiten mußten, um möglich schon vorher weitere Excesse zu verhüten. Protokollführer und Executoren des Criminalgerichts nahm ich mit mir. Auch die Frau Heimann nahm ich mit. Die arme Frau war mit dem Kinde an der Brust auf einem offenen Leiterwagen gekommen. Es war regnerisches, stürmisches, rauhes Wetter. Ich ließ sie mit ihrem Kinde zu mir und dem Protokollführer in den Wagen steigen.

Ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen werde, die Unschuld ihres Mannes in Beziehung auf den Diebstahl herauszustellen. Aber welche andere, größere, entsetzlichere Schuld mußte ich dennoch auf ihn werfen! Und nicht blos auf ihn! Auch auf die Frau, auf die unglückliche, jammernde, in ihrer Todesangst, den unschuldigen Säugling an der Brust, mir gegenübersitzende, schuldige Frau!

Ich konnte sie nicht ansehen, ohne daß ich selbst von einer Angst ergriffen wurde. War sie die Schuldige, die ich meinte, irrte ich mich nicht, so hatte sie, wie jung sie war, schon durch so manches Jahr in schweren Leiden sich hinquälen müssen, in Leiden eines brechenden Herzens, einer blutigen Schuld, einer furchtbaren Strafe, der Angst vor neuer Strafe, aus der es keine Erlösung gab. Und dieser neuen furchtbaren Strafe sollte ich sie dann unbarmherzig überliefern!

Und ich irrte mich nicht. Je mehr ich über Alles nachsann, über Vergangenes und Gegenwärtiges, über Entferntes und Nahes, desto gewisser, desto unzweifelhafter wurde es mir, daß ich mit meinen schrecklichen Vermuthungen auf einem dunkeln, aber richtigen Wege, auf einer blutigen, aber nicht auszulöschenden Spur war. –

Am 3. August 1828 war die Strafanstalt zu R. in Litthauen abgebrannt. Das Feuer war am späten Abend ausgebrochen und hatte plötzlich Alles in tiefem Schlafe überrascht. Mehrere Menschen, Gefangene, wie selbst Mitglieder der Familien von Beamten, die in der Anstalt wohnten, waren in den Flammen umgekommen. Noch schrecklicher hatten andere oben im dritten und vierten Stock eingesperrte Gefangene den Tod gefunden, indem sie in ihrer Todesangst vor den Flammen von da hoch oben sich aus den Fenstern gestürzt hatten, um unten in der fürchterlichen Tiefe zerschmettert zu werden.

Das Feuer war vorsätzlich angelegt, darüber blieb kein Zweifel. Aber wer war der Thäter? Man wußte es nicht. Die genaueste, die sorgsamste und unermüdlichste Untersuchung konnte es nicht ermitteln. Mancher Verdacht erhob sich, keiner konnte bestätigt werden. [412] Der am meisten getheilte und auch der dringendste, wahrscheinlichste war folgender.

In einem abgelegenen Dorfe an der polnischen Grenze lebte in guten Umständen eine Krügerswittwe, Namens Lenuweit. Sie hatte eine einzige Tochter, ein bildschönes Mädchen von sechzehn Jahren. Madline Lenuweit war der Augapfel ihrer Mutter, der Liebling Aller, die sie kannten. Sie verdiente es, denn sie war eben so brav, gut und sanft, wie sie schön war. Aber sie war unerfahren. Sie wurde, noch nicht volle siebenzehn Jahre alt, die Beute der Verführung.

An der polnischen Grenze wurde mancher Schmuggel getrieben. Die Schmuggler hielten sich in den Krügen der preußischen Grenzdörfer auf, um die günstige Zeit und Gelegenheit für ihr Gewerbe abzuwarten und schnell zu benutzen. Sie kamen oft aus entfernten Gegenden.

Als Madline eben sechzehn Jahr alt geworden war, quartierten neue Schmuggler sich in dem Kruge ihrer Mutter ein. Sie waren die Memel heraufgekommen, und hatten das Schmugglergeschäft bisher an der russischen Grenze getrieben, in der Nähe der Stadt Memel. Dort war es durch verstärkte Grenzsperre seit Kurzem gefährlicher geworden; es hatte daher zu stocken angefangen. An der polnischen Grenze mußte es um so mehr blühen. So hatten sie gedacht und so war es. Sie fanden Arbeit und Verdienst in Fülle und blieben. Es waren entschlossene, muthige litthauische Bursche. Unter ihnen zeichnete sich besonders Einer aus, Ansos Szellwat. Er war der entschlossenste, der muthigste, der gewandteste von Allen, er war der Anführer seiner Gefährten, mit denen er gekommen war, er wurde bald der Anführer sämmtlicher Schmuggler an der Grenze. Er wurde auch etwas Anderes, der Verführer der schönen, sanften, unschuldigen, unerfahrenen Madline Lenuweit.

Auch er war jung, der schönste Mann, den man sehen konnte, und so gewandt, so muthig, so unternehmend, und täglich in Todesgefahr, Und wenn er bei ihr war, wenn er neben ihr saß, war er so sanft und bescheiden, selbst schüchtern, und er schwor, daß sein Herz nur sie liebe, und daß er ohne sie nicht leben könne, und daß er, wenn sie nicht sein Weib werde, sich die erste beste Kosakenkugel durch das Herz jagen lasse.

Und er liebte sie wirklich. Sie liebte auch ihn.

Aber er war Schmuggler und hatte nichts, und sie war die einzige Tochter der reichen Krügerswittwe, und der Krug mit Allem, was dazu gehörte, mit Hausrath und Leinewand und Geld und ausstehenden Capitalien wurde künftig ihr Eigenthum. Ihre Mutter verweigerte hartnäckig die Einwilligung zu der Verbindung der Beiden. Da verführte er das Märchen, und die Mutter gab ihre Einwilligung, um ihr einziges Kind nicht der Schande zu übergeben.

Der Tag der verspäteten Hochzeit war angesetzt, da erschienen Criminalbeamte und Gensd’armen in dem Kruge, um Ansos Szellwat zu verhaften, – nicht den Schmuggler, aber den Dieb, den Räuber, der wegen vielfacher Verbrechen zu einer fünfundzwanzigjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt und vor Jahr und Tag aus der Strafanstalt zu R. entsprungen war. Er wurde in das Zuchthaus zurückgeführt.

Wenige Tage darauf genas Madline Lenuweit von einem Knäblein, und brachte in ihrer Verzweiflung das Kind um. Sie wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt. Die Richter hatten ihre Verzweiflung als einen Milderungsgrund angesehen und deshalb die gesetzlich verwirkte Todesstrafe ausgeschlossen. Madline wurde in dieselbe Strafanstalt zu R. abgeliefert, um dort ihre endlose Strafe zu verbüßen. Die Arme zählte gerade achtzehn Jahre!

Während ihrer Untersuchung war Ansos Szellwat aus dem Zuchthause zum zweiten Male entsprungen. Er mußte zu seiner Verlobten, denn er konnte nicht leben ohne sie und hätte, um sie nur einen Augenblick wieder zu sehen, zehnmal sein Leben gewagt. Er sah sie nicht wieder. Sie saß in der engen Haft der Untersuchung und nach einigen Wochen in dem Zuchthause, dem er entsprungen war.

Er konnte nicht leben ohne sie; er mußte wieder mit ihr vereinigt werden, er gestellte sich selbst, und kehrte freiwillig in die Strafanstalt zurück. Welch eine Gewalt hat und gibt die Liebe! Auch in dem Herzen des Verbrechers!

Er war mit ihr wieder unter einem Dache, und nach einigen Monaten sah er sie wieder. Die Gefängnißeinrichtung war damals noch vielfach mangelhaft in Preußen. Auch die Beaufsichtigung in den Gefängnissen ließ Vieles zu wünschen übrig, und jetzt noch wird nicht Alles sein, wie es sein sollte, und es kann auch nicht so sein. Nachlässige Gefangenwärter wird es zu allen Zeiten geben, mit oder ohne „zwölf Jahre gediente Unterofficiere“. Und die Gefangenen selbst – es gibt in der menschlichen Gesellschaft keine Gesellschaft, die mehr zusammenhielte, im Guten wie im Bösen, im Mitleiden wie im Haß, und vor Allem im Betrügen der Gefängnißbeamten. Aber es gibt unter ihnen auch Verräther. Daß Ansos Szellwat und Madline Lenuweit sich sahen, wurde verrathen. Sie wurden auf das Strengste von einander abgesperrt, und sahen sich nicht wieder.

Drei Monate später brannte die Strafanstalt ab. Das Feuer war angelegt.

Wer war der Thäter?

In dem Hause hatten sich über fünfhundert Gefangene befunden. Nur einer von ihnen konnte der Brandstifter sein. Auf keinen der Beamten fiel nur der geringste Verdacht. Von außen war das Feuer nicht angelegt, sondern in einem der großen Arbeitssäle des Hauses ausgebrochen. Von dort, wo des leicht brennbaren Materials sich so Vieles befand, Maschinen, Räder, Webstühle. Flachs. Hanf. Wolle und Aehnliches, hatte es mit rasender Schnelligkeit sich weiter verbreitet und bald das ganze Gebäude ergriffen und in Asche gelegt.

Es war am Abend des Geburtstags des Königs. Die Beamten der Anstalt hatten den Tag gefeiert und erwachten, als das Feuer sie weckte, aus um so schwererem Schlafe. Der Director der Anstalt war zu derselben Feier in der größeren Nachbarstadt abwesend. Um so mehr hatten die anderen den Kopf verloren. Das Unglück wurde entsetzlich.

Wer war sein Urheber? Der anfangs herumschweifende und sich zersplitternde Verdacht vereinigte sich bald. Ansos Szellwat hatte die Freiheit seines Lebens zum Opfer gebracht, um die Geliebte wieder zu sehen. Madline Lenuweit war in der Verzweiflung der Liebe zur Mörderin ihres Kindes geworden. Beide hatten sich wieder gefunden, waren auseinander gerissen und hatten sich nicht wieder gesehen.

Aber ermittelt wurde, daß ein eifrig frommer Gefangenaufseher, der mehreren Missions- und Tractätchengesellschaften angehörte und der, wo er konnte, fromme Tractätchen unter den Gefangenen verbreitete, solche Schriftchen auch an Ansos Szellwat und Madline Lenuweit abgegeben hatte. Der gewandte und schlaue Bursch hatte den frommen und eifrigen Beamten vermocht, manchmal die Schriftchen unmittelbar von ihm der Madline zu überbringen. So war der Gefangenwärter unzweifelhaft zugleich der Briefträger des Gefangenen geworden.

Die Mitgefangenen Madlinens hatten bald eine besondere Unruhe an ihr bemerkt, namentlich jedesmal, wenn sie ein neues Tractätchen bekommen hatte. Einzelne wollten auch in den kleinen Büchelchen eine Menge Nadelstiche gefunden haben, deren Bedeutung ihnen unerklärlich geblieben war. Hinterher blieb kein Zweifel über diese Bedeutung.

In den letzten Tagen vor dem dritten August hatte ihre Unruhe sich gesteigert. An dem genannten Tage selbst war sie eine fieberhafte gewesen. Bei dem Ausbruche des Feuers und des Feuerlärms und auch später halte man nicht auf sie geachtet. Jeder hatte nur mit sich selbst zu thun.

Ansos Szellwat, der schlaue, besonnene, erfahrene Verbrecher hatte sich mehr zu beherrschen gewußt. An ihm hatte man nicht die geringste Veränderung, keine Spur einer Unruhe wahrgenommen. Aber er wußte aus früherer Zeit, daß der Geburtstag des Königs von den Beamten der Anstalt gefeiert werde; daß des Abends früher als sonst die Arbeitssäle geschlossen wurden; daß dann an diesem Tage jeder Beamte zu der Feier eile und dränge; daß von dem Augenblicke der Schließung an jede Beaufsichtigung der Säle um so mehr aufhöre. In dem Saale, in dem er gearbeitet hatte, war das Feuer zuerst ausgebrochen. Ein Aufseher wollte sich gar erinnern, daß Ansos Szellwat der Letzte gewesen, der den Saal verlassen hatte.

[413]
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 9. Das alte Thier mit dem Kälbchen.


Das alte Thier mit dem Kälbchen.

Nachdem wir in früheren Schilderungen dem Stolze des Waldes, dem Hirsche, den ihm gebührenden Vorrang vor dem schwachen Geschlechte dieser Gattung gelassen, das wir bisher nur nebenbei erwähnt haben, möge uns diesmal ausschließlich das letztere nicht minder willkommenen Stoff zur Beschreibung seiner Lebensart bieten. Auf die Gefahr hin, die Rücksicht der Galanterie zu verletzen, indem ich nicht vom „schönen“, sondern ausdrücklich vom „schwachen“ Geschlechte rede, muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben, denn offenbar ist das Wildpret[1] in ästhetischer Beziehung dem männlichen Repräsentanten des edeln Hauses weit untergeordnet. Dieses Gesetz gilt beiläufig gesagt, überhaupt durch die ganze Thierwelt und läßt sich nicht blos an den Säugethieren,[2] sondern auch an Allem, „was fliegt und kriecht“, an den Vögeln, Amphibien, Fischen und Insecten wahrnehmen. Nur bei den meisten Raubvögeln scheint die Natur eine Ausnahme gemacht zu haben, da bei ihnen das Weibchen gewöhnlich stärker und auch schöner ist, als das Männchen. Doch wir kehren zu unserem Wild zurück, um es vorzugsweise in seiner eigentlichsten Bestimmung zu betrachten, eine Bestimmung, die selbst das geringste weibliche Wesen der großen Schöpfung noch so bedeutend erscheinen läßt und die bei jenem besonders anziehend hervortritt, – ich meine seine Mutterpflichten und seine rührende Liebe für die kindlichen Schützlinge.

Ende Mai oder Anfang Juni trennt sich das tragende Thier vom Trupp, um sich in die geschlossensten Dickichte zurückzuziehen, und zwar gern in solche, die nah an belebten Stegen, an Kohlenmeilern, Forsthäusern, oder sonst in Gegenden, wo menschliche Thätigkeit waltet, gelegen sind, um hier sein Wochenbett aufzuschlagen. Der Instinct sagt ihm nämlich, daß es in dieser Zeit vom Menschen [414] (einen etwa ruchlosen setzt der Naturtrieb nicht voraus) nichts zu fürchten habe, desto mehr dagegen vom Raubzeuge, namentlich vom Fuchse, der aber hinwieder mit seinem bösen Gewissen möglichst Alles meidet, was ihn nur an den Menschen, seinen unermüdlichen Verfolger, mahnt, wodurch sich die Gefahr für das Wild verringert. Noch ist das neugeborene Kälbchen unfähig, zu fliehen, wenn es feindlich belästigt würde, – man könnte es leicht mit Händen greifen. Um der Mutter folgen zu können, braucht es zwei bis drei Tage Zeit. In solcher Lage wird es oftmals der Raub seiner verschiedenen Feinde, unter denen das wilde Schwein nicht der unbedeutendste ist; denn wo ein solches ein Wildskälbchen im Zustande der Hülflosigkeit antrifft, fällt es unbarmherzig über das arme Kleine her, – ein Wolf könnte es nicht gieriger verschlingen. Dabei ist es mächtig genug, der Alten, die dann in mütterlicher Todesverachtung den Feind, wer es auch sei, selbst den Menschen, muthig und wüthend mit den Vorderläuften angreift, zu widerstehen; ist doch vorzüglich ein Keiler für solche Angriffe völlig unempfindlich genug, so daß er gewiß über solche, nach seinem Sinne, thörichte mütterliche Anstrengungen lachen würde, wenn er dies könnte. Mosje Reinecke, der, wenn er auf seinen Streifereien so einen kleinen neuen Waldesbewohner in Wind bekommt, mit raffinirter Vorsicht heranzuschleichen trachtet, wird dabei freilich, da in solcher Zeit das alte Thier das Kälbchen kaum Secunden lang verläßt, oftmals in die Flucht geschlagen, denn ein einziger Hieb mit dem Vorderlauft würde hinreichen, dem spürnasigen Spitzbuben das Garaus zu machen. Ja, es ist schon vorgekommen, daß Menschen, die ein Kälbchen rauben wollten, von der durch den Klagelaut desselben herbeigelockten Mutter, nachdem diese sie vergeblich durch verstelltes Kranksein und scheinbar mühsame Flucht zu täuschen und so die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken versucht, so arg zugerichtet wurden, daß sie dem Tode nahe kamen. Ein solches Stück Wild ist mächtig genug, mit einem Schlage seines sprungfederkräftigen und sehnigen Lauftes den Arm- oder Beinknochen eines Menschen zu zerschmettern. Hat es nun Gelegenheit, den Schädel eines solchen Räubers unter die Läufte zu bekommen, so ist es allerdings wahrscheinlich, daß er dermaßen bearbeitet wird, um nachher mehr als ein bloßes Ordnen der Frisur zu bedürfen.

Noch liegt das Kälbchen im weichen Moose, munter mit seinen frommen dunkeln Perlenaugen umherguckend. während das alte Thier sich ebenfalls, und zwar dicht daneben, niedergethan hat und ihm die buntgefleckte Haut beleckt. Jetzt aber steht die Mutter auf, indem sie sich zum kleinen niederbeugt und ihm fort und fort das Haar am niedlichen Köpfchen mit der Lecke[3] glättet, bis der geliebte Sprößling seine Kraft zu prüfen anfängt und ebenfalls aufzustehen versucht. Nach einigen Ansätzen gelingt es ihm, und einen fipenden Ton von sich gebend, wird es vom Instinct an das Gesäuge der Mutter getrieben, die ihm mit unbeschreiblicher Zartheit entgegen kommt, um seinen Durst zu stillen. Nun sehen wir es stehen, das noch unbeholfene Dinglein mit den dicken Kniegelenken und den zierlichen Schalen an den Läuften. Während das reizende Köpfchen fast ganz verborgen am Nahrungsquell den Blicken verschwindet, beugt das alte Thier den Kopf mit einem wahrhaft sorglichen Ausdrucke herab, um seinem Liebling Fliegen und andere Insecten abzuwehren oder sein wolliges Haar mit der Zunge zu streicheln. Als habe es mit der Muttermilch wieder einen Theil Selbständigkeit eingesogen, bewegt sich das drollige Geschöpfchen jetzt ein paar Schritte von der Mutter ab, die ihm Tritt für Tritt nachgeht. Ein muthwilliger Sprung der kleinen Creatur fällt allerdings noch sehr linkisch aus, beweist aber doch, daß es sich auf eigenen Füßen fühlt. Mit jeder Stunde werden nun die Bewegungen sicherer und kräftiger, so daß es nach drei bis vier Tagen schon über Stock und Stein zu springen im Stande ist. Nach acht Tagen würde es aber schon vergebliche Mühe sein, es ohne besondere Vorrichtungen einfangen zu wollen. Es folgt von nun an stets der Mutter, die, wenn Gefahr droht, durch einen warnenden Laut oder durch Aufstampfen mit dem Vorderlaufte das Kälbchen veranlaßt, sich sofort in’s Gras, in die Haide, in’s Buschwerk, hinter einen Stein oder dergleichen, wie es eben die Oertlichkeit gibt, niederzuducken, bis die Gefahr vorüber ist. Je älter das Kälbchen wird, desto gewandter, flüchtiger, ausdauernder und kecker wird es. Heiteren Sinnes zieht es mit dem Thiere umher, bald eine Strecke hinter ihm bleibend, bald in tollem Laufe und Sprunge der zurückäugenden Mutter nacheilend, um sich anzuschmiegen und ein paar Züge am Gesäuge zu thun. Dann beginnt das muthwillige Spiel von Neuem. Auch versucht es nun vielleicht, die feinsten Spitzchen der saftigen Gräser zu äßen, die auf dem Gehau oder der Blöße, wohin nun das Stück Wild mit ihm zur Aeßung zieht, stehen. Oder es wird von der Mutter zu dem unter tief hängenden smaragdgrünen Buchenzweigen dahinfließenden Bächlein geführt, wo neben den schwungvollen Fächern der Farrenbüsche und den ätherblauen Augen des Vergißmeinnicht zarte Kräutlein wachsen und das klare, kühle Wasser dem alten Thiere zum Labetrunke wird. In graziösen Sätzen überhüpft das Kälbchen Bach und Stauden, daß es an Schnelligkeit mit den in den durchsichtigen Wellen dahinschlüpfenden Forellen wetteifert. Der mütterlich lockende Laut bringt es jedoch sofort, wenn es sich zu weit entfernt hat, zurück, und während die sorgliche Mutter vorsichtig windet, ist der Liebling dicht herangekommen und guckt so traulich vorwärts, daß man sich in der That nichts Kindlicheres denken kann (s. Abbildung).

Wenn das alte Thier auch bisher sein Kälbchen allein führte, so ist es doch keineswegs gesonnen, sich durchaus der Gesellschaft zu entziehen; im Gegentheil, es schließt sich gern einem anderen Stück Wild mit einem Hirschkälbchen an, das in der Nähe seinen Stand hat, und zu dem sich später noch ein drittes, ebenfalls mit Kälbchen, sowie ein Schmalthier findet. Hiermit beginnt ein neues Leben für die Jugendgefährten. Was ist das für ein Springen und Haschen, wenn die alten Thiere gegen Abend auf die Waldwiese treten, um sich zu äßen! Wie die Bolzen schießen die Spielgenossen dahin, die kleine Wasserblänke, die sich mitten im Bruche befindet, durchkreuzend, so daß das Wasser hoch um sie aufspritzt und sich der goldene Abendhimmel zitternd in den bewegten Wellchen spiegelt. Wie goldene Funkten glitzert es im saftigen Wiesengrün, und noch lange kreuzen sich die Ringe im kleinen Wasserspiegel, bis er endlich still, ungetrübt und mit dem Bilde der silbernen Mondessichel und der funkelnden Sternlein, als hätte sich ein Stückchen Himmel herabgesenkt, an der im Dämmerschein ruhenden Erde liegt.

Ist das Treiben der wilden Jugend von solchem Reiz, daß man sich nicht satt daran sieht, so ist für den tieferen Beobachter das Behaben des alten Thieres nicht minder interessant. Keinen Augenblick läßt es sein Theuerstes außer Acht. Kaum daß es sich Ruhe gönnt, um zu äßen; denn immer und immer hält es den Kopf wieder in die Höhe, bereit, den lockenden Laut vernehmen zu lassen und das harmlos sich entfernende Kleine unter seinen unmittelbaren Schutz zu rufen. Das Zurückeilende wird dann zärtlich empfangen und mit Liebeszeichen überschüttet, welches die sorgenvollen Mutterfreuden mit rührender Deutlichkeilt ausdrücken. Zieht das Stück Wild am Morgen mit dem kleinen Sausewind durch die thaubeperlten, frischen Gräser, auf denen die Fährte als dunkler Streifen weithin sichtbar wird, dem heimischen Dickicht zu, nun in dessen schattiger Kühle sich mit dem Kleinen niederzuthun und zu ruhen, so ist’s wiederum nur die wache Ruhe einer Mutter, die schützend über dem sorglosen Schlafe des Kindes waltet und auf jede etwaige Gefahr aufmerksam bleibt. So geht das Treiben im Austausche mütterlicher und kindlicher Liebe fort und fort bis zum Herbst, wo sich die einzelnen Thiere mit Kälbchen wieder einem größeren Trupp zuwenden und ihre nun schon mehr erwachsenen Lieblinge nicht mehr so behutsam bemuttern, theils, weil die Gefahr für die Kleinen nicht mehr so groß ist, theils aber, weil sich der Mutterliebe nun auch die Geschlechtsliebe beigesellt. Trotzdem erhält sich das zärtliche Verhältniß zwischen Thier und Kälbchen noch immer fort; denn sie gehen die ganze nun kommende Brunftzeit miteinander, wobei die Mutter den Bewerbungen ihres ritterlichen Herrn wohl die nöthige Aufmerksamkeit schenkt, jedoch ohne den heranwachsenden Sprößling zu verstoßen. Dieser bleibt vielmehr selbst nach Beendigung der Brunftzeit den ganzen Winter über beim alten Thiere, und gerade in dieser Jahreszeit ist die Mutterliebe für dasselbe von wesentlichem Belang; denn von ihr hängt es meistens ab, daß das junge Leben den ersten Winter übersteht. Dicht gedrängt liegen dann die Kälber, die man nach Jägerregel nun schon als Schmalthiere und Junghirschchen ansprechen müßte, da es nach bekanntem alten Waidmannsspruche heißt: „Nach St. Galle sind die Kälber alle“, an der Mutter schützender Seite, um so durch deren natürliche Wärme sicherer dem Froste widerstehen zu können. Nicht minder ist das alte Thier immer sorgsam bemüht, seinem Pflegling die nun kümmerliche Nahrung zu suchen, so wie denselben bei tiefem Schnee und Glatteis vor etwaigen Angriffen des dergleichen Umstände benutzenden [415] rothhaarigen Räubers, des Fuchses, zu schirmen. Bis zum Frühjahre, wo das Thier wieder ein Kälbchen setzt, bleibt das vorjährige sein unmittelbarer Schützling; dann schließt sich das Schmalthier oder der Spießer, welches aus dem Wild- oder Hirschkalbe geworden ist, einem Trupp an; öfters aber bleiben sie noch in der Nähe der Mutter, ohne jedoch die nun ganz dem neuen Geschwister zugewandte Sorgfalt beanspruchen zu dürfen.

In dieser Weise besteht das Leben eines alten Thieres aus den sorgenvollen Freuden und freudevollen Kümmernissen einer Mutter, bis es „gelte“ wird, das heißt: nicht mehr setzt oder zeugungsfähig zu sein aufhört. Hierauf übernimmt es gewöhnlich, obgleich nicht ausschließlich, die Leitung eines Trupps und steht also wiederum einer wichtigen Function vor.

Zieht der Trupp Abends hinaus auf die Felder oder Gehaue, so tritt zuerst das Kopf- oder Truppthier, nachdem es am inneren Rande des Dickichts oder Holzes vorsichtig den Wind eingeholt hat, ob draußen Alles sicher sei, heraus. Mit elastischem Schritte, den Kopf hoch, um immer noch den Wind zu nehmen, die Gehöre hin- und herbewegend, um jedem, auch dem leisesten Tone zu lauschen, schreitet es dahin, sich zuerst einer möglichen Gefahr preisgebend. Ihm folgen alle anderen Thiere mit Kälbchen und Schmalthieren hinterdrein, bis, wenn es Brunftzeit ist, der alte Hirsch, der herrschgewohnte Tyrann, den Nachtrab bildet. Ist’s dagegen im Sommer, wo nur schwache Hirsche, sogenannte Schneider, mit dem Trupp gehen, so spielen diese die Herren und bilden die Arrieregarde. Gibt es nun eine Veranlassung, daß der Trupp flüchtig werden muß, so ist der Hirsch sofort der Erste, der sich in’s Dickicht flüchtet, während das Truppthier den Zug deckt.

Noch sind die glorreichen Zeiten im guten Andenken, wo es das Schicksal manches solches Stückes war, daß ein Bauer, der am Feldrande auf der Lauer, denn „Anstand“ läßt sich mit Anstand hier nicht sagen, sich befand, ihm, sobald es die Nase aus dem Holzrande heraussteckte, sein Mordeisen entgegen hielt und die aus diversem Schießmaterial, wie Kugeln, Posten und grobem Schrot, wohl auch gehacktem Blei, bestehende Ladung zudonnerte, so daß es, wie’s zu gehen pflegt, nicht augenblicklich tödtlich, sondern gewöhnlich nur waidewund angeschossen zu Holze ging, wo es, nachdem es verendet, entweder ungefunden verdarb oder, gefunden, noch im Tode auf das Unwaidmännischste begrüßt und behandelt wurde. Glücklicher Weise ist die Jagd wieder vernünftig geregelt, und brennt jetzt noch ein Bauer darauf, ein haariges Kleidungsstück aus der gefleckten Haut eines jungen Thieres zu besitzen, so muß er sich an das Kälbchen einer „Muhtschekuh“ halten, worüber er mit gutem Recht verfügen kann.




Sulina.
Reiseskizze von Dr. Wilhelm Hamm.
(Schluß.)
Strandräuber. – Ein Gasthaus. – Concert eines türkischen Marinesoldaten. – Verunglückte Jagd. – Die Stadt brennt. – Ein französischer Dampfer. – Balancir-Spiel der Besatzung. – Abfahrt.


Nicht gewillt, in den Locanden umherzuliegen, und zu ungelehrt, um die Zeit an Bord mit Kartenspiel todtzuschlagen, erbat ich mir die Doppelflinte des Intendanten, der westphälische Ingenieur packte ein in Berlin acquirirtes Zündnadelgewehr aus, und so zogen wir auf die Jagd.

Stasio war bereit und wir legten oberhalb des Fanals am rechten Strand an, um daselbst Möven zu schießen. Heut aber sah es hier ganz anders aus, als gestern. Ein recht artiger Sturm hatte die Nacht hindurch mit vollen Backen gegen das Land geblasen, und da lag ausgebreitet die Fülle seiner Bescheerungen. Vor Allem war es nicht mehr möglich, längs des Gestades herzugehen, ohne verschiedene tiefe Canäle und Tümpel zu durchwaten – „das thut den Augen gut von meiner Mutter Sohn!“ würde Paddy gesagt haben, hätte er uns die Stiefel sorgsam in das Salzwasser tauchen sehen. Ein bischen erschrocken waren wir auch trotz unserer geladenen Flinten, als plötzlich, wenige Schritte vor uns, hinter dem schwarzen Rumpfe eines gekenterten, schon halb im Sand begrabenen Bootes, ein halbes Dutzend dunkelbrauner Kerle auftauchte, mit Harpunen und Bootshaken bewaffnet, grünen Tang über Haar und Südwester, naß wie die Frösche und schmierig zum Entsetzen – sie sahen aus wie die Tritonen in Neptun’s Gefolge, wenn er unter der Linie den Zoll vom Neuling fordert, oder noch besser, ungewaschene Meerjungfern männlichen Geschlechts – waren jedoch weiter nichts als ehrsame Strandräuber. Dieses ist, beiläufig gesagt, in Sulina das gemeinste, aber auch ehrlichste von allen Geschäften, die hier getrieben werden. Die Schiffstrümmer lagen auf dem Sand wie gesäet umher, denn jeder Sturm rüttelt an den Wracks los, was es will, und wirft es auf den Strand.

Aber was fliegt dort die mächtige Krähenschaar empor, bestehend aus unserer deutschen Nebelkrähe und andern Sorten? was flattern die Möven so gierig umher? By God, ein großer Fisch liegt hier auf dem Trocknen, ein Thun; der Bursche ist über vier Fuß lang, und hat einen Rücken wie ein mäßiges Schwein, obenher stahlschwarz, silberweiß am Bauche, ohne erkennbare Schuppen; er ist noch ganz frisch, doch haben ihm die Vögel schon die Augen und eine Seite ausgehackt, aus der das dunkelrothe Fleisch herausschaut. Wir schnitten zum Wahrzeichen ein Stück aus der untern Kinnlade des Fisches, mit beweglichen, hakenförmig gekrümmten, sehr spitzen Zähnen. Hier glückte auch der erste Schuß auf eine große Möve; es mußte eine ziemliche Strecke in die Uferbrandung hinausgewatet werden, um sie zu bekommen; dafür wurden die grauen, an den Spitzen schwarz und weiß gesäumten, weit klafternden Fittiche als Trophäen mitgenommen.

Aber mit der Jagd war es nunmehr auch vorbei, die klugen Vögel waren auf einmal so scheu geworden, daß sie uns kaum auf tausend Schritte nahe kommen ließen, wir wandten uns daher bald zum Rückweg, an dem Friedhof vorbei, nach der Stadt. Es war jetzt ungefähr zehn Uhr Vormittags – das Gewühl in den Straßen ärger als je zuvor, überall wurde gespielt, getrunken, getanzt; jeder dritte Mensch hielt ein Kartenspiel in der Hand, auch die edlen Würfel klapperten in den hölzernen Bechern, und die Billards waren umdrängt von Amateurs. Dabei brodelte und schmorte es über unzähligen Feuern – in Sulina kann man bequem jedem Haus, was gleichbedeutend ist mit jeder Küche, in den Topf gucken – und ein sättigender Duft von Oel und Fisch lagerte wie ein Nebel schwer auf dem ganzen Umkreis. Dazu der Qualm aus Tausenden von Wasserpfeifen, Tschibuks, Papyros und österreichischen Rattenschwänzen, der Dampf der heißen Getränke, welche trotz einer Temperatur von 32° R. im Schatten mit Profusion consumirt wurden, der Rauch des gewöhnlichen Brennmaterials, das salva venia aus Mist besteht, verbunden mit den Ausdünstungen der Schiffe, Fische, Sümpfe, Menschen – und man wird zugeben, daß in einer derartigen Atmosphäre der civilisirte Reisende gar keinen Hunger bekommen kann. Denn größer war unser Durst, und wir sahen uns fleißig nach Löschmitteln um. An anderes Wasser, als das der Donau, ist hier nicht zu denken, glücklich noch, wenn es nur einigermaßen filtrirt ist; gewöhnlich hat es die Temperatur der frisch gemolkenen Milch und das Ansehen, als sei es von einem Topf voll grüner Farbe abgegossen. Zu Thee und Kaffee nimmt man Regenwasser, welches in Fässern aufgefangen und bewahrt wird. Eis ist hier ein ganz seltener Artikel, denn aus Mangel an Kellern ist es nicht zu halten, und die Anlage oberirdischer Eisbehälter kennt man noch nicht. Spähend wanderten wir die Hauptstraße entlang, aber alle Locanden waren so dicht gedrängt voll Menschen, sahen so schmierig aus, daß wir, Besseres hoffend, immer weiter zogen. So kamen wir in den äußersten Stadttheil gen Westen; hier ward es stille, sogar sauberer, ein Trottoir von Bohlen lief neben dem Sumpf der Straße her und überbrückte einige Moorbäche, die sich aus dem Urwald des Schilfes der Donau zuwälzten.

Ein zweistöckiges Haus, natürlich ganz aus Holz erbaut, zog die Aufmerksamkeit an. Das untere Geschoß war verschlossen, zu dem oberen, das mit einer überdachten Gallerie rings umgeben war, führte eine steile hölzerne Treppe. Auf jener saßen rund umher bärtige Türken wie Automaten und rauchten ihre Nargilehs; ohne viele Umstände stiegen wir hinauf und traten in einen großen Saal, der die ganze Etage ausfüllte, Wir befanden uns in einem türkischen [416] Han. Einfacheres kann es nichts geben, als die Einrichtung eines solchen Gasthauses; das ganze Meublement besteht aus einer an drei Wandseiten des Gemachs hinlaufenden breiten hölzernen Pritsche, die als Bett, Divan und Tisch dient. Hier saßen und lagen Türken jeden Alters und Standes; der Eine in süßer Ruhe, der Andere im Begriff, Toilette zu machen und den Turban um den Kopf zu winden, der Dritte mit ernster Miene seine Pfeife vorbereitend; man hätte denken sollen, unser plötzlicher Eintritt habe Verwunderung, Mißfallen erregen müssen – keineswegs, nur einen gleichgültigen Blick warfen die berechtigten Gäste auf die Eindringlinge, dann wurden diese nicht weiter beachtet. Nichts von jener dummen Neugier, die sich in öffentlichen Localen gewisser Städte des Abendlandes sogleich in allen Gesichtern spiegelt, wenn ein Fremder sich dahin verirrt; nichts von der unverschämten Zudringliehkeit, welche ein Examen beginnt mit Jedem, der das Unglück hat, in ihre Nähe zu gerathen; nichts von der Genialität gebildeter Kellner, die sich die Zähne stochern, wenn der Gast nach Bier schreit, wie der Hirsch nach frischem Wasser.

An der vierten Wand des Saales, neben der Eingangsthüre, hatte der unentbehrliche Kaffeewirth sein Büffet aufgeschlagen; es ist wahr, es sah etwas ärmlich aus und entsprach keineswegs den Anforderungen der Reinlichkeit, immer aber noch besser, wie in den fränkischen Locanden. Wir verlangten Kaffee; aus einer zinnernen Dose schüttete der Garçon das dunkelbraune, mehlfein zermahlene Pulver in die kleine, einem halben Ei ähnliche Tasse, ließ heißes Wasser darauf laufen, daß das Getränk schäumend emporwallte, und das Labsal war fertig. Es mundete trefflich und die anwesenden Türken schienen sich über unsere sichtbare Approbation zu freuen. Der Divan – um hochtrabend zu reden – der linken Seite des Saales war von einer Gruppe egyptischer Marinesoldaten eingenommen. In diesem Augenblick ließ sich Einer von ihnen, ein junger, frischer Bursche mit mehreren Medaillen auf der Brust, die Guzla reichen, die kleine persische Laute mit gekrümmtem Hals und mit nur drei Metallsaiten bezogen, und zu dem eintönigen Geklimper derselben begann er mit lauter, etwas von der rauhen Seeluft belegter Stimme einen merkwürdigen Gesang, dessen Melodie sich in nur wenigen Noten bewegte. Leider verstanden wir kein Wort davon, aber der Text, der augenscheinlich imvrovisirt und an uns gerichtet war, schien den allgemeinen Beifall zu erwecken. Lustig nickten die Krieger darein, die entfernter Placirten näherten sich, draußen auf der Gallerie erhoben sich die phlegmatischen Osmanlis, und ihre bärtigen Gesichter unter den bunten Turbanen bildeten einen höchst frappanten Hintergrund. Da waren wir mitten in Gulistan, und der Schenke kredenzte sodann, um das Märchen abzurunden, königlichen Scherbet in diamantenen Pokalen – aber ach, es zog uns sofort mit Gewalt in die alltägliehe Wirklichkeit zurück. Es war eine Art fader Mandelmilch, matt wie Louisens Limonade, und die Gläser, worin dieser altberühmte Trank servirt ward, waren mit ganz Anderem incrustirt, als mit Smaragden und Topasen. Ich wandte mich nach dem Versuch mit Ekel ab, da reichte mir gutmüthig ein Sohn des alten Nil den kurzen Tschibuk vom eigenen Munde weg, wobei er die ganz untürkische Aufmerksamkeit hatte, die kugelige Hornspitze mit Etwas abzuwischen, das er unter der Brustwatte des Waffenrocks hervorzog, und worüber ich noch im Zweifel bin, ob es ein Gewehrputzlumpen oder ein ähnliches Utensil der Reinlichkeit war; laut schrie ich ihm auf Deutsch zu, sein Mund ekele mich weniger an, wie alles Andere – worauf, als hätten sie’s verstanden, ein heller Ausbruch fröhlichen Gelächters folgte. Dann kam ein zweiter Wohlthäter, hob den Deckel von einer gläsernen, im Laufe der Zeit milchig trüb gewordenen Vase und lud uns ein, zuzulangen, indem er fortwährend ausrief: „Rachat lakum – buono, buono!“ Aber auch der süßliche Pomadengeschmack dieser rosenrothen Gallerte, einer im ganzen Orient berühmten Leckerei, vermochte uns nicht mehr zu fesseln. Wir verabschiedeten uns von den freundlichen Insassen des Han’s; ringsum ertönte in tiefen Gaumenlauten das „Salam alächum“ – die Alten auf der Gallerie nickten mit den Köpfen, wie chinesische Pagoden – und fernhin scholl noch der monotone Mollgesang zur Laute, vielleicht ein Abschiedslied für die Fremdlinge. So nahmen wir doch eine hübsche Erinnerung aus Sulina mit.

Am Nachmittag versuchten wir unser Jagdglück an dem linken Ufer, und wanderten im heißesten Sonnenbrand auf gut Glück hinein in das Schilf, einem schmalen ausgetretnen Pfade folgend. Weiter und weiter drangen wir in das Schilfmeer. Mit bleierner Schwere lag die Gluth des Himmels über dem Morast, eine schwüle, dicke, fast greifbare Atmosphäre umgab uns und schien sichtbar aus dem morschen Boden zu brodeln. Man konnte sich zwischen den Bayous in Louisiana wähnen, und es fehlten auch nicht die Peiniger „mit den scharfen Gesichtern“, denn Milliarden von Fliegen und Mücken waren die einzigen Thiere, die wir zu sehen bekamen, aber mit dem Unterschied, daß sie uns jagten und Blut abzapften nach Herzenslust. Diese nichtswürdigen „Gelzen“, welche die ganze untere Donau unsicher machen, sind eine von den allerverwünschtesten Landplagen, und einfache Bekleidung hilft nicht einmal gegen ihre perfiden Saugrüssel.

Etwa eine Stunde lang waren wir im Schweiße unseres Angesichts – oder vielmehr Leibes – in dem Schilfwald umhergestelzt, tättowirt am ganzen Körper, Antlitz und Hände gezeichnet, als seien wir Reconvalescenten der Pocken – immer drückender lastete die dumpfe Hitze auf uns, die Zungen klebten am Gaumen und wir betrachteten den Himmel, um uns nach der Sonne Stand zum Rückweg zu wenden – da schreckte mich plötzlich ein dringliches Zeichen meines um hundert Schritte voraus geeilten Begleiters, des Ingenieurs, aus der apathischen Ermüdung auf, die mich gänzlich hatte vergessen lassen, daß ich eine Flinte trug und auf der Jagd war. Nun aber erwachte auf einmal wieder der alte Eifer, mit gespanntem Hahn schritt ich aufmerksam voran, bis ich den Gefährten ereilte, der in großer Aufregung mir ganz leise zuflüsterte: „Ein Eber! – zwei – noch einer!“

Unsere Jagdfreude dauerte indeß nicht lange, denn je näher wir kamen, je sonderbarer sahen diese Wildsauen aus – sie trugen dicke Pelze, einige sogar Hörner – mit einem Wort, sie verwandelten sich in eine ehrsame Schafheerde, und zwar noch gerade zu rechter Zeit. Jetzt trat auch der bulgarische Hirt mit zwei riesigen Hunden hervor, und alle drei blickten und knurrten nicht schlecht, als sie uns plötzlich wie aus dem Boden gewachsen mitten im unwirthbaren Schilf erblickten. Auf welcher Seite beider Parteien übrigens das Mißtrauen größer gewesen ist, wage ich nicht zu entscheiden. Ohne Gruß und Wortwechsel, aber mit öfterem Umblick, entfernten wir uns von der wilden Gestalt, mit der breitmäuligen Tromblone auf der Schulter und den beiden wölfischen Wächtern. Und nunmehr drang auch das Rauschen der Brandung deutlich an unser Ohr, ward unser Führer, der uns nach einem halbstündigen Marsch an das sandige Meeresgestade nördlich von Suline Bogasi brachte.

Wir bedurften sehr der Ruhe, noch mehr der Erfrischung; die schäumenden Wellen lockten so verführerisch, daß wir nach kurzer Rast auf dem feuchten Sand uns in ihre wohlige Umarmung schwangen. Wie herrlich war dies Bad in der kühlen, wallenden See! Ein paar hundert Schritte von uns entfernt ragte ein schwarzes Wrack aus der Tiefe empor; wir schwammen darauf zu, und umkreisten es mehrmals, aber an Bord zu kommen, war nicht möglich, denn einerseits war von Bord nicht viel mehr vorhanden, und sodann brach das Holz, sobald man es ergriff, in morsche Späne auseinander. Wir konnten uns sobald von dem erfrischenden Elemente nicht trennen – so oft wir das Ufer gewonnen hatten, zogen uns die schelmischen Wellenmädchen wieder zurück in ihre feuchten Arme – wir sanken hin und wurden nicht mehr gesehen, bis auf dem Kamme der nächsten Woge. Vom Strand aus konnten wir den Leuchtthurm und ein Stück der Stadt Sulina sehen. Plötzlich lagerte sich auf derselben ein dichter rother Qualm, gleich darauf züngelten hohe Flammen empor.

„Die Stadt brennt!“

„Lassen Sie dieselbe in Gottes Namen abbrennen!“ sagte mein Begleiter sehr ruhig, „sie ist nichts Besseres Werth.“

„Wollen wir nicht hin, helfen, retten?“

„Fällt uns gar nicht ein,“ erwiderte er, „hier ist es viel gemüthlicher. Die deutsche Feuereimersucht ist dort nicht am Platz; Sie wurden riskiren, geprügelt oder bestohlen zu werden; hier zu Land löscht Niemand, als wer dazu verpflichtet ist.“ Er hatte sehr recht, der erfahrene, schon lange im Orient ansässige Mann, doch aber mußte ich oft hinüber schauen nach der rothen qualmenden Wolke und Gewissensbisse ob meiner Unthätigkeit in solcher Gefahr bekämpfen.

Nach einer Stunde begaben wir uns auf den Heimweg, und schlenderten gemächlich das Ufer entlang, bis an die äußerste Ecke, wo vor einer Stunde ein Dampfer der „Messagerie imperiale“ Anker geworfen hatte.

[417] Hier läuft der Damm hinaus in die See, welcher bis jetzt das einzige sichtbare Zeugniß der Arbeiten der berühmten Donau-Commission ist, aber schwerlich fertig werden wird, denn heute fehlt es an Holz, morgen an Steinen und alle Tage an Geld. Zu den Arbeiten werden meistens türkische Sträflinge verwendet, daran ist niemals Mangel. Es stehen hier einige Gebäude zum Obdach für Arbeiter und Wachen.

Als wir um die Ecke des Schilfdickichts traten, hatten wir ein höchst lebendiges Schauspiel. Der große französische Dampfer lag etwa einen Steinwurf weit vom Ufer ab, sein ganzes Backbord war garnirt mit Köpfen und unter diesen zeichneten sich namentlich diejenigen einer Anzahl türkischer Frauen aus, deren wir nicht weniger als dreißig zählten. Sie gehörten zu dem Harem des Pascha von Belgrad und reisten mit dem Steamer nach Constantinopel. Sie sowohl, wie die Officiere der Equipage, waren Zuschauer der Spiele, an welchen sich die Matrosen ergötzten. Es ist eigenthümlich, keine andere Nation weiß das Leben so von der fröhlichen Seite aufzufassen, jeder Minute ihren Tropfen abzugewinnen, wie die Franzosen. Sehe man doch irgend ein anderes Fahrzeug der Welt, ob die Mannschaft gleich die erste Stunde der Rast dazu benutzt, sich in Bouffonerieen und grotesken Scherzen zu ergehen! Hier hatte das Spiel auch seinen gymnastischen Zweck. Eine lange Raa war von dem Fallreep aus mittelst eines Taues weitaus über die Tiefe gehängt und zum Ueberfluß mit Seife bestrichen. An ihrem äußersten Ende, gerade über der tiefsten Stromstelle, hing an einer Schnur mit dem Kopfe nach unten ein unglückseliges lebendes Huhn. Die Matrosen, einer nach dem andern, alle blos mit Schwimmhosen bekleidet, versuchten balancirend auf der schmalen Stange bis an das Ende zu gehen, um den Kopf des armen Thieres zu fassen, abzureißen und dann den Körper als Siegesbeute zu erhalten. Aber Wenigen nur gelang das Kunststück; die Meisten fielen auf der Hälfte des schwankenden Weges herab in’s Wasser und mußten schwimmend wieder an Bord zu gelangen suchen. Die Uebung mag ganz gut sein, aber das lebende Huhn ist doch wohl nicht nothwendig.

Auf unser eigenes Schiff zurückgekehrt, empfing uns eine fröhliche Nachricht. „Der Wind hat sich gelegt, die Warnungsflagge weht nicht mehr auf dem Leuchtthurm, in einer Stunde können wir die Barre passiren!“ Das brachte neues Leben in die ganze Gesellschaft. Schon qualmte der Rauch aus dem riesigen Schlot, das Deck war klar gemacht, man sah überall erwartungsvolle, freudige Gesichter. Nur der gute Stasio unten in seiner Jolle, der uns mit Zähigkeit treu geblieben war, zeigte eine trübe Miene, sie galt aber wahrscheinlich mehr unsern Zwanzigern, als uns selber. Wir gewährten ihm die letzte Freude, und ließen uns noch einmal nach der Stadt übersetzen, um die Verwüstungen des heutigen Brandes zu beschauen. In der dritten dem Ufer parallelen Zeile waren sieben Häuser abgebrannt, aber kein Mensch hätte in dem wogenden, unabänderlichen Gewühl irgend eine Andeutung solchen Unglücks aufgefunden. Die Brandstätte rauchte und brannte noch, aber ohne Gefahr; an Löschen dachte man nicht mehr, und selbst neugierige Zuschauer fehlten. Dagegen war von der einen Brandstelle schon der Schutt ziemlich weggeschafft, bis auf einige Haufen verkohlter Trümmer in der Mitte; einige Leute waren beschäftigt, dünne fichtene Stollen als die Eckpfeiler eines neuen Gebäudes aufzurichten, das vielleicht am nächsten Abend fix und fertig war. Das ist die Stadt Sulina in Europa!

Schon standen die Leute am Gangspill, als wir zurückkehrten. Es war etwa sieben Uhr Abends, ein unbeschreiblich klarer Himmel lag über uns, kein Lüftchen erregte die Atmosphäre. Unten in der Cajüte erklang das Clavier in rauschenden Accorden, Herr Kondopulos, der feine Grieche, sang mit extremstem Gefühl Arien von Verdi; der Baseler gab sein heimathliches Leiblied „im Aargäu sind zwei Lieba“ zum Besten, wozu der bedächtige Mr. J. Amschel aus Manchester die Bemerkung machte, das erinnere ihn an den Stier von Uri und sein Horn; dann verbreitete sich auf einmal das Gerücht, Capitain Bassi sei ein bedeutender Sänger – wahrscheinlich als Italiener per se – und er ward umdrängt von flehenden Musikwüthigen, bis er mit Donnerton die Spiegel der Cajüte erbeben machte – es war ein Lärm und Treiben, als habe der gravitätische Metternich die Besatzung mit seinem leichtfertigen französischen Nachbar getauscht.

Endlich kam der Lootse an Bord und übernahm das Commando. Ein paar tiefe, schwere Athemzüge that das Boot, dann fingen seine gewaltigen Schaufeln an zu arbeiten; „Hurrah, Hurrah!“ scholl es von den befreundeten Schiffen zum Abschiedsgruße, und dahin schossen wir, gleich dem Albatroß, hinaus in das dunkle Meer, hinter uns eine milchweiße Straße im aufgeregten Gewässer. Fast ehe wir nur Zeit hatten, an Gefahr zu denken, war die gefährliche Barre hinter uns, der Lootse sprang in seine Nußschale, – lebe wohl, Sulina, wir schwimmen im Pontus Euxinus!




O Straßburg, o Straßburg,
Du wunderschöne Stadt!
Sendschreiben an meinen Sohn, den preußischen Landwehrmann.
(Zweiter Brief.)

Ich will Dir nun erzählen, mein lieber Alfred, wie Deutschlands Bollwerk durch die Ränke Ludwigs des Vierzehnten, durch die armselige Schwäche von Kaiser und Reich, endlich auch durch einige erkaufte Verräther in die Gewalt Frankreichs kam. Auf Straßburgs Bürgern lastet kein Vorwurf; sie haben volle sechzig Jahre lang mit bewundernswürdiger Geduld und Ausdauer auch die größten Opfer getragen und Alles, was in ihren Kräften stand, gethan, um die Reichsfreiheit zu behaupten und im uralten Verbande mit Deutschland zu bleiben. Selbst in dem Unglücksjahre 1681, als sie der Noth und dem Zwange weichen mußten, legte noch die ehrsame, allzeit streitbare Schneiderzunft auf ewig Verwahrung ein gegen die Gewaltthat Ludwig’s. Ja, die Schneider sind in Straßburg die tapfersten Leute gewesen und haben viele Jahre lang unermüdlich auch an den Wällen, Schanzen und Mauern gearbeitet; bei jedem Aufrufe zu den Waffen waren sie allemal, wohlgerüstet mit Wehr und Waffen, unter den Ersten auf dem Sammelplatze.

Ich habe Dich daran erinnert, daß 1648 im westphälischen Frieden das Elsaß zum größten Theile an Frankreich verloren ging. Aber Straßburg war noch reichsfrei geblieben, zum großen Verdruß des Pariser Hofes, der fortan unablässig darauf hinwirkte, das „Bollwerk“ in seine Gewalt zu bringen. Ludwig der Vierzehnte unterhielt einen Residenten in Straßburg, dessen Aufgabe es war, eine Partei des Verraths in der Stadt zu bilden und Uneinigkeit unter den Bürgern anzuzetteln. Während er es an Bestechungen und Geldversprechungen nicht fehlen ließ, brach der König jede Gelegenheit vom Zaune, um die Straßburger zu bedrängen und sie fühlen zu lassen, daß er ihnen schaden könne, während sie vom deutschen Kaiser Schirm und Hülfe vergeblich erwarteten. Er wollte sie mürbe machen, die Reichsfreiheit sollte ihnen sauer werden. Dasselbe geschah auch mit den übrigen Landestheilen, welche noch einen Schein von Reichsfreiheit zu retten gewußt hatten. Als am Ende die Bedrängniß zu gräßlich geworden war, erkannten sie 1680 die Oberherrschaft Frankreichs an und Ludwig hatte sein Ziel erreicht, wenn nun auch das allein noch unabhängige Straßburg ihm huldigte.

Welcher Mittel und Wege bediente sich der „große“ Monarch, um die Elsasser mürbe zu machen?

Ich will Dir einige Beispiele geben. Im Jahre 1673 legte sich der berüchtigte Mordbrenner Louvois, Kriegsminister und Liebling Ludwig’s, mit französischen Kriegsvölkern in das Elsaß und that den Straßburgern zu wissen, er werde sie nächstens besuchen, „um ihre vortrefflichen Festungswerke zu besichtigen“. Bald nachher kam er wirklich; wie die Chronik sagt, „zeigte man ihm aber nur so viel, als man ihm ohne Schaden zeigen konnte.“ Unverweilt stellte sich heraus, worauf die Sache hinzielte. Ludwig der Vierzehnte kam persönlich nach Breisach, das damals eine Festung und in französischer Gewalt war. Ihr gegenüber auf dem linken Rheinufer, im Elsaß, liegt Colmar, das sammt neun anderen Reichsstädten seine Unabhängigkeit auch nach dem westphälischen Frieden gewahrt hatte. Ohne irgend eine Veranlassung lagerten sich vierhundert französische Reiter vor die Stadt; als der Rath und die Bürgerschaft sofort Geschütze auf die Wälle führten [418] und in Waffen traten, um einen Angriff abzuwehren, ließ der französische Commandant melden: „sein mächtiger König werde ein solches Betragen der Colmarer sehr übelnehmen und dasselbe ohne Zweifel rächen, falls man die Kanonen nicht wegfahre. Daran werde Se. Majestät Wohlgefallen haben.“ Der Rath ging in die Falle; am andern Morgen standen fünftausend Franzosen, die Louvois herangeführt hatte, vor der Stadt, und während Abgeordnete mit diesen eine Besprechung hatten, drang sein Kriegsvolk in die Stadt. Colmar war geraubt, die Bürger wurden entwaffnet, die Wälle von den Franzosen besetzt, Geschütze und Kriegsvorräthe weggenommen und nach Breisach hinübergebracht. Die Bürgerschaft mußte die Räuber verpflegen, jedes Haus erhielt sechs bis zehn Mann Einlager und durfte von Glück sagen, daß die Stadt nicht auch förmlich ausgeplündert wurde. Neunzig Kanonen eigneten die Franzosen sich an, sprengten die Thürme, rissen die Wälle nieder, füllten die Gräben aus. „Colmar war in ein offenes, wehrloses Dorf verwandelt; und so ging es auch den Städten Schlettstadt, Kaisersberg, Oberehnheim, Hagenau, Weißenburg, Landau, überhaupt allen zehn Reichsstädten im Elsaß. Bald nachher zog Turenne in die Pfalz, wo die Franzosen mit Raub, Mord und Brand schon 1674 so erschrecklich wütheten, daß die gekränkte Menschheit darob seufzet; sintemalen kannibalische Gräuel von diesem bestialischen Kriegsvolke begangen wurden.“

Seit 1674 hörte für das allein im Elsaß noch reichsfrei dastehende Straßburg die Bedrängniß nicht auf. Rings um das Gebiet der Stadt und auf demselben lagerten sich nach Belieben französische Soldaten; denn von Unantastbarkeit derselben war schon lange keine Rede mehr; und die „bewaffnete Neutralität“, die zu allen Zeiten eine Lächerlichkeit und ein kläglicher Deckmantel für Schwäche oder Unentschlossenheit gewesen ist, half den Straßburgern nichts. Man vermehrte die Besatzung um tausend Mann, nahm außerdem zwei Compagnieen Schweizer in Sold und die Bürgerschaft belastete sich mit Abgaben, welche die früheren um das Vierfache überstiegen. Aber sie brachte auch diese Opfer willig, weil sie um jeden Preis von den Franzosen verschont und beim Reiche bleiben wollte.

Marschall Turenne, welchen Du in unseren ordinären Geschichtsbüchern als einen „Helden“ dargestellt findest, war allerdings ein kluger Feldherr, aber als Mensch nicht viel besser, als der Mordbrenner Louvois. Während er immerfort den Straßburger Rath versicherte, daß er von Freundschaft für Stadt und Bürgerschaft durchdrungen sei, gestattete er, daß seine Soldaten das Straßburger Gebiet ausplünderten, und als dann von den erbitterten Bauern manche Räuber auf frischer That erschossen wurden, beschwerte sich der edle Marschall, daß man unbefugter Weise tapfere Krieger seines Königs ermorde!

Inzwischen hatten die Kaiserlichen unter Montecuculi einige Anstalten getroffen, die Franzosen zu vertreiben; der Feldzug wurde aber lahm geführt, und das Elsaß, in welchem nun zwei Heere lagen, kam nur in noch ärgere Bedrängniß, während nach Abzug der Reichstruppen Straßburgs Lage um desto schlimmer wurde. Das „Mürbemachen“ nahm seinen Fortgang.

Unter den vielen französischen „Mordbrennern“, denn dies ist die geschichtliche Bezeichnung, welche in jener Zeit entstand, war eben so schlimm als Melac, Duras, Louvois und Dutzende von Anderen ein Oberst La Brosse, der eine aus dem ärgsten Gesindel, entlassenen Sträflingen und Gaunern, zusammengesetzte Freischaar befehligte. Dieser La Brosse überfiel 1677 die Stadt Weißenburg, ließ Häuser und Kirchen rein ausplündern und dann die Stadt an allen vier Ecken anzünden. Am folgenden Tage erschien er in Hagenau, schwang selbst eine Brandfackel in der Hand, bezeichnete seinen Rotten die Stelle, wo Feuer angelegt werden solle, und noch ehe der Abend hereinbrach, war die einst so schöne Stadt ein glühender Haufen von Trümmern. Am selzer Wörth ließ er die Bauern niedermachen, alle Häuser ausplündern, dann in Brand stecken, so daß sie in Rauch aufgingen; „auch hat dieser mordbrennerische Franzos nicht einmal zulassen wollen, daß die Pawern ihre unschuldigen Kinder aus dem Feuer retteten. Aus dem Mund dieses Ungeheuers selbst hat man gehöret, daß er sagte: nichts könne ihm so großes Plaisir machen, als das Prasseln der Flammen und das Gerassel einstürzender Häuser und Gebäude.“ Aber noch in demselben Jahre wurde dieser Mordbrenner bei St. Leonhard von fünf Kugeln durchbohrt. Im folgenden Jahre verwandelten die Franzosen die Stadt Bar in Asche; und im ganzen Elsaß wie in der Pfalz gibt es keine einzige Ortschaft, welche nicht Zeugniß von der Wütherei der Franzosen ablegen könnte.

So waren die ersten Acte des gräßlichen Trauerspiels beschaffen; der letzte wurde vorbereitet und die Tage von Straßburgs Unabhängigkeit waren gezählt. Die Katastrophe nahete heran. Ludwig der Vierzehnte hatte die berüchtigten Reunionskammern in Breisach und Metz eingesetzt, die ihm „von Rechts wegen“ Alles zusprachen, was er auf dem linken Rheinufer zu besitzen wünschte. Sie sagten ihm, auch auf Straßburgs Besitz habe er ein unbestreitbares Anrecht; und er ließ darüber dem Rathe der Stadt Eröffnungen machen. Dieser erwiderte: Straßburg und dessen Unterthanen seien Reichsstand, auch dem Könige von Frankreich keineswegs unterworfen, noch jemals unterworfen gewesen. Darauf entgegnete der Präsident der Breisacher Reunionskammer: er wisse sehr wohl, daß Straßburg eine freie Reichsstadt sei, auch solle die Freiheit derselben keineswegs angetastet werden; „davor soll Gott uns bewahren. Aber der König ist souverainer Herr des Elsasses, in welchem die Stadt Straßburg verschiedene Aemter besitzt. Deshalb ist sie im Namen dieser königlichen Unterthanen und aller Beamten schuldig und verbunden, der Krone Frankreich den Eid der Treue zu leisten, und will sie sich dessen weigern, dann wird man sie durch Gewalt zu ihrer Pflicht anhalten.“

Du siehst, lieber Alfred, wie man „Rechtstitel“ fabriciren kann. Straßburg, von Kaiser und Reich im Stiche gelassen, mußte sich bequemen, diesen schändlichen Eid zu leisten. Es bat flehentlich, daß beim Abschlusse des Friedens, welcher 1679 zu Nimwegen in den Niederlanden zu Stande kam, ihre Freiheit und Sicherheit durch einen besondern Artikel gewahrt würde, „allein solches geschahe nicht, und diese Stadt, an welcher doch dem ganzen Reich so viel gelegen war, wurde ganz vergessen.“

So war Straßburg schmachvoll preisgegeben, und doch hielt die kerndeutsche Bürgerschaft standhaft aus, um nicht vom Vaterlande getrennt zu werden, um nicht in die Gewalt der Franzosen zu fallen. Sie brachte unablässig große Opfer. Seit Anbeginn des dreißigjährigen Krieges, länger als ein halbes Jahrhundert hindurch, war ihr einst so schwunghafter Handel lahm gelegt, und die Gewerbe hatten furchtbar gelitten. Die Bewohnerschaft war schwächer, die Abgabenlast, wie ich schon erwähnte, vervierfacht worden; dabei hatte man, während auch die Bürgerschaft Waffen trug, nicht selten vier- bis sechstausend Mann Truppen im Solde und sich zudem noch eine Schuldenlast von vier Millionen Reichsthalern zu Zwecken der Vertheidigung aufgebürdet. Was that das Reich für sein Bollwerk? Es bewilligte ihm zwanzigtausend Gulden Kriegsbeisteuer (Römermonate), welche Straßburg selber von den Ständen beitreiben solle. Der schwachköpfige Kaiser Leopold der Erste war den Straßburgern sechzigtausend Thaler an baarem Gelbe schuldig, aber dieser „Allzeit Mehrer des Reichs“ – bezahlte nicht, während doch die Straßburger seit zwei Jahren kaiserliche sogenannte Hülfsvölker aus eigenen Mitteln verpflegen mußten! Auch das thaten sie gern, doch der Kaiser war elend genug, diese Hülfstruppen abziehen zu lassen, weil Louvois Drohungen ausstieß!

So brach das verhängnißvolle Jahr 1681 herein. Noch einmal hatten die Straßburger sich mit dringenden Bitten um Hülfe an das Reich gewandt, aber auch diesmal wurden sie wieder zur Geduld verwiesen. Als man endlich mit dem Plan umging, sechstausend Mann Reichstruppen nach Straßburg zu werfen, war dasselbe von den Franzosen, welche sich des Rheinüberganges bemächtigt hatten, schon völlig eingeschlossen. Kaiser und Reich fürchteten sich vor Ludwig dem Vierzehnten, der ohnehin unter den Fürsten Bundesgenossen erkauft hatte, und wagten nicht, den Krieg zu erklären. Die Geschichte, mein lieber Alfred, gibt auf allen Seiten die Lehre, daß Vielköpfigkeit der Völker und Staaten Unglück ist. Das Elsaß und Straßburg, Lothringen, die Niederlande und so vieles Andere ging verloren, weil Deutschland keine, Frankreich aber eine starke Centralgewalt hatte. Das merke Dir.

Während Straßburg sich in vieljähriger Bedrängniß befand, war innerhalb seiner Mauern, im Schooße der Rathsherren, französische Wühlerei und Ränkesucht unermüdlich beflissen gewesen, die Faden des Verraths anzuspinnen. Auch gelang es dem Residenten Ludwig’s, einem Herrn Frischmann, willige Werkzeuge zu finden. In älteren Büchern kannst Du lesen, daß Straßburg nicht durch Verrath gefallen sei; doch wissen wir seit länger als fünfzig Jahren aus mehrfach veröffentlichten Documenten, daß ein solcher angesponnen war. Aber richtig ist auch, daß die Stadt, nachdem [419] sie einmal von Kaiser und Reich keine Hülfe mehr erwarten konnte, über kurz oder lang doch fallen mußte.

Ludwig hatte erklärt, er werde Straßburg mit Gewalt der Waffen zwingen, und dem Kaiser Leopold saßen die Türken und die rebellischen Ungarn auf dem Halse. Das System, welches ihm die Jesuiten angerathen hatten, und das er, stupid wie er war, treulich befolgte, rächte sich an ihm. Der Franzose gewann im Westen freie Hand. Frischmann schmiedete Ränke; der Stadtrichter Johann Georg von Zedlitz war mit ihm im geheimen Einvernehmen; er wird in einem Briefe an Ludwig als „Wohlgesinnter“, d. h. für die französischen Absichten brauchbarer Mann geschildert, welcher bedauere, daß die Stadt so unglücklich gewesen sei, sich eine Minderung in Sr. Majestät Huld und Gnade zugezogen zu haben. Diese Besorgniß habe er mit tiefer Unterthänigkeit und Ehrfurcht für Se. Majestät begleitet. Zedlitz sei bereit, mit ihm, Frischmann, in einen angelegentlichem Verkehr zu treten, als die übrigen Mitglieder des Rathes. In einem andern Briefe meldet Frischmann dem Könige, die Rathsherren seien gegeneinander von tödtlichem Haß erfüllt, alle hätten einzeln ihm ihre Dienste angeboten, aus gegenseitiger Eifersucht. Zu diesen Verräthern gehörten, außer dem Stadtrichter von Zedlitz, der Stadtschreiber Güntzer und die Senatoren Obrecht und Stößer. Obrecht war der Verworfenste; er hatte schon früher dem französischen Hofe insgeheim Vorschläge gemacht und hervorgehoben, wie zweckmäßig es sei, wenn derselbe einen königlichen Prätor in Straßburg bestelle, welcher die Aufsicht über das ganze Stadtwesen führe und des Königs Interessen wahrnehme. Der Hof ging darauf ein, und Obrecht, um Prätor zu werden, wurde katholisch. Derselbe König Ludwig, welcher das Edict von Nantes aufhob und die Protestanten durch Dragoner niedersäbeln ließ, arbeitete auch darauf hin, den ganzen Magistrat von Straßburg katholisch zu machen, und auch der Rathsschreiber Christoph Güntzer ließ sich bekehren, nachdem ihm Amt und Gehalt eines königliehen Consulenten zugesichert worden war. Der vierte Verräther, Stößer, galt vor den Leuten für gut deutsch und kaiserlich, und Frischmann war in nicht geringem Maße überrascht, als jener sich erbot, für die französische Sache zu arbeiten. „Ich unterlasse nicht, Herrn Stößer fortwährend zu liebkosen, und ihm in der Ferne die Aussicht zu zeigen, wie er sich des Wohlwollens Eurer Majestät würdig machen könne.“

Also Verrath war in Straßburgs Mauern allerdings; alle Einzelheiten desselben sind uns freilich nicht bekannt geworden, und das liegt in der Beschaffenheit der Sache. Genug, daß die Sache selbst feststeht. In dieselbe spielen mancherlei interessante, geheimnißvolle Dinge hinein, welche erst 1817 an’s Licht kamen und die ich Dir mittheilen will, weil sie zeigen, in welcher Weise man am Hofe Ludwigs des Vierzehnten intriguirte.

Im Monat August 1681 waren alle Vorbereitungen getroffen, um in den nächsten Wochen den entscheidenden Schlag zu führen. Mordbrenner und Kriegsminister Louvois schrieb an den französischen Intendanten der Provinz Elsaß, La Grange, der in’s Geheimniß gezogen war: Am 10. September würden die Verhaltungsbefehle, über welche er mit ihm (Louvois mit La Grange) in St. Germain persönliche Rücksprache genommen, in der Abtei Lurn (in der Franche Comté, Freigrafschaft Burgund) anlangen. Der Intendant möge dafür sorgen, daß zwei zuverlässige Leute die Ueberbringer in dem Wirthshause neben der Abtei in Empfang nehmen. Diesen solle La Grange einen versiegelten Brief an einen Herrn Mezières geben, in welchem die Worte stehen müßten: „Ich bitte Sie, denen, welche Ihnen diesen Brief überreichen, das Ihnen von Herrn von Louvois anvertraute Paquet einzuhändigen.“ Zugleich solle der Intendant sich nach Belfort begeben und eine Besichtigung der dortigen Festungswerke zum Vorwande nehmen; dort habe er die Rückkunft seiner Leute abzuwarten, die am Hute ein blaues und gelbes Band tragen müßten, damit die von Louvois beauftragten Männer sie sogleich zu erkennen vermöchten.

Diese geheime Geschichte, so viel ist ausgemacht, steht mit dem Raube Straßburgs ebensowohl im Zusammenhange, wie eine andere, die nicht minder mysteriös, aber noch viel spannender ist. Louvois ließ in Paris einen Herrn von Chamilly zu sich entbieten und gab ihm Verhaltungsbefehle zu einer wichtigen Sendung: „Sie müssen noch heute Abend nach Basel in der Schweiz abreisen und binnen drei Tagen dort angelangt sein. Am vierten Tage Schlag zwei Uhr müssen Sie auf der dortigen Rheinbrücke stehen, Papier, Feder und Tinte bei sich haben, Alles, was um Sie her vorgeht, mit der größten Genauigkeit zwei Stunden lang beobachten und sorgfältig aufschreiben. Schlag vier Uhr nehmen Sie Postpferde, fahren Tag und Nacht und bringen mir Ihre Beobachtungen. Sofort, nachdem Sie hier eingetroffen sind, kommen Sie zu mir, gleichviel, welche Stunde es sein möge.“

Chamilly that, was ihm befohlen war, stand zur anberaumten Zeit auf der Rheinbrücke in Basel und schrieb Alles, was er sah, genau auf. Eine Frau ging mir Marktkörben vorüber, Leute trugen Lasten, Wagen fuhren hin und her und dergleichen mehr. Etwa um drei Uhr blieb mitten auf der Brücke ein Mann stehen, der Hose und Weste von gelber Farbe trug; er trat an die Brüstung der Brücke, lehnte sich hinüber, sah nach dem Rheine hinab, trat dann einen Schritt zurück und pochte mit seinem großen Spazierstocke drei Mal stark auf das Pflaster des Fußweges. Chamilly notirt auch diesen Vorfall, setzt sich um vier Uhr in den Wagen, eilt so rasch als möglich nach Paris und begibt sich gleich nach seiner Ankunft um Mitternacht zu Louvois, dem er sein Papier überreicht. Der Mordbrenner greift hastig zu, liest von der Marktfrau, dem zerlumpten Bauer, dem Manne zu Pferde im blauen Rocke und dergleichen mehr. Dann, als er bei dem Manne mit der gelben Weste ankommt, springt er vor Freude auf. Sogleich eilt er zu seinem Könige und fertigt, nachdem er mit demselben längere Rücksprache genommen, vier Eilboten ab, die schon bereit gehalten waren. Wenige Tage nachher, an dem unglückseligen 30. September 1681, war Straßburg in französischer Gewalt. Wohl nicht mit Unrecht hat man vermuthet, das dreimalige Pochen mit dem Stocke auf der Baseler Rheinbrücke sei das verabredete Zeichen über das Gelingen des in Straßburg eingeleiteten Verrathes gewesen, und eben so wahrscheinlich hat der Mann in der gelben Weste von dem, was das Aufpochen bedeuten sollte, nichts gewußt.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Aus dem Skizzenbuche eines Weltmannes.[4] Nr. 1. Während eines längeren Aufenthaltes in Frankreich, namentlich in Paris in den Jahren 1841 bis 1848, wohnte ich daselbst au 2ième de la rue du Helder, da wo die rue Taitboud, vom Boulevard des Italiens kommend, gerade auf das Portal des Hauses zustößt. Eigenthümer desselben war ein alter emeritirter Präsident eines Tribunals der Seine, Mr. de Grand’ Maison; er bewohnte den ersten Stock mit seiner Gattin allein.

Es sind mir in meinem reich bewegten Leben selten zwei Personen vorgekommen, die in ihrer ganz besondern charakteristischen Eigenthümlichkeit mir auf einmal ein so lebhaftes Interesse einzuflößen vermocht hätten. Er, ein stattlicher großer Herr (in vertrauten Abendstunden noch mit der zuckerhutähnlichen in Frankreich gewöhnlichen Nachtmütze geziert), der Alles mit einer gewissen Abgemessenheit that, die aber nie die Grazie und heitere Gemächlichkeit vermissen ließ. Madame de Grand’ Maison war, obgleich etwas sehr stark und rund, dennoch überaus graziös in allen ihren Bewegungen, und bei der geringsten Veranlassung trat eine Lebendigkeit hervor, die verrieth, was sie in ihren früheren Jahren gewesen sein mußte. Beide gaben ein treues Bild jenes Geschlechtes, das wir nächstens nur aus Büchern kennen werden. Ihrer Stadtwohnung sowohl wie dem in reizender Umgebung gelegenen Landhause in Ecouen (bei St. Denis) war ganz der Charakter ihrer Herrn aufgeprägt, inwendig und auswendig. Die unfehlbar geraden Steige und Pappelalleen draußen correspondirten mit den die Wände regelmäßig entlang stehenden, reich vergoldeten, aber entsetzlich harten Sesseln im Hause. Dabei fehlten im Garten eben so wenig manche geschmackvolle Blumenanlagen, als im Innern die gefällig um den Kamin geordneten Fauteuils oder die kostbaren Bronzeverzierungen, die Pendulen, Wandleuchter etc. Die dichtverhüllten Fenster mit den dicken, reichen Teppichen verliehen dem Ganzen das Gemächliche. Vorsäle, Fußböden, Treppen waren spiegelglatt. Mr. de Grand’ Maison (wie direct oder indirect seine Gemahlin ihn stets nannte) war alt, sehr alt und mit einem schneeweißen Haupte geschmückt. Nichts war interessanter, als in den Dämmerstunden von dem Herrn des Hauses, er auf der einen, sie auf der andern Seite des Kamins in steif ceremonieller Haltung sitzend, in der ihm eigenthümlichen, scherzhaften Weise Erinnerungen aus seinem Leben erzählen zu hören. Wenn ich auch nur wenige Schritte zu ihm herunter hatte, selbst die Thüren offen fand, so mußte dennoch der Diener beide Flügelthüren öffnen und laut meinen Namen in das Zimmer hineinrufen, worauf Herr und [420] Madame de Grand’ Maison sich zu einer feierlichen Begrüßung erhoben, ohne von ihren Sesseln fortzutreten. Es wurde mit wohlgefälligem Lächeln aufgenommen, wenn ich zuerst im Allgemeinen eine tiefe Verbeugung machte und dann besonders vor Jedem von Beiden mich verneigte. Hatte ich das Manöver einmal besonders gut ausgeführt, so reichte Madame mir die äußersten Spitzen ihrer Hand zum Kusse, und der Gemahl nahm bald im Laufe des Gesprächs die Gelegenheit wahr, mit tiefem Seufzer diese Worte auszusprechen: „Ja, ja, mein Herr, in dem Lande jenseit des Rheins findet man noch hin und wieder Leute von guter Erziehung; in Frankreich hat das die Revolution vernichtet.“

Mr. de Grand’ Maison war geradezu die personificirte französische Geschichte. Ein werthvoller Beitrag zur Beurtheilung der sittlichen Zustände in Frankreich war es, wenn er auf alle die von ihm geleisteten Eide bei Constituirung irgend einer neuen Regierungsform zu sprechen kam. Davon ein ander Mal. Er wußte den ernstesten Dingen jenen flüchtig scherzhaften Anstrich zu geben, der selbst uns tiefer fühlenden Deutschen unwiderstehlich anzieht. Wir verstehen es nicht so gut, wie unsere Nachbarn im Westen, Alles auf die leichte Schulter zu nehmen, in Worten wenigstens; in der Praxis aber machen wir – die Hand auf’s Herz – es nicht viel besser. – Eines Abends kam Mr. de Grand’ Maison auf einzelne von ihm persönlich durchlebte Ereignisse der Revolutionszeit zu reden, unter andern auf die Zerstörung der Königsgräber und Entfernung der königlichen Leichen aus der Kathedrale zu St. Denis. Er erzählte dann etwa so:

„Zur Zeit des Ausbruchs der Revolution war ich 19 Jahre alt, und hatte eine einzige Schwester von 16 Jahren; mein Vater war Wittwer. Bei dem Ueberhandnehmen des gräßlichen Revolutionstreibens mochte der Aufenthalt in Paris nicht mehr ganz passend für uns gehalten werden, um so mehr als wir den größten Theil des Tages mit zwei Dienstboten in einem großen Hause allein gelassen wurden. Unser Vater schickte uns deshalb nach St. Denis, wo mein Onkel Maire war. Einen Tag nach unserer Ankunft daselbst traf der Befehl ein, daß die Leichen der Könige aus der Kathedrale daselbst entfernt werden sollten, wie daß Alles, was in den Königsgräbern an die frühere königliche Würde und Größe erinnere, zerstört werden müßte. Bei der Ausführung dieser Maßregel mußte mein Onkel natürlich schon wegen seiner amtlichen Stellung zugegen sein. Er kam meinem lebendigsten Wunsche entgegen, indem er mir vorschlug, ihn nach der Kathedrale zu begleiten.

Ich kann Ihnen keine Beschreibung von dem Gefühle geben, das sich meiner beim Eintritte in diese geheiligten Räume bemächtigte, die – vergessen Sie das nicht – zu damaliger Zeit nicht leicht zugänglich waren. So viel Mühe man sich auch gegeben hat, diese von der Kirche aus in die Augen fallenden Räume in einer würdigen Weise wieder herzustellen, Alles zu sammeln, was der Zerstörungswuth jener unglücklichen Zeit entgangen ist, so fehlt dennoch Allem jener Duft vergangener Jahrhunderte, der solchen Räumen eigenthümlich ist, wenn sie namentlich selten betreten werden. Man sieht dem Ganzen heute eben an, daß es etwas Wiederhergestelltes, Neues ist, dem nicht eine lange Vergangenheit den Stempel der Geschichte aufgeprägt hat.

Als wir vor der Kathedrale ankamen,“ erzählte Mr. de Grand’ Maison weiter, „war auf dem Platze bereits eine trunkene, heulende Volksmenge versammelt. Mein Onkel ward mit dem verschiedenartigsten Geschrei begrüßt. Einige Karren verdächtigen Ansehens mit mehr als einer Blutspur standen am Eingange der Kirche; ein Haufen roher Gesellen, die Flasche unter sich kreisen lassend, bereitete sich dadurch und durch die brutalsten Redensarten zum Werke der Zerstörung vor. So roh sie auch waren, so war ihr Anführer doch der Roheste von Allen. Von niedrigem Stande entsprossen, mochte er dies wohl für den geeignetsten Weg halten, sich in die Höhe zu bringen. Er ist später als Capitain ehrenvoll auf dem Schlachtfelde von Eylau gefallen, und ich mag deshalb seinen Namen nicht nennen; seine Familie existirt noch in Paris.

Kein Geistlicher in seinem heiligen Kleide war vorhanden, der den Eindringenden gewehrt hätte. Mein Onkel öffnete die Thüren zu den Königsgräbern und gab den Abgesandten Gewalt, zu thun, was die schreckliche Ordre gebot. Trunken, halb nackt und mit rohem Freudengeschrei stürzten sich diese Gesellen auf die Gräber, zerbrachen, zertrümmerten, zerrissen Alles, und mit gierigem Auge ward geforscht, ob nicht irgend ein Schmuck, ein geldwerther Gegenstand zu finden sei. Die Cadaver wurden aus den Gräbern herausgerissen und, nachdem diese größtentheils zerbrochen waren, unter dem Brüllen der laut aufjauchzenden Menge vor der Kathedrale auf einen Haufen geworfen. Einige stürzten sich mit solcher Wuth auf die Leichname, daß sie im buchstäblichsten Sinne des Wortes zerrissen wurden. Später wurde Alles auf Karren geladen und unter Begleitung der Commissaire fortgeschafft. – Eins der ersten Gräber, das geöffnet wurde, war das Heinrich’s IV.

Obgleich mein Onkel äußerlich die republikanischen Ideen adoptirt hatte, so konnte er seine royalistischen Ideen doch nie ganz verbergen; er rettete später durch freiwilliges Exil mit genauer Noth sein Leben und starb im Auslande. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich auch des Ausrufs nicht enthalten: „Bürger, seht, das war der größte Freund des Volkes unter Allen!“ – Der Name Heinrich’s übte doch auch auf diese Gesellen instinctmäßig einen gewissen Eindruck aus. Trotz der bis zur gröbsten Unsittlichkeit getriebenen Galanterieen des Königs und der nur zu oft bewiesenen Charakterlosigkeit namentlich in Religionssachen, ist er noch heute der populärste Königsname in Frankreich. Seine bekannte Aeußerung über das Huhn im Topfe eines jeden seiner Unterthanen verschafft ihm noch in diesen Tagen den Ruf eines Vaters seines Volkes.

Bei der Eröffnung des Sarges bot sich ein eigenthümliches, wahrhaft rührendes Bild den Augen der Anwesenden dar, was auch auf diese Menschen nicht ohne Einfluß blieb. Des königlichen Leichnams ganze Gestalt war wunderbar erhalten, das Gesicht etwas zur linken Schulter gewandt; der lange Bart dieses in den Standbildern auf dem Pont neuf, am Hôtel de Ville und an anderen Stellen in geschichtlicher Treue auf uns gekommenen echt bourbonischen Kopfes war zum Erstaunen Aller, selbst was die Form betraf, in einem Zustande, als wenn der König eben erst eingeschlafen wäre. Lautlos sahen Alle auf den Sarg, und ohne daß sich auch nur eine Hand zur Zerstörung des Körpers gerührt hätte, wurde er in einer Seitencapelle offen gegen die Wand hingestellt. Das Werk der Vernichtung ward dann vollendet. Endlich war man auch genöthigt, den Leichnam Heinrich’s IV. aus dem Sarge zu nehmen und zu den anderen zu bringen. Ehe man ihn indeß auf den Karren schleppte, verlangten verschiedene der Anwesenden Haare aus dem Barte des Königs. Es ward dabei etwas ungestüm und roh verfahren, indeß gelang es auch meinem Onkel, sich in den Besitz eines Büschels der Barthaare des Königs zu setzen.“ –

War der Erzähler zu diesem Punkte seiner Mittheilung gekommen, so erhob sich Madame de Grand’ Maison mit der ihr eigenthümlichen Würde, öffnete einen Wandschrank und holte aus einer scharfe Wohlgerüche ausströmenden Schublade ein kleines, sehr reich mit Goldlilien gesticktes Taschenbuch hervor, in dem wieder in weißer Seide und mit blauen Lilien besät, in Seidenpapier die heilige Reliquie aufbewahrt war.

Mr. de Grand’ Maison hielt diesen Theil seiner übrigens bedeutenden Erbschaft von seinem Onkel für das Kostbarste, was er ihm hätte vermachen können.

Ich kann nicht leugnen, daß der öftere Anblick dieser wenigen Haare auch auf mich stets einen eigenthümlichen Eindruck gemacht hat, so daß ich es der Mühe werth hielt, diese kleine Mittheilung durch die „Gartenlaube“ auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen. – Selbstverständlich erhob ich mich bei dem Schlusse der Erzählung, und während Madame de Grand’ Maison, ohne aufzublicken, mir ihr „bon soir, Monsieur“ zuflüsterte, erhob sich hoch aufrichtend der Gemahl und bot mir, gleichsam eine lebendige Hoffnung damit aussprechend, mit lauter Stimme seinen Abschiedsgruß.




Die Gebrüder Schlagintweit. Im Jahre 1854 am 20. Septbr. verließen die rühmlichst bekannten Gebrüder Hermann und Adolf Schlagintweit in Begleitung ihres jüngeren Bruders Robert S. auf dem Dampfer „Indus“ Southampton, und traten so ihre vielbesprochene wissenschaftliche Mission nach den Territorien der englisch-ostindischen Compagnie an. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Indien kehrten der Aeltere, Dr. Hermann, und der Jüngste, Dr. Robert S., mit reichen wissenschaftlichen Schätzen an Manuscripten, Zeichnungen und naturhistorischen Sammlungen nach Europa zurück, während Dr. Adolf S. in Indien zurück blieb, um seine Forschungen noch über einige Theile von Tibet und Turkestan auszudehnen. Lange Zeit blieb jegliche Nachricht über den kühnen und unternehmenden Gelehrten aus, als im vergangenen Jahre die beunruhigendsten Gerüchte über ihn nach Europa gelangten.

Die englische und die russische Regierung ließen darauf von ihren asiatischen Beamten Nachforschungen über das Schicksal Adolf S.’s anstellen. Die eingeschickten Berichte aber wurden demnächst mit der größten Zuvorkommenheit den Brüdern Hermann und Robert S. zugestellt. Eine Zusammenstellung dieser Berichte haben die gedachten Herren nun veröffentlicht; wir entnehmen denselben Folgendes:

„Die Nachrichten aus Indien und Rußland von europäischen Officieren und Beamten der angrenzenden Districte, nach Aussage von Eingebornen gesammelt, stimmen leider darin zu genau überein, daß Adolf S. zu Kashgar in Turkestan (Central-Asien) im August 1857 getödtet wurde und als Opfer seines wissenschaftlichen Berufes fiel.

Er war als Europäer erkannt worden, nachdem er verkleidet über den Karakorum und Küenlüen, vor uns noch nie durchreist, auf einer etwas westlichern Route, als die unsrige, weit nach Central-Asien vorgedrungen war.

Die nächste Veranlassung und die Art seines Todes sind allerdings in den verschiedenen Berichten nicht in übereinstimmender Weise angegeben; doch geht aus Allem hervor, daß der politische Zustand dieser Länder und der Umstand, daß Adolf bei aller Vorsicht als Beamter der indischen Regierung erkannt wurde, wesentlich zu seinem traurigen Ende beitrugen. Selbst bei der lebhaften Theilnahme, die England stets für das Schicksal wissenschaftlicher Reisender gezeigt hat, wird es wohl kaum gelingen, daß dasselbe, wie in früheren ähnlichen Fällen so energisch geschah, die Mörder unseres Bruders zur Rechenschaft zieht.

Nach den Aussagen Einiger war es der Umstand, daß er sich gefangener Bhot-Rajputen, britischer Unterthanen aus Bisser im Himalaya, annahm, und zu vermitteln suchte, daß sie nicht getödtet oder als Sclaven verkauft wurden. Nach anderen Angaben war die unmittelbare Ursache die, daß er als Europäer erkannt wurde und durch die Hand fanatischer Mussulmans fiel.“

So schied wieder einer jener braven und edlen Vorkämpfer für Verbreitung wahrer Wissenschaft und Träger der Civilisation – als solcher ist jeder wissenschaftliche Reisende zu betrachten.

Alle, welche den liebenswürdigen und vom edelsten Wissensdurst beseelten, leider durch fanatische Hand gefallenen jungen Gelehrten kannten oder ihm näher standen, betrauern in ihm einen der würdigsten Jünger seines großen Meisters und Freundes, Alexander von Humboldt.


Mit dem 1. Juli begann ein neues Quartal der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:

„Aus der Fremde.“ Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt,

redigirt von A. Diezmann.

Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Rgr.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wildpret gilt hier ausschließlich als das weibliche Geschlecht.
  2. Hat doch Winckelmann sogar den Beweis geliefert, daß auch selbst beim Menschengeschlechte der Mann die größere Schönheit vor dem Weibe voraus habe. Diesem bleibt demungeachtet der Vorzug der Anmuth. Verf.
  3. Lecke heißt die Zunge des Wildes.
  4. Unter diesem Titel werden wir eine Reihe memoirenartiger Mittheilungen geben, die wir der Freundlichkeit eines hochgestellten deutschen Staatsmannes verdanken, dessen Namen man an deutschen, sowie an den englischen und französischen Höfen sehr gut kennt.
    D. Redact.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eingegedrückte