Die Gartenlaube (1859)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 42. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.

Gehet unerschrocken vorwärts! Ihr seid Christen und als solche für das Licht geboren und getauft. Ihr seid Protestanten, Ehret auch in Zukunft, wie bisher, den Geist unserer ehrwürdigen Reformatoren dadurch, daß Ihr denket und prüfet, erwählet und verwerfet, zunehmet und wachset. Werdet nie der Menschen Knechte! Die reine Lehre ist eine vernünftige Lehre, und die wahre Wiedergeburt ist ein rechtschaffenes Leben!

Witschel, im Jahr 1801.


Der Unheimliche.
Vom Verfasser der „Neuen Deutschen Zeitbilder“.
(Fortsetzung.)

Die Beiden saßen neben einander, wie zwei junge Leute, die sich wahr und herzlich lieben, und mit Wahrheit und Herzlichkeit über ihre Lage und ihr Leben, also zunächst über ihre Vergangenheit und Zukunft sich gegenseitig ihr Herz öffnen wollen.

„Ich weiß es, Max, daß Sie mich lieben!“

„Und Sie, Marianne?“

„Es macht mich glücklich.“

„Wie froh mich diese Worte machen!“

„Aber wenn wir recht glücklich werden und glücklich bleiben wollen, so müssen wir uns über Manches vorher verständigen.“

„Reden Sie, Marianne, ich werde mein Herz und mein Leben offen vor Ihnen darlegen.“

„Das werde auch ich. Lassen Sie uns zuerst von Ihnen sprechen. Der Grund wird Ihnen klar werden, Sie sind ein Kaufmannssohn aus Hamburg?“

„Ja.“

„Sie gehören dort einer sehr geachteten Familie, einem angesehenen Hause an?“

„Auch das ist so.“

„Sie sind unabhängig?“

„Völlig.“

„Können sich also auch frei eine Gattin wählen?“

„Ich bin durch nichts darin gebunden,“

„Aber Ihre Familie ist aristokratisch -“

„Marianne?“

„Und reich?“

„Um so weniger Rücksichten habe ich bei meiner Wahl zu nehmen.“

„Jetzt lassen Sie mich von mir sprechen.“

„Bedarf es dessen wirklich noch? Kenne ich Sie nicht?“

„Nein, Max. Ich bin das Kind armer Handwerksleute. Meine Eltern ließen mir dennoch eine bessere Erziehung geben, als Kinder in dem Stande sie zu erhalten pflegen. In meinem funfzehnten Jahre wurde ich Waise und mußte durch Dienen bei fremden Leuten mein Brod suchen. Ich wurde Ladenmädchen und kam zu braven Leuten. Der Mann war kränklich und starb nach wenigen Jahren. Ich führte das Geschäft allein, und hatte dabei das Glück, mir die Liebe der Wittwe zu erwerben. Sie war eine brave Frau. Auch sie ist vor einem halben Jahre gestorben und hat keine Kinder und keine Verwandten hinterlassen, aber ein für ihre Verhältnisse bedeutendes Vermögen. Sie hat mich zu ihrer alleinigen Erbin eingesetzt, und so kann ich unabhängig leben, aber, wie stets bisher, so auch ferner nur in untergeordneten, kleinen, stillen Verhältnissen. Auch schon meine Kränklichkeit würde mich dazu bestimmen. Mein Körper war immer zart, und von früher Kindheit war ich zu harter, rastloser Arbeit verurtheilt; das hat vor der Zeit meine Kräfte verzehrt. Und nun, Max, lassen Sie mich zu Ihnen zurückkehren. Sie gehören einem reichen, aristokratischen Kaufmannshause an. Sie sind in den ersten Kreisen der großen Handelsstadt aufgewachsen und haben immer nur in der großen Welt sich bewegt. Vermöge Ihres ganzen Wesens, Ihres Geistes, Ihrer Bildung, Ihrer Lebhaftigkeit, Ihrer äußeren Persönlichkeit, Ihrer Gewohnheit, kann auch ferner Ihr Platz nur in der großen vornehmen Welt sein. Dahin gehöre ich aber nicht.“

Das brave Mädchen hatte mit ihrer vollen Ruhe, Klarheit und Wahrheit aus ihrem Innern herausgesprochen. Es war kein Atom von falscher Bescheidenheit, von Heuchelei in ihren Worten. Darum war ihr auch weh genug ums Herz geworden, als sie den Schluß aussprach, auf den doch jedes ihrer Worte hingewiesen hatte. Ihre Sprache zitterte, sie durfte den jungen Mann nicht ansehen.

Aber die Liebe, die in dem Allen lag, konnte Max Urner nicht entgehen. Und welcher Frauenliebe wäre auf die Dauer Widerstand möglich?

Nach einer Viertelstunde war auch der der armen Marianne Bohle gebrochen. Sie lag mit Thränen, aber mit den glücklichsten Freudenthränen, in den Armen des jungen Mannes.

„Wenn Ihnen ein einfaches, reines und treues Herz genügen kann, dann bin ich die Ihrige.“

[598] „Es ist mir Alles, Marianne!“

Sie waren Verlobte.

Sie hatte Recht. Sie war ein einfaches, reines, treues Herz, auch ein edles.

„Jetzt meine erste Bitte an Dich, Max.“

„Sie wird erfüllt, ich schwöre es Dir.“

„Du hast heute Nacht eine große, muthige That ausgeführt.“

„Auch Du, Marianne, nennst so, was Tausende an meiner Stelle hätten thun können und sollen?“

„Verkleinere Du nicht Deine That; wollte ich es doch!“

„Du?“ mußte doch der junge Mann verwundert ausrufen.

„Ich. Die Unglückliche, die Du gerettet hast, wollte Dir danken –“

Max Urner mußte auf einmal einen heftigen Stich in das Herz bekommen haben. Es zog plötzlich etwas, wie ein wilder, schwarzer Riß, durch sein Gesicht. Seine Verlobte hatte es nicht bemerkt. Sie fuhr fort:

„Sie hat Dir auch heute danken wollen, so hat man mir erzählt. Sie hat Dich aufgesucht, in Begleitung einer ehrbaren Matrone. Du hast sie zurückgewiesen; Du hast von ihr keinen Dank gewollt. Ist es so, Max?“

Jener wilde, dunkle Blick war schon längst aus dem Gesichte des jungen Mannes verschwunden, schon nach einer Secunde. Eine finstere Wolke bedeckte seine Stirn.

„Marianne, kennst Du jene Unglückliche?“

„Ich habe Alles von ihr gehört.“

„Und von der Verworfenen soll ich mir die Hand drücken, von entweihten Lippen soll ich mir sagen lassen, ich hätte eine große That verrichtet, ich sei ein edler Mensch? Das sollte ich gar jetzt noch von ihr anhören können, nachdem ich es in der glücklichsten Stunde meines Lebens von Dir gehört habe? Ich müßte erröthen vor mir selbst; ich müßte mich meiner That schämen!“

„Du mußt es dennoch anhören, Max, und Deine That wird dadurch größer, sie wird erst eigentlich zu einer großen That werden und, anstatt daß Du vor Dir und ihr erröthen müßtest, Dich doppelt glücklich machen, Dich mit dem edelsten Stolze erfüllen. Ja, Max, Du hast eine Verworfene gerettet. Aber schon Deine Rettung hat sie erhoben, wie bestände sie sonst mit jener Zähigkeit darauf, Dir ihren Dank zu sagen? Der Himmel hat in der heutigen Nacht auch zu ihrem Herzen gesprochen. Es will aus seiner Sünde sich emporringen. Und Du wolltest durch die Verachtung, die Du ihr zeigst, sie wieder hineinwerfen? Das würdest Du, Max. Du bist der einzige edle Mensch, den sie hier kennt, und Dir soll ihre Berührung, das Wort, das erste gute Wort ihres Herzens eine Beschmutzung, eine Schande, eine Schmach sein? Muß sie da nicht in ihr lasterhaftes Leben zurückfallen?“

Der junge Mann war schon überzeugt. „Du bist das edelste Herz, Marianne. Ich gehe zu ihr.“

„Und ich begleite Dich, Max.“

Der junge Mann stutzte. „Du? Zu ihr?“

„Sie muß, sie will, sie wird eine Andere werden. Laß mich Theil haben an dem guten Werke.“

„Wir gehen zusammen zu ihr, Marianne.“

„Noch heute?“

„Heute Abend.“

Die glücklichen Verlobten verließen die verschwiegene Laube und empfingen die lauten Glückwünsche der ungeduldig harrenden allen Damen. Zum Abend holte Max Urner seine Braut ab, um an ihrer Seite den Dank der Geretteten zu empfangen.

Die Dame war nach ihrer Rettung Allen im Bade bekannt geworden, wenigstens auf Aller Zungen. Sie hatte desto mehr sich zurückgezogen, in eine entlegene Gasse, in die kleine, unscheinbare Wohnung einer armen, ehrbaren und braven Wittwe, Dahin führte Urner seine Verlobte.

Es war eine große, schöne Dame, zu der sie in ein enges, bescheidenes Stübchen traten. Und bescheiden, wie die Wohnung, war die schwarze Trauerkleidung der sonst so rauschend eleganten Dame, und ihr befehlender, siegender Stolz, wenn sie auf der Promenade oder an dem Spieltische stand, hatte einem stillen, trauernden, fast demüthigen Wesen Platz gemacht.

Marianne reichte ihr die Hand. „Sie wollten meinem Verlobten danken,“ sagte sie freundlich.

Die Dame hatte gezögert, die Hand zu nehmen, als wenn sie die reine Hand zu beschmutzen fürchte. Dann nahm sie dieselbe und wollte sie an ihre Lippen führen. Es schien doch in dem Allen etwas Gemachtes zu liegen. Aber auf einmal ergriff ein anderer Geist sie. Sie warf einen dunklen, glühenden, fast wilden Blick auf den jungen Mann, der neben seiner Verlobten stand. Dann drückte sie heftig, leidenschaftlich die ihr dargebotene Hand. „O, mein Fräulein,“ rief sie, „wie sind Sie gut!“ Dann wandte sie sich an den jungen Mann. „Mein Herr –“ Sie hatte sich erhoben, ihre ganze Gestalt, stolz, mit Würde. So war auch der Ton ihrer Stimme.

Aber ein Blick aus seinem Auge traf sie, ein einziger Blick. In demselben Momente brach sie wie vernichtet zusammen.

„O, mein Herr,“ stammelte sie demüthig, unterwürfig, „haben Sie doppelten Dank. In der vergangenen Nacht haben Sie mir, der dem Tode schon Verfallenen, das Leben wiedergegeben. In diesem Augenblicke geben Sie mir mehr wieder, die Kraft zu dem, wodurch allein das Leben wieder Werth für mich gewinnen kann.“ Sie hatte die Worte nur mühsam hervorbringen können. Sie zitterte so heftig, daß sie sich auf einen Stuhl niederlassen mußte.

Die arglose Marianne hatte nur ihren Versuch sich zu erheben und dann das Zusammenbrechen der Dame gesehen. Sie fand in ihrer frommen Güte genügenden Grund dafür. „Arme!“ sagte sie. „Aber mit diesem edlen Vorsatze wird Ihr Leben wieder reich werden an Tugend und an dem Glücke, das die Tugend gibt. Ich darf wieder zu Ihnen kommen. Sie sind heute zu sehr angegriffen.“

„Und auch Du bist es, Marianne,“ sagte mit einem besorgten Blick auf sie ihr Verlobter.

Sie nahmen Abschied von der Dame. Marianne sah es wohl nicht, wie der junge Mann leichter aufathmete, als sie aus dem kleinen Hause in die enge Gasse traten. Sie sah aber auch gleich darauf etwas Anderes nicht. Ein langer, hagerer, sehr ernst aussehender Mann kam in der Gasse hinter dem Paare her. Als er sie erreichte, ging er rascher. Er schritt an ihnen vorbei. In dem Momente warf er einen Blick seiner ernsten Augen auf Max Urner. Zwar nur einen einzigen, doch der junge Mann war plötzlich wie von einem zerschmetternden Blitzstrahle getroffen.

Es war der Unheimliche, der an ihm vorbeigeschritten war, der den zerschmetternden Blick auf ihn geworfen hatte. Der Unheimliche hatte nicht wieder zu fragen brauchen: „Du hier, Elender?“ Sein Blick sagte: „Du bist verloren, Elender! Jetzt unrettbar!“

Und Max Urner hatte die Sprache dieses Blicks verstanden, und wenn er den Unheimlichen vielleicht hier zum ersten Male wieder sah, er hatte sich keinen Augenblick darauf zu besinnen brauchen, wann und wo er ihn vorher gesehen habe. Er mußte sich Gewalt anthun, sein innerliches Beben zu verbergen und an dem Arme der Verlobten weiter zu gehen.

Der Unheimliche verschwand in der engen Gasse.

Am andern Tage holte Urner seine Verlobte ab, um mit dieser den versprochenen wiederholten Besuch bei der Geretteten zu machen. Aber die Dame war nicht mehr da. Sie war am Morgen früh abgereist, wohin, konnte ihre Wirthin nicht sagen.

Die „schöne Bertha“ war vor dem Feuer unter den jungen Herren der Badewelt bekannt gewesen. Nach dem Feuer hatte Jedermann wenigstens von ihr gesprochen. Zugleich hatte man dabei aber auch gesagt, sie sei eine Büßerin geworden. Daher wohl erregte ihr Verschwinden wenig oder gar nicht die Aufmerksamkeit. Nach drei Tagen sprach Niemand mehr von ihr.

Nach zwei Tagen waren auch Marianne Bohle und Max Urner aus dem Bade abgereist; Beide zugleich. Von der Abreise der Ersteren nahm die eigentliche Badewelt gar keine Notiz. Diese Welt hatte das einfache, bescheidene Mädchen nicht gekannt. Urner wurde höchstens Einen Tag vermißt. Den einen Tag nämlich waren die vornehmen Damen neugierig, den schönen, muthigen jungen Mann zu sehen, der mit Aufopferung seines Lebens ein Menschenleben gerettet hatte, und sie fragten nach ihm. Als sie dabei aber zugleich hörten, daß er sich mit einer ältlichen und kränklichen Ladenmamsell verlobt habe, fragten sie natürlich nicht mehr nach ihm, und er war vergessen.

In dem Kreise der alten Damen erhielt sich jedoch das Andenken Beider länger.

Marianne hatte zwar nicht persönlich von ihnen Abschied genommen, auch Urner nicht, und darüber wollten die Damen im ersten Augenblicke zürnen. Aber Marianne hatte in ihrem und Urner’s [599] Namen schriftlich einen so zärtlichen und dankbaren Abschied von ihnen genommen, daß sie ihr nicht böse werden konnten und um ihretwillen auch ihrem Verlobten verziehen. Sie habe, schrieb sie, plötzlich Nachrichten aus der Heimath erhalten, die namentlich in Betreff ihrer Erbschaftsangelegenheit ihre schleunigste Rückkehr nöthig machten. Ihr Bräutigam begleite sie. Sie werde nach Erledigung jener Angelegenheit mit ihm nach Hamburg reisen, wo er sie in seine Familie einführen wolle. Hoffentlich werde sie dann einen kleinen Abstecher nach dem Bade machen, um ihren liebenswürdigen mütterlichen Freundinnen doch noch auch persönlich ihren Dank sagen zu können u. s. w.

Die alten Damen warteten in der That auf den Abstecher und die persönliche Danksagung. Aber die Saison war schon beinahe zu Ende, als die wenigen der würdigen Damen, die dageblieben waren, noch immer vergeblich darauf warteten.

Da erschien eines Tages in ihrer Mitte der Polizeidirector des Badeortes und an seiner Seite ein fremder Polizeibeamter. Derselbe war in einer wichtigen Angelegenheit eingetroffen, in welcher er namentlich an dem Badeorte Aufschlüsse zu erlangen hoffte. Er hatte sich an den Polizeidirector des Ortes gewandt, und dieser hatte ihn zu den alten Damen geführt.

Von ihm erfuhren sie zunächst Folgendes: Marianne Bohle war vor ungefähr drei Wochen aus dem Bade in ihrem Heimathsorte angekommen, um den Betrag der unterdeß für sie versilberten Erbschaft ihrer verstorbenen Herrin und Wohlthäterin in Empfang zu nehmen. Die Sache war rasch erledigt worden. Sie hatte schon nach wenigen Tagen wieder abreisen können. Den Betrag ihrer Erbschaft hatte sie zu der Summe von einundzwanzigtausend Thalern mitgenommen, theils baar in Gold, theils in Banknoten.

Einige Koffer mit Sachen, die zwar keinen hohen Werth hatten, für sie aber theure Andenken waren, hatte sie zurücklassen müssen. Ihr Wirth hatte aber von ihr den Auftrag erhalten, sie ihr sofort nach Hamburg unter einer Adresse, die sie ihm gegeben, nachzuschicken. Er war dem Auftrage nachgekommen. Allein schon nach wenigen Tagen erhielt er von Hamburg eine Antwort, daß eine Dame, Marianne Bohle, weder unter der bezeichneten Adresse aufzufinden, noch auch der Polizei oder sonst irgend Jemandem in Hamburg bekannt sei, hier also auch gar nicht angekommen sein könne. Dem Mann war die Nachricht auffallend; er dachte an das viele Geld, das sie mitgenommen hatte. Er machte der Polizei seines Ortes Anzeige.

Die Polizei forschte weiter nach, anfangs ohne sonderlichen Verdacht, bald aber unter Häufung dringender Verdachtsgründe, daß ein Verbrechen verübt sei.

Marianne Bohle war in dem Orte, einer kleinen Stadt, allein mit der Post angekommen. Sie hatte sich nur drei Tage dort aufgehalten und mit Niemandem verkehrt, als mit ihrem Geschäftsführer und einigen alten Freundinnen. Sie war dann auch allein wieder abgereist, gleichfalls mit der Post, auf der Tour nach Hamburg. In dem Postwagen hatte sich mit ihr keine verdächtige Person befunden. Das war Alles unverfänglich.

Verdachterregend war zuerst Folgendes: Die Post schloß sich etwa zwölf Meilen von dem Städtchen an eine nach Hamburg führende Eisenbahn an. Marianne Bohle war bis an den Anschluß im Postwagen geblieben. Ein junger Mann hatte dort in einem Einspänner, den er selbst fuhr, auf sie gewartet. Sie war zu ihm eingestiegen und der Einspänner war davon gefahren. Niemand hatte ihn seitdem wieder gesehen, auch den jungen Mann nicht, der ihn führte, auch Marianne Bohle nicht. Das mußte Verdacht erwecken. Man forschte weiter nach; man fand weitere Spuren. In dem Städtchen wurde ermittelt, daß Marianne Bohle ihren Freundinnen mitgetheilt habe, sie sei mit einem reichen Kaufmannssohne aus Hamburg, Namens Urner, verlobt. Er habe sie vom Bade her begleitet, aber nicht ganz bis zu dem Städtchen. Etwa fünf oder sechs Meilen vor diesem, wo ihr Weg sich von dem nach Hamburg getrennt, habe er sie verlassen, um direct seinen Weg nach Hamburg fortzusetzen; er habe dort Einleitungen zu ihrem Empfange treffen wollen. Es war jetzt nur Zweierlei anzunehmen. Entweder war der junge Mann, der sie auf jener Eisenbahnstation in dem Einspänner in Empfang genommen, ihr Bräutigam Urner; dann war es in hohem Grade auffallend, daß man in Hamburg von ihrer Ankunft nichts wußte, zumal da doch das Urner’sche Haus ein reiches, also bekanntes Handlungshaus sein sollte. Oder jener junge Mann war ein Anderer; dann war es fast noch mehr auffallend, daß der Bräutigam sich nach der verlorenen Braut nicht sollte erkundigt haben, daß er gar nichts von sich hören ließ.

Man forschte in Hamburg selbst weiter, und da ergab sich denn das Auffallendste, Verdächtigste. In Hamburg existirten mehrere Familien Urner. Aber in keiner kannte man den Namen Marianne Bohle, und in keiner war ein Sohn oder Anverwandter, der nur über achtzehn Jahre alt war, also der Bräutigam der Verlorenen hätte sein können. Ein Anderer mußte mithin den Namen und Familienstand Urner aus Hamburg – den Vornamen Max hatte Marianne Bohle nicht genannt – angenommen haben. Also ein Betrüger! Welch großes Feld weiterer, furchtbarer Combinationen ergab sich da!

Zunächst wurde ein Polizeibeamter nach dem Badeorte geschickt, wo Marianne Bohle und der angebliche Max Urner sich kennen gelernt und verlobt hatten; er sollte Erkundigungen über die Persönlichkeit Urners und das Verhältniß Beider einziehen. Der Beamte wurde zu den alten Damen geführt.

Sie konnten allerdings die beste Auskunft geben, gleichwohl für Verstärkung der Spuren des verfolgten Verdachts nur geringe. Die guten Damen waren im höchsten Grade bestürzt über das rätselhafte Verschwinden ihres Lieblings Marianne. Aber gegen ihren noch größeren Liebling Max Urner konnten sie darum nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen. Beinahe nur für ihn waren sie so bestürzt, und war er kein reicher Kaufmannssohn aus Hamburg, so mußte er dafür ein desto reicherer und vornehmerer, wahrscheinlich gar adliger junger Herr sein, der sich wohl das Vergnügen machen konnte, ein bürgerliches Incognito anzunehmen, schon um seine geliebte Marianne nachher desto freudiger zu überraschen. Ihre Beschreibung der Person Urners konnte übrigens ebenfalls kein neues Licht geben, da der junge Mann, der Marianne Bohle im Einspänner abgeholt, nur im Dunkel des Abends und zu flüchtig gesehen worden war, als daß man irgend eine Personbeschreibung mit Sicherheit auf ihn passend oder nicht passend hätte finden können.

Aber ein anderer Umstand sollte wenigstens einen Grund zu eigenthümlichem Nachdenken und zu weiteren Nachforschungen in einer anderen Richtung darbieten.

Die Damen erwähnten in ihrem Lobe des jungen Mannes auch jener „Verworfenen“, der er mit so vielem Muthe das Leben gerettet habe. Der Polizeibeamte forschte nach dieser. Sie selbst war schon vor Urner abgereist, und man hatte seitdem nichts weiter von ihr gehört. Aber die Personen, bei denen sie gewohnt hatte, auch Max Urner, mußten von ihr wissen.

Die Bewohner des abgebrannten Hauses wußten von ihr nur, daß sie viele Leute bei sich gesehen, aber wenige bei Tage; ob auch Max Urner, das konnte Niemand versichern.

Die Frau, bei welcher die Dame nach dem Feuer für wenige Tage ein Unterkommen gefunden hatte, wußte mehr. Ein junger Herr hatte sie zu ihr gebracht. Er hatte sich ihr nicht genannt. Allein ihre Beschreibung von ihm stimmte genau mit der Person Urners, und – der nämliche junge Herr war zweimal mit einer anderen blassen, kränklichen Dame da gewesen. Das erste Mal hatten sie mit der Geretteten gesprochen; das zweite Mal, am Morgen nach deren Abreise, sich nach ihr erkundigt. Und dieser junge Herr war mit der geretteten Dame sehr bekannt gewesen: er hatte sie auch noch am späten Abend vor ihrer plötzlichen Abreise besucht, nachdem er kurz vorher mit der kränklichen Dame bei ihr gewesen war, und er hatte ein langes und sehr eifriges Gespräch mit ihr gehabt, wovon aber die Frau nichts verstanden hatte, weil es in einer fremden Sprache geführt wurde. Das waren sehr überraschende Nachrichten, die selbst den alten Damen, als sie nachher davon hörten, auffallend waren.

Allein wie die alten Damen am Ende der Saison das Bad verlassen mußten, ohne weitere Auskunft zu erhalten, so war es auch allen ferneren Bemühungen der Polizei nicht gelungen, irgend ein helleres Licht in das Dunkel zu bringen, das über dieser Angelegenheit so verhüllend ruhte. Marianne Bohle blieb verschwunden mit dem Gelde, das sie mitgenommen hatte. Weder in ihrer Heimath erfuhr man weiter etwas von ihr, noch fand sich eine Spur von ihr in Hamburg, noch sonst irgendwo in der Welt. Nicht minder spurlos war Max Urner verschwunden. Und von der „schönen Bertha“ wollte nicht die geringste Kunde auftauchen.

War ein Verbrechen begangen, so war es in solcher Verborgenheit und mit solcher Vorsicht verübt, daß menschliche Klugheit darauf verzichten zu müssen schien, es jemals an das Tageslicht ziehen zu können.

[600] Aber war ein Verbrechen begangen? Man wußte auch das nicht einmal. Man hatte dafür keinen einzigen dringenden thatsächlichen Verdachtsgrund.


Es war im Winter nach den erzählten Begebenheiten.

An einem frühen Morgen – es war noch finster, wie um Mitternacht – fuhren vier junge Herren in einem eleganten offenen Jagdwagen, aber gegen die Kälte durch tüchtige Pelze geschützt, aus dem Thore der Stadt.

Es war eine deutsche Residenz, die Stadt, aus der sie hinaus fuhren. Keine große, aber auch keine der kleinsten. Im Winter hielt sich der Adel des Landes in ihr auf, bei Hofe. Im Sommer war der Adel auf seinen Gütern. Die Güter lagen hübsch, mitunter romantisch schön, die Luft war eine gesunde. Man konnte daher so ziemlich die Bäder entbehren. Bäder sind überdies verzweifelt theuer, und wie der Adel des Landes, gleich der Hauptstadt des Landes, zwar nicht zu den Aermsten gehörte, so war er auch eben kein besonders reicher.

Drei der jungen Herren, die in dem eleganten Jagdwagen, wohl in Pelze gehüllt, aus dem Thore der Residenz fuhren, gehörten dem Adel des Landes an. Der Vierte hielt sich erst seit dem Anfange des Winters im Lande und zwar in der Residenz auf. Er war zufällig auf seinen Reisen dahin gekommen. Ein junger Herr von dem Adel des Landes hatte ihn dort getroffen. Sie hatten sich vor einem Jahre in London gesehen, beide als Touristen. Sie erkannten sich.

„Wie kommen Sie hierher, Herr von Benzing?“

„Zufällig. Wohin kommt ein Reisender nicht!“

„Sie reisen also noch immer?“

„Noch immer. Aber wie treffe ich Sie hier, Herr von Mangold?“

„Ich bin hier in meiner Heimath.“

„Ah!“

„Und es lebt sich im Winter ganz angenehm hier.“

„Ich glaube es,“ sagte der Herr von Benzing, der Fremde, der just nach einer vorbeifahrenden Equipage gesehen, in der eine sehr schöne Dame saß.

„Sie glauben es, und sind gewiß völlig unbekannt hier?“ fragte der Andere.

„Wo man solche Schönheiten hat!“

„Ah, es war meine Cousine. Sie gehört kaum zu den Schönsten unserer Damenwelt,“

„Teufel, Herr von Mangold, ich möchte hier bleiben,“

„Thun Sie das, Herr von Benzing. Ich führe Sie in unsere Gesellschaft ein.“

„Topp!“

Am anderen Tage war der Baron Benzing, ein sehr reicher junger Mann aus einem alten und edlen Geschlechte Tirols, in die Gesellschaft der Residenz eingeführt. Er war ein schöner junger Mann; er hatte Geist, Witz; er hatte die halbe Welt gesehen; er war der angenehmste Gesellschafter. Er konnte unterhalten, tanzen, den Hof machen. Er konnte fechten, reiten, jagen, spielen.

Er war bald der Held der Gesellschaft. Den Damen machte er den Hof, den jungen wie den alten. Mit den Herren spielte er, allerdings wohl meist mit den jungen, denn alte Herren verlieren nicht gern im Spiele, und er hatte Glück im Spiele. Mit den Herren jagte er auch. Heute war er unter den vier jungen Herren, die in dem eleganten Jagdwagen aus der Residenz fuhren. Sie fuhren zu einer Jagd.

Ein anderer junger Herr aus der Gesellschaft der Residenz gab diese Jagd, in den Forsten seines Gutes, etwa fünf Meilen von der Residenz entfernt. Er hatte nur die vier Freunde dazu eingeladen, und war selbst schon seit mehreren Tagen zu seinem Gute vorausgereist, um Anstalten zu der Jagd und zu dem Empfange seiner Gäste zu treffen. Um neun Uhr Morgens sollte die Jagd beginnen. Es sollte eine kleine Treibjagd sein. Noch vor fünf Uhr früh waren die vier Herren ausgefahren. Sie hatten tüchtige Renner vor dem Wagen. Auf dem halben Wege stand ein Relai. So konnten sie bequem um acht Uhr auf dem Schlosse des Freundes sein. Ein Frühstück sollte sie dort erwärmen und erfrischen. Dann sollte die Jagd beginnen.

Es war in den kürzesten Tagen des Jahres. Sie fuhren beinahe zwei Stunden lang in voller Finsterniß der Nacht. Sie sahen weit und breit nur Schnee. Der Winter war bis dahin mild gewesen. Es hatte erst in der letzten Zeit angefangen zu frieren, erst seit wenigen Tagen; der Frost war nur ein sehr gelinder. Zu ihm hatte sich alsbald der Schnee gesellt; er war auf der Frostdecke als neue Decke liegen geblieben. Seit gestern war es erst klares Wetter. Als der Tag graute und man die Gegend einigermaßen unterscheiden konnte, befanden die Jäger sich schon in tiefem Forst. Die Relaistation hatten sie schon weit hinter sich. Sie blieben lange zwischen den Bäumen, die fast völlig einförmig und ohne Abwechslung zu beiden Seiten eines einförmigen Fahrweges standen.

Erst als es voller Tag geworden war, fing auch die Gegend an, anders zu werden. Das Land wurde hügelig, beinahe gebirgig, der Wald wich von der Straße zurück; dagegen zeigten sich oft wunderlich geformte und gruppirte Felsenpartien. Aber immer blieb es einsam; keine menschliche Wohnung an der Straße, zwischen den Felsen, unter den Bäumen. Zu einer anderen Jahreszeit, unter einer anderen Decke, als der eintönigen Leichenbedeckung des Schnees, mußte es hier schön und romantisch genug sein, wenn auch einsam und wildromantisch.

Die drei Herren, die in dem Lande zu Hause waren, mußten auch schon diese Gegend kennen, sie fiel ihnen nicht mehr auf. Desto aufmerksamer schien sie dann und wann der Baron Benzing zu betrachten. Freilich mit einer eigenthümlichen Aufmerksamkeit, plötzlich, wie unwillkürlich, wie in einer auf einmal in ihm aufblitzenden Erinnerung, so, als wenn er sie gleichfalls schon kenne und sich gänzlich unerwartet in ihr wiederfinde, oder aber, als wenn er doch darüber zweifelhaft sei, ob er sie wirklich kenne. Seine Gefährten nahmen indessen keine Notiz davon.

Das Schloß des Freundes wurde erreicht. Der Wirth empfing sie; das Frühstück erwärmte und erfrischte sie. Die Anstalten zur Jagd waren getroffen. Auf dem Hofe vor dem Schlosse wimmelte es von Hunden, Jägern und Treibern. Von dem Hausherrn wurde noch ein Gast erwartet.

„Ein Original,“ sagte er. „Ihr werdet Euch zuerst an ihn gewöhnen müssen, dann wird er Euch gefallen.“

„Die neue Bekanntschaft wird anfangs also eine langweilige sein?“

„Ich fürchte,“ erwiderte der Wirth, der Baron Steinhaus. „Er ist ein etwas ernster, trockner, pedantischer Gesell.“

„O weh!“

„Aber wenn man ihn näher kennt, gewinnt man ihn lieber. Er hat einen scharfen Geist, treffende, schlagende Bemerkungen, und ist ein famoser Jäger. Er findet immer Wild, trifft die Mitte des Blattes auf einen Nadelknopf, und seine Hunde sind bezaubernd.“

„Sein Name, Baron?“

„Baron Lauer.“

„Woher? Der Name ist hier unbekannt.“

„Er ist fremd.“

„Kennen Sie ihn schon lange?“

„Erst seit Kurzem.“

Das Gespräch über den Baron Lauer wurde unterbrochen durch ein Botschaft von ihm. Er sei, schrieb er, durch einen Zufall verhindert worden, zu der versprochenen Zeit sich einzufinden. Er werde später nachfolgen. Er kenne die Dispositionen der Jagd; man möge nicht auf ihn warten.

Die Gäste wollten ihren Wirth noch mehr über ihn fragen.

„Ihr werdet ihn ja kennen lernen,“ erwiderte er ihnen.

(Schluß folgt.)


Das Fischspeeren der Indianer.

Die Indianer wissen, welch einem Schicksale sie entgegengehen; sie wollen eben lieber untergehen, als sich civilisiren lassen. Der Häuptling Chicito, welcher vor einigen Jahren mit den amerikanischen Generalen Houston und Nusk in Austin in Texas eine Zusammenkunft hatte, sagte: „Es ist wahr, bald werden wir kein Pferd mehr haben, um unsere Todtengräber zu bezahlen, und die Zeit scheint zu nahen, da Niemand mehr da sein wird, den Letzten unseres Stammes zu beweinen. Wir müssen den Weißen weichen.“

[601] Die Indianer lieben ihre Heimath, das Land, auf dem sie geboren. Gleichwohl zeigen sie wenig Lust, sich deswegen unter die Herrschaft der blassen Gesichter zu begeben. Sie betrachten das von ihnen bewohnte Land als ein Geschenk des „großen Geistes“ und empfinden das Eindringen der Einwanderer in ihren Herzen ebenso bitter, wie ein civilisirtes Volk, wenn es eine andere Nation ohne seine Erlaubniß durch sein Land hindurchziehen sieht. Sie glauben, daß der Büffel ein ihnen angeerbtes Gut sei, nicht weil er zum Wild gehöre, sondern weil sie meinen, die Vorsehung habe ihnen denselben zu ihrem Lebensunterhalte gegeben. Wenn daher ein Einwanderer einen Büffel schießt, so sieht der Indianer dies als eine von dem Fremdling begangene Zerstörung seines Privateigenthums an. Erlegt er eine den Weißen gehörige Kuh oder stiehlt er ein Pferd, so betrachtet er dies daher als bloße Wiedervergeltung für erduldete Unbill und als eine thatsächliche Schadloshaltung für erlittenen Verlust.

Das Fischspeeren der Indianer.

Die Regierung zu Washington hat in neuerer Zeit mit einer großen Anzahl von Indianerstämmen Verträge abgeschlossen, so mit den Stämmen der Comanchen, Kiowas, Apaches, den Cow-Creeks, den Rogue-River-Indianern, den Omahas, den Ottawas, den Tschippewäern, den Sacs und Foxes, den Sioux, den Cherokees, den Seminolen und vielen andern. Dadurch erhielten die Vereinigten Staaten das Recht, in ihren Gebieten Wege zu bauen, Militairposten anzulegen und Verordnungen für den Schutz von Personen und Eigenthum zu erlassen. Die Indianerstämme machten sich verbindlich, für künftig vorkommende Verletzungen und Raub an Personen oder Eigenthum der Weißen Genugthuung zu geben, wogegen die Regierung der Vereinigten Staaten sich zur Zahlung von Entschädigungssummen anheischig machte und sie vor den Angriffen der weißen Bewohner der Vereinigten Staaten zu schützen versprach. Kommen die Stämme ihren Verpflichtungen nicht nach, so bleiben die stipulirten Jahrgelder ganz oder nach Umständen wenigstens zum Theil ihnen vorenthalten, bis die Differenz ausgeglichen ist.

Speer zum Fischfang.

Zu den Stämmen, welche mit besonderer Vorliebe an ihren von Alters her überkommenen Stammessitten hängen, gehören die Sacs und die Foxes. Sie bewohnten früher während eines Zeitraumes von 180 Jahren den jetzigen Staat Iowa und den nördlichen Theil von Missouri oberhalb des Flusses gleiches Namens. Während jener Zeit waren sie sechszehn Mal bald ostwärts, bald westwärts gezogen, wahrscheinlich um größere Jagdbeute zu machen. Seitdem sie mit der Regierung zu Washington Verträge abgeschlossen hatten, wurden sie in ihre jetzigen Wohnplätze gewiesen, [602] die sich am Missouri befinden und nördlich vom Great Nemahaw River und südlich und südwestlich vom Wolf River begrenzt werden.

Nach dem Bericht der Delegation, welche 1852 in Washington erschien, zählen die Sacs etwa 1300 und die Foxes ungefähr 700 Köpfe. Sie leben fast einzig und allein von Jagd und Fischfang, obwohl sie einen Landstrich bewohnen, der sich trefflich zum Ackerbaue eignet, und sie wollen nichts mit Schulen, Missionären und der ganzen Civilisation zu thun haben. Die Mehrzahl fühlt sich nicht wohl in den gegenwärtigen Wohnsitzen, sondern möchte lieber weiter nach Westen ziehen, um neue Jagdreviere, welche an Büffeln und anderem Wild ergibiger sind, aufzusuchen. Nahmen sie, wie andere Indianerstämme, auch nichts von den Tugenden der Weißen an, so finden doch deren Laster unter ihnen eine um so größere Verbreitung. Namentlich haben sie sich dem Trunke sehr ergeben. Folge davon ist steigende Demoralisation, und Mord und Blutvergießen sind bei ihnen ganz an der Tagesordnung. Die Stämme werden dadurch natürlich bedeutend decimirt, und es steht zu erwarten, daß sie in einiger Zeit ganz aussterben werden. Sie leben in beweglichen Wigwams (Zelten) und sie besitzen ein Vermögen von ungefähr 30,000 Dollars, der Rest jener Summen, welche sie für die Abtretung ihrer früheren Wohnsitze erhalten haben.

Was ihre gesellschaftlichen Einrichtungen anlangt, so sind diese, wie bei allen Indianerstämmen, höchst einfach. Von Familie, Staat und Recht haben sie möglichst wenig, nur eben so viel, als das Naturbedürfniß, die Noth, die zufällige Gewöhnung an einander hervorrufen. Die Anarchie ist der Grundcharakter ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Ehe wird ohne alle Feierlichkeit blos dadurch eingegangen, daß der junge Indianer in die Hütte der Eltern oder Brüder des Mädchens, oder dieses in die Hütte der Verwandten ihres Brautwerbers aufgenommen wird; nach einigen Monaten oder Jahren baut der Mann sich seine eigene Hütte. Diese wird aus dünnen Stangen gezimmert, die in einem Kreise in den Boden gesteckt, oben zusammengebogen, dann zu einer Spitze vereinigt und zuletzt mit langen Stücken weißer Birkenrinde bedeckt werden. Unten schließt sich an die Birkenrinde ein Rand von Cedernholz, auf den bei stürmischem Wetter Steine gelegt werden, um ihn festzuhalten. Der Stock dient zu gleichem Gebrauch, wie der an einer Landkarte, denn wenn die Hütte verlegt werden soll, wird die Rinde um die Rolle gewickelt und in dieser Form zu dem Canoe geschafft, um bei einer neuen wieder als Bedeckung gebraucht zu werden. Diese Hütten sind halbkugelförmig, und man könnte sie wegen ihrer Leichtigkeit und der wie aus Zweigen geflochtenen Bauart fast mit umgekehrten Vogelnestern vergleichen. Die Matten, welche statt der Teppiche nur als Schlafstellen dienen, sind aus großen, glatten Binsen gearbeitet, die in der geeigneten Jahreszeit abgeschnitten und mit einem feinen hänfenen Faden als Einschlag gewebt werden. Die Verfertigung derselben gehört den Weibern zu, welche zugleich Alles zu besorgen haben, was zum Häuslichen gehört, während die Männer der Jagd und dem Fischfange nachgehen. Die Frau verrichtet die häuslichen Arbeiten; dem Manne dagegen kommt es zu, das Gebiet zu beschützen, Eindringlinge und Feinde abzuwehren, die Canoes zu erbauen und die Waffen und Kriegsgeräthschaften zu verfertigen. Letztere dürfen die Frauen, die Squaws, nicht einmal berühren. Diese kochen und bereiten das Wild und Geflügel zu, bauen die Hütten auf und brechen sie ab, flechten Körbe, stricken Netze und machen Kleider.

Wenn die Indianer ausziehen, um Fische zu fangen, so nehmen sie ihre Weiber mit, die dabei Rudererdienste verrichten und sich dabei kurzer, aber breiter Ruder bedienen. Sind sie zu Stellen im Wasser gelangt, welche einen günstigen Fischfang versprechen, so müssen die Weiber auf die Canoes Acht geben, damit sie sich im Gleichgewicht erhalten und nicht umschlagen. Sie fischen auf verschiedene Art: theils legen sie zu dem Zwecke Dämme von Pfählen und Flechtwerk an; theils fischen sie mit Netzen. Eine eigenthümliche Art des Fischfanges ist das Speeren, wozu sie sich verschiedener Arten von Speeren bedienen. Bald sind es Zweizacke, bald Dreizacke. Bei letzteren ist der mittlere Zacken kürzer, während die beiden anderen Zacken lang sind. Manchmal befinden sich auch noch mehrere kurze Mittelzacken dazwischen.

Die interessanteste Art des Fischstechens ist die mittels eines Gabelspeers, wie ihn unsere Abbildung zeigt. Er wird besonders bei den Lachsforellen in Anwendung gebracht und dürfte vielleicht auch in Europa bei den Fischjagden eingeführt werden.

Der Stiel des Speeres, dessen sich die Indianer bedienen, ist 10–20 Fuß lang, die äußersten Spitzen der Gabel sind von Hirschhorn. Sobald der Canot in die Bucht eines fließenden Wassers eingelaufen ist, wo Lachsforellen vermuthet werden, wird vor allen Dingen dafür gesorgt, daß das Fahrzeug ruhig steht und die Fische, dadurch sicher gemacht, wieder aus ihren Schlupfwinkeln hervor an die Oberfläche des Wassers kommen. Der Indianer, hoch aufgerichtet im Canot stehend, hält den Speer zum Stoß bereit. Kleine Fische werden nur mit dem Netz gefangen, und deßhalb bei dieser Art Jagd, die eigentlich mehr als Vergnügen gilt, wenig beachtet. Sobald aber ein fetter Bissen unter der Fläche des Wassers hinschießt, stößt – er wirft durchaus nicht – der Indianer mit beiden Händen dem Fische nach und selten verfehlt die spitze Gabel, deren Spitzen, wie wir schon oben sagten, von Hirschhorn gefertigt sind, ihr Ziel. Diese Spitzen, die durch Leinen an dem Hauptspeer befestigt sind, lösen sich, sobald sie im Fleische des Fisches sitzen, sofort von der Gabel los, wodurch dem zuckenden Gefangenen zwar Spielraum zum Weiterschwimmen, aber doch nicht die Freiheit gegeben wird. Durch diese Manipulation wird das allzuweite Eindringen der Gabel in das Fleisch des Fisches vermieden und der Fisch selbst in seiner ganzen schlanken Gestalt erhalten.




Preußische Licht- und Schattenbilder.
Ein Lichtbild.
Nr. 3. Karl Freiherr von Stein.
(Schluß.)

Die Schlacht von Austerlitz endete mit der Besiegung der Russen und Oesterreicher, zugleich Preußen vollkommen isolirend. Oesterreich schloß den Frieden zu Preßburg, der die Auflösung des deutschen Reiches und die Abschließung des Rheinbundes herbeiführte, wodurch sechzehn deutsche Fürsten, unter ihnen die Könige von Bayern und Würtemberg, Frankreichs Vasallen wurden. Stein sah das über Preußen hereinbrechende Verderben kommen, und erhob seine warnende Stimme in einer Denkschrift an den König, worin er ohne Schonung die Schwächen und Fehler der geheimen Cabinetspolitik aufdeckte. Mit unerhörtem Freimuth forderte er nicht nur eine Aenderung des bisher verfolgten Systems, sondern vor Allem die Entlassung der ihm anhängenden Hauptleiter, indem er auf die Nothwendigkeit hinwies, Personen zu ändern, wenn man Maßregeln ändern will. Leider verhallte Steins Warnung wirkungslos, das Schicksal Preußens mußte sich erfüllen. Zu spät von der Treulosigkeit Napoleon’s überzeugt, griff Friedrich Wilhelm der Dritte zu den Waffen. Die Schlacht von Jena begrub die preußische Monarchie und den Waffenruhm des Heeres. Stein’s Vorsicht rettete wenigstens die Geldvorräthe der ihm anvertrauten Cassen, mit deren Hülfe der Krieg bis zum Tilsiter Frieden fortgesetzt werden konnte. Von den vielen Anstrengungen krank, folgte er dem Könige auf dessen Flucht. Die meisten Minister riethen zu einem schimpflichen Frieden, Stein fast ganz allein zur Fortsetzung des Krieges und zu einem ehrenvollen Untergang. Friedrich Wilhelm der Dritte, der im Unglücke eine nie geahnte Seelenstärke entwickelte, stimmte ihm bei und trug ihm, da sich Haugwitz wegen angeblicher Kränklichkeit von den Geschäften zurückgezogen hatte, das Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten an. An die Annahme knüpfte Stein die Bedingung, das bisherige Cabinet, aus Haugwitz, Lombard und Beyme bestehend, gänzlich zu beseitigen, und den in Ungnade entlassenen Hardenberg wieder zu berufen. Die Unterhandlungen dauerten mehrere Tage, Stein bestand auf den von ihm gestellten Bedingungen, und lehnte trotz wiederholter Aufforderungen es ab, unter anderen Verhältnissen die ihm angetragene Stelle anzunehmen. [603] Der König, gereizt von seinem männlichen Widerstande, erließ an ihn eine Cabinetsordre voll heftiger Vorwürfe. Er nennt ihn darin „einen widerspenstigen, trotzigen, hartnäckigen und ungehorsamen Staatsdiener, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Caprice geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt.“ Unter solchen Umständen blieb ihm nichts übrig, als seinen Abschied zu fordern, der ihm auch in verletzender Weise gewährt wurde.

Die Kunde von Steins Entlassung wurde von allen Patrioten mit tiefer Trauer aufgenommen; schon damals hielt man ihn für den Einzigen, der im Stande wäre, das seinem Untergange entgegengehende Preußen noch zu retten. Er selbst ging wieder nach Nassau auf seine Güter zurück, um seine zerrüttete Gesundheit wieder herzustellen. Auch in der Ferne beschäftigte er sich mit dem Schicksale des unglücklichen Landes und einer undankbaren Regierung, indem er im Stillen Pläne ausarbeitete, die eine Verjüngung und Reform des Staates bezweckten. Dort in der Einsamkeit faßte er den großen Gedanken, den er später gegen Hardenberg folgendermaßen äußerte: „Ich glaube, daß es wichtig ist, die Fesseln zu brechen, wodurch die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Thätigkeit hindert; man muß diesen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vortheils zerstören, diese Anhänglichkeit an den Mechanismus, welchem die Regierungsform unterworfen ist. Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustande der Kindheit herauszutreten, worin eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten möchte."

Eine Aufforderung des Kaisers Alexander, in russische Staatsdienste zu treten, lehnte Stein damals zum Glücke Preußens ab. Bald hatte Friedrich Wilhelm sein Unrecht eingesehen, von Neuem wendete sich, als durch den Frieden von Tilsit die Noth auf das Höchste gestiegen war, der Blick des Monarchen und aller wahren Vaterlandsfreunde nach dem treuen Diener, dem unentbehrlichen Minister, der allein das große Werk der Wiederbelebung vollbringen konnte. Die edle Prinzessin Radziwill schrieb an ihn, um ihn zur Rückkehr in den Staatsdienst zu bewegen; Blücher und Hardenberg erließen an ihn eine Aufforderung in gleichem Sinne und im Namen des Königs selbst. Die unvergeßliche Königin Louise rief in einem Briefe sehnsuchtsvoll: „Wo bleibt nur Stein? Dies ist mein letzter Trost. Großen Herzens, umfassenden Geistes, weiß er vielleicht Auswege, die uns noch verborgen liegen."

Dem allgemeinen Verlangen vermochte Stein nicht länger zu widerstehen; großmüthig vergaß er die ihm widerfahrene Kränkung; er kannte nur ein Ziel, Rettung des Vaterlandes. — Es gehörte mehr als gewöhnlicher Muth dazu, die Leitung eines vollkommen ruinirten Staates, der fast die Hälfte seiner Länder verloren, dessen Finanzen zerrüttet, dessen Wohlstand zu Grunde gerichtet, der in der allgemeinen Achtung so tief gesunken war, unter den jämmerlichsten Verhältnissen zu übernehmen. Aber ein Mann wie Stein schreckte vor keiner Schwierigkeit zurück, seiner Kraft sich bewußt und von einer Fülle schöpferischer Gedanken beseelt, ging er sogleich an’s Werk. Es galt zunächst, die augenblickliche Noth zu lindern und den befruchtenden Samen für die Zukunft auszustreuen. Zu diesem Zwecke traf er die passendsten Finanzmaßregeln durch Ersparnisse, zweckmäßige Anleihen und Verwerthung der Domainen. Doch war es ihm nicht darum zu thun, nur palliative Hülfe zu schaffen, sein großer Geist erkannte als die wahren Quellen des Nationalwohlstandes die Freiheit der Personen und des Eigenthums. Wenige Tage nach seinem Wiedereintritt in den Staatsdienst erschien die Verordnung vom 9. October 1807, welche das ausschließliche Vorrecht des Adels auf den Besitz ritterschaftlicher Güter beseitigte, dagegen dem Adel die Freiheit gab, bürgerliche und bäuerliche Grundstücke an sich zu bringen, und bürgerliche Gewerbe zu treiben, ohne dadurch, wie dies bisher der Fall war, sein Ansehen und seine Privilegien einzubüßen. Weit tiefer noch griff die Aufhebung der auf dem Bauernstande lastenden Leibeigenschaft ein, welche mit Eintritt des 11. Novembers 1810 für gänzlich erloschen erklärt wurde. Mit dieser Maßregel wurde nicht nur ein tausendjähriges Unrecht gesühnt, sondern aus Sclaven freie Menschen gemacht, die jetzt erst, ihrer Würde sich bewußt, das Vaterland lieben lernten. Ebenso schuf Stein einen kräftigen Bürgerstand, der, von jeder bureaukratischen Bevormundung befreit, seine eigenen Angelegenheiten selbst verwalten sollte. Die preußische Städteordnung in ihrer ursprünglichen Gestalt ist das Muster eines vernünftigen Self-Governments. Mit dieser Schöpfung ging die Beseitigung des Zunftzwanges und ähnlicher Beschränkungen Hand in Hand, die das Aufblühen der Gewerbe und des Handels hinderten.

Eine gründliche Verbesserung der Provinzialstände sollte zu ihrer erhöhten Theilnahme am öffentlichen Leben leiten, und als Schlußstein des staatlichen Baues nach dem Abzuge der Franzosen das Institut der Reichsstände einberufen werden, um den König mit den Wünschen seines Volkes bekannt zu machen, ihm für das zweckmäßige Verfahren der obersten Regierungsbehörden Gewähr zu sein und ihr rathsames Gutachten bei neuen Gesetzen zu geben.

Dies waren die theils ausgeführten, theils erst projectirten Grundzüge einer Neugestaltung des Staates, mit denen sich noch ein verbesserter Unterricht der Jugend und die bewundernswürdige Reform des ganzen Heerwesens durch Scharnhorst zu einem System verband, das die Wiedergeburt Preußens zur Folge habe mußte. Diese großartigen Reformen übten nach allen Seiten eine unbeschreibliche Wirkung aus, indem sie den schlummernden Geist des Volkes weckten, die Liebe zum Vaterlande neu belebten, den Haß gegen die fremden Unterdrücker anfachten. Nur mit Unmuth wurde noch das Joch Napoleons ertragen, im Stillen aber alle Vorbereitungen zur Befreiung getroffen, indem sich Gleichgesinnte zu einer geheimen Gesellschaft vereinigten, welche unter dem Namen des Tugendbundes bekannt geworden ist und die Erhebung der Nation vorbereitete. Blieb auch Stein selbst derartigen Verbindungen fern, so theilte er doch die Hoffnungen der Patrioten, welche jubelnd den Aufstand in Spanien und die Rüstungen Oesterreichs zum erneuerten Kriege gegen Frankreich begrüßten.

Damals überreichte Stein dem Könige eine Denkschrift über die Lage Europa’s und die von Preußen zu befolgende Politik, worin er die Nothwendigkeit nachwies, sich mit dem Gedanken der Selbsthülfe vertraut zu machen. Er verschwieg dabei nicht die Gefahr, welche er muthvoll in’s Auge faßte. Unter seinem Einflusse verfaßte Gneisenau seinen Entwurf über Volksbewaffnung und Verbindung mit dem stehenden Heere, gab Scharnhorst sein Gutachten ab „über die dem österreichischen Hofe und England zu machenden Eröffnungen", die Stein mit der Bemerkung begleitete: „Der Krieg muß geführt werden zur Befreiung der Deutschen durch Deutsche. Auf den Fahnen des Landsturmes muß dieses ausgedrückt sein, und führt als ein Provinzialabzeichen eine jede Provinz ihr Wappen oder ihren Namen auf der Fahne. Man sollte nur eine Cocarde haben, die Farben der beiden Hauptnationen in Deutschland, der Oesterreicher und Preußen: Schwarz, Weiß und Gelb.“ — Der König prüfte diese Vorschläge mit strenger Gewissenhaftigkeit, hielt sie jedoch nur für ausführbar, wenn Rußland, das damals noch mit Napoleon verbunden war, seine Hülfe zusagte, und Oesterreich erst einen entscheidenden Sieg erfochten haben würde. Von einer Befreiung des Landes durch einen Volksaufstand wollte er nichts hören, da er zu einer Nation, die ihn 1806 so gänzlich verlassen, alles Zutrauen verloren hatte.

Stein gab darum nicht alle Hoffnung auf; er benutzte die Anwesenheit des russischen Kaisers, der sich auf Napoleon’s Einladung zu der Fürstenversammlung nach Erfurt begab, um ihn zum Bruch mit Frankreich zu bewegen und für die Befreiung Europa’s zu gewinnen. Noch war Alexander von Napoleon’s Glanz geblendet, von den Schmeicheleien des schlauen Corsen umstrickt, sodaß er alle derartigen Pläne zurückwies und Preußen von einer Coalition gegen Frankreich dringend abrieth. Dagegen versprach er sein Wort bei Napoleon dahin einzulegen, um die für Preußen unerschwingliche Contribution zu ermäßigen; zugleich wünschte er, daß Stein als preußischer Bevollmächtigter nach Erfurt kommen sollte. Schon hatte dieser die nöthigen Vorbereitungen zu der Reise getroffen und seine Vollmachten in Empfang genommen, als ihn die Nachricht traf, daß die überall thätige französische Polizei einen Privatbrief Stein’s, den dieser an den Fürsten Sayn-Wittgenstein gerichtet und dem Assessor Koppe anvertraut, aufgefangen und erbrochen hatte. Das Schreiben, welches die damaligen Verhältnisse und die daran sich knüpfenden Hoffnungen der Vaterlandsfreunde offen darlegte, war zuerst im Moniteur mit der Bemerkung veröffentlicht worden: „Wir glauben diesen Brief veröffentlichen zu müssen als ein Denkmal der Ursachen des Gedeihens und des Sturzes der Reiche. Er enthüllt die Denkungsweise des preußischen [604] Ministerii, vorzüglich des Herrn von Stein. Man wird den König von Preußen beklagen, eben so ungeschickte, als verkehrte Minister zu haben.“ Ein Berliner Schandblatt, „der Telegraph“, im französischen Solde, druckte den unglücklichen Brief mit den Anmerkungen des Moniteurs sogleich nach, Stein’s Gegner und zahlreiche Feinde, welche seinen Einfluß beneideten, seine Reformen verabscheuten, benutzten die willkommene Gelegenheit, ihn zu stürzen, indem sie den König bedrängten, dem Zorne Napoleon’s dies Opfer zu bringen. Er selbst bat wiederholt um seine Entlassung, die jedoch erst nach der Rückkehr des für ihn nach Erfurt gesendeten Grafen Golz erfolgte, der neue, erniedrigende Bedingungen für Preußen mitbrachte und zur schleunigen Entlassung des Ministers rathen mußte. Wie wenig Stein an sich selber dachte, beweist die Antwort, welche er dem Grafen Golz entrüstet gab, als dieser die Befürchtung aussprach, daß Napoleon die in Nassau gelegenen Güter Stein’s einziehen würde: „Glauben Sie, daß an dem Quark etwas gelegen ist, wo es auf das Vaterland ankommt?“

Erst als dem König kein anderer Ausweg übrig blieb, willigte er in Stein’s Verabschiedung durch das Cabinetsschreiben vom November 1808, worin es heißt: „Mein lieber Staatsminister Freiherr von Stein! Da die Nachsuchung Eurer Dienstentlassung zur Nothwendigkeit geworden ist, so ertheile ich Euch solche in Rücksicht auf letztere. Je größer das Vertrauen war, womit ich Euch die obere Leitung meiner gesammten Staatsverwaltung übertrug, und je dankbarer ich Euren Bemühungen, demselben zu entsprechen, Gerechtigkeit widerfahren lasse, desto lebhafter bedaure ich den Verlust eines so eifrigen, treuen und ausgezeichneten Ministers.“

Stein’s Entlassung war ein Donnerschlag für alle Guten, denen der Professor Süvern in einem schwungvollen Gedichte seine Stimme lieh, ein Triumph allen feigen und gemeinen Seelen, welche den edlen, hochherzigen, deutschen Mann haßten und vor Napoleon im Staube krochen. Es war indeß dafür gesorgt, daß die Gemeinheit nicht vollständig siegte und die ausgestreute Saat nicht mehr zu Grunde gehen konnte. Die letzten Augenblicke, welche ihm noch vergönnt waren, verwendete Stein dazu, sein begonnenes Werk zu sichern, den König in der einmal eingeschlagenen Bahn zu befestigen, die Grundsätze einer besseren Verwaltung den Behörden einzuimpfen und würdigen Händen die ihm entwundene Lenkung des Staates anzuvertrauen. Unter dem Namen „Stein’s politisches Testament“ bekannt, veröffentlichte der ihm nahestehende damalige Geheimrath von Schön in einem Sendschreiben an die oberste Verwaltungsbehörde Preußens einen Rechenschaftsbericht über Alles, was Stein gethan und noch thun wollte, wenn ihm dazu Zeit gelassen worden wäre. Jedes Wort dieses Testamentes legte das herrlichste Zeugniß für die Redlichkeit, Wahrheit, Vaterlandsliebe und freisinnige Richtung des großen Staatsmannes ab, dessen Grundsätze, je nachdem sie befolgt oder verworfen werden, Preußens Wohl oder Wehe noch heute in sich schließen.

Krank am Leibe, aber kräftig an Geist verließ Stein Königsberg, um sich vorläufig nach Breslau zu begeben. In Berlin fand er folgenden kaiserlichen Befehl vor, den Napoleon aus dem Lager von Madrid erlassen hatte: „Der Namens Stein, welcher Unruhen in Deutschland zu erregen sucht, ist zum Feinde Frankreichs und des Rheinbundes erklärt. Die Güter, welche besagter Stein, sei es in Frankreich, sei es in den Ländern des Rheinbundes besitzen möchte, werden mit Beschlag belegt. Der besagte Stein wird überall, wo er durch unsere oder unserer Verbündeten Truppen erreicht werden kann, persönlich zur Haft gebracht.“

Stein war geächtet und sein Leben schwebte in Gefahr. Er mußte fliehn; noch in derselben Nacht verließ er heimlich Berlin, um die österreichische Grenze zu erreichen. Glücklich langte er bei der ihm befreundeten Familie des Grafen Reden zu Buchwalde im schlesischen Riesengebirge an. Während der nächtlichen Reise beschäftigte er sich mit einer Neujahrspredigt von Schleiermacher „über das, was der Mensch zu fürchten habe, und was nicht zu fürchten sei,“ die er kurz vorher mit den Seinigen gelesen. Seine Blicke hingen an dem winterlichen Himmel, der bald bewölkt, bald von Sternen erleuchtet war; am Wege grüßten ihn die ewigen Berge unter der weißen Schneedecke des Frühlings harrend; sein ungebeugter Geist war mit Hoffnung, seine starke Seele mit erhabenen Gedanken erfüllt.

Nur kurze Zeit durfte er bei den überraschten Gastfreunden verweilen, da in dem benachbarten Hirschberg französische Truppen lagen. Er wartete nur so lange, bis der ihm von Frau von Stein nachgeschickte Paß für Oesterreich anlangte, um sogleich in Gesellschaft eines alten Freundes, des Grafen Geßler, der ihn in Buchwalde aufsuchte, um sein Schicksal zu theilen, die gefährliche Reise über das Gebirge nach Böhmen und zunächst nach Prag fortzusetzen. Hier verweilte er nur kurze Zeit, da die österreichische Regierung, die ihm großmüthig Schutz gewährte, ihm aus verschiedenen Gründen nach Brünn überzusiedeln anrieth. Dorthin kam auch seine Gattin mit den Töchtern, die eines solchen Mannes vollkommen würdig im Unglück ihren Seelenadel erprobte.

Die über Stein verhängte Acht wurde von deutschen Fürsten, wenn auch nicht an seiner Person, doch wenigstens an seinem Eigenthum vollzogen, indem sich der Herzog von Nassau und der König von Sachsen dazu hergaben, die ihm gehörigen und in ihrem Gebiete liegenden Güter mit Beschlag zu belegen. Die unedle Rache Napoleon’s ging so weit, daß er die preußische Regierung zwang, gegen Stein einen Verhaftsbefehl zu erlassen, wozu diese sich freilich erst dann herbeiließ, als sie den Verfolgten bereits in Sicherheit wußte. In Brünn beschäftigte sich Stein mit der Lage Oesterreichs, indem er vorzugsweise auf die Hauptschäden der dortigen Verwaltung, auf das Unterrichts- und Finanzwesen die Aufmerksamkeit lenkte und zweckmäßige Vorschläge that, die leider nicht befolgt wurden. Beim Wiederausbruche des Krieges setzte er sich mit den österreichischen Ministern und dem volksthümlichen Erzherzog Karl in Verbindung, denen er seine Pläne zu einer Volksbewaffnung mittheilte. Eine allgemeine Insurrection des nördlichen Deutschlands wurde von ihm vorgeschlagen, ohne jedoch zur Ausführung zu kommen. „Nur vom Bauernstand und Mittelstand,“ schrieb er damals an einen Freund, „kann man in Deutschland etwas erwarten. Der reiche Adel will sein Eigenthum genießen, der arme will Stellen und Auskommen, die öffentlichen Beamten beseelt ein Miethlingsgeist. Bringt man diese Classen nicht durch Reizmittel in Bewegung, so werden sie unthätig bleiben und durch ihr Beispiel schaden.“

Von Neuem wurde Oesterreich von Napoleon besiegt, dessen Weltherrschaft gesichert schien. Die deutschen Patrioten verzweifelten, da auch in Preußen mit Stein’s Entfernung sein guter Genius gewichen schien. Das damalige Ministerium Altenstein war den Verhältnissen nicht gewachsen und zeichnete sich nur durch seine Schwäche, Planlosigkeit und Inconsequenz aus. Dachte man doch ernstlich daran, für die auferlegte und unerschwingliche Kriegscontribution Schlesien an Napoleon abzutreten. In dieser Verlegenheit wandte sich der König an Hardenberg, der als einzige Rettung die Rückkehr zu den von Stein aufgestellten Grundsätzen bezeichnete. Der Staatskanzler hielt es für nothwendig, mit Stein selbst sich mündlich über die einzuschlagenden Mittel zu berathen. Zu diesem Behufe hatten die beiden Staatsmänner eine heimliche Zusammenkunft an der schlesischen Grenze auf einer einsamen Baude des Riesengebirges. Dort in der ärmlichen Holzkammer tauschten sie ihre Gedanken aus und faßten Pläne für die Zukunft, welche nichts Geringeres als die Befreiung Europa’s bezweckten. Während die Muthigsten verzagten, die Besten jede Hoffnung aufgaben, blieb Stein unerschüttert wie ein Fels im tobenden Meere. Der Haß gegen den Unterdrücker verlieh ihm eine Kraft, die sich durch keinen Unfall beugen ließ. Immer klarer und selbstbewußter entwickelte sich der Gedanke in seiner männlichen Seele, daß es seine Aufgabe sei, den fränkischen Despotismus zu stürzen und Deutschland zu befreien. Ihn kümmerte nicht, daß die Fürsten vor dem Sieger im Staube krochen, daß das Volk im Todesschlaf zu liegen und das Gefühl seiner Schmach verloren zu haben schien. Ein einzelner Mann, geächtet, heimathslos und verarmt, unternahm er das große Werk, das er auch wie ein Mann zu Ende führte. Mit Recht fürchtete Napoleon einen solchen Gegner, den er selbst die sechste Großmacht nannte.

Unterdeß hatte die Freundschaftskomödie zwischen Alexander und Napoleon ihr Ende erreicht. Der Krieg zwischen Rußland und Frankreich war erklärt. Alexander, der schon früher Stein ein Asyl in seinem Reiche angeboten, berief ihn jetzt an seine Seite als einen ebenbürtigen Bundesgenossen, der mit geistigen Waffen den Feind bekämpfen sollte. Das Glück lächelte im Anfange dem französischen Kaiser, um ihn später um so sicherer zu verderben. Stein’s Muth blieb nach wie vor unerschüttert, und als nach einigen verlorenen Schlachten und der Einnahme Moskau’s die Friedenspartei am russischen Hofe und vor Allen die Kaiserin Mutter und der Großfürst Constantin kleinmüthig zu einem schimpflichen [605] Frieden riethen, trieb er zur Fortsetzung des Krieges. „Es kann sein,“ sagte er, „daß wir nach Orel oder gar nach Orenburg die Fahrt werden antreten müssen. Ich habe schon zwei, drei Mal im Leben mein Gepäck verloren, was thut’s? sterben müssen wir ja doch einmal.“ An seiner Kühnheit erhob sich Alexander’s weiche Seele zu männlichen Entschlüssen und fester Ausdauer. Der Brand von Moskau und der eisige Winter setzten ein Ziel für Napoleon’s Herrschbegierde, unter der russischen Schneedecke lag sein Heer begraben. Bei der ersten Nachricht von dem göttlichen Strafgericht sprach die früher muthlose Kaiserin-Mutter über Tafel zu Stein in verächtlichem Ton die Worte: „Ich würde mich schämen eine Deutsche zu sein, wenn auch nur ein Franzose über den Rhein zurückkäme.“

Da entfärbte sich Stein, und plötzlich sich erhebend antwortete er ihr ernst: „Ew. Majestät haben Unrecht dies zu sagen. Sie sollten nicht sagen, Sie werden sich der Deutschen schämen, sondern sollten Ihre Vettern nennen – die deutschen Fürsten.“

Die Kaiserin Mutter erwiderte beschämt, aber würdig: „Sie haben Recht, Herr Baron, und ich danke Ihnen für die Lection.“

So vertrat Stein als echter Freiherr furchtlos und kühn Deutschlands Ehre und Größe an dem sclavischen Hofe des Czaren. Damals verlangte er auch von Alexander in einer Denkschrift: „Um Deutschland groß und mächtig zu machen, muß es entweder zu einer Monarchie vereinigt, oder dem Laufe des Mains nach zwischen Oesterreich und Preußen oder so getheilt werden, daß man vielleicht einige deutsche Länder unter einem Bündnisse mit Preußen und Oesterreich bestehen läßt.“ Doch gab er aus praktischen Gründen der Theilung zwischen Oesterreich und Preußen den Vorzug, Deutschlands Grenzen aber sollten nach ihm die Maas, Luxemburg, die Mosel, die Vogesen und die Schweiz sein.

Einen Augenblick schwankte Alexander, von der national-russischen Partei bestürmt, den Niemen zu überschreiten und, mit Deutschland vereint, sein Werk zu beenden; da entwickelte Stein seinen Alles fortreißenden Feuereifer für die gute Sache und besiegte alle kleinlichen, egoistischen Hindernisse. Im Namen Deutschlands, das noch stumm blieb, erhob er seine gewaltige Stimme, indem er den ursprünglich nur russischen Krieg zu einem heiligen Befreiungskampf aller Völker erhob. Stein allein bewirkte dies Wunder, und wurde somit der Retter des Vaterlandes. Durch York’s Abfall wurden die nachfolgenden Ereignisse in Preußen vorbereitet, durch Stein’s Eifer und jugendliches Ungestüm die Entscheidung herbeigeführt, und durch die von ihm veranlaßte Einberufung der ostpreußischen Landstände dem Zögern ein Ende gemacht.

Preußen war erwacht, der König eilte nach Breslau, wo er, vor französischen Gewaltstreichen geschützt, jenen denkwürdigen Aufruf „an mein Volk“ erließ. In Breslau, wohin sich Stein begab, erlag er der fortwährenden Aufregung und riesigen Anstrengungen; ein Nervenfieber bedrohte sein Leben. Kaum genesen, eilte er in das Hauptquartier der Verbündeten, denen er bis nach Paris folgte. Hier war er es mit dem gleichgesinnten Blücher, die rastlos vorwärts trieben. Nach der Schlacht bei Leipzig hatten er und Gneisenau sich gelobt, „der Krieg dürfe nur mit der Entthronung Napoleons enden.“ Stein übernahm während des Feldzuges die Centralverwaltung der im Jahre 1813 befreiten Länder, aber diese wurde so eingerichtet, daß sie aus tausend kleinlichen Rücksichten nicht in seinem Geiste fortgeführt wurde. Eben so wenig entsprach der Wiener Congreß und der zweite Pariser Frieden seinen gehegten Wünschen und Erwartungen. Er verlangte Lothringen mit Metz, den Elsaß und Straßburg für Deutschland; doch wurde leider seine Stimme nicht gehört. „Zu Wien,“ schrieb er dem befreundeten Gagern, „haben sie finalement nur halbe Arbeit gemacht, und die Nation über Bund und Bundessystem gar nicht begriffen. Und nachdem wir so sehnlich Eintracht zwischen Oesterreich und Preußen im Großen gewünscht, so wollen wir doch keineswegs ein solches Schmiegen und Assimiliren in Dingen, die sich wenig ähnlich sind, wie Lage und Verhältniß beider Regierungen gegen ihre Völker. Der Fürst Metternich, gewohnt zu verführen, verführte darin das preußische Cabinet, und beschädigte dadurch Beide – ja – uns Alle.“ Unzufrieden mit dem Gange der Ereignisse, der mangelhaften Bundesverfassung, der durch Metternich herbeigeführten Reaction, der sich auch Preußen anschloß, zog sich Stein auf seine Güter in Nassau zurück. Der Tod seiner Gattin lenkte seinen Blick immer mehr von der Erde nach oben, ohne daß er darum einer pietistischen Richtung huldigte. Auch am Abende seines Lebens gönnte er sich noch nicht Ruhe; seine Liebe zu dem Vaterlande bethätigte er durch ein großes literarisches Unternehmen, die Herausgabe einer zeitgemäßen kritischen Quellensammlung zur Geschichte des deutschen Mittelalters, welche er nicht nur anregte, sondern auch mit bedeutenden Geldopfern unterstützte. Geistig noch frisch, fühlte er doch die Abnahme seiner körperlichen Kräfte; längere Zeit schon litt er an Brustbeklemmungen und schlagartigen Zufällen, denen er den 21. Juni 1831 erlag. Seine Leiche wurde nach der Familiengruft in Frücht gebracht, wo er bei den Seinigen ruht.

Stein war mittlerer Größe, gedrungen, mit breiten Schultern und starken Schenkeln; Haltung und Schritt fest wie sein ganzes Wesen. Auf diesem kräftigen Körper ruhte das stattliche Haupt mit breiter Stirn, funkelnden braunen Augen voll Freundlichkeit und Treue, die jedoch im Zorn vernichtende Blicke schossen. Eine mächtige Adlernase, unter ihr der feingeschlossene Mund und das Kinn, welches ein wenig zu lang und zu spitz war, verliehen seiner Physiognomie das Gepräge eines entschiedenen Charakters. Seine Rede war klar, kurz und bestimmt, ohne Umschweife auf das Ziel gehend. Redlichkeit, Wahrheit und unerschütterlicher Muth bildeten den Grundzug seines Wesens. Was ihn aber vor allen seinen Zeitgenossen auszeichnete, war die ungebrochene Willenskraft, eine riesenhafte Energie, der Titanentrotz, der sich nicht vor den Götzen des Tages beugte. An diesem männlichen Trotz scheiterte Napoleon, zerstießen sich die deutschen Fürsten, denen er als geborener Freiherr mit offenem Visire entgegentrat, so oft sie ihn durch Hochmuth oder Feigheit erzürnten. Seine Grabschrift verkündigt nur die Wahrheit, wenn sie von ihm rühmt:

Demüthig vor Gott, hochherzig gegen Menschen,
Der Lüge und des Unrechts Feind,
Hochbegabt in Pflicht und Treue,
Unerschütterlich in Acht und Bann,
Des gebeugten Vaterlandes ungebeugter Sohn,
In Kampf und Sieg Deutschlands Mitbefreier

Ein Denkmal, das die dankbare Nachwelt ihm errichten wird, kann Er entbehren, der sich selbst ein ewiges Gedächtniß in seinem Volke errichtet hat; aber den Deutschen selbst thut es Noth, sich an dem Manne zu erheben, der ein geistiger Hermann als Befreier des Vaterlandes dasteht, alles Bösen Eckstein, alles Guten Grundstein, aller Deutschen Edelstein.

M. R.




Bilder aus dem Seeleben.
2. Das Schiffsgespenst.
(Schluß.)

Ein Ereigniß, das sich Tags darauf zutrug, setzte dem Ganzen die Krone auf.

Ein Matrose, Namens Larson, der ungeschickteste Bursche am ganzen Schiffe, stürzte beim Reffen von der Raa in’s Meer. Er konnte nicht schwimmen, und während das Boot losgemacht wurde, war er schon im Sinken – da tauchte vor meinen Augen und vor denen von etwa zwanzig Matrosen, die im Segelwerk hantirten, dicht hinter ihm Watson’s Kopf aus der See – Watson’s Arm umschlang ihn, Watson hielt den schon Bewußtlosen über dem Wasser, und als das Boot flott und an ihm war, war Watson wieder verschwunden – Larson aber gerettet. Es war in der That merkwürdig, unerklärlich. Außer mir und Mr. Smith gab es keinen Skeptiker mehr an Bord, und die Mannschaft befand sich in einem Grade von Aufregung und Furcht, der uns die höchste Besorgniß einflößte.

Aber die Krisis war nicht ferne. –

Die Sonne war im Untergehen. Ich lag wieder auf dem Sopha in meiner Kajüte, wie ich denn überhaupt mehr da als auf dem Verdeck war, und dachte über die Geschichte mit Watson nach; denn ich hätte das Schiff nicht gern verlassen, ohne der Sache, [606] die mich nicht wenig interessirte, auf die Spur gekommen zu sein. Wir hatten schön Wetter, das heißt, die Brise legte sich hübsch in die Segel und trieb die alte Patience stätig ihrem Ziel entgegen. Wir liefen wohl 6 Knoten – sehr viel für das wurmstichige Fahrzeug, das mich trug; morgen mußten wir in Portsmouth sein. So lag ich denn und sann nach, bis ein Schuß, der am Verdeck fiel, mich plötzlich aufschreckte. Es war der Allarmschuß der Schildwache; außer dieser hatte Niemand an Bord Feuerwaffen zur Hand. Im Nu war ich oben und stieß beinahe an Block, der sich nicht vom Flecke rührte und mit offenem Munde nach der Mastspitze starrte. Nie werde ich den Ausdruck des furchtbaren Entsetzens vergessen, welches sich auf seinem Angesicht spiegelte. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, und er holte mit Mühe Athem. Mein Auge folgte dem seinigen, und hoch oben am Vordermast, auf dessen Raa er stand, gewahrte ich Jack Watson – er verschmähte es, die Rückenpaarden als Stütze zu gebrauchen, und stand frei da, die Linke drohend gegen Block ausgestreckt, von dem Abendroth des Horizontes, von dem die Sonne noch nicht ganz verschwunden war, scharf, geisterhaft abstechend.

Ich sah wieder auf das Verdeck nieder. Dieses bot einen wirklich interessanten Anblick! auf allen Punkten des Schiffes zerstreut die Matrosen, alle nach der Erscheinung hinaufstarrend, Einer bleicher und erschrockener als der Andere; – an eine Speiche des Gangspills lehnend Mr. Bentham, dessen Schrecken vielleicht nur durch den des Hochbootsmanns übertroffen wurde; – Mr. Smith der Einzige, der seine Besonnenheit behalten hatte. Als ich hinaus kam, rief er eben nach seinen Pistolen; aber da war Keiner, der seinem Rufe Folge geleistet hätte. Ich trat zu ihm und ersuchte ihn um sein Sprachrohr, das er mir willig reichte. Ich setzte es an den Mund, kehrte die Mündung nach oben und schrie, was ich schreien konnte:

„Watson!!“

Wer sich nicht rührte, war Jack. Ich zog ein Pistol aus der Tasche und richtete es auf ihn.

„Komm ’runter, mein Junge!“ rief ich dann, „komm schnell, sonst müßt’ ich Dich holen,“

Auf dem weiten Raume des Verdecks hörte man nicht einen Laut, Alles wartete gespannt auf den Erfolg meines Anrufs. Dieser schien zu wirken, Jack rührte sich. Ich hätte meine Drohung gewiß unter keiner Bedingung ausgeführt; aber sie war ein Mittel, durch das meine Neugierde vielleicht befriedigt werden konnte, und daß von den Matrosen keiner sich auf die Oberbram-Raaen gewagt hätte, um ihn festzunehmen, darauf hätte ich ohne Zögern 100 Pfund gegen 2 Pence gewettet. Ich wiederholte meinen Ruf. Jack wiegte sich noch einen Augenblick auf seiner Raa, dann glitt er schnell wie ein Gedanke nach den Sahlingen der Bramstenge, ohne daß ich bemerken konnte, wo er sich hielt, ergriff hier das Marssegel-Drehreep und schoß daran hinunter; – ein Satz, und er stand mitten unter den Matrosen, die nach allen Seiten auseinanderstoben. Er sah bleich und hager aus, seine Miene aber zeigte nichts von Furcht oder Niedergeschlagenheit. Festen Schrittes ging er auf Mr. Bentham zu, der bis zum Quarterdeck vor ihm zurückgewichen wäre, wenn ihn die Ankerwinde nicht gehindert hätte, blieb dicht vor ihm stehen, langte wieder nach seinen triefenden Haaren und sagte mit tiefer Stimme:

„An Bord gekommen, Sir.“

Mr. Bentham vermochte kein Wort zu erwidern und glotzte Watson unverwandt an; man sah und hörte seine Zähne klappern. Da trat Mr. Smith rasch vor, und indem er Jack am Rockkragen faßte, rief er den Matrosen zu:

„Kommt her, ’n Paar von Euch! Nehmt mir den Ausreißer da ab.“

Aber Keiner machte Miene, zu gehorchen. Es war in der That ein eigenthümlicher Anblick, wie der Delinquent, die auf seinen Schultern lastende Hand völlig ignorirend, mit ruhigem Lächeln die Seeleute betrachtete, die vor ihm zurückbebten, den sie ergreifen sollten. Aber Mr. Smith verlor die Geduld. Er rief vier der Matrosen beim Namen auf, und diese traten denn scheu und zögernd vor. Der erste Lieutenant feuerte sie fluchend an, sie mußten Hand an Jack legen, der zu ihrem unbegrenzten Erstaunen ihnen nicht unter den Fingern verschwand; unter Mr. Smith’s Aufsicht ward er dann nach einer kleinen Zelle hinuntergeführt, die als Gefängnißraum diente, in Fußeisen und Handschellen gelegt und wohl eingeriegelt. Dann kam Mr. Smith mit seinen vier Mann wieder herauf, näherte sich Mr. Bentham und redete ihn folgendermaßen an:

„Bitte um Instructionen, Sir, Watson ist gut verwahrt. Soll er nach aller Form morgen verhört werden, oder gleich jetzt ein Paar Dutzend bekommen – zum „Kosten“? Das würde die Leute von ihrer eselhaften Furcht curiren.“

„Wa – was, Kosten!“ stotterte Mr. Bentham, der seine Käsefarbe noch immer nicht verloren hatte, und eben an Block’s Schicksal denken mochte. „Ich habe den Teufelsspuk satt. Wer hieß Sie ihn hinunterführen, Sir? – Wie?“

„Ich dächte, Sir –“

„Ni – nichts da. Lassen Sie ’n herauf – vielleicht springt er wieder über Bord. Werft ihn über Bord, wenn er nicht selber springt. Aber ich will ihn – ich mag –“

Ich trat nun gleichfalls hinzu, um Mr. Smith zu unterstützen, und unserem beiderseitigen Zureden gelang es, des würdigen Capitains Aufregung einigermaßen zu beschwichtigen. Mr. Smith begab sich nun sogleich nach der Gefangnenkammer, um Watson in’s Gemüth zu reden; denn es war wichtig, daß er offen gestand, wie er seine Kunststückchen ausgeführt – wurde der Schiffsmannschaft ihre Gespensterfurcht nicht benommen, so desertirte gewiß die Hälfte, so wie wir im Hafen lagen.

Rathlos kam der Lieutenant wieder herauf. Watson hatte auf all’ seine Fragen, auf all’ sein Drohen und Fluchen auch nicht eine Sylbe geantwortet. Mr. Smith war wüthend: auf eine solche Verstocktheit hatte er nicht gerechnet.

Ich entschloß mich, mein Glück gleichfalls zu versuchen, und begab mich mit seiner und des Capitains Zustimmung zu dem Gefangenen hinunter. Ich muß gestehen, ich war gespannt und aufgeregt – mehr, als es sich für einen Lieutenant, einem simpeln Matrosen gegenüber, ziemen mochte.

Ich trat in die Zelle und rief Jack, der mit dem Rücken gegen die Thüre gekehrt saß, beim Namen.

Mr. Smith hatte seine Maßregeln gut getroffen. Er hatte die Luke, die in halber Mannshöhe über dem Fußboden angebracht war, fest verschließen und verrammeln lassen und dem Gefangenen ein Stümpfchen Licht dagelassen, welches den schmalen Raum kärglich erleuchtete. Quer über den Boden ging eine eiserne Stange; an ihr waren zwei runde Spangen angebracht, in welche Jack’s Füße eingeklemmt waren. Seine Hände staken in einem einzigen eisernen Ringe, der ihnen nicht die geringste Bewegung gestattete.

Er wandte schnell den Kopf, als er meine Stimme hörte. „O, Sir!“ flehte er mit unterdrückter Stimme, „aus Barmherzigkeit, öffnen Sie schnell die Luke – ich muß sonst ersticken.“

Es war in der That sehr dumpfig und schwül in der engen Zelle, aber ich wunderte mich, daß eine solche Kleinigkeit einen Mann von Watson’s Constitution belästigen konnte. Indessen erfüllte ich seinen Wunsch, schob den Riegel weg und ließ die frische Luft hineindringen.

„Tausend Dank, Sir!“ seufzte Jack und ließ den Kopf matt auf die Brust herabsinken.

Ich trat dicht vor ihn hin. „Jack!“ Er schwieg. „Es scheint, Du willst mich wie Mr. Smith behandeln. Ist das Deine Absicht, Jack? – Du schweigst? Gut denn. Ich will Dich Deinem Schicksale überlassen. Ich habe Dich oft gegen Block, heute erst gegen den Capitain in Schutz genommen; ich hätte es morgen wieder gethan –“

„Dafür danke ich Ihnen heute, Sir.“

„Willst Du mir Rede stehen?“

„Nein, Sir,“ sagte Jack, in seine frühere Apathie zurücksinkend.

„Nun, dann sind wir fertig miteinander,“ sprach ich, nun wirklich aufgebracht. „Ich war Dir zugethan, weil ich Dich für ’nen braven, aufrichtigen Burschen hielt – aber ich habe mich getäuscht. Du bist undankbar ... Du hast Alles nur zum Narren halten wollen, mich ebenso, wie die Matrosen...“

„Das sind harte Worte, Sir!!“

„ ... und die Geschichte, durch die Du meine Theilnahme erregtest, wird wohl auch nur ein Kunstgriff sein...“

„Nein, o nein, Sir! Ich will ’n schlechter Dieb sein, wenn ich Ihnen ’was vorgepinselt habe. Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir? Und Was haben Sie davon, wenn mir Block – daß ihn Gott verdammen möge! – die Fetzen vom Rücken haut, nachdem ich Alles auseinandergesetzt habe, was Sie wissen wollen, Sir?“

[607] Meine Neugierde war stärker, als mein Eifer für das Wohl der Patience, darum zögerte ich nicht, ihm mein Wort zu geben, daß ich ihn nicht verrathen wolle.

„Wenn ich ein Wort sage, was Dir schaden kann, Jack, so schilt Deinen Lieutenant einen Spitzbuben. Ich will aus Deinem eigenen Munde hören, wie Du’s angefangen hast, die ganze Mannschaft so lange an der Nase herumzuführen.“

„Ich will’s Ihnen erklären, Sir. Sie sollen mich nicht un- undankbar – o, o!“ Er unterbrach sich, indem er schmerzhaft das Gesicht verzog und die gefesselten Hände heftig schwenkte

Ich fragte, was er habe.

„O, Sir!“ stöhnte er, „das Eisen schneidet ein. Verdammt! Ich glaube, die Hände fallen mir ab.“

Ich überlegte nicht lange, und da ich die Fußeisen für mehr als hinreichend hielt, ihn festzuhalten, so langte ich den Schlüssel herab, der über der Thüre hing, und befreite den Armen von dem eisernen Armband.

„Danke herzlich, Sir,“ sagte er, indem er die Arme schlenkerte. „Und nun will ich – aber, Sir – nicht wahr, Sie werden mir nichts in den Weg legen, mag geschehen, was immer?“

„Ich verspreche Dir’s.“

„Nun, so hören Sie, Sir. Wie Sie mich damals fragten, was ich in Boston getrieben, da sagt’ ich’s nicht: ich dachte, vielleicht sei’s besser so. – Ich bin von meinem achtzehnten Jahre an Schwimmmeister gewesen, Sir, und hab’ mich mein Lebtag gut auf mein Handwerk verstanden. Ich glaube nicht, daß mir’s irgend Einer so leicht im Schwimmen und Tauchen zuvorthut – ebensowenig im Klettern. – Ich hatte schon lange so ’ne Art Plan im Kopfe: ich wollte verschwinden und dann bei der ersten Gelegenheit an’s Land schwimmen. Wie ich nun über Bord plumpte, dachte ich nicht an meinen Fall, denn das Wasser fürchtete ich nicht, sondern es flog mir ’n Gedanke durch den Kopf, als wär’ das gerade ’ne gute Gelegenheit. Der Krahnbalken versetzte mir wohl ’nen tüchtigen Puff, aber das genirte mich wenig. Ich sank ganz lustig, steckte den Kopf noch einmal über’s Wasser, um Block die Faust zu zeigen, dann tauchte ich unter und schwamm zum Stern der Patience. Dort, Sir –“

„Nun?“

„Dort war des Capitains Fischkasten angebunden. Das hatte ich lange früher bemerkt. Der Koch hatte längst den letzten Fisch herausgenommen und in Boston keinen frischen Vorrath gefaßt, der Kasten war also leer –“

„Ah!“

„Und da er durch den Vorsprung an der Hintergallerie verdeckt war und Niemandem im Wege stand, so dachte auch kein Mensch daran und ließ ihn ruhig nachschleppen.“

Mir begann ein ungeheures Licht aufzugehen.

„Dort schwamm ich hin, Sir. Ich schob den Deckel auf und sprang in den Kasten; die Gucklöcher rechts und links verstopfte ich mit ein Paar Fetzen von meinem Gürtel. Das Zeug ging nun zwar ein bischen tief, sickerte auch immer ’n bischen Wasser herein, aber das machte nichts.“

„Aber wie stelltest Du’s an, den Blicken Mr. Smith’s und der Matrosen zu entgehen, die Dich suchten?“

„Ruderten sie Backbord, schwamm ich Steuerbord. In den Fischkasten sprang ich erst, als sie wieder an Bord waren. Da haben Sie das ganze Geheimniß, Sir.“

„Wir sind noch lange nicht zu Ende, mein Junge. Wie hast Du’s denn in dem Fischkasten so lange ausgehalten? Und vor Allem, wo hast Du Speise und Trank hergenommen?“

„Was das Aushalten betrifft, Sir, das hat wenig auf sich; ich bleibe vierundzwanzig Stunden im Wasser, auch wenn ich kein Bret unter den Füßen habe. Und das Andere wußte ich mir leicht zu verschaffen. Ich schwamm Nachts an die Schiffsseite, klomm daran hinauf – ich wußte es gut, daß die Schildwachen der Patience öfter schlafen, als wachen – und sprang durch die offene Luke in die Cambüse, aus der ich mir Vorrath holte, von Allem ein wenig, damit der Koch nichts merke. Einmal freilich war die Luke geschlossen, da trieb mich der Hunger an Bord. Das war erst unlängst. Ich kam glücklich und unbemerkt unter Deck, bis vor des Capitains Kajüte, da hörte ich Jemanden kommen. Ich duckte mich an den Boden, und als er um die Ecke bog – es war Jones – stand ich plötzlich auf. Ich meinte, den Kerl müsse der Schlag treffen, so entsetzt sah er aus. Er warf die Schüsseln von sich und rannte wie besessen.“

Ich begriff nun, wie so Jones Watson’s Geist hatte aus dem Boden steigen sehen.

„Dann kam gar der Capitain heraus; ich ließ mich aber nicht abschrecken, sondern ging geradewegs in die Cambüse, wo zum Glück Niemand war. Aber kaum hatte ich mich verproviantirt und ein Glas Whisky geleert, so kam der Koch. Ich hatte nichts mehr zu suchen, und meinen Vorrath wohl verwahrt; die Luke hatte ich wohlweislich früher aufgemacht, ich sprang nun hindurch und schwamm zu meinem Fischkasten, wo ich das Erbeutete ruhig verzehrte. Das Salzen konnt’ ich mir ersparen.“

„So weit wären wir im Klaren. – Und die Geschichte mit Block?“

„Die freut mich noch am meisten unter Allem, was ich angestellt habe, ’s war’n bischen gefährlich, aber ich konnt’ mir’s nicht versagen, gleich in der ersten Nacht einen Abstecher nach seiner Koje zu machen. Ich jagte ihm einen tüchtigen Schrecken ein, würgte ihn ein klein wenig, und wie ich mein Müthchen an ihm gekühlt hatte, lief ich davon. Unvorsichtig war ich nur ein einziges Mal, das war, wie Larson über Bord fiel. Ich tauchte unter und hinter ihm wieder auf, Alles im ersten Feuer. Damals hatt’ ich Angst, man möchte mir auf die Spur kommen; ich wunderte mich, daß es nicht geschah.“

Ich selbst wunderte mich jetzt darüber; es schien mir unbegreiflich, daß es uns nicht eingefallen war, auch die Außenseite des Schiffes zu untersuchen – und doch, wer sollte daran denken?

„Mir ist nun Alles klar, Jack,“ sagte ich, als er Miene machte, sich müde am Boden auszustrecken. „Aber noch Eins. Sage nur, was wolltest Du mit all dem Hokuspokus? Was sollte Dir das Alles nützen, wenn Du beabsichtigtest, Dich am Ende selbst wieder auszuliefern, und zwar, Du Unglücksvogel! gerade in einem Augenblicke, wo wir kaum ein paar Meilen von Portsmouth sind?“

„Wenn ich das gewußt hätte, Sir! Aber das ist’s ja eben, was mich mit Verzweiflung erfüllt. – Ganz zuerst wollt’ ich nur Block ein wenig erschrecken, und dann wieder an Bord kommen; nachgerade gefiel mir’s aber, die Mannschaft so in Schach zu halten, und ich nahm mir vor, bis Portsmouth auszuhalten.“

„Und warum führtest Du Dein Vorhaben nicht aus?“

„Ich bildete mir ein, Sir, in zwei Tagen längstens würden wir dort sein, vielleicht gar in einem; ich Dummkopf hatte nie darüber nachgefragt. Nun wurden mir die Strapazen zu groß, im Fischkasten konnt’ ich mich nicht rühren, schwimmen mocht’ ich auch nicht in einem fort, und so entschloß ich mich denn, mich dem Capitain zu stellen. Todtschlagen wird er Dich nicht, dacht’ ich. – Als die Leute eben am Besahnmast beschäftigt waren, kletterte ich zum Bugspriet hinauf, lief schnell zum Vormast hin – hell war’s nicht sehr, und wenn mich schon Einer sah, so hielt er mich für einen von den Leuten – ich stieg hinauf und blieb oben stehen, bis mich Einer sah und den Anderen zeigte. Das Uebrige wissen Sie selbst, Sir. Und nun, wie sie mich herunterführen, höre ich Mr. Smith zu Dukes sagen, er solle des Capitains Gig in Bereitschaft setzen, weil wir so gut wie im Hafen seien – ich meinte, der Donner erschlage mich. Wir sind wohl nicht mehr weit vom Land, Sir?“

„Armer Junge! Näher als ich selber dachte. In einer halben Stunde können wir vor Anker liegen.“

„Und was wird’s wohl mit mir, Sir?“

Ich zuckte die Achseln. „Ich will mein Möglichstes thun, Dir zu helfen – von meiner Seite soll Dir gewiß nichts in den Weg gelegt werden...“

„Ich halte Sie beim Wort, Sir!“

„... aber Mr. Smith – es thut mir leid um Dich.“

„Der Capitain wird mich nicht freilassen?“

„Gewiß nicht.“

„Ganz gewiß nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann will ich mein eigener Capitain sein, Sir,“ sagte Jack und mit einem Ruck stand er vor mir auf den Füßen.

Ich prallte erschrocken zurück und sah verblüfft nach den Fußeisen; sie standen offen. Als ich wieder aufblickte, war Jack an der Luke.

„Ich erinnere Sie an Ihr Wort – Gott erhalte Sie, Sir!“

Und ehe ich einen Schritt vorwärts thun konnte, war er durch die Luke und unter dem Wasser. –

[608] Ich war überlistet und mußte gute Miene zum bösen Spiel machen. Wie er sich von den Fußeisen befreit hatte, ist mir noch heute nicht klar. Waren seine Füße ungewöhnlich klein, oder die Ringe zu groß – jedenfalls war es schon geschehen, als ich in die Kammer trat, und er hatte seine Beine nur pro forma wieder hineingesteckt, um mich zu täuschen, was ihm nur zu wohl gelungen war. Ich verschloß die Luke so wie auch die Fußschellen – nicht ohne über meine eigene Einfalt zu erröthen. Dann ging ich auf’s Verdeck zurück und berichtete Mr. Bentham vor den Ohren der ganzen Mannschaft sehr ernsthaft und der Wahrheit gemäß, Watson sei vor meinen Augen aus seinen Fesseln geschlüpft und durch die Luke in’s Wasser gesprungen, ohne daß ich ihn habe zurückhalten können.

Der Capitain gab sich gern und willig zufrieden. Es fiel ihm nicht ein, nachzuforschen, ob die Luke offen oder verschlossen gewesen war. Mr. Smith hingegen sah sehr ungläubig aus und blieb es, bis ich ihn einmal später in einem Londoner Kaffeehause traf und ihm die ganze Sache aufklärte.

Als wir in derselben Nacht vor Portsmouth Anker warfen, deutete Mr. Bentham, der neben mir am Backbord stand, nach einem dunklen Gegenstand, der vom Stern der Patience aus rasch dem Lande zutrieb, durch Nacht und Nebel kaum bemerkbar, und sagte:

„Da treibt was ab, Sir – aber es lohnt sich nicht, nachzuseh’n. Vermuthlich ’n Stück Spiere, ’ne leere Tonne oder so was.“

Ich wußte es besser.




Im Spreewalde,
Branitz und Muskau.
Ein illustrirter Ausflug von Ludwig Loeffler.
(Fortsetzung.)

Heut war es lebendiger im Walde; man mähte Gras, schlug Holz, und oft glitten beladene Kähne an uns vorüber und das „guten Morgen“ am Werkeltage klang mir frischer, als an dem Tage vorher. Nach manchen Kreuz- und Querfahrten kamen wir auf die Mutnitza, den Hauptstrom, der trotz seiner Breite dem Schiffer die meisten Schwierigkeiten macht. Er ist an vielen Stellen sandig und seicht, und oft mußten wir an das hier beinahe unwegsame Ufer, um eine Strecke zu Fuß zurückzulegen. Aber es war doch so schön in dem dickbelaubten, kühlen Urwalde, unter den mächtigen Eichen, Buchen und Erlen, unter denen schon, Gott weiß wer, vielleicht der Wendenfürst Jasko, sein Wesen getrieben haben mag, und die Vögel piepten so lustig über und um uns und Legionen von Sumpfthieren umraschelten uns, aufgeschreckt von dem ungewohnten Feinde. Gegen 10 Uhr gelangten wir endlich an einen Ruheplatz, zu den „drei Eichen“, bei welchen die „Eichschenke“ durch seine corpulente Wirthin ein großes Verdienst für verschmachtende Reisende entwickelt. Ich weiß von meinen medicinischen Freunden nicht, ob und in welcher Quantität genossen saure Milch schädlich auf die menschliche Natur einwirkt, so viel aber glaube ich jetzt nach dem Bottich voll in der Eichschenke zu wissen, daß das Resultat auch der allergrößten Portion mich nur am Fortbewegen meiner Person hindern, sonst aber durchaus keinen Nachtheil erzeugen würde. Etwas schwerfällig saß ich auf unserer Bank im Kahn allerdings, als wir weiter fuhren den Strom hinauf, und die Transpiration, als wir wieder in der vollen mittäglichen Sonne schwelgten, war auch wohl einer besonders großen Anhäufung von Flüssigkeit zuzuschreiben. Bekanntschaften hatten wir auch gemacht und uns Freunde erworben, denn die Hunde der Eichschenke begleiteten uns noch ein gut Stück durch das Wasser.

Von der Grasmaht.

Die Waldung hört auf – größere bebaute Felder schließen die Spree ein, und uralte, mächtige Baumstämme unter denselben deuten noch auf die einstige, vor Jahrhunderten bestandene Verbindung mit ersterer. Unweit der Straubitzer Buschmühle endete unsere Fahrt. Ein Bauerngehöft war der Ort, wo wir unsern treuen Polenz entließen und gastliche Aufnahme für einige Stunde fanden. Wie überall im Spreewalde ein sehr wohlgebildeter Menschenschlag zu finden, dem eine außerordentliche Reinlichkeit als Folie dient, so fanden wir auch heut ein paar sehr hübsche Mädchen in einer höchst bescheidenen, aber sauber gehaltenen Wohnung. Mir kommen diese einzelnen Besitzer wie die amerikanischen Colonisten vor, wo jedes Mitglied angewiesen ist, für das Ganze seine Kräfte aufzubieten, denn ein Theil der Kinder kehrte soeben vom Grasmähen zurück und trug dasselbe ein; eine der Töchter war in den Ställen beschäftigt, eine andere fanden wir in der Küche, die hier das Entrée des Hauptgebäudes bildet, während der Vater Einkäufe in der Stadt Cotbus besorgte und sich erst später einfand. Der bringt denn von solchen Ausflügen so manches Neue mit nach Hause, da sonst ziemlich selten ein Geräusch der Welt zu diesen Amphibien dringt. Als wir den 15–16jährigen Sohn dieser Familie fragten, ob er denn in seinen Mußestunden Bücher lese, antworte er ebenso gut „nein“ wie auf die Fortsetzung der Frage „auch keine Zeitung?“

Es saß sich aber vortrefflich vor dem niedrigen Hause mit der runden Steinstufe vor dem niedrigen Eingänge, und Weinranken, Georginen und Malven waren ein so schöner Schmuck des kleinen sonnigen Gärtchens daneben, wie ihn nur eine Prachtvilla haben kann. Hammel, Katze, Hund und Cochinchinahahn beneideten sich nicht den dürftigen Rasenfleck, sondern genossen ihn zusammen und machten sich die südliche Mittagshitze zu Nutze.

Pferde hatten wir seit unserem Postbedarf nicht mehr gesehen, daher erschien uns die Frage unseres Wirthes fast wunderbar, ob wir nicht nach Cotbus, wohin uns die Wanderlust trieb, fahren wollten. Wir zogen es aber vor, obigen 16jährigen Sohn als Begleiter anzunehmen, und machten uns mit ihm gegen drei Uhr auf den Weg, den wir auch trotz gemietheten Wagens in drei Viertelstunden zu Fuß hätten zurücklegen müssen. Das Terrain vor Burg, zu dem unser soeben erreichter Rastort schon gehörte, umfaßt fünf Meilen, und nach dem Kern desselben, gleichsam der Hauptstadt (dem Einäugigen unter den Blinden), richteten wir unsere Schritte.

Der Fußpfad führte durch grüne Wiesen und Stoppelfelder, in welchen letzteren die fleißigen Leutchen hackten und die Stoppeln einzeln mit den Händen herauszogen. Unser junger Führer berichtete uns über die, wenigstens für uns, neue Erscheinung, daß mit dem Korn zugleich der Rübensamen gesäet würde, daß die Rübe im Wachsthum zurückbleibe und ihr nun, nach beendigter Ernte des ersteren, durch das Entstoppeln Platz gemacht würde; die großen Haufen solchen kurzen, ausgerodeten Strohes werden als Streu in den Ställen verwendet. Ueberall erblickt das Auge die patriarchalischen [609] Gehöfte, aber jetzt seltener durch Gräben getrennt, und wenn dies der Fall, wenigstens durch eine Art von Brücken verbunden, die von Jedem, der sie betritt, ein gewisses Talent für den Seiltanz beanspruchen.

Nur selten gewährte uns auf dieser Wanderung ein Busch den so sehr bedürftigen Schatten. Immer mehr häßliche, sandige Flecken stellten sich zwischen verbrannten Feldern ein, und unsere gute nordische Kiefer, die man in dem ganzen Spreewalde vergebens sucht, findet wieder einen ihr günstigeren Boden.

In dem Hauptdorfe Burg, das zusammenhängend wie unsere übrigen Dörfer erbaut ist, und in einem so trostlosen Sande liegt, wie ihn nur die gute Lausitz aufzuweisen hat, wurde unser Junge zurückgeschickt, und nach kurzer Rast in der schattigen Laube eines Gasthauses traten wir unsere Weiterreise an.

Im Felde.

Wenn alle Strauße der Welt sich vereinigten, um durch Majorität zu entscheiden, wo ihnen der liebste Sommeraufenthalt in Deutschland sein möchte, so würde durch Stimmeneinheit die Partie zwischen Gülden und Cotbus gewählt werden, und wenn das Kameel „das Schiff der Wüste“ genannt wird, so weiß ich nicht, ob wir nicht einiges Anrecht auf diese (wenigstens auf die poetische) Bezeichnung zwischen Gülden und Cotbus bekamen. Brennende Sonne, Kieferngehölz, in dem sich die Hitze wie zur Conservirung bis zum nächsten Sommer gelagert, und zolltiefer Mehlsand versetzten uns in einen Zustand, der nicht zu beschreiben ist; und wenn wir gelegentlich stille standen, um einige warme Luft zu schnappen, so war der gegenseitige Anblick so ganz neu, so durchaus dem eigentlichen Individuum unähnlich, daß wir in ein Lachen der Verzweiflung ausbrachen. Nach vierstündigem Wege endlich erschien uns wie ein Himmelszeichen die sehnsüchtig erwartete Spitze des Cotbuser Thurmes, und bald verrieth uns eine halb verkommene Eisenbahn, auf der in der Ferne ein von einem Pferde gezogener Waggon brummte, die Nähe der Stadt.

Die Dämmerung war angebrochen, als wir in einem ziemlich fremdartigen Aufzuge in die Mauern eintraten und in dem Gasthof zum Bären endlich Erquickung und zuletzt auch Ruhe fanden, als ein Paar renommistischer Commis voyageurs das Gastzimmer verlassen hatten.

In Burg.

Eine halbe Stunde von Cotbus liegt Branitz, der jetzige Aufenthalt des Fürsten Pückler. Der Weg dorthin, den wir am Morgen des nächsten Tages einschlugen, geht theilweise durch einen ziemlich schattigen Gang junger Eichen, Birken und Akazien, welche von dem aristokratischen Gärtner angelegt wurden, um nach dieser Seite hin die öden Felder zu decken, und dem eigentlichen Parke ein mächtigeres Ansehen zu geben. An dem eigentlichen Eingange desselben befindet sich ein Pförtnerhäuschen und eine „Bekanntmachung“, in welcher unter anderem gebeten wird, die Stöcke und Schirme beim Portier abzuliefern und daß die Parkwächter kenntlich an ihren Uniformen sein würden. Ich glaube, Ersteres ist eben nur so hin gesagt wie das Letzte, da die einzigen Uniformen, welche ich sah, die des Aufsehers über einige Erde karrende Gefangene (6 Sgr. pro Tag) und die des Verordners, als Semilasso, in der Parkschenke war. Der Weg zu dieser wird Einem neben der Warnungstafel sehr freundlich durch einen Pfeil angezeigt, man findet sich aber ziemlich unangenehm berührt, wenn man, bei derselben angekommen, sieht, daß man wieder das Parkgehege verlassen und auf recht deutliche Weise hinausgeworfen ist. Wir ließen uns jedoch durch diese Sorte von Wink nicht stören und kehrten uneingeschüchtert um.

Das ziemlich bedeutende Schloß, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, ist durch eine süperbe Umgebung dem neueren Geschmack etwas näher gerückt. Eine glänzende Blumenterrasse mit vergoldetem Treppengeländer schmückt den Fuß der Hauptfront des Gebäudes, vor welcher sich wiederum ein Plateau ausbreitet, das in der Mitte mit einem runden Beete kostbarer Blumen geschmückt ist und durch eine halbrunde, reichbewachsene Pergola den dahinter liegenden Oekonomiehof verdeckt. Mythologische Basreliefs in rothem Thon und in Bronze nachgebildete Antiken zieren das Innere derselben, während das große vergoldete fürstliche Wappen in deren Mitte die Harmonie geistig wie materiell stört. Schattige, melancholische Plätze, reizende Blumenfelder und Schwanenteiche nehmen unmittelbar die anderen Seiten des Schlosses ein, in welchen Anlagen der preußische Adler, hier in Thon zu Hunderten um ein Beet, dort vergoldet auf dem Frontispice einer Laube eine ziemlich kleinliche und seiner nicht würdige Rolle spielt. Eine Allegorie höchst eigenthümlicher Art bildet die Spitze des sogenannten Kiosk’s (einer Drahtlaube): eine Schlange windet sich zu einem Sterne hinauf, kann denselben aber nicht erreichen. Ich weiß nicht, ob der moderne Odysseus einen Grund für das Reptil hat, das Recht auf den strahlenden Himmelskörper würde ich dem Urtheile Anderer überlassen.

Denn daß der Staubgeborene vergebens nach der Schönheit strebt, diese allgemeine Auslegung kann wohl in solcher Schöpfung unmöglich Anwendung finden. Hier zu bescheiden – dort zu anmaßend; – wo bleibt die rechte Mitte?

(Schluß folgt.)
[610]
Die beiden Doppelgänger.
Von Fr. Gerstäcker.
(Schluß.)

„Das glaub’ ich Ihnen“, lachte der junge Arzt – „ich habe die Sache selber nicht verstanden und bin ihr endlich aus dem Weg gegangen, um einmal ein Alibi beweisen zu können. Doch ich will Ihnen einfach erzählen, wie sich Alles zugetragen, und dabei gleich von vornherein bemerken, daß ich meinen Doppelgänger nie von Angesicht zu Angesicht gesehen habe.“

„Und woher wissen Sie da, daß er überhaupt existirt?“ frug Köllern.

„Darüber hat er mich nicht im geringsten in Zweifel gelassen,“ lautete die Antwort – „hören Sie!

„Schon vor zwei Jahren war ich einmal in meiner Heimath in Gesellschaft, und das Gespräch kam auf ein sehr theueres medicinisches Werk, das ich mir gern angeschafft hätte, wenn es nicht zu kostspielig gewesen wäre. Ich äußerte auch etwas Derartiges, wenn ich nicht irre, und Sie können sich meine Ueberraschung denken, als ich etwa acht Tage später das Werk von der Verlagshandlung zugesendet bekam. Ich glaubte erst, es sei von irgend einem der Gesellschaft eine Ueberraschung, und zerbrach mir schon den Kopf, wem ich dieselbe könne zu verdanken haben, aber darüber sollte ich bald eines Besseren belehrt werden. In dem letzten Band lag die Rechnung mit dem Bemerken dabei, wie es bei Buchhändler-Rechnungen gewöhnlich Gebrauch ist: auf Verlangen. Ich konnte jetzt nicht gut anders denken, als daß sich einer meiner Freunde einen Scherz gemacht habe, das Buch für mich zu bestellen, schrieb also an den Buchhändler zurück, ich bedauere sehr, von dem Werk keinen Gebrauch machen zu können, und würde es ihm, um ihm Kosten zu ersparen, durch Buchhändler-Gelegenheit remittiren. An mich hatte er es unfrankirt per Post gesandt. Mit nächster Post bekam ich dagegen einen Brief, daß sich die Buchhandlung sehr wundere, da das Buch nur auf meine eigene feste Bestellung an mich gesandt sei, sie es übrigens zurücknehmen wolle, wenn es mich gereue. Dabei schickten sie mir einen Brief, auf den ich selber geschworen hätte, daß ich ihn geschrieben, und in welchem ich, mit meiner Unterschrift und meinem Siegel, um das Werk bat. Natürlich behielt ich es jetzt, konnte mir aber die Entstehung des Briefes nicht enträthseln.

„Nach einiger Zeit gehe ich einmal durch die Hauptstraße unserer Residenz, und sehe in dem einen Laden ein wundervolles Schreibzeug stehen, das mir außerordentlich gefiel. Da ich aber voraus wußte, daß es zu theuer für mich sein würde, erkundigte ich mich nicht einmal nach dem Preis, sondern ging weiter. An demselben Nachmittag, ohne daß ich mit einem Menschen eine Sylbe darüber gesprochen hätte, und ich dachte in der That nicht einmal mehr an das Schreibzeug, kommt ein Lehrling und bringt es mir mit in’s Haus. Ich fragte, auf’s Aeußerste erstaunt, wer es schicke, er wußte es aber nicht zu sagen, fragte, ob ich es nicht selber gekauft habe, und meinte, als ich es verneinte, es würde wohl ein Geschenk sein. Da ich Niemanden daheim hatte, von dem ich ein so kostbares Geschenk erwarten konnte, wollte ich es wieder zurückschicken; der Bursche behauptete aber, weiter keine Ordre zu haben, als es an mich abzugeben, und trollte ab.

„Wäre mir nun nicht die Geschichte mit den Büchern kurz vorher passirt, so hätte ich das Schreibzeug ganz ruhig als ein Geschenk behalten und mich vielleicht im Tageblatt bei dem unbekannten Geber bedankt. So war ich aber mißtrauisch geworden, ging den Nachmittag in den Laden, mich näher zu erkundigen, und erfuhr hier zu meinem Staunen, daß ich selber an dem Morgen dort gewesen wäre und das Schreibzeug gekauft habe. Ich fragte lachend, ob ich es auch bezahlt hätte, das verneinte aber der junge Mann im Geschäft und meinte, das hätte ja auch nichts zu sagen, Neujahr würde ich die Rechnung schon bekommen. Ich wollte jetzt leugnen, daß ich das Schreibzeug verlangt haben könne, ein anderer Commis aber und der erste Lehrling traten als Zeugen gegen mich auf und versicherten auf das Bestimmteste, mich selber hier gesehen zu haben, wie ich das Schreibzeug erstanden. Ich wurde jetzt ärgerlich und grob, denn ich hielt es für eine neue und schmähliche Art von Prellerei, verweigerte auch direct die Annahme; der Kaufmann aber bestand darauf, daß ich es behalten müsse, da er es sonst eine halbe Stunde später, als es eben eingepackt werden sollte, an einen Engländer hätte verkaufen können. Als ich es trotzdem zurückschickte, verklagte er mich, die Leute im Laden beschworen ihre Behauptung, und das Ende vom Lied war, daß ich das Schreibzeug und die Kosten bezahlen mußte.

„Aber das war noch nicht Alles. Von der Zeit an brauchte ich nur einen Wunsch auszusprechen, und ich konnte fest überzeugt sein, daß ich am nächsten Tage das Gewünschte, mit der Rechnung natürlich, zugeschickt bekam. Aus Hamburg und Oesterreich kamen sogar ein paar Mal Sachen mit Postnachnahme und ich sah jetzt die Wahl vor mir, durch die Gutmüthigkeit meines geheimnißvollen Quälgeistes entweder in Schulden oder in eine Unzahl von Processen und Unannehmlichkeiten gestürzt zu werden.

„Ich erließ allerdings eine Erklärung in den Zeitungen, mir selber auf meinen Namen nichts zu borgen, aber die Leute hielten es für einen Witz, bis ich das letzte Mittel ergriff, mich diesem unheimlichen und lästigen Verfolgungen zu entziehen. – Ich wanderte aus, ließ, hier in Californien angelangt, meine Ankunft augenblicklich durch das Gericht constatiren und beglaubigen, melde mich dabei jedesmal, so oft ich nach San Francisco komme, und lasse mir meinen hiesigen Aufenthalt quittiren, wünsche mir dabei fortwährend mächtige Klumpen Gold und will jetzt einmal sehen, was mein Doppelgänger in Deutschland indessen anfangen wird.“

Während die Uebrigen laut über diesen wunderlichen und so auf anderer Leute Kosten gefälligen Doppelgänger lachten, richtete sich Meier plötzlich auf, schützte seine Augen mit der Hand vor der Flamme und sagte: „Geht da nicht Schütz?“

Köllern drehte sich rasch um und erkannte ebenfalls seinen schwermüthigen Freund, der langsam an ihrem Feuer vorüber, ohne sich jedoch nach ihnen umzusehen, zum Zelt hinaufschritt. Dort oben brannte Licht, und Köllern hätte darauf schwören wollen, daß er noch vor wenigen Secunden, als er zufällig hinaufgesehen, den Schatten des Zelteigenthümers an der Leinwand bemerkt habe. – Wie war es möglich, daß er in dieser Schnelligkeit und unbemerkt von ihnen an den Bach hinunter gekommen war und schon von dort zurückkehren konnte?

„Was mag der da unten gemacht haben?“ sagte Meier.

„Er hat gewiß Trinkwasser geholt“, sagte ein Anderer.

„Guten Abend könnt’ er aber doch wohl wünschen!“ brummte Restiz, „das wäre wenigstens nicht mehr, als sich für einen Nachbar schickt und gehört.“

„Bst,“ sagte Meier und faßte Köllern’s Arm. – Oben aus dem Zelt drangen laute Worte zu ihnen nieder.

„Er spricht mit sich selber“, sagte Pauig.

„Ja, wie es scheint, macht er sich selber die schönsten Grobheiten“, lachte Restiz.

Plötzlich war Alles ruhig und Köllern, der mit peinlicher Spannung den Lauten gehorcht hatte, wollte sich eben wieder zum Feuer niedersetzen, als oben im Zelt ein Schuß fiel.

„Großer Gott!“ rief er, erschreckt emporfahrend, „was ist das?“

„Dem ist oben ein Gewehr losgegangen“, sagte Pauig – „oder er hat vielleicht nach einem Knyota[1] geschossen. Die Racker kommen ja oft am hellen Tag zwischen die Zelte und stehlen wie die Raben.“

Von Köllern hörte nicht mehr. Rasch und zitternd Meiers Arm ergreifend, flüsterte er ihm ein paar Worte zu und eilte dann mit ihm, so rasch er konnte, zu dem Zelt hinauf. Die Uebrigen zögerten noch eine Weile, folgten dann aber ebenfalls, zu sehen, was dorten vorgefallen wäre.

Köllern hatte sich nicht geirrt. Auf seinem Bett ausgestreckt, das abgeschossene Pistol neben sich, lag Schütz mit zerschmettertem Hirn und vor dem Leuchter ein offener Brief an Köllern, der, mit Bleistift geschrieben, nur die folgenden wenigen Zeilen enthielt:

„Lieber Köllern,

„Sie sehen, ich nehme die mir von Ihnen gebotene Hülfe an. Ich bitte Sie, Alles, was Sie in meinem Zelte finden, an arme Miner zu verschenken oder sonst darüber zu verfügen. Nur das unter meinem Kopfkissen liegende Päckchen Gold befördern Sie, wenn Sie nach Deutschland zurückkommen, an meine Schwester, [611] deren Adresse Sie darauf angegeben finden. Sagen Sie ihr die Ursache meines Todes. Ich konnte es nicht länger ertragen

„Bewahren Sie eine freundliche Erinnerung Ihrem armen Schütz.“

Während sich Meier über den Todten bog, die Wunde zu untersuchen, las von Köllern tief erschüttert diesen Abschiedsbrief, und scheu umstanden indeß die übrigen Männer den Leichnam des Unglücklichen, der so geheimnißvoll gestorben war, wie er unter ihnen gelebt hatte.

Sechs Monate mochten nach jener Zeit verflossen sein. Schütz war damals von seinen Landsleuten an derselben Stelle begraben worden, auf der sein Zelt gestanden hatte, und nur ein einfacher Hügel, mit einem mächtigen Quarzblock zu Häupten, kündete unter jener alten Eiche die Stelle, wo der Unglückliche schlummerte.

Es war Frühjahr geworden, und von Köllern, der die Wintermonate mit Meier zusammen ziemlich glücklich gearbeitet hatte, erhielt Briefe aus Deutschland und beschloß, dorthin zurückzukehren.

Dr. Meier schien erst die Absicht gehabt zu haben, den Sommer noch in Californien auszuhalten. Köllern überredete ihn aber leicht, das wilde Minenleben zu verlassen und die geregelten Verhältnisse in der Heimath wieder aufzusuchen. Da sie die letzten Wochen doch ziemlich erfolglos die schweren Erdarbeiten getrieben hatten, sagte Meier auch zu, und die beiden jungen Leute wanderten zusammen nach San Francisco, sich dort auf dem nächsten Fahrzeug nach den Vereinigten Staaten oder der Heimath einzuschiffen

In San Francisco fanden sie auch rasch Gelegenheit, hier aber stand ihnen noch eine Ueberraschung bevor.

Als sie mit ihrem Gepäck nach dem Landungsplatz hinunter gingen, an Bord zu fahren, arbeitete unten am Werft eine Anzahl von Sträflingen, Männer in grauen Jacken und Hosen mit Ketten an den Füßen, die hier in Californien irgend ein Verbrechen begangen hatten und jetzt ihre Strafe, unter Aufsicht von bewaffneten Polizeidienern abbüßen mußten.

Köllern und Meier wollten rasch an diesen Unglücklichen, auf die sie weiter nicht achteten, vorübergehen, als Einer der Leute mit leiser Stimme sagte:

„Herr von Köllern!“

„Die beiden Freunde drehten sich rasch nach ihm um, und der Doctor rief wirklich erstaunt aus:

„Herr Steinert – was nur Himmels Willen hat Sie in diese Lage gebracht?“

Laßt uns die Unschuld oft im größten Unglück sehen,
Und leidet mit bei fremden Schmerzen;
Dies Mitleid heiligt uns’re Schmerzen“ –

bemerkte Herr Steinert – „wenn Sie vielleicht zufällig ein Stückchen Kautabak oder eine Kleinigkeit der landesüblichen Münzsorte bei sich haben sollten. Meine Lage ist erschrecklich.“

„Wird der faule Strick da vorn arbeiten?“ rief ihm der eine der Wächter in diesem Augenblick in englischer Sprache zu. Steinert warf einen scheuen Blick über die Schulter. Köllern aber hatte ihm schon ein Geldstück in die Hand gedrückt und, rasch des Freundes Arm ergreifend, eilte er mit diesem dem nahen Landungsplatze zu, wo das Boot schon ihrer wartete. – Von Herrn Steinert sahen sie nichts wieder.

Von Köllern hatte nun, in Deutschland angekommen, vor allen Dingen den Auftrag des unglücklichen Selbstmörders auszuführen: das ihm anvertraute Gold mit der Kunde von des Bruders Tod in die Hände der Schwester zu legen. Es war eine traurige Pflicht, aber er erfüllte sie und suchte dann Dr. Meier in –* auf, wie er ihm, als sie sich in Hamburg trennten, versprochen hatte.

Die Wohnung desselben fand er übrigens nicht so leicht, als er sich gedacht, denn zweimal, als er sie schon richtig erfragt glaubte, wurde er durch die Nachricht überrascht, daß Herr Dr. Meier dort in der That gewohnt habe, aber nur zwei Tage geblieben und dann wieder ausgezogen sei. Seine jetzige Wohnung wußte Niemand. Köllern wollte auch den Versuch, ihn zu zu finden, schon aufgeben, als er auf der Post einen Brief erhielt, der dort poste restante gelegen hatte. Darin schrieb Meier nur die wenigen Worte:

„Ich wohne Helmstraße Nr. 15, dritte Etage im Hof. Sagen Sie Niemandem meine Wohnung und kommen Sie so rasch Sie können.

Ihr californischer Freund.“

Nicht einmal unterschrieben hatte er sich, und Köllern wußte gar nicht, wie er sich das zusammenreimen sollte. Natürlich suchte er ihn augenblicklich auf und fand ihn endlich draußen in der äußersten Vorstadt in einem wahren Versteck von einer Wohnung, an deren Treppe aber trotzdem schon wieder zwei gepackte Koffer standen. Meier kam ihm in Reisekleidern entgegen.

„Das ist ein Glück, daß Sie mich gefunden haben, Köllern“, rief er ihm schon an der Treppe zu – „Sie sendet mir der liebe Gott, und ich wollte mich schon eben in die Zeitung setzen lassen.“

„Wozu aber denn dies Versteck, und das geheimnißvolle Poste restante?“ lächelte Köllern.

„Es hilft mir nichts mehr“, rief Meier in komischer Verzweiflung. „Sie hat mich hier auch aufgefunden.“

Sie? – wer ist das?“

„Ja so, Sie wissen die ganze entsetzliche Geschichte ja noch gar nicht. Mein Doppelgänger hat geheirathet.“

„Ihr Doppelgänger?“ lachte Köllern, „das ist kostbar, und darüber sind Sie in Verzweiflung?“

„Hören Sie nur weiter“, rief aber Meier, „das ist das boshafteste, nichtswürdigste Wesen, das auf der Welt existirt. – Wie er merkt, daß ich wieder da bin, verschwindet er, und natürlich fällt mir jetzt die Frau in’s Quartier und droht mit Klagen, daß ich sie böslich verlassen hätte.“

„Ist sie hübsch?“

„Ja, aber hol’s der Teufel, wenn ich eine Frau haben will, such’ ich sie mir selber aus, und heirathe wahrhaftig nicht meine eigene Wittwe.“

„Aber so erzählen Sie doch nur –“

„Die Sache ist so geheimnißvoll, wie einfach“, sagte der Doctor. „Eine junge Frau hat mich hier, kaum nach –* zurückgekehrt, überfallen, versichert mit Thränen in den Augen, daß ich ihr Mann sei, der sie vor ein paar Tagen böslich verlassen habe, und verlangt, daß ich wieder mit ihr gehe und ihr versprechen soll, in Zukunft immer ordentlich und treu bei ihr zu bleiben.“

„Und Sie?“

„Ich habe ihr erklärt, daß sie sich in der Person irrt. Ich bin auf der Polizei gewesen und habe dort meine Beweise vorgelegt, daß ich mich die ganze Zeit in Californien aufgehalten. Ich habe sogar die Polizei aufgefordert, Jenen, der sich für mich ausgibt, zu verhaften –“

„Nun, und –?“

„Die Folge davon war“, fuhr der Doctor fort, „daß ich selber am nächsten Morgen, als ich auf die Post gehen wollte, arretirt wurde und mit einem Holzkopf von Polizeidiener durch die halbe Stadt und am hellen lichten Tage auf die Polizei mußte, mich dort als wirklichen Dr. Meier zu legitimiren. Ich zog rasch in eine andere Wohnung, umsonst – die Frau fand mich auf – ich wechselte wieder – umsonst, ich brachte sie nicht von meiner Fährte und war schon im Begriff, abzureisen und –* für immer zu verlassen, als ich heute Morgen eine neue Vorladung erhalte, und jetzt müssen Sie mit mir gehen, für mich zu zeugen.“

„Aber seit wann ist denn jener Doppelgänger verschwunden?“ fragte Köllern.

„Wie es scheint, ein paar Tage vorher, ehe ich ankam, und zwar sehr apropos, seinen Gläubigern zu entgehen, die nicht übel Lust zu haben schienen, gleich über mich herzufallen. Der Lump hat eine rasende Menge von Schulden in meiner Abwesenheit und alle auf meinen Namen gemacht.“

„Die Sie jetzt bezahlen können.“

„Ich werde mich hüten. Gott sei Dank, daß ich in Californien die Vorsicht gebraucht habe, meine dortige Anwesenheit rechtskräftig beweisen zu lassen. Sie selber können mit gutem Gewissen beschwören, welche Zeit wir dort zusammen gearbeitet haben. Ebenso besitze ich noch meinen Passageschein, mit dem ich über See gekommen bin, lauter Alibis, die meinen nichtstwürdigen Doppelgänger hier in der Patsche sitzen lassen.“

„Und seine Frau?“

„Was geht die mich an?“ rief Meier in komischem Zorn, „ob hier ein Zufall oder der Teufel sein Spiel hat, weiß ich nicht – ist mir auch gleichgültig, aber soviel ist sicher, daß ich nicht gesonnen bin, Einem oder dem Andern als Spielball zu dienen. Hier kann ich nicht mehr bleiben, denn jenes verzweifelte geisterhafte Ungethüm, das die Güte gehabt hat, meine Stelle während meiner Abwesenheit zu vertreten, scheint mich so tief hineingeritten zu haben, daß ich ein Lebensalter dazu brauchte, nur meinen guten ehrlichen Namen wieder herzustellen. Vor allen Dingen muß ich jetzt mit [612] Ihrer Hülfe, lieber Köllern, der Polizei nochmals die genügenden Beweise bringen, daß ich die ganze Zeit, während Jener hier sein Wesen getrieben, über dem Ocean drüben gesessen bin und Gold gegraben habe – dann wandere ich wieder aus.“

„Aber werden Sie das Publicum auch überzeugen können? Ihr Name wird nachher stets als der eines Schuldenmachers gelten.“

„Glücklicher Weise heiße ich Meier“, lachte der Doctor, „und werde mich darüber trösten. Soviel seien Sie versichert, ich schieße mir keine Kugel durch den Kopf, wie jener verrückte Schütz.“

„Und wohin wollen Sie auswandern?“

„Ich gehe wieder nach Californien, sagte der Doctor entschlossen – „wenn auch nicht in den Minen, doch in San Francisco meine Existenz zu gründen. Aber jetzt kommen Sie; es ist elf Uhr vorbei und um elf Uhr bin ich auf die Polizei citirt.“

Vor Gericht konnte sich der Doctor allerdings vollständig legitimiren, und Köllern erkannte, daß seine Vorsicht nicht unnütz gewesen war. Außer seinem Zeugniß legte Meier noch einmal alle seine Papiere vor. Er hatte ebenfalls sämmtliche in Californien erhaltenen Briefe aufbewahrt und in dieser Zeit, wo er mit einem Freunde in Berlin in Correspondenz gestanden, denselben gebeten, seine Briefe und Couverte sorgfältig aufzubewahren. Diese ließ er sich gleich nach seiner Ankunft hier schicken, und da Datum, Handschrift und Postzeichen auf das Unverkennbarste stimmten, war es ihm leicht, mit Köllern’s Aussage seinen langen Aufenthalt in jenem fernen Welttheil unzweifelhaft festzustellen. Frau Dr. Meier wurde bedeutet, daß sie keinenfalls diese Frau Dr. Meier sei; ebenso blieb es den zahlreichen Gläubigern des Verschwundenen überlassen sich ihren Meier aufzusuchen, wo sie eben könnten.

Unser Doctor war aber dadurch noch nicht allen Unannehmlichkeiten enthoben. Allerdings reiste er schon zwei Tage später mit einem rechtskräftigem Passe nach Hamburg ab, sich dort wieder einzuschiffen, die Polizei hatte aber indessen einen Steckbrief hinter seinem Doppelgänger hergesandt, der so genau auf ihn paßte, daß er schon an der Grenze angehalten, aufgehoben und von zwei Gensd’armen begleitet, nach –* zurückgeschickt wurde. Dort mußte er sich noch einmal legitimiren, um nachher, mit abrasirtem Bart, einem andern Paß und falschem Namen, wie ein Verbrecher jeden Polizeidiener fürchtend, seine Reise zum zweiten Mal anzutreten.

Diesmal kam er glücklich durch, erreichte die Seestadt und fühlte sich nicht eher sicher, bis er wieder auf den blauen Wogen schwamm. Vom Heimweh war er indessen gründlich geheilt und hofft jetzt, in einem andern Welttheil – seinem Doppelgänger und dem unglücklichen Namen Meier entgangen – ein neues Leben zu beginnen.


Blätter und Blüthen.

Schweiz und Deutschland. In einer soeben erschienenen Schweizer Schrift: „Mimosen“, von einem Schweizer verfaßt, heißt es wörtlich: „Unter dem Dorfe Zigers[WS 1] steht unweit des rechten Ufers des Rheinstroms und der Brücke, die von Untervaz herüberführt, mit Graben und Wall umgeben, das uralte Schloß Fridau oder Fridnow. Es wird zu Hochgerichtsgefängnissen (die drei Bünde, Zehntgerichten-, Gotteshaus- und Grauer-Bund, zerfallen in 26 Hochgerichte) verwendet. Das Volk nennt es nur den Schelmenthurm. Die Mauern sind schwarzgrau, das Dach ist mit Moos bewachsen, und durch die obern schmalen Oeffnungen saust und pfeift und heult der Wind. Innen aber ist es grauenhaft. Tief unter der Erde befinden sich die Gefängnisse. Kein Strahl des Lichts und kein erfrischender Athemzug des Windes kann in sie dringen. Die dunkelste Dunkelheit und der lebenzerstörende Modergeruch, entsetzlicher als im Schooße der Grüfte, herrscht in ihnen. An Seilen werden die Gefangenen in die schaudervolle ewige Nacht hinabgelassen. Die, welche, um zum Verhör oder vor den Richter gebracht zu werden, hinaufgewunden werden müssen, werden nicht mehr abgeholt, wenn sie keine Antwort mehr geben, weil der Schwarze Tod mit seinem pestartigen Hauche ihr Leben vernichtet. Drunten mögen sie zum Entsetzen der Neuhinabgelassenen fortmodern, bis der Zahn der Zeit das alte Gemäuer zerfressen und die letzten Reste ihrer Gebeine an’s Tageslicht kommen. Von Zeit zu Zeit wird etwa ein Bund Stroh hinabgeschmissen, womit der Gefangene sich auf modernden Gerippen betten mag. Sein Wasser und Brod oder was sonst noch etwa mitunter zugelegt wird, läßt man ihm unter Zuruf, auf da er es ablöse, an Stricken hinab etc.

Außerdem erzählt der Verfasser noch viel von Nattern, Kröten und Molchen. Da derselbe die ausgesprochene Tendenz verfolgt, seinen Lesern eine Art Landeskunde zu bieten, so läßt sich annehmen, daß etwas Wahres daran sein muß, und es fragt sich nun, ob diese Nichtswürdigkeiten mit Genehmigung der oberen Schweizer Behörden geschehen. Wir zweifeln daran, wie wir vorläufig zur Ehre der Menschheit an der Wahrheit der Schilderung überhaupt zweifeln wollen.

Dagegen können wir aus der kleinen Republik eine Thatsache mittheilen, die so recht schlagend beweist, wie dort Vaterlandsliebe und Patriotismus schon von Jugend auf gepflegt und gefördert werden. Die weltgeschichtliche Bergwiese am Vierwaldstätter See, das Rütli, wo der von unserm Schiller so schön geschilderte Schwur der drei Männer von Schwyz, Uri und Unterwalden gen Himmel tönte, sollte Anfangs dieses Jahres an einen Speculanten verkauft werden, der ein Hotel darauf zu bauen beabsichtigte. Die Presse bemächtigte sich sofort dieser Angelegenheit, die sie als eine Schmach für die Schweiz hinstellte, und forderte zu einer Subscription, behufs Ankaufs des welthistorischen Plätzchens, auf. Der Vorschlag, die Aufbringung der dazu nöthigen Mittel (50,000 Francs) der Jugend zu überlassen, fand allgemeinen Beifall und ward sofort in allen Schulen und Privatinstituten in’s Werk gesetzt. Jetzt – nach einigen Monaten – liegt das Resultat vor. Nicht 50, sondern 95,000 Francs sind eingegangen, das Rütli ist angekauft und bleibt ein freies Eigenthum der Schweizer, die sich und ihrer Vaterlandsliebe dadurch ein ehrendes Denkmal setzten. Kein Hotel und Tellergeklirr wird den historischen Platz entheiligen.

Und Deutschland! Das mächtige, große, bundesbeglückte Deutschland mit seinen reichen Fürsten und geldtrotzenden Bankiers und wohlhabenden Bewohnern – was thut Deutschland? Oben auf der Höhe des Teutoburger Waldes, wo Hermann einst das theure Vaterland von römischer Knechtschaft errettete, hoch oben, so recht zur Schande des ganzen Landes, liegen die Steine eines Denkmals, welches ein wackerer Künstler im Vertrauen auf Deutschlands Unterstützung dem edlen Vertheidiger des heimathlichen Bodens errichten wollte. Gesammelt ist allerdings worden, aber Deutschland hat den Künstler schmählich im Stich gelassen. Schild und Arm der kolossalen Statue liegen seit Jahren im – Versatzhause, und der arme Künstler hat seine Arbeit einstellen müssen, da im ganzen großen Deutschland kaum die Kosten des Sockels zusammengeschnurrt werden konnten. Vielleicht hätte eine Pfennigsammlung in den deutschen Schulen das Denkmal vor dieser Schmach gerettet – vielleicht auch nicht! Wo soll auch deutsche Vaterlandsliebe erzogen werden? Wir kennen einen königlich preußischen, sächsischen oder bairischen Patriotismus, aber einen deutschen kennen wir nicht, und am wenigsten wird er unserer Jugend gelehrt. Deutsche Vaterlandsliebe belehnt man im Vaterlande mit Untersuchungen und Verfolgungen, und nennt sie Hochverrath an der Souverainetät deutscher Fürsten!


Allen Freuden des gemüthlichen Humors
wird der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinende
Illustrirte Dorfbarbier.
Ein Blatt für gemüthliche Leute
von
Ferdinand Stolle.
Mit komischen Illustrationen und Zeitbildern.
Preis 10 Ngr. vierteljährlich.

bestens empfohlen. Er wird, so der Himmel will, auch ferner sein angebracht Geschäft: Die Politik der alten Jungfer Europia für 10 Ngr vierteljährlich seiner weithin wohnenden Kundschaft vorzusetzen, fortführen, und zwar, wie bisher, allsonntäglich, ohne der Sonntagsfeier zu nahe zu treten. Die Herren Buddelmeyer, Rudelmüller, Breetenborn und der Bildermann sind angewiesen, die einer alten, grilligen und gebrechlichen Jungfer – wie die Europia – schuldigen Rücksichten nicht aus den Augen zu verlieren. Die Beziehungen des Dorfbarbiers zu den Großmächten sind daher ungetrübt.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Knyota: die kleinen Steppenwölfe.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist Zizers