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Die Gartenlaube (1859)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[645]

No. 45. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Nur eine Putzmacherin.
Eine stille Geschichte.
(Fortsetzung.)

„Wozu soll ich mein Capital bis zu meinem Tode brach liegen lassen?“ fuhr Emilie nach einer Pause fort. „Ist es nicht besser, daß ich es noch zu meinen Lebzeiten Zinsen tragen sehe? Auch mache ich Bedingungen.“

„Welche?“ fragte Aline lebhaft.

„Sie dürfen nie von dem Gelde sprechen und auch nicht von dem, was ich Ihnen sagte. Ich liebe es nicht, alte Geschichten aufzurühren, denn ich bin körperlich zu schwach, um das öftere Gedenken an die Vergangenheit zu ertragen; auch stört mich das ja in meiner Arbeit. Dann müssen Sie Alles ohne Widerrede annehmen, was ich für Sie thun kann. Dafür sind Sie mir keinen Dank schuldig, nur den Vorsatz, Andere zu unterstützen, wenn Sie es einst im Stande sind – wenn nicht, dann fällt diese Verpflichtung natürlich weg, und wir sind quitt.“

So lange hatte sie gewiß seit Jahren nicht geredet, auch nicht in so leichtem, heiterem Tone; sie wollte dadurch dem jungen Mädchen die Annahme der Unterstützung weniger drückend machen und das Ganze in einen Scherz verwandeln.

Aline war indeß zu tief ergriffen, nicht nur von dieser Großmuth gegen sie, sondern auch von dem Blick, welchen sie in das Innere des armen Mädchens that, welches bei seinem Leid auch noch Verkennung ertrug. Sie empfand innige Theilnahme für Emilie und wünschte heiß, daß sie etwas für sie thun könnte. Ihre Bewegung war zu lebhaft, um ihr Worte zu gestatten, aber indem ihre Thränen wann auf die bleiche Hand flössen, welche sie an ihre glühenden Lippen preßte, gelobte sie sich, töchterlich für die Einsame zu sorgen, wenn sie einst der Pflege bedürftig sei.

Emilie schien in ihren Gedanken zu lesen, und einen Augenblick neigte sich ihre hagere, verkümmerte Gestalt zärtlich über die vollen Formen der jugendlichen Gesellschafterin. Ihre Stimme zitterte, und ein Anflug von Röthe überhauchte ihr Gesicht, als sie leise sagte:

„Ich habe kein Kind, und Sie haben keine Mutter – lassen Sie mich die Stelle Ihrer lieben Verstorbenen vertreten.“

Nach wenig Augenblicken fügte sie indeß gefaßt hinzu: „Doch jetzt wollen wir fleißig sein – auch kommt da Jemand.“

Therese trat ein, und Aline beugte ihr Gesicht tief über ihre Arbeit.

Von jetzt ab arbeitete sie Nachmittags immer bei ihrer neuen Freundin, und diese schickte sie gewöhnlich schon um vier Uhr nach Hause. Auf die Einwendungen des jungen Mädchens antwortete sie lächelnd: „Gehen Sie nur, Sie müssen ja fleißig sein. Für die vier Thaler, welche Sie monatlich bekommen, arbeiten Sie genug, und ich will schon verantworten, was ich thue; Madame Albrecht wendet gegen meine Anordnungen nie etwas ein!“

Das geschah in der That niemals, und Jeder wunderte sich über die Rücksicht, welche die Prinzipalin für ihre Demoiselle hatte. Der Studiosus begriff das nun vollends nicht, und es machte ihm Vergnügen, die alte Schachtel, wie er sie nannte, etwas burschikos aufzuziehen, wenn er ihrer ansichtig wurde. Emilie schien es nie zu bemerken, wenigstens achtete sie nicht darauf; überhaupt interessirte sie anscheinend nichts so lebhaft, als die Façon eines Hutes, oder das Modell einer Haube. Der Putzhändlerin gefielen indeß diese Neckereien nicht, und sie verwies sie einst dem Uebermüthigen ungewöhnlich ernst.

„Aber Mutter, in welchem Verhältniß stehst Du nur zu diesem alten Haubenstock!“ sagte er scherzend. „Sie scheint eine verwünschte Prinzessin zu sein, und wenn das ist, so will ich ihr alle mögliche Ehrfurcht erweisen – will sie sogar erlösen, wenn ich vermag. Mit natürlichen Dingen kann es überhaupt nicht zugehen, daß ein Menschenkind so versessen in Putzsachen ist, wie sie, und wenigstens mußt Du zugeben, es ist entsetzlich langweilig, mit diesem stummen, gespensterhaften Wesen umzugehen und mir nicht zu verdenken, wenn ich schlechte Witze mache, nur um ihr altes gefaltetes Gesicht zu vergessen.“

„Nun, so gewaltig alt ist sie nicht – ich bin wenigstens fünfzehn Jahre älter!“ sagte Madame Albrecht.

Ihre Söhne, denn auch der Baumeister war anwesend, schauten sie überrascht an. Sie war im Anfange der Fünfzig, blühend und etwas stark; in dem reichen, geschmackvollen Anzüge konnte sie für eine sehr gut conservirte Frau gelten. Wie alt, fast greisenhaft, sah Emilie neben ihr aus, und sie sollte fünfzehn Jahre jünger sein?

„Kummer und noch viel mehr anhaltende, unausgesetzte Arbeit hatten sie vorzeitig gealtert!“ sprach Madame Albrecht ernst weiter. „Allein, das gibt Niemand ein Recht, über sie zu spotten und am wenigsten einem meiner Kinder. Ohne sie wäre ich arm geblieben, nur ihren fleißigen, geschickten Händen verdanke ich es, daß ich meinen Kindern eine anständige Erziehung geben konnte, daß ich selber eine geachtete Stellung einnehme und wohlhabend bin. Ihr wundert Euch? Und doch ist dies buchstäblich wahr. Ihr wisset, daß ich nach dem frühen Tode Eures Vaters unser Galanteriegeschäft aufgab, das immer ziemlich schlecht gegangen war, und ein Putzgeschäft anfing. Dieses hatte auch keinen besondern Fortgang, denn ich bin kein Putzmachergenie, und bei den Directricen, [646] die ich hielt, kam nicht viel heraus. Dennoch mußte ich eine haben, und als ich meiner bisherigen eben gekündigt hatte, sah ich mich auf dem Wege nach Leipzig nach einer neuen um. Ein blutjunges Ding, ein kaum siebzehnjähriges Mädchen, wurde mir als eine sehr geschickte und fleißige Arbeiterin gerühmt. Ich ließ Emilie Röder kommen, und sie gefiel mir, denn sie war still und bescheiden, und nicht auf den Kopf gefallen, wie ihre Augen sogleich verriethen. Diese grauen Augen, die Ihr nur matt und glanzlos kennt, waren damals blau und strahlend. Ueberhaupt war sie sehr hübsch, obgleich Dir das sonderbar klingen wird, August, und fast keine Spur davon übrig ist. Namentlich hatte sie einen wunderschönen, wahrhaft blendenden Teint, so zart und rosig, wie ich ihn seitdem kaum wieder gesehen habe. Aber das gehört nicht zur Sache. – Sie gefiel mir also, doch als die Rede auf den Gehalt kam, verging mir die Lust, sie zu engagiren. Sie sagte nämlich mit einem glühenden Erröthen: Ich muß zweihundert Thaler haben – darunter kann ich mich auf kein Engagement einlassen. Das ist allerdings sehr viel, aber wollen Sie es mir geben, so soll es Ihr Schade nicht sein. Ich will rastlos arbeiten, vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht – ich mache sonst für mich, was Tisch und Wohnung anlangt, nicht die geringsten Ansprüche – nur geben Sie mir zweihundert Thaler. Was meine Leistungen betrifft, so sollen Sie damit gewiß zufrieden sein. Ich arbeite nicht schlecht und will mich auf’s Höchste anstrengen, es noch besser zu machen. – Es klingt zwar anmaßend, dennoch sage ich, meine Arbeiten sollen Pariser Modellen nicht nachstehen, und ich bin bereit, Ihnen sogleich Beweise dafür zu geben. – Ich konnte meiner Directrice nicht mehr als hundert Thaler zahlen, der Ausdruck: Pariser Modelle fiel mir jedoch auf, und ich hatte dabei einen Gedanken. Ich ließ Tüll, Band, Blumen und was sonst zur Sache gehört, kommen und das junge Mädchen begann vor meinen Augen mit einem Eifer und einer Geschicklichkeit zu arbeiten, wovon ich auf’s Höchste überrascht war. Ich gab ihr zweihundert Thaler und hatte dabei keinen Verlust. Sie hielt, was sie versprochen hatte; ihre Arbeiten übertrafen an Zierlichkeit und Eleganz Alles, was man jemals bei uns gesehen hatte. Emilie wurde nicht müde, Veränderungen zu treffen, Erfindungen zu machen, und ihre Ideen waren immer so originell und dabei so ansprechend und kleidsam, daß unsre Damen ihr Leben dafür gelassen hätten, diese Hüte oder Coiffüren kämen gradeswegs aus Paris, wie ich ausgesprengt hatte, um Aufmerksamkeit zu erregen!“

August lachte ausgelassen bei der Vorstellung, die schönen Bewohnerinnen seiner Vaterstadt hätten auf Treu und Glauben als Pariser Putzartikel gekauft, was in dem düstern Hinterstübchen seiner Mutter eine Deutsche fabricirt hatte, der man wahrhaftig wenig Esprit ansah. Sein Bruder aber schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Ich weiß, was Du sagen willst, Hermann,“ fuhr die Mutter schnell fort, „es ist eine Schwindelei, das Publikum so anzuführen, aber bei Geschäftsleuten kommt es darauf selten an. Auch geschah hier ja Niemand Unrecht, es wurde nur Allen geholfen. Die Putzsachen wären bei all ihrer Schönheit unverkauft geblieben, hätten die Leute gewußt, daß sie hier gefertigt worden; mir wirklich aus Paris Modelle kommen zu lassen, war unmöglich, wer hätte sie denn bezahlt? Und dann war es ja unnöthig, weil Emilie reizend arbeitete. Uebrigens sagte ich den Leuten auch nie gradezu die Unwahrheit, und wenn mich Jemand fragte, ob die Waaren wirklich aus Paris seien, dann wies ich Ihnen nur die saubern Arbeiten Emiliens und die Kopien, welche in der Arbeitsstube darnach angefertigt wurden, und fragte, was sie dazu meinten. Alle riefen dann überzeugt: Welcher Unterschied! Da sieht man doch auf den ersten Blick, was unter den leichten, geschickten Pariser Händen hervorging und was bei uns geprudelt wird! – Meine Käuferinnen waren glücklich in dem harmlosen Wahn, Pariser Putzsachen zu tragen; ich kam aus meiner beschränkten Lage und erhielt ein so einträgliches Geschäft, wie es selten eins gibt, wobei Ihr auch nicht vergessen wurdet. Und selbst Emilie war dabei zufrieden, versicherte wenigstens, es zu sein, obgleich ihre frischen Wangen erbleichten und die anhaltende Arbeit ihren Körper krümmte. – Sie hatte ja ihren Willen und bekam das Geld, welches sie verlangte, und später noch eine Zulage!“

„Aber was fing sie denn nur damit an?“ rief der Studiosus verwundert.

„Sie schickte es ihrem Bräutigam, unterstützte ihn so lange, bis er sich selber forthelfen konnte,“ entgegnete die Mutter.

„Und er ließ dann das arme Geschöpf sitzen?“ fragte der Jüngling.

„Schändlich!“ rief der Baumeister.

„Er erfuhr nie, daß das Geld von ihr gekommen war. Und dann sind wir Menschen auch mitunter recht egoistisch und rücksichtslos,“ sagte Madame Albrecht, und ein Schatten zog über ihr volles, freundliches Gesicht. Sie dachte daran, wie ungern sie es gesehen hatte, als Emilie sie einst verließ, um glücklich zu sein, und wie lieb es ihr gewesen, als sie leidend zu ihr zurückkehrte. War sie nun doch sicher gewesen, daß die geschickte Arbeiterin fortan immer bei ihr bleiben und ihre Kunden sich nicht zu Andern wenden würden, weil sie keine Modelle mehr aus Paris kommen ließ. „Das ist eine lange Geschichte!“ sagte sie, als August die näheren Umstände wissen wollte.

Der Baumeister hatte indeß still nachgedacht, jetzt sagte er: „Damals achtete ich nicht darauf, jetzt besinne ich mich aber, daß ja unser Gustav ihr Bräutigam war, nicht wahr, Mutter?“

Die Glocke ertönte, ein Zeichen, die Gegenwart der Prinzipalin werde im Geschäftslocal gewünscht. Sie bejahte nur kurz die letzte Frage und ging in den Laden.

August war ärgerlich, daß er die Geschichte nicht erfuhr und meinte: „Emilie soll sie mir selber erzählen.“ Sein Bruder wollte ihn zurückhalten, allein er ging zu dem alten Mädchen hinein, das also fast seine Stiefschwägerin geworden wäre und in seinen Augen ein hohes Interesse gewonnen hatte.

Wie gewöhnlich, war Emilie in ihre Arbeit vertieft; auf seine Anrede erhob sie zwar die matten Augen, allein die Frage, welche auf seinen Lippen schwebte, verstummte, als er diesem trüben, glanzlosen Blick begegnete und das wehmüthige Lächeln auf dem erblichenen Gesicht sah. Eine unbescheidene Frage hätte sie ja gekränkt – er unterdrückte also seine Neugier.

Gleich darauf wurde zu Tisch gerufen und der Studiosus hatte während des Mahls eine so große und achtungsvolle Aufmerksamkeit für die alte, sonst geneckte und gehänselte Cousine, daß Fräulein Therese sich darüber sehr wunderte und Mutter und Bruder sich lächelnd ansahen. Nur der Gegenstand seiner Theilnahme bemerkte dieselbe nicht und ging auf seine Unterhaltung nicht ein, obgleich er die verschiedensten Saiten anschlug und von Allem zu reden begann, was nach seiner Meinung ein Interesse für Frauenzimmer haben könne. Nur als seine Mutter und Therese mit ihr über einige Angelegenheiten des Geschäftes sprachen, nahm sie lebhaft Theil daran.

„Im Grunde kann ich es unserm Gustav doch nicht verdenken, daß er sie aufgab!“ sagte August nach dem Essen zu seinem Bruder. „Was hätte er denn mit einer Frau anfangen sollen, die durchweg Putzmacherin ist und für nichts Anderes Sinn hat, als für die kostbaren Gegenstände, welche in ihr Metier schlagen?“

„Nun, vor dreizehn Jahren – denn so lange ist es ja schon her – war sie noch nicht durchweg Putzmacherin,“ meinte der Baumeister. „Ich erinnere mich noch vollkommen, daß sie damals, obgleich sehr fleißig, doch nicht so ganz in ihrem Geschäft aufgegangen war, wie jetzt.“

Er bedauerte das verlassene Mädchen von ganzem Herzen, und besonders leid that es ihm, daß er sie früher in jugendlichem Uebermuth auch oft gequält und aufgezogen hatte und ihr nicht den kleinsten Theil der Achtung und Theilnahme bewiesen, welche sie verdiente. Er ging daher zu ihr, entschlossen, ihre wirklich schönen Arbeiten nach Kräften zu bewundern und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen, daß er Interesse für die Dinge äußerte, welche sie ganz in Anspruch zu nehmen schienen.

Emilie war in der That nicht unempfindlich für das bewundernde Erstaunen, welches der Anblick ihrer zierlichen Schöpfungen hervorzurufen pflegte. Sie hatte von Natur viel Sinn und Geschick für geschmackvolle Handarbeiten; der heiße Wunsch, so viel Geld zu erwerben, um ihren Geliebten zu unterstützen, machte eine Art Künstlerin aus ihr, und als später ihre Hoffnungen zu Grabe getragen waren, suchte sie Zerstreuung in der ihr lieb gewordenen Beschäftigung und fand eine kleine Genugthuung darin, daß die Erzeugnisse ihrer Kunstfertigkeit andre dergleichen Arbeiten weit übertrafen. Auch das einfachste, bescheidenste Gemüth sehnt sich, zuweilen sogar unbewußt, nach der Anerkennung seines Schaffens, gehöre dies einem Gebiete an, welchem es wolle.

Emilie war nicht allein; Aline arbeitete bei ihr und gerieth bei dem Eintritt des jungen Mannes in tiefe Verwirrung. Der [647] Baumeister begrüßte sie als Bekannte und mit Vergnügen, wie es schien. Wenigstens vergaß er, weshalb er gekommen war, und unterhielt sich bald angelegentlich mit dem jungen Mädchen, das nicht so einsilbig und theilnahmlos war, wie in der letzten Zeit, sondern die frühere Lebhaftigkeit wiedergefunden hatte.

Emilie mischte sich nicht in die Unterhaltung, schien mit ihren Gedanken ganz abwesend zu sein, als aber der junge Mann sich entfernt hatte, fragte sie, woher Aline ihn kenne.

Sie erzählte, daß sie ihn nur einmal gesehen hatte, als sie vor ungefähr zwei Monaten in der Leihbibliothek war. Er kaufte dort etwas, und der Roman, welchen sie verlangte, hatte Veranlassung zu einem Gespräch gegeben. Freilich währte dasselbe nicht lange, dennoch hatte Aline oft daran gedacht und diese flüchtige Begegnung nicht vergessen. Sie hatte erfahren, was Moore in Lala Rookh sagt: „O Blick’ und Töne gibt’s, die schnell das Herz durchzucken sonnenhell, als fänd’ in der Minute Raum der Geist des ganzen Lebens Traum;“ sie verschloß das natürlich in der Tiefe ihres Herzens und erwähnte davon eben so wenig gegen Emilie, wie sie überhaupt davon gesprochen hatte. Doch eine große Veränderung war seitdem in ihr vorgegangen, sie schien aus einem Traume erwacht zu sein. Ohne zu wissen woher, kamen ihr mancherlei Ideen über Dinge, an welche sie sonst niemals gedacht hatte, und vorbei war es mit dem harm- und gedankenlosen Frohsinn, womit sie sonst in’s Leben geschaut hatte.

Einige Male hatte sie den Baumeister auf der Straße oder im Flur getroffen, und das waren denn stets wichtige Begebenheiten für sie gewesen; sein Gruß hatte sie lebhaft erfreut – er kannte sie also noch. Dann hatte sie auch einige Male seine Stimme im anstoßenden Zimmer gehört und seinem Clavierspiel gelauscht – gesprochen hatte sie ihn aber nicht. Die Arbeitsstube war eine Region, von welcher der Wille der Modehändlerin ihre Söhne von jeher fern gehalten hatte, obgleich deren Unterhaltung den jungen Damen gewiß höchst willkommen gewesen wäre.

Uebrigens fand der Baumeister einen größeren Geschmack an der Cousine Emilie, als man je bemerkt hatte, und es traf sich merkwürdiger Weise sehr häufig, daß die Besuche, welche er in ihrem Stübchen abstattete, in die Zeit fielen, während Aline dort beschäftigt war. Der Studiosus war schon abgereist, das kleine Gemach und was darin gesprochen wurde, lag außer der Gehör- und Gesichtsweite der jungen Damen, welche die Arbeitsstube inne hatten und eben so neugierig, als scharfsichtig waren, und Fräulein Therese fesselten ihre Pflichten als Directrice an die Arbeiterinnen. So war Niemand da, der des Baumeisters plötzliche Passion für die Gesellschaft der Cousine beachtete.

Emilie selber schien auch wenig davon zu bemerken und zuweilen gar nicht zu wissen, daß der junge Mann überhaupt anwesend war. Er plauderte daher ganz ungestört mit Aline. Alle, die nicht aus eigner Erfahrung die Unterhaltungen kennen, in denen zuweilen über Nichts gesprochen und doch so Bedeutendes gesagt wird, die dem Gleichgiltigen langweilig scheinen und dem dabei Betheiligten in hohem Grade interessant sind, hätten sich gewundert, wovon sie doch immer zu reden hatten. Dennoch hielt das Mädchen die halbe Stunde, die in der Gegenwart des Baumeisters minutengleich entschwand, für unendlich mehr werth, als den ganzen übrigen Tag und fand den Vormittag immer unausstehlich lang und langweilig. Und Hermann Albrecht gewährten diese Unterhaltungen gleichfalls einen so großen Genuß, daß er sie keinen Tag versäumte.

So theilnahmlos Emilie auch gewöhnlich war, zuweilen verrieth doch ein Blick, daß ihr das sichtliche Vergnügen nicht entging, welches Beiden diese scheinbar so unbedeutenden Gespräche machten. Mitunter zuckte auch wohl ein wehmüthiges Lächeln um ihren Mund, das der Erinnerung an die entschwundene Zeit galt, in welcher auch sie, wie Aline jetzt, mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen Worten gelauscht und Worte ausgetauscht hatte, in denen für sie ein tiefer Sinn und hohe Wichtigkeit lag. Aber das war nun längst vorbei, und sie hatte nicht Zeit, den Liebestraum ihrer Jugend wieder durchzuträumen. Sie mußte fleißig sein – denn der Winter war vor der Thür, und die Winterhüte noch lange nicht fertig. Sie sann eifrig nach über neue Hutfaçons und hübsche Garnirungen und umgab sich oft mit einem ganzen Jahrmarkt von Sammet, Atlas, Plüsch und Velour, von Spitzen, Federn und Paradiesvögeln. Das kleine Zimmer war mit diesen kostbaren Artikeln oft so angefüllt und überfüllt, daß der Baumeister keinen leeren Stuhl fand.

Das Magazin der Madame Albrecht war in diesem Herbst aber auch so reich ausgestattet mit prachtvollen Novitäten, wie nur je in einem der früheren Jahre, und ihre Waaren fanden den reißendsten Absatz. Emilie arbeitete rastlos, gönnte sich kaum Zeit zum Essen, schien des Schlafes fast gar nicht zu bedürfen. Die Modehändlerin ermahnte sie, sich zu schonen, der Baumeister machte ihr Vorwürfe darüber, daß sie es nicht that, aber sie schüttelte dann nur mit ihrem stillen Lächeln den Kopf.

Uebrigens währte Alinens stilles Glück nicht lange. Der Baumeister reiste nach Berlin, um sein Examen zu machen und blieb den ganzen Winter hindurch fort. Diese Zeit benutzte das Mädchen auf’s Eifrigste zu rastlosen Studien, und da sie viel natürliche Anlage und Lernluft hatte und überdies ein mächtiger Impuls – einer der mächtigsten im Frauenherzen – sie bewegte, so machte sie überraschend schnelle Fortschritte.

Der Baumeister entdeckte nach seiner Rückkehr, daß sie eine Bildung besaß, welche er in ihrer Sphäre nicht hatte vermuthen dürfen, und fand sie nur um so anziehender. In Kurzem hatte sich Alles gemacht, wie es vorauszusehen gewesen. Auf Emilie war, trotz ihrer Abgeschlossenheit und Einseitigkeit, Alinen’s innige Anhänglichkeit nicht ohne Einfluß geblieben, und sie hatte das junge Mädchen täglich lieber gewonnen. Jetzt bot sie mit Freuden die Hand zur Befestigung ihres Glückes; während der Baumeister Alinen seine Liebe gestand, übernahm sie es, die Mutter für die Verbindung zu stimmen.

Das wurde ihr nicht schwer. Die Mutter hatte ihm zwar eine reiche Braut gewünscht, allein der junge Mann war unabhängig, auch war sie ja selbst einst in beschränkten Verhältnissen gewesen und Aline ein liebenswürdiges, unbescholtenes Mädchen. Als Emilie ihr vollends mit etwas bebender Stimme sagte: „Ich sollte einst die Frau Ihres Stiefsohns werden – nehmen Sie jetzt von meiner Hand eine Schwiegertochter,“ verstummte sie mit jeder Einwendung.

Der Baumeister fand auch nicht mehr Schwierigkeiten. Aline wollte zwar mit stockendem Athem geltend machen, daß sie arm sei und wenig gebildet, allein er widerlegte das siegreich, und die Zustimmung der Mutter hob jedes Bedenken. Aline schied aus der Arbeitsstube, deren Inhaberinnen ihr Glück anstaunten, theils beneideten, und der Baumeister übernahm ihre weitere Ausbildung. Emilie wollte die Ausstattung besorgen, allein die Modistin trug dafür selber Sorge und nur die nöthigen Hüte und Hauben durfte sie fertigen. Diese wurden denn auch solche Meisterwerke, daß sie allgemeines Aufsehen erregten.

Jahre kamen und vergingen. Aline war längst Frau Baumeisterin und glückliche Mutter; ihr Mann betete sie an, seine Familie liebte sie, und ihre Stellung in der Gesellschaft war so angenehm, wie sie sich dieselbe in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Der ehemalige Studiosus war Assessor, und seine Mutter hatte sich von dem Geschäft zurückgezogen. Fräulein Therese, die sich übrigens auch in den heiligen Ehestand begeben, hatte die Modehandlung in Compagnie mit Emilie übernommen, dergestalt, daß jene mit ihrem Mann den Einkauf und Verkauf besorgte, während diese die Anfertigung der Modellhüte und Coiffuren behielt, welche noch immer in so hohem Ansehen standen und noch immer so gesucht wurden, wie sonst, obgleich nicht mehr alle Welt sie für Pariser Arbeit kaufte. Die Zeit hatte an und in Allen und Allem Veränderungen hervorgebracht. Nur an Emilien schien sie fast spurlos vorübergezogen zu sein. Das fand Aline auch, als sie eines Nachmittags in dem kleinen Stübchen ihrer alten Freundin saß. Sie hatte diese schon oft gedrängt, ihre Geschichte zu erzählen, aber diese hatte die Erfüllung ihrer Bitte immer hinausgeschoben. Gedankenvoll blickte die blühende, elegant gekleidete junge Frau heute in dem einfachen Gemach umher. Es war ganz wie damals, als sie es zuerst betrat, oder als sie später hier so glückliche Stunden verplauderte; auch die alte Putzmacherin saß ihr so still, so bleich und fleißig gegenüber, sogar das alte braune Kleid, welches sie trug, schien dasselbe zu sein, nur das spärliche Haar war noch spärlicher und die gebeugte Gestalt noch gebeugter geworden.

Als wäre es gestern gewesen, so deutlich erinnerte sich die Frau Baumeisterin der trüben Empfindungen, welche sie einst auf dieser Stelle beim Anschauen des alten Mädchens ergriffen hatten. Wie damals und wie seither oft, fühlte sie inniges Mitleiden mit der Vereinsamten und hätte viel darum gegeben, wäre es möglich [648] gewesen, etwas für sie zu thun. Seitdem sie selber so glücklich war, wie nur Jemand sein kann, erschien ihr das öde, traurige Leben Emilien’s noch unendlich beklagenswerther als einst, und der Gedanke daran war der Wermuthstropfen in ihrem Freudenbecher. Sie verdankte ihr so viel und hatte sie so lieb, dennoch vermochte sie ihr nicht einmal ein Vergnügen zu machen, denn Emilie war ja für Alles unempfindlich, was nicht das Putzmachen betraf. Es war all’ ihren Bitten und Ueberredungskünsten nicht gelungen, sie ein wenig geselliger zu machen, selbst in ihrem häuslichen Kreise, unter Alinen’s lieblichen Kindern, fühlte sie sich nicht recht behaglich. Sie nahm zwar herzlichen Antheil an ihrem Wohlergehen, doch nur aus der Ferne.

Für heute hatte sie endlich die Erzählung ihrer Geschichte zugesagt. Die jetzige Principalin und ihr Mann waren ausgegangen und für Vermeidung jeder Störung gesorgt. Emilie erzählte schlicht und mit gesenkter Stimme ihre Geschichte, die so einfach und alltäglich war, nun sie in Worte gekleidet wurde, daß sie sich selber fast darüber wunderte, wie diese unbedeutenden Begebenheiten der Inhalt eines ganzen Menschenlebens sein und es mit so namenlosem Glück und doch auch wieder mit so unsäglichem Leid erfüllen konnten.

„Mein Vater war früh gestorben, und die Mutter ernährte mich und meine Schwestern kümmerlich genug dadurch, daß sie einigen jungen Leuten Mittagessen gab,“ erzählte sie, indem sie, gewohnt unausgesetzt zu arbeiten, auch jetzt Drahtstäbe zu einem Hutgestell zusammenbog. „Wir mußten von Jugend auf fleißig sein, und ich kann nicht sagen, daß ich dazu unlustig war. Meine älteste Schwester, die später starb, hatte ein kleines Putzgeschäft, und ich war von jetzo ihre fleißigste Gehilfin; schon als kleines Kind machte ich Hauben und Hüte, nicht nur für meine Puppen, sondern auch für die aller meiner Bekannten, weil sie das selber nicht so gut verstanden. Nach dem Vergnügen, etwas recht zierliches zu machen, kannte ich kein größeres, als es wegzuschenken; mein Lebelang begriff ich nie, daß Jemand lieber nehmen, als geben kann; ich hätte am liebsten mein kleines Herz fortgegeben. Uebrigens geschah das auch bald genug. Der Stiefsohn Ihrer Schwiegermutter, Aline, war nach dem Tode seines Vaters zu seiner Großmutter gekommen; sie war indeß auch bald gestorben, ohne ihm viel zu hinterlassen, Madame Albrecht konnte ihn nicht besonders unterstützen, weil sie sich selber in sehr beschränkten Verhältnissen befand, dennoch wollte er Abiturient werden und dann das Bergfach studiren. Er war einmal davon überzeugt, daß er seinen Vorsatz verwirklichen werde, obgleich jeder Andere daran verzweifelt hätte. – Er aß bei uns, und ich lernte ihn kennen, als ich kaum fünfzehn Jahr alt war. Was soll ich Ihnen davon viel erzählen? Ich habe in meiner Einsamkeit das Reden fast verlernt, verstehe nicht schöne Worte zu machen und dann können wohl auch die allerschönsten nicht ausdrücken, was man eben erleben muß, um es zu verstehn. Jung sein, lieben und geliebt werden, das heißt von Allem nichts wissen, was es Drückendes im Leben geben mag, und an kein Leid glauben, und doch macht der Schmerz sich uns später nur zu sehr fühlbar. – Es dauerte lange, ehe wir von Blicken zu Worten kamen, aber wir waren ja Beide noch sehr jung, und es ist nicht gerade der kleinste Genuß, in den Augen die Gefühle zu lesen, welche noch nicht auf die Lippen zu treten wagten. Bald wurde Gustav wie ein Glied unserer Familie betrachtet, denn die Meinigen gewannen ihn Alle sehr lieb. Wenn er Zeit hatte, las er uns bei unserer Arbeit vor, oder er ging mit uns spazieren. Meine Mutter beachtete es nicht, daß wir nur Sinn für einander hatten und Gustav stets in meiner Nähe war; sie meinte, es sei eine Kinderei, über die wir später lachen würden, und sollte es sich zufällig schicken, daß wir ein Paar würden, so hatte sie auch nichts gegen den Schwiegersohn. So vergingen uns einige Jahre schnell und angenehm wie ein Traum. Wenn ich später an jene Zeit dachte, schien es mir oft, ein ganzer trüber, sonnenloser Lebenstag sei mit einem solchen Lebensmorgen nicht zu theuer erkauft. Aber das Menschenherz ist so ungenügsam, und je größer ein Glück war, desto tiefer fühlt man eben seinen Verlust.“

„Wie sah denn Gustav aus – war er hübsch?“ fragte Aline, als die Erzählerin bewegt schwieg. Ein leichtes Lächeln trat auf die farblosen Lippen der alten Jungfer, als sie sagte:

„Das ist eine verfängliche Frage, liebe Aline; welches Mädchen hält den Geliebten nicht für den schönsten Mann, den es gibt? Aber Gustav war wirklich nicht häßlich – mit einem Wort, er sah aus wie der Baumeister. Beide ähneln wohl ihrem Vater. Auch hatte er ähnliche Gesinnungen, wie der Baumeister, was die Bildung angeht. Er sprach am liebsten nur mit Leuten, die viel wissen, und verlangte auch von den Frauen, daß sie von Allem mitreden können, wenigstens Sinn und Verstand für Alles haben, was Großes und Gutes in der Welt ist und passirt. Freilich merkte ich das erst viel später – damals war er noch ein bloßer Jüngling, und wenn wir mit einander plauderten, so war es gewöhnlich nicht von gelehrten Sachen. Und redete er einmal davon, so hörte ich ihn gern an und gab auch wohl meine Meinung dazu, denn die Worte gingen mir flink genug vom Munde. Auch war ich nicht auf den Kopf gefallen und hatte große Lust, von Allem etwas wegzubekommen und zu lernen und zu denken. Es mag Ihnen das sonderbar vorkommen, Aline, wenn Sie mich ansehen, wie ich jetzt bin und schon lange bin. Aber es vergeht Einem Manches im Leben, und Sie mögen mir glauben, daß ich damals vielleicht alles Mögliche hätte lernen können und so klug und gebildet und geistreich werden, wie irgend Eine.“

Die junge Frau glaubte das gern. War sie doch auch einst ein unwissendes Mädchen gewesen und hatte sich geistig so schnell gebildet, daß man ihre vielseitige Entwickelung bewunderte. Zugleich regte sich wieder in ihren, Herzen die heiße Dankbarkeit gegen das geistig verkümmerte Wesen, welches ihr die Mittel zu höherer Bildung gegeben hatte, und sie hätte einen Funken der göttlichen Allmacht besitzen mögen, um Emilien’s Vergangenheit auszulöschen und sie wieder jung zu machen. Diese war selber viel weniger schmerzvoll bewegt, wie sie; wenigstens fütterte sie emsig den Schirm ihres Hutgestells, und der rosenfarbene Stoff, auf welchen sie sich herabbeugte, warf einen Schimmer von der Röthe der Jugend auf ihr verblühtes Gesicht. Oder war es die Erinnerung, welche die eingefallenen Wangen lebenswarm anhauchte?

„Gustav sollte jetzt Abiturient werden,“ fuhr sie fort. „Wir hatten die herrlichsten Pläne für die Zukunft gemacht und zu ihrer Verwirklichung fehlte nichts weiter, als Geld. Tag und Nacht sann ich darüber, wie ich welches erwerben könnte, um es Gustav heimlich zukommen zu lassen. Er war zu stolz, etwas von mir anzunehmen, überhaupt da er wußte, daß wir selber nichts übrig hatten. Ich faßte den Entschluß, Directrice zu werden, und war unbeschreiblich glücklich, als zufällig gerade die Stiefmutter Gustav’s mich engagirte. Jetzt durfte ich nicht mehr darum sorgen, wie ich ihm Geld zukommen ließ, ohne ihm weh zu thun. Madame Albrecht gab meiner Bitte nach und sandte ihm meinen Gehalt in ihrem eigenen Namen; er wußte nicht, wie ihre Verhältnisse standen, und nahm die Unterstützung von der Frau seines Vaters dankbar an. – Der Abschied war mir nicht schwer geworden, ich war so glückselig, wie sich’s gar nicht beschreiben läßt, daß ich ihm die Mittel schaffen konnte, zu werden, was er werden wollte, sonst aber nicht hätte werden können. All’ mein Denken und Trachten richtete sich auf meine Arbeit, denn ich hatte gegen Madame Albrecht die Verpflichtung übernommen, Außerordentliches zu leisten; auch arbeitete ich ja für ihn. Wie hätte ich mir da Rast gönnen sollen, oder was brauchte ich überhaupt Erholung? Ich hatte früher die Musik und den Tanz geliebt, gern gelesen, auch einen Spaziergang oder eine fröhliche Unterhaltung gern gehabt, jetzt gab ich Alles das auf; ich hatte ja nicht Zeit dazu, jeder Augenblick, in dem ich nicht arbeitete, erschien mir als Zeitverschwendung. Mit siebzehn Jahren ist man noch nicht über die Eitelkeit hinaus; ich hatte mich früher gern zierlich gekleidet, schon um Gustav zu gefallen. Jetzt konnte ich keine Sorgfalt mehr darauf verwenden, das kostete Zeit und Geld, und Beides brauchte ich für ihn, und dann tröstete ich mich auch damit, daß er mich nicht sah. Ermüdung und Langeweile, oder Ueberdruß und Mißstimmung kannte ich nicht. Fielen mir Nachts, wenn ich einsam bei der Lampe saß, auch zuweilen die ungehorsamen Augenlider zu, dann raffte ich mich schnell und fröhlich wieder auf. Ich lachte im Stillen darüber, wenn Madame Albrecht sagte, ich brächte meine schönste Lebenszeit ungenossen zu, werde mich mit meinem Fleiß krank machen. Ich dauerte die gute Frau sogar, weil sie nicht aus Erfahrung wußte, daß es für mich keinen größeren Genuß geben konnte, als zu denken: Dein Gustav kann werden, was er will, er braucht sich nicht das Nothwendige abgehen zu lassen, und Dein Fleiß, Deine Geschicklichkeit ist es, was ihn vor Mangel schützt. Krankheit fürchtete ich nicht; ich war ja jung, ich arbeitete gern unausgesetzt, und es geschah nicht aus schnöder Habsucht – Gott mußte mir also Kraft [649] geben. Und er gab sie auch wirklich. Meine Anstrengung wurde belohnt – unser Geschäft kam in Ruf, und ich verdiente den für die Verhältnisse ziemlich bedeutenden Gehalt, welchen ich erhielt, dessen Verwendung mir noch eine unendlich größere Freude machte, als die Erwerbung. Ich für meine Person brauchte ja nichts – und wie gern entbehrte ich Kleinigkeiten, an denen sonst eines Mädchens Herz hängt! Mitunter that es mir sehr weh, daß wir getrennt waren, es wurde mir nach ihm so bange um’s Herz, daß ich’s gar nicht sagen kann, und ich hätte ihn so gern, so sehr gern, einmal gesehen. Aber das konnte doch nicht sein, es kostete ja zu viel. Wir hatten gleich miteinander verabredet, daß Gustav nie zu Besuch kommen sollte, daß wir uns nicht einmal schreiben wollten, denn das Geld war uns knapp und die Zeit kostbar. Auch härmte ich mich nie lange um unsere Trennung, denn ich wußte ja, wir würden uns wiedersehen und uns dann nie mehr trennen. Je weniger Zeit wir jetzt auf Briefe verwendeten, desto eher konnten wir wieder beisammen sein. Ueberdies verging die Zeit wie im Fluge und ein Jahr nach dem andern verrann.“

(Schluß folgt.)




Die Wünschelruthe.

Wer hat in seinem Leben von ihr nicht gehört? – Von ihrem wunderbaren Vermögen, in dem Innern der Erde verborgene Metalle dem suchenden Bergmanne zu verrathen, besorgten Bauherren, die das Haus eher als den Brunnen gebaut, das fehlende Wasser oder wenigstens den Ort, wo es zu ergraben sei, zeigen zu können. Sie ist die Zuflucht betrübter Erben, welche nach dem Schatze, den der Verstorbene verscharrt haben soll, vergeblich suchen, wie das Mittel, Unerfahrene zu täuschen, und zu bergmännischen Unternehmungen aufzumuntern, welches in der Hand von Betrügern oder Ignoranten immer seine Kraft behält.

Die Wünschelruthe ist eine schwache biegsame Ruthe, welche durch eigenthümliche Bewegungen in der Hand ihres Trägers die Nähe verborgener Lagerstätten edler Metalle oder sonst gesuchter Gegenstände andeutet. Ihren deutschen Namen leiten Viele von Wünschen, Andere von Winden, Drehen, noch Andere von dem plattdeutschen Wort „Wicken“ (Wicheln), was soviel als Wahrsagen bedeutet, ab. Sie heißt auch die Glücks- oder Bergruthe, da sie vorzüglich in den Händen der Bergleute sich befindet, durch welche sie über die ganze Erde verbreitet worden ist. Die Franzosen nennen sie baquette divine – die göttliche oder baquette divinatoire die weissagende Ruthe; die italienischen Bergleute verga lucente (die, welche Licht gibt, wo etwas verborgen), batteuse oder trepidante, schlagende oder zitternde Ruthe. Im Mittelalter hieß sie virga metalloscopia (die Metallerblickende), v. aurifera (die Goldbringende), auch wohl virga mercurialis, weil man ihre Erfindung dem Mercur zuschrieb, „der Musenvater, so ein trefflicher physicus gewesen, daß er mit seiner Ruthe habe Tode erwecket, daher er nach dem Tode unter die Götter gezehlet.“

Der Ruthengänger.

Daß Mosis Stab eine Wünschelruthe gewesen sei, damit er Wasser in der Wüste gesucht, „vielleicht auch auf dem Berge Sinai und Horeb Metallgänge damit habe aussuchen wollen, und sonach die Wunder vor Pharao mit solchem Stabe gethan“ – meinten die Ruthenanhänger alles Ernstes. Wenn aber ihr Alter auch nicht so weit hinaufreicht, daß eine Vergleichung von Mosis Stab mit ihr könne zugelassen werden, so ist doch soviel gewiß, daß Cicero und Varro schon von Wahrsageruthen, die von den Egyptern zu den Römern gekommen waren, reden, aus denen, indem man ihren Rath bei bergmännischen Unternehmungen einholte, die Wünschelruthe entstanden sein dürfte.

Ueber die Form und das Material dieses geheimnißvollen Instrumentes bestehen bei den alten Bergkundigen die verschiedensten Vorschriften. Während man von einer Seite hört, daß es eine aus der Wurzel des Haselstrauchs gewachsene jährige Zwiesel sein solle, die sich in eine Gabel spalte, verlangen Andere für die verschiedenen aufzusuchenden Metalle auch verschiedene Holzarten, z. B. für Blei und Zinn Tanne, für Kupfer Esche. Noch andere scrupulösere Geister trauen nur den Ruthen Kraft zu, welche an einem gewissen Tage geschnitten werden (etwa am Charfreitag vor Sonnenaufgang), oder in einer Stunde (wo der Mercur regiert), oder um die Zeit des Aequinoctiums, oder im zunehmenden Monde um Mariä Verkündigung, oder in der Johannisnacht oder Christnacht. Die Ruthe, welche an einem Montag nach Neumond geschnitten wird, schlägt hauptsächlich auf Gold, eine [650] Montags geschnittene auf Silber, eine am Dienstage geschnittene auf Kupfer etc. Beim Schneiden der Ruthen darf man gewisse Ceremonien nicht versäumen; auch ja nicht beim Hersagen des Spruches, während dessen man das Reiß mit einem Schnitt vom Stamme nennt, stottern oder husten. Man soll sich mit dem Gesicht nach Morgen zu wenden, und will man besonders kräftige Ruthen haben, so muß man sie vor Sonnenaufgang mit dem Thau schneiden.

Ja, wer das Seine vollständig thun will, der muß in der Christnacht zwischen elf und zwölf Uhr nackend auf das Ruthenschneiden ausgehen. Bei einem so kühlen Geschäft nicht zittern und im Ruthensegen nicht stottern oder sich versprechen, ist freilich etwas viel verlangt. Die Sprüche, unter deren Hersagung die Procedur des Schneidens vorgenommen wurde, waren bald kurz, bald lang, mitunter nur ein Bibelspruch ohne Sinn und Verstand angewandt, mitunter auch eine förmliche Anrede. Ein Spruch von ganz besonderer Kraft und Wirkung sollte folgender sein: „Gott grüße dich, du edel Reiß, mit Gott dem Vater such’ ich dich, mit Gott dem Sohne find’ ich dich, mit Gott des heiligen Geistes seiner Kräfte und Macht breche ich dich. Ich beschwöre dich Ruthe und Sommerlatte, daß du mir wollest zeigen, was ich gebiete, und solches so gewißlich und wahr, so rein und klar, als Maria, die Mutter Gottes, eine Jungfrau war, da sie unsern Herrn Jesum gebar. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“ – Manche tauften sogar noch die Ruthe ganz besonders, während die Radicalen, welche nichts von einer Kraft der Ruthe wissen wollten, aber auch nicht, wie die Geistlichen, an Teufelsspuk glauben mochten, sondern die Ursache, welche die Ruthe bei Metall- oder Quellensuchen bewege, in geheimnißvollen, dem Menschen innewohnenden Kräften suchten, meinten: das Beschwören der Ruthe sei unnütz und es sei ganz gleich, ob einer den ganzen Froschmäußler herbete. Deshalb brauche es aller dieser Schwierigkeiten nicht, da ja die Ruthe nichts thue, als die Kraft des Menschen anzeigen, und sei alles zu einer Wünschelruthe passend, was sich nur krümmen läßt und wieder in die Richte geht. Damit aber ging ein Glaube, daß sich nur eine jährige Haselstaude dazu eigne, zu nichte. Ein Draht wie eine Spirallinie gewunden, ein Linial, eine Lichtputze, Messer und Gabel ineinander gesteckt, Kesselringe, Eimerhölzer wurden zu Ruthen.

Die Art und Weise, die Ruthe zu halten, sie zu führen, war bei Allen gleich und hat sich bis auf unsere Zeit unter den Ruthengängern, wie man jene Leute nennt, erhalten. Man nimmt die beiden Enden (die Hörner) der Ruthe dergestalt in die Hände, daß die Finger nach oben zu gerichtet, die äußeren Handflächen dem Boden zugekehrt sind. Die Gabel der Ruthe muß zwischen den Händen in die Höhe und von der Brust des Trägers um etwa einen Fuß abstehen.

Hat der Ruthengänger sein Werkzeug dergestalt gefaßt, so fange, wie er meint, sobald sein Fuß sich den Orten nähert, wo Geld oder edle Erze, Wasser oder sonst was man suchen wolle, verborgen seien, die Wünschelruthe an, in seiner Hand sich zu bewegen, zu zittern und sich zu drehen, so daß sie sich selbst zerbrechen könne, wenn man mit den Händen ihr nicht den Willen lasse. Manche tauften wie gesagt ihre Ruthen und wenn sie dann Metallsuchen gingen, redeten sie ihr Werkzeug folgendermaßen an:

„Im Namen der heiligen Dreieinigkeit Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Auguste Caroline, willst du mir sagen so rein und wahr, als die heilige Jungfrau Maria war, da sie unseren Herrn und Heiland gebar, wie viel Lachter haben wir noch – (bis an’s Erz oder dergl.)“. – Die Entfernung oder eine sonstige Antwort auf eine Frage gibt hierauf die Ruthe durch eine Anzahl Schläge an. Die Art und Weise der Bewegung, die Anzahl und Heftigkeit der Schläge, soll auf die Menge und die Tiefe des Verborgenen einen sichern Schluß zulassen. So sollen 3 Schläge Quecksilber bedeuten, 6 Wismuth, 9 Schwefel, 10 Eisen, 12 Blei, 14 Zinn, 15 Kupfer, 22 Silber, 28 Gold.

Es ist wohl nicht unbillig, daß, je edler das Metall, es um so mehr Arbeit verlange. Ganz können aber die neckischen Geister ihren Spott mit den Menschen nicht lassen, denn durch 28 Schläge lassen sie die Ruthe ebensowohl einen Ort andeuten, an dem man beim Nachgraben nicht Gold, sondern nur ein Metall findet, welches, obwohl es jetzt, wegen der blauen herrlichen Farbe, die man daraus bereitet, sehr geschätzt wird, damals allgemein nur als das Spukmittel der Erdkobolde angesehen und deshalb auch Kobolt oder Kobalt genannt wurde.

Wolle man sich genau überzeugen, ob Gold oder Kobalt gemeint sei, so solle man ein Stück von einem dieser Metalle in die Hand nehmen, worauf die Ruthe still sein würde, wenn es von ungleicher Art wäre. Für Wassersucher, so war die Meinung, müßten die Ruthen auch besonders präparirt sein. Nichts da, sagten Jene, welche auch andere Gegenstände als Wünschelruthen handhabten, jedes Ding kann eine Ruthe sein, ein Besen, wenn er nur das Geschick dazu hat; und es wird eine solche auf Alles schlagen, aber nicht blos auf Gold oder auf Wasser; und brauchen wir dabei weder Sprüche zu murmeln, noch uns mit dem Gesichte nach Morgen zu drehen, wenn wir überhaupt nur wissen, auf was wir suchen wollen. Sie hatten eben so Recht, als die, welche in der Ruthe ein unantastbares Heiligthum sahen. Jeder fand, was er wollte. Wer nicht glaubte, daß ihm die Ruthe schlagen würde, dem schlug sie auch nicht, und wer sich hinwiederum mit der Kraft begabt meinte, Verborgenes durch das Schnellen eines gebogenen Astes aufzufinden, dem wand und drehte sich ein Kesselring in den Händen, wie ein Bauer, der in den Thurm soll, nicht wie ein Student, der mit Freuden in das lateinische Carcer geht.

Die frommen Landsknechte waren es, die mit ihren beschworenen Zauberruthen fast alles versteckte Geld, so sich unter Dach befunden, ausgelochert und manchen armen Mann dadurch wehe gethan und betrübt. Was man nur immer suchen wollte, konnte man durch die Wünschelruthe finden, sie schlug auf Alles, auf Feuer, Wasser, Eisen, Lehm, Zwiebel, Salatstauden, Fußtapfen, Geld, unbekannte Wege; wo eine Jungfrau sei, oder auch wo ein Hahnrei wohne. Sie gab die Zeit an und ersetzte dadurch die Uhren, man konnte durch sie erfahren, wann die Frau nach Hause komme, – oder aber, wen dies etwa mehr interessirt, ob der Hamster allein oder mit seiner Gemahlin im Loch sei. Dies, und hunderterlei andere, aber eben so thörichte Fragen, war die Wünschelruthe im Stande zu beantworten, und sie hat in jener Zeit genau dieselbe Rolle gespielt, wie vor mehreren Jahren der an einem Haar aufgehängte Ring, durch dessen Anschlagen an ein Glas sich Jeder beliebige Fragen, welche ihn besonders beschäftigten, beantworten lassen konnte, oder etwa wie die redenden und schreibenden Tische, die ihren Unfug in den Köpfen und Stuben unklarer Phantasten immer noch treiben. All das dumme Zeug, was die Menschen vor zwei- oder dreihundert Jahren schon getrieben, brachte das aufgeklärteste aller Geschlechter wieder zu Ansehen, und es ging dabei genau von denselben verkehrten Begriffen und Vorstellungen, von geheimnißvollen noch unentdeckten Naturkräften aus, wie die Voreltern, denen beiweitem ein so klarer Blick in das Wesen und Wirken der Kräfte in der Natur zu thun nicht gestattet war.

Thierischer Magnetismus, Od, Lebenskraft, geistiger Rapport, Somnambulismus, Sympathie und ähnliche Schlagworte, die von jeher nichtssagende Ausdrücke für unklare oder ganz mangelnde Begriffe waren, übten im Munde confuser Köpfe auf die Menge einen merkwürdigen Einfluß. Genau so wie mit alle dem Firlefanz, der vor acht, neun Jahren spukte, wurde von jeher mit der Wünschelruthe umgesprungen. Und da sonst ganz unbefangene Köpfe die Thatsache, daß die Ruthe schlaget, nicht leugnen konnten, eben so wenig wie man leugnen kann, daß sich der Tisch dreht, wenn zehn Personen „eine Kette bilden“, so mußten sie, weil ihnen der Einblick in gar viele Gebiete der Natur noch verschlossen war, zugestehen, daß die Sache doch etwas Merkwürdiges an sich habe. Da sie aber keineswegs, wie die Geistlichkeit, die Sache damit abthun und erklären konnten, daß sie dieselbe einfach für Teufelsspuk ausschrien, so brachten sie die gewagtesten natürlichen Erklärungen auf’s Tapet, denen zufolge die Metalle bald Dünste ausstoßen sollten, die sich mit gewissen kleinen Körperchen in der Ruthe verbänden und als Folge dieser Vereinigung, bei welcher gewissermaßen im Innern der Ruthe getanzt würde, das Zittern der Ruthe hervorbrächten; bald sollte das Holz auf eine magnetische Art afficirt werden, oder aber es sollte zwar nicht die Wünschelruthe eine animam vegetativam (eine Pflanzenseele) haben, sondern vielmehr eine Art sechsten Sinnes des Menschen, ein ahnendes, magnetisches, sensitives Etwas, solle durch die Nähe verborgener Schätze, unterirdische Wasseradern oder was sonst wünschenswerth war, in Erregung gebracht und der Wünschelruthe durch die Nervenerschütterung diese Erregung mitgetheilt werden. Diese letzte Erklärung des Schlagens trifft die Sache fast auf den Kopf; wenn noch mancherlei [651] daran hängt, was unklar und geradezu aus der Luft gegriffen ist, so ist doch damit eine entscheidende Wahrheit gesagt, daß einem einfachen dürren Holzreis, wie die Wünschelruthe ist, keine bewegende Kraft innewohnen könne, die durch Metallausdünstungen, oder gar durch einen geistigen Rapport erregt würde, sondern vielmehr, daß die Ursache der Bewegung der Wünschelruthe im Menschen, der sie in den Händen hält, liegen müsse. Es ist in der That nicht anders. Wir brauchen wohl kaum zu erwähnen, daß es mit den Anziehungen, die Metalle auf die Ruthe ausüben sollen, nichts ist; die Vorstellungen kleiner Geisterchen, welche die Erscheinungen hervorbrächten, müssen wir ebenso unbefriedigt weglegen, und die Annahme einer noch unentdeckten Naturkraft ist ebenso unzulässig, da uns diese Kraft in keiner Weise Stand hält, wo es sich um ein Messen derselben oder um eine Untersuchung ihrer charakteristischen Eigenschaften handelt.

Wir haben es bei der Wünschelruthe genau mit derselben Kraft zu thun, die den Tisch in drehende Bewegung versetzt, die den Ring, welchen man an ein Haar gebunden in ein Glas hält, durch sein Anschlagen an die Wände des Glases die Gedanken entfernter Personen verkünden läßt. Es ist, was man gewöhnlich die Muskelkraft nennt. Durch die ununterbrochene Aufmerksamkeit nämlich, welche die Seele dem so geheimnißvollen Experimente zuwendet, wird das Maß der Kraft, die die Anspannung der Muskeln bewirkt, welche sich in einem Druck nach Außen zu erkennen gibt, nicht gehörig controlirt und ohne daß man will und weiß ein Spiel hervorgerufen, das sich in einem fortwährenden Anspannen und Erschlaffen der Muskeln in rascher Aufeinanderfolge zu erkennen gibt. Es sind dies freilich so geringe Unterschiede in der Muskelthätigkeit, daß man die einzelne Aeußerung derselben nicht zu erkennen vermag, allein da sie immer in derselben Art wirken, also das Haar, welches den Ring trägt, immer in derselben Richtung hin in zitternde Bewegung versetzen, werden sie sich endlich zu einer Summe vereinigen, die einen sehr merklichen Effect hervorbringt, genau wie die Glocken, die das schwache Kind läuten kann. Der Ring schlägt an die Wände des Glases an, der Tisch dreht sich, die Wünschelruthe antwortet durch ihre Bewegungen den Fragen des Bergmanns. Dieser Effect wird um so rascher sichtbar, je nervöser die Person ist, je weniger sie ihre geistigen und körperlichen Kräfte in einer gleichmäßigen ruhigen Verfassung zu halten vermag. Die Anhänger des Od und der Wunder des thierischen Magnetismus nennen solche Personen sensitive Menschen, während sie nur krankhaft aufgeregt und nicht Meister ihrer eignen Kräfte sind. Deshalb schlägt die Wünschelruthe nicht allen Leuten, sondern nur denen, die daran glauben und nur auf das, was sie ernstlich wollen, die also ihre Sinne gefangen geben und dann gern für eine überirdische Offenbarung annehmen, was nur ein Spiel ihrer unbeobachteten Muskeln und Nerven war. Unbefangenen und kaltblütigen Menschen sind alle diese vermeintlichen Einblicke in eine höhere Geisteswelt unmöglich gemacht. Was läßt sich aber auf eine Erfahrung aus dem Bereiche der Weltordnung geben, die nur von Frauen, Kindern oder Schwächlingen gemacht werden kann? Warum sollte der ruhig denkende Geist des von Vorurtheil nicht befangenen Mannes eine Kraft nicht erkennen können, die sich doch an jedem Leichtgläubigen bethätigt?

Die Wünschelruthe zittert und schlägt, aber ihr Schlagen bedeutet so viel, als das Anschlagen des Ringes an das Glas. Nämlich Nichts. Es ist merkwürdig, daß das Experiment mit dem Ringe, welches schon vor zweihundert Jahren bekannt war, bereits zu jener Zeit auch in einen ursachlichen Zusammenhang mit der Wünschelruthe gebracht wurde, nur glaubte man aber damals noch an geheime Naturkräfte, die bei den Erscheinungen zu Grunde liegen sollten und deshalb auch an ihre Wirkungen. Heutzutage wissen wir, wie nichtig ein solcher Glaube im Reich der Naturwissenschaften ist. Wenn wir auch sehr Vieles noch nicht wissen und von manchem nur entfernte Ahnungen haben, so ist doch das zweifelhafte Gebiet noch unerforschter Kräfte durch die gewaltigen Axthiebe, welche die Genies unserer Tage im Dunkel jenes bisher pfadlosen, fast schaurigen Urwaldes erschallen ließen, gelichtet worden. In der Wünschelruthe steckt keine geheime Kraft, sie mag geschnitten sein, wenn und unter welchen Ceremonien sie immer will. Die Leute, welche das Land durchziehen und Wasser und Metalladern aufspüren wollen, sind entweder Betrüger oder von ihrer eignen Unwissenheit Betrogene, auf ihre Aussagen ist soviel zu geben, als auf das Niesen der Hauskatze. Freilich ist die Ruthengängerei noch sehr in Gebrauch, das beweist aber nur, daß die Menschen noch leichtgläubig sind. Die Bergleute, welche ihr Leben in den dunkeln unterirdischen Klüften verbringen, haben alle einen starken Glauben an das Uebernatürliche, und es ist nicht zu verwundern, daß sie ein Instrument noch hoch in Ehren halten, an das sich alle Erinnerungen ihres romantischen Standes knüpfen. Aber der Mensch, der im Lichte der Oberwelt lebt, der da sieht, daß ein Halm nur wächst, wo ein Korn lag, dessen Sinne ihm unaufhörlich das Spiel zwischen Ursache und Wirkung zeigen, darf vagen unbestimmten Vorstellungen nicht trauen. Man wird zwar dagegen einwenden, daß die Ruthengänger wirklich Wasser gefunden haben. Das ist wohl wahr, allein man würde auch Wasser angetroffen haben, wenn man nur die Schichtungsverhältnisse des Bodens und der Gesteine, von denen das Erbohren von Quellen abhängig ist, berücksichtigt hätte. Wahrscheinlich ist auch ein gewisser praktischer Blick das entscheidende Merkmal, welches die Ruthengänger, die meist Bergleute sind und als solche eine empirische Einsicht in mancherlei geognostische Verhältnisse gewonnen haben, bestimmt, ihr Werkzeug gerade an dem oder jenem Orte schlagen zu lassen, und dieses selbst nur ein Mittel, die dem Unbegreiflichen zugethane Menge zu täuschen. Verlangt man Aufschlüsse über das Innere der Erde, sei es, um bergmännische Unternehmungen darauf zu gründen, oder um sich mit Wasser zu versorgen, so wird man diese allein von einem wissenschaftlich gebildeten Geognosten erlangen können. Die Wünschelruthe wird, da nur Betrüger oder Unwissende sie in die Hand nehmen, in allen Fällen, die vom Zufall nicht begünstigt werden, auf Stellen schlagen, welche Mühe und Geld unersättlich verschlingen.




Populäre Briefe über Musik.
Von A. v. Dommer.
II.
Harmonie. – Rhythmus.

Ein ähnliches Gefühl, nur entgegengesetzter Art, wie beim Aufwärtssteigen der Tonleiter, wird man haben, wenn man sich niederwärts wendet; wie dort nach dem Leitton hin immer allmählich anwachsende Bewegung stattfand, so macht sich hier ein Nachlassen von der Octave zum 1. Ton abwärts fühlbar. Dieser Ton (d) verlangt allerdings nicht mit der Bestimmtheit wie der Leitton seine Rückkehr nach c, sondern nimmt auch mit einem unvollkommenen Schluß auf dem 3. Ton, e, fürlieb.

Bei diesem stufenweisen Auf- und Absteigen der Tonleiter haben wir stets die Vorstellung einer ruhigen Stetigkeit, entweder in der An- oder Abspannung. Versetzen wir nun einmal die Intervalle, so daß sie nicht mehr allein stufenweise, sondern auch sprungweise aufeinander folgen, also ein Wechsel von ruhiger Folge und hastiger Bewegung sich bildet – und Sie werden augenblicklich die, so zu sagen, veränderte Gemüthsstimmung erkennen, welche die Tonleiter neu angenommen hat:

c⁀e d⁀g f⁀a g⁀c

Die Octave wird hier nicht mehr in jenem ruhig stetigen Aufwärtssteigen erreicht, sondern in mit stufenweisen Folgen abwechselnden Sprüngen – es ist ein Charakter der Munterkeit, der Lebhaftigkeit in unsere vorhin durchaus ruhige Tonfolge hineingekommen.

Diese Lebhaftigkeit wird fast das Wesen des Affectes annehmen, wenn die schrittweisen Stufenfolgen ganz wegfallen, und die Sprünge sich erweitern, unregelmäßiger werden. So z. B.

c f d a f h g c.

[652] So wird also ganz naturgemäß eine Steigerung des Gefühls aufsteigender Tonfolgen sich bedienen, ein Abnehmen oder Zurücksinken der Stimmung in abwärts sich neigenden einen entsprechenden Ausdruck finden. Eine unruhige, feurige Leidenschaft wird in größeren, unregelmäßigeren Intervallensprüngen sich kundgeben, während dagegen ein ruhiges Sichgleichbleiben auch sanftere, ruhigere Tonfolgen hervorruft. Der Jubel, die Freude, überhaupt die mehr als Affecte sich äußernden Gefühle streben aufwärts, die Trauer, die Demuth, sowie alle mehr in sich selbst sich versenkenden Gemüthsbewegungen neigen sich niederwärts.

Den Punkt, bis zu dem eine solche Ausdrucksfähigkeit bloßer Intervallenfortschreitungen ohne Rhythmus und Harmonie, mit vollkommener Sicherheit zu verfolgen wäre, können wir hier nicht aufsuchen – wie überhaupt bei der populären Darstellung einer Wissenschaft oder Kunst die in sehr enge Grenzen gewiesene Untersuchung zur völligen Austragung des Gegenstandes nicht gelangen kann. Später werden wir noch sehen, daß die Melodie manches Uebereinstimmende mit der Sprache und Declamation hat, selbst eine Sprache ist, jedoch eine potenzirte, zum freien selbständigen Gesang für sich, erhobene Sprache, von der die Declamation als allerdings nothwendiger Theil erscheint. Man möge nur die Töne eines wirklich empfindungsvollen, von einem begabten Menschen im richtigen Affect gesprochenen Satzes zusammenfassen, und wird nicht leugnen können, daß die Hebungen und Senkungen der Declamation, folglich auch des dem Satze zu Grunde liegenden Gefühls, die Grundlage der Hebungen und Senkungen der zu demselben Satze gebildeten Melodie sein werden. Doch was die bloße Sprache und Declamation gewissermaßen noch auf einer Naturstufe ausdrückt, gibt die Musik und Melodie in freiem Kunstausdruck wieder; daß ich eine in’s Einzelne hineingehende Nachahmung der Wortdeclamalion in der Melodie keineswegs für zulässig halte, wird sich später zeigen.

Im Allgemeinen sind Sie gewohnt, die Melodie im engeren Sinne aufzufassen, und zwar als die obere oder überhaupt am meisten in’s Ohr fallende Stimme eines Musikstücks; es ist Ihnen geläufig, die Melodie von der Harmonie getrennt, die letztere als Begleitung der ersteren, zu denken. In der weiteren Bedeutung ist, wie schon erst erwähnt, jede Stimme eines gutgesetzten Tonstücks bis zu einem gewissen Grade, Melodie, diese deshalb Bestandtheil der Harmonie, wie die Harmonie wiederum ihre Grundlage ist.

Unter Harmonie versteht man nun das, auf mannichfachen Gesetzen beruhende gleichzeitige Erklingen von Tönen.

Man kann auch weiter sagen: die Harmonie ist das, zu consonirenden und dissonirenden Ton-Verhältnissen zusammentreffende, gleichzeitige Erklingen mehrerer übereinanderliegender Melodieen. Besonders deutlich zeigt sich dieses an dem polyphonen Styl der kirchlichen Tonkunst, dessen Charakter ist, daß jede der übereinanderliegenden Stimmen ausgebildete, selbständige Melodie sein, und doch mit den andern in einem einheitlichen Zusammenklang aufgehen soll. Dieser Zusammenklang ist die Harmonie.

Sowie eine Folge von richtigen und wohlklingenden Harmonien ohne irgend welche Melodie nicht denkbar ist – ebensowenig eine, wenn auch rein einstimmige Melodie ohne einen, ihren Intervallenschritten zu Grunde liegenden harmonischen Inhalt. Die meisten Intervallenschritte einer Melodie sind Bestandtheile eines Accordes; harmoniefremde (durchgehende) Noten leiten von einem Accord-Intervall zum andern über, die Härte bloßer Accordschritte mildernd und zur Melodie abrundend.

Auch eine rein einstimmige Melodie, ohne jede Begleitung hat in ihren Tonfolgen und Entfernungsmaßen des einen Tones vom andern doch jederzeit eine Hinweisung auf Zusammenklang mit andern Nebenstimmen; ein musikalisch gebildetes Ohr vernimmt mit der Melodie die Harmonie gleichzeitig, auch wenn sie nicht dazu gespielt oder gesungen wird. Ebenso entsteht in der Composition bei Erfindung der Melodie die Harmonie unmittelbar gleichzeitig mit ihr, wird nicht erst, nachdem jene fertig ist, ausgedacht und hinzugefügt.

An und für sich gedacht, erscheinen bloße Accordfolgen eines Gefühlsausdruckes bei weitem weniger fähig, wie die Melodie (oder der Rhythmus). Erst der neuesten Musik gehört eine größere Selbständigkeit der Harmonie für sich an; diese erst besitzt eigentliche harmonische Effecte und Wirkungen, während in der erstern, besonders auf den Grundsätzen des polyphonen Styles ruhenden, die Harmonie, wie schon erst erwähnt, mehr als aus dem Zusammentreffen übereinanderliegender Melodien gewissermaßen zufällig hervorgeht. Wenn in unserer modernen Musik die Melodie bei einer Reihe von Accordfolgen auch niemals gänzlich fehlt, so tritt sie doch oft in den Hindergrund zurück, sodaß die Wirkung und der Ausdruck einer oder der anderen Partie in einem Tonstück hauptsächlich auf der Harmonie beruht. Es kann nicht nur plötzliche Modulation in ferne Tonarten eine plötzliche Umstimmung des Gefühls, oder ein allmähliches Verlassen, ein entsprechend allmähliches Heraustreten aus einem Gemüthszustande versinnlichen, sondern bestimmte Harmoniefolgen je nach der Härte oder Weichheit, dem einfachen oder complicirten Verhältniß ihres Zusammenklanges können auch entsprechenden Gefühlsausdrücken zur Folie dienen.

Also, wie die Harmonie jederzeit tonliche Grundlage der Melodie ist, so hat sie auch sehr wichtige Bedeutung, nicht etwa als nur decoratives, sondern auch zur Deutlichkeit und Modification der in der Melodie ausgesprochenen Stimmung beitragendes Element. Manche Theoretiker, die der Harmonie nur reines Verstandesinteresse gönnen und sie deshalb als etwas der Tonkunst überflüssiges, ja nachtheiliges ansehen, haben diese Meinung wohl mehr einer eigenen begrenzteren Sinnlichkeit wie einem objectiven Nachdenken über die Sache zu verdanken.

Eine rein einstimmige Musik würde uns geradezu langweilen – denken Sie sich, wenn Sie können, eine Symphonie ohne die Fülle der Nebenstimmen und den Reichthum des Tonwechsels in der Harmonie! Und ganz von der Tonwirkung abgesehen, steht der Harmonie eine hohe ästhetische Bedeutung zu; denn die, man möchte sagen, subjective Einsamkeit einer einzelnen einstimmigen Melodie geht in der Vereinigung mit der Harmonie gewissermaßen ein Bündniß mit der größeren Allgemeinheit ein, von der sie nunmehr getragen wird. Die Vereinigung einer reicheren Mannichfaltigkeit von Tönen oder Melodien in der Einheit der Harmonie kann weder der Bedeutung noch der Form nach der Kunst entgegensein, da die Harmonie nicht nur eigene Wirkungen für sich mit sich führt, sondern auch die vereinzelte Schönheit einer einstimmigen Melodie auf eine höhere Stufe der Mannichfaltigkeit erhebt.

Ueber einige Harmonieverhältnisse sei es gestattet, noch etwas zu erwähnen; die Zusammenklänge von Tönen sind jedoch so ungemein reich, daß wir uns natürlich auf die allereinfachsten beschränken.

Daß unser Tonsystem sich in zwei Hauptklanggeschlechter sondert, in Dur und Moll, ist Ihnen bekannt. In der Durtonleiter sind Terz und Sexte groß, in der Molltonleiter klein. Das Durgeschlecht charakterisirt sich in helleren und heiteren Klangfärbungen, die kräftigeren und heiteren Stimmungen gehören ihm an; dem Mollgeschlecht ist der Stempel der Schwermuth und Weichheit aufgedrückt,[WS 1] und die entsprechenden Gefühle finden im allgemeinen in ihm ihren Ausdruck.

Die ganze Masse von Accordgestalten, welche die Musik besitzt, können wir in zwei Hauptgruppen theilen – nämlich in Dreiklänge und Septimenaccorde; alle anderen Accordbildungen sind entweder Ableitungen von diesen Grundformen, oder auch zufällige Accorderscheinungen (Vorhalte, alterirte Harmonien) und deshalb auch im letzteren Falle auf jene Grundformen stets zurückzuführen.

Der Dreiklang ist das Zusammenklingen des Grundtons mit seiner Terz und Quinte: ist die Terz groß, so ist es ein großer Dreiklang, ein Duraccord (c–e–g); ist sie klein, so ist es ein kleiner Dreiklang, ein Mollaccord (c–es–g). Ebenso entsteht aus dem großen Dreiklang der übermäßige (c–e–gis) durch Erhöhung der Quinte, und der verminderte (cis–e–g) durch Erhöhung des Grundtons.

Fügen Sie dem Dreiklang eine dritte Terz (die Septime vom Grundton) hinzu, so entsteht der Septimenaccord. (c–e–g–h der große, mit großer Septime, c–e–g–b, der kleine, mit kleiner Septime und cis–e–g–b, der verminderte Septimenaccord mit verminderter Septime; ebenso auch die Septimenaccorde c–e–gis–h und c–es–g–b.)

Nur der große und kleine Dreiklang sind consonirende Accorde – alle übrigen chromatisch veränderten Dreiklänge, sowie alle Septimenaccorde sind dissonirende Harmonien, welche demgemäß der Auflösung in consonirende Harmonien bedürfen. Alles vorhin über die Dissonanzen gesagte, findet hier seine Anwendung.

In der Tonleiter waren uns vorhin drei Töne besonders [653] wichtig geworden: der Grundton, die Quinte und die Quarte. Ebenso wichtig sind uns die auf diesen drei Tönen errichteten Dreiklänge: der tonische, der Dominant- und der Unterdominant-Dreiklang genannt.

Ebenso können Sie auf allen andern Stufen Dreiklänge aus den Tönen der Tonleiter errichten, und diese Accorde heißen alsdann leitereigene Dreiklänge. So also z. B. in C-dur:

g a h c d e f
e f g a h c d
c d e f g a h

Die 1., 4. und 5. Stufe trägt Durdreiklänge, die 2., 3. und 6. Molldreiklänge, die 7. dagegen einen verminderten Dreiklang. Ebenso kann man auch jedem dieser Dreiklänge eine leitereigene Septime hinzufügen.

Diese Accorde kann man nun miteinander verbinden, ohne die Tonart zu verlassen. Der Dominantaccord macht stets, direct oder indirect mit dem tonischen Dreiklang verbunden, den Schluß, weil seine Terz der Leiteton ist. Tritt nun der Dominantaccord einer fremden Tonart mit seiner der vorherigen Tonart fremden Vorzeichnung vor seiner Terz auf (z. B. d-fis-a), so führt er in diejenige Tonart, deren Leiteton seine Terz ist (fis ist Leiteton von g, also nach g-dur oder Moll). –

Der Rhythmus ist die Gliederung des Zeitinhaltes eines Tonwerkes. Unsere bisher ohne Theilung, so zu sagen anfang- und endlos hinströmende Reihe melodisch und harmonisch verbundener Töne sondert und gliedert der Rhythmus nun in bestimmte Sätze, in geordnet zusammengefaßte Gedanken, deren jeder als seinem Inhalt nach durch Anfang und Ende faßlich begrenzter Zeitraum für sich, als Satz, Periode oder Satzgruppe im Ganzen des Tonstückes und als Theil desselben ähnlich dasteht, wie Satz, Periode und Satzgruppe in der Rede.

Der Rhythmus ist der selbstständigste unserer drei Factoren. Man könnte sich keine Melodie ohne Harmonie denken, ebensowenig das umgekehrte Verhältniß – viel eher kann man sich einen Rhythmus von beiden abgelöst, für sich allein denken. Als das am leichtesten verständliche und faßliche der musikalischen Ausdrucksmittel, erscheint er auch als das selbst dem weniger gebildeten Menschen am leichtesten erkennbare Analogen unserer Gemüthsbewegungen. Er verleiht der Verbindung von Melodie und Harmonie erst recht eigentlich den charakteristischen Ausdruck; durch seine beharrende oder wechselnde, dem Gange des zu schildernden Gefühls analoge Bewegung macht er die Melodie oder den Tonsatz zu einem Spiegelbild des inneren Seelenlebens.

Ebenso, wie zur Melodie ein Wechsel von Höhe und Tiefe, zu der Harmonie ein Wechsel der Vereinigung erforderlich ist, ebenso gehört zum Rhythmus eine Mannichfaltigkeit in der Bewegung. Ganz gleichmäßig, sowohl in Betreff der Zeit als auch der Stärke, aufeinanderfolgende Schläge bieten gar keine Veranlassung zu einer Gliederung. Man kann das angenommen ganz gleichmäßige Pendelschlagen einer Uhr zu keinem rhythmischen Gedanken zusammenfassen, denn es fehlt jeder Moment, der sich auf Grund einer deutlich hervortretenden Gliederung oder Betonung als Anfang oder Ende eines rhythmischen Gebildes kundgeben könnte.

Anders wird es schon, wenn der erste von zweien oder dreien dieser Pendelschläge stärker betont wird, wenn ein Accent darauf ruht. So finden wir in unserer einfachen Choralmelodie, welche sich in ganz gleichen halben oder Viertelnoten bewegt, außer den die Sätze abtheilenden Fermaten nur den Rhythmus des Accents: ´– – | ´– – | ´– – | u. s. w.

Setzen Sie statt dieses Wechsels von stark und schwach den von lang und kurz, also – υ | – υ | – υ |, so erhält der Rhythmus, da der Accent nichtsdestoweniger nicht ausbleibt, schon ein beliebteres rhythmisches Bild.

Der musikalische Rhythmus ist nun einer unendlich reichen Gliederung fähig, deren Grundlage allerdings immer der Wechsel von langen und kurzen, betonten und accentlosen Noten sein wird. Ebensowenig, wie bei einem völligen Mangel an Abwechselung, können wir von Rhythmus sprechen, wenn diese Verschiedenheit zwar vorhanden ist, aber ohne alle gleichmäßige Wiederkehr. Also eine Regelmäßigkeit in der Verschiedenheit, eine Wiederkehr in der Abwechselung ist die Bedingung des Rhythmus.

Diese Regelmäßigkeit ist der Takt (in der Poesie das Metrum), die Zusammenfassung der ungleichartigen rhythmischen Momente in stets wiederkehrende gleiche Summen. Die gesammte, mannichfach wechselvolle Bewegung einer Melodie, so zu sagen ihre Physiognomie der Bewegung in der Zeit, ist der Rhythmus – das Maß, nach welchem die Verschiedenheit der Bewegung in einer Tonreihe zu gleiche Summen enthaltenden Zeitabschnitten sich zusammenaddirt, ist der Takt.

Kann man die Inhaltssumme des Taktes durch fortgesetzte Halbirung ohne Brüche in stets gleiche Theile zerlegen, so ist es eine gerade Taktart, der 4/4 Takt (der 2/4, 4/8 Takt sind nur Unterarten); gibt die Halbirung dagegen einen Bruch, so ist es eine ungerade Taktart, 3/4 Takt. Die einzelnen Theile des Taktes können Sie nun in kleinere zerlegen oder zu größeren zusammenziehen, ohne dadurch die Zeitdauer des Taktes zu verändern. So kann z. B. der 3/4 Takt in 12/16 sich auflösen oder zu einer halben Note und einem Viertel sich zusammenziehen – der Zeitinhalt des Taktes wird dadurch nicht verändert, nur seine rhythmische Gestalt.

Das erste Theilungsglied des Taktes trifft der Accent, die natürliche metrische Betonung; es wird der gute Takttheil genannt.

Alle Rhythmen im Tonstück, die großen rhythmischen Perioden und die kleinen rhythmischen Bilder oder Motive, ebenso auch der Takt bewegen sich nun auf einem in völliger Gleichmäßigkeit seines fortströmenden Flusses beharrenden Hintergründe. Dieser ist das Tempo, das allgemeine Zeitmaß, der Grad der Geschwindigkeit oder Langsamkeit der Bewegung des ganzen Tonsatzes. Das Tempo des Musikstückes strömt in unablässiger Gleichmäßigkeit vorwärts, während mannichfache, ihrem speciellen Zeitwerth nach verschiedene Gliederungen des gesammten Zeitinhaltes, die einzelnen Rhythmen, auf und niedertauchen, und der Takt diese Mannichfaltigkeit der einzelnen Rhythmen in Zeitabschnitte von gleicher Inhaltssumme zusammenfaßt.

Im nächsten Briefe[WS 2] wollen wir die ersten Gedankenbildungen, die Entwicklung des Motivs zum Satz und zur Periode betrachten. Manches Einzelne wird alsdann noch klarer werden.




Garnison- und Parade-Bilder.
Nr. 3. Ein Tag bei dem „Alten“.[1]

Die zweite reitende Batterie der X. Artillerie-Brigade cantonirte bei W. in magern Quartieren, die aber das Angenehme hatten, daß sie der Haide nahe lagen, auf welcher der genannte Truppenkörper die jährlichen Schießübungen abhielt. Die diesjährige war vor drei Tagen mit einer allgemeinen Besichtigung eröffnet, der sich durch beinahe vier Wochen das lehrreiche Instructionsschießen oder das Exerciren in größeren Abtheilungen in angenehmer Abwechselung anschließen sollte.

Die Mannschaft der bezeichneten Batterie war zum Appell zusammengetreten und erwartete die dienstlichen Anordnungen für den nächsten Tag. Der Batterie-Chef, Hauptmann v. R., erschien vor der Front, wo er von den Officieren empfangen wurde.

„Zur Parol!“ commandirte er kurz. Die Avancirten schwenkten zum Kreise um die Officiere. „Lesen Sie den Brigadebefehl, Wachtmeister!“ Dieser schlug das gefürchtete Befehlsbuch auf und las:

„Die zweite reitende Batterie stellt für den morgenden Schießtag einen gewandten und intelligenten Avancirten, der befähigt ist, meine Befehle richtig aufzufassen und genau wiederzugeben. Derselbe hat sich im ordonnanzmäßigen Anzüge, früh 6 Uhr, bei mir [654] und dem Brigade-Adjutanten zu melden, (gez.) v. T., Oberst und Brigadier.“

Der Capitain wandte seine Augen musternd auf das lustige Völkchen der Bombardiere, um die geeignete Persönlichkeit für dies freilich in mancher Beziehung sehr kitzlige Commando herauszufinden. Er schwankte sichtbar in der Entscheidung, und seine Blicke richteten sich sorgend auf den Wachtmeister.

„Wollen Sie nicht aus unsern Officier-Aspiranten wählen?“ schnarrte der mißliebige Premier-Lieutenant durch die Nase.

„Ich weiß nicht, ob ich es wagen darf, die „jungen Herren“ mit dem „Alten“ in eine so nahe Berührung zu bringen,“ erwiderte der Hauptmann, „doch werde ich kaum eine andere Wahl haben,“ und sich schnell den Bezeichneten zuwendend, fragte er lächelnd:

„Nun, meine Herren, wer fühlt sich von Ihnen angeregt, morgen den Galopin bei dem Herrn Brigadier zu machen?“

Mit einem bescheidenen: „Ich bitte mich zu commandiren,“ trat der Verfasser, der damals die Ehre hatte, die Uniform der Bombardiere der preußischen Artillerie zu tragen, vor die Front.

„Dacht’ ich’s doch!“ brummte der Capitain. „Nun, meinetwegen. Wachtmeister, instruiren Sie den Bombardier L. sehr sorgfältig und sorgen Sie namentlich dafür, daß derselbe in durchaus dienstmäßigem Anzüge erscheint und daß sonst keine Windbeuteleien mit unterlaufen.“

Nachdem der Appell beendigt war, sammelten sich die befreundeten Cameraden neckend um meine werthe Person, der Eine beglückwünschte mich zu meiner Erhebung zum Brigade-Adjutanten, ein Anderer empfahl sich angelegentlichst meiner gewichtigen Protection, während ein Dritter meinte, daß er lieber allein gegen eine feuersprühende Batterie marschiren, als mein Commando übernehmen wolle. Endlich trat auch noch der Fähnrich in unsern Kreis. Der Inhaber dieser vielbegehrten Charge, von welcher man mit Recht sagen kann:

„Und wer’s zum Fähnrich erst hat gebracht,
Der steht auf der Leiter zur höchsten Wacht.“

war ein junger Mann, der bereits das Officier-Examen bestanden hatte und seiner Ernennung mit jedem Tage entgegensah. Er war das Orakel der „jungen Herren“, wie die Officier-Aspiranten von dem Capitain, wenn er bei guter Laune war, gewöhnlich genannt wurden, und vertrat mit großer Selbstverleugnung die vielen dummen Streiche, die freilich meistens unter seiner Mitwirkung und zum großen Theil unter seiner unmittelbaren Anführung gegen Kriegsartikel und Disciplin in Scene gesetzt wurden.

Mit einer Ernsthaftigkeit, die mir an ihm fremd war, trat er heute auf mich zu, indem er sagte: „Welcher Teufel mußte Sie denn reiten, als Sie sich zu diesem Commando meldeten? Wissen Sie denn wohl, was es heißt, einen ganzen Tag an den „Alten“ angeschmiedet und wehrlos dem Kartätschfeuer seiner zarten Redensarten ausgesetzt zu sein? Ich beneide Sie nicht um die Millionen Millionenhunde, die morgen auf Ihren blonden Scheitel niederschmettern werden, und Sie können sich aufrichtig Glück wünschen, wenn Sie mit seiner Riesenfaust nicht in unangenehme Berührung kommen.“

Als der Fähnrich sah, daß ich unter dem Eindrucke dieser Worte unwillkürlich die Farbe wechselte, fuhr er lachend fort: „Doch das kann nun Alles nichts helfen; jetzt heißt es, mit Geschick die Suppe ausessen, welche Sie sich selbst eingebrockt haben, und dazu ist vor allen Dingen die größte Keckheit nöthig, und daran fehlt es Ihnen ja nicht. Uebrigens keinen Faden eigenes Zeug! das rathe ich Ihnen. Der „Alte“ ist nämlich der unantastbaren Meinung, daß der langnasige Brigadeschneider der größte Kleiderkünstler seiner Zeit ist, weshalb er in eine wahre Berserkerwuth geräth, wenn er auf dem Leichnam seiner Artilleristen irgend ein Kleidungsstück entdeckt, das nicht durch die bekrallten Finger dieses obersten Ziegenbockes aller Brigade-Ziegenböcke gegangen ist.“

Nach dieser wohlgemeinten Warnung reichte er mir die Hand zum Abschied, indem er sagte: „Der Alte hat auch seine guten Tage; gebe der Himmel, daß Sie morgen einen solchen treffen!“

Mit tausend Besorgnissen belastet, die meine Cameraden wach gerufen hatten, wanderte ich meinem Quartier zu. Ich durfte mir nicht verhehlen, daß der morgende Tag sehr verhängnißvoll für mich werden konnte. Mit dem Alten war nicht gut Kirschen essen; das kleinste Versehen im Dienste konnte ihn rasend machen, und in solchen Momenten gehörte es nicht zu den Seltenheiten, daß seine riesige Faust centnerschwer auf das Haupt des Unglücklichen fiel, der sich seinen Zorn zugezogen hatte. Ich kannte die hundert Anekdoten, die man sich, um seine nicht zu übertreffende Derbheit zu charakterisiren, von ihm erzählte, und wußte die Kraftausdrücke an den Fingern herzuzählen, mit welchen er seine Umgebung zu regaliren pflegte. Aber aus alle dem sprach eine gewisse soldatische Offenheit, die selbst in ihrer übertriebenen Geradheit kaum verletzen konnte, und so manche Geschichte, die man sich von ihm erzählte, barg die größte Herzensgüte als schönen Kern in rauher Schale.

Mußte das Personal des Brigadestabes doch mit ihm täglich umgehen, warum sollte ich dies denn nicht auf wenige Stunden können? „Der Alte ist so schlimm nicht!“ rief ich mir zu. „Was habe ich zu fürchten, wenn ich seine Befehle mit Aufmerksamkeit vollziehe? Nichts, durchaus nichts! Lächerliche Furcht! ich bin stolz auf mein Commando und werde ihm Ehre zu machen wissen.“

Mit solchen Reflexionen sprach ich mir Muth ein, was mir so gut gelang, daß ich beruhigt mein Quartier erreichte, wo ich meinem Burschen zum nächsten Tage die nöthigen Befehle gab.

Der Kanonier, welcher die Ehre hatte, mein Pferd zu versehen und meine Armaturstücke zu putzen, diente bereits sieben Jahre. Er war mit Leib und Seele Artillerist, und in Bezug auf den kleinen Dienst das Orakel seiner Cameraden. Bei allem Respect vor meiner Bombardierwürde, glaubte er doch, daß meine militairische Erziehung seiner Leitung anvertraut sei. Jeden Tadel, der mich traf, fühlte er deshalb auch tief mit, und oft wollte es mir scheinen, als fürchtete ich seine stillen Vorwürfe mehr, als die lauten Zornesausbrüche meiner Vorgesetzten.

Heute empfing er mich mit unverkennbarer Verdrossenheit.

„Also morgen Ordonnanz?“ frug er mit einem Gesichte, aus welchem Verdruß und Unwillen sprachen.

„Ordonnanz?“ entgegnete ich mit gereizter Stimme; „hast Du denn beim Appell keine Ohren gehabt? Ich bin als Galopin zur Aushülfe des Herrn Brigade-Adjutanten commandirt, und werde dessen Functionen zu versehen haben, wenn derselbe anderweitig beschäftigt ist. Du wirst begreifen, daß dazu nicht ein Jeder zu brauchen ist, und daß diese Stellung mit den Obliegenheiten einer Ordonnanz in gar keiner Verbindung steht.“

„Dat ist ganz eenjal,“ replicirte mein übelgelaunter Bursche. „Der Herr Oberst wird Ihnen wohl den Unterschied zwischen einem Adjutanten und einem Vice-Bombardier deutlich zu machen wissen. Na, an Ihrem Pferde, der Montirung und den Waffen soll er nichts zu tadeln finden. Darum bekümmern Sie sich nur nicht, das ist meine Sache; aber lesen Sie sich noch einmal recht aufmerksam die Dienstvorschrift durch, damit Sie morgen Bescheid wissen und uns keine Schande machen.“

Nach dieser wohlgemeinten Hinweisung auf den gedruckten Rathgeber in allen Aengsten und Nöthen des dienstlichen Lebens begab der alte Kanonier sich brummend in den Pferdestall, ich aber verzehrte mit ungeschwächtem Appetit mein frugales Abendbrod, und schlief bald darauf mit dem Schlafe der Gerechten dem verhängnißvollen Morgen entgegen.

Am nächsten Tage, früh 5 Uhr, bestieg ich blank und sauber mein wohlgeputztes Pferd, und drei Viertelstunden später hielt ich vor dem ersten Gasthof in W., wo der Oberst während der Dauer der Schießübungen Quartier genommen hatte. Ein Kanonier der ersten reitenden Batterie, welcher als Ordonnanz commandirt war, nahm mir mein Pferd ab.

„Hast Du Dich schon gemeldet?“ frug ich beim Absteigen.

„Zu Befehl!“ entgegnete der Kanonier, und mit einer kurzen Handbewegung nach dem zweiten Stockwerke des Gasthofes deutend, wo der Oberst sein Zimmer hatte, setzte er phlegmatisch hinzu: „Hei ist schlimm upstohen; ich hew min Fett oll weg.“

Bevor ich eine nähere Erklärung dieser mysteriösen Worte fordern konnte, erschien der Brigade-Adjutant, um sich in das zu ebener Erde etablirte Brigade-Bureau zu begeben. Ich machte ihm meine Meldung. Er nahm mich in das Bureau mit, und nachdem er meinen Anzug einige Secunden gemustert hatte, sagte er: „Ich werde heute nicht immer an der Seite des Herrn Brigadier sein können, Sie werden mich in dieser Zeit insoweit vertreten als Sie die Befehle, welche Ihnen der Herr Oberst geben wird, an die bezeichneten Persönlichkeiten zu überbringen haben. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie diese Befehle, wie sonderbar sie auch klingen mögen, wortgetreu wiedergeben müssen. Auch [655] die etwaigen Entgegnungen haben Sie wörtlich, ohne Umschreibung und Auslassungen, dem Herrn Oberst zu überbringen. Uebrigens seien Sie nicht ängstlich; der Herr Oberst liebt eine gewisse Keckheit und soldatische Offenheit. Zeigen Sie ihm keine Furcht, und Sie werden nichts von ihm zu fürchten haben. Sollte er gegen Sie aufbrausen, so seien Sie überzeugt, daß sein „Millionenhund“ oft eine wohlgemeintere Bedeutung hat, als die sarkastischen Höflichkeiten derjenigen Herren Officiere, die da meinen, daß ein rasches Wort nicht zu ihrer classischen Bildung passe. Nun gehen Sie und melden Sie sich bei dem Herrn Brigadier, zweite Etage links; Sie treten ohne Anmeldung ein.“

Mit dem sechsten Glockenschlage der Uhr des nahe gelegenen Rathhauses trat ich in das Zimmer des Alten.

Derselbe war mit einem bereits sehr abgetragenen Uniformoberrock bekleidet und saß auf einem Rohrstuhle, während sich zwei Wachtelhunde der echten Victoria-Race auf dem weichen Polster eines prächtigen Plüsch-Sophas wiegten. Vor dem Sopha stand ein ovaler Tisch, auf welchem sich die Ueberreste eines compacten Dejeuners in malerischer Unordnung präsentirten. Verschleppte Knochen und umhergestreute Fleischbrocken ließen erkennen, daß die Hunde nicht leer ausgegangen waren. Vor dem Couvert, mit welchem der Tisch belegt war, standen zwei kurzhalsige Flaschen, von denen die eine bereits ganz und die zweite beinahe bis zur Hälfte geleert war. In einem mächtigen Glase perlte eine gelbbraune Flüssigkeit, die ich für Madeira hielt. Der Oberst rauchte aus einer kurzen Pfeife und trieb mächtige Rauchwolken gegen die Decke des Zimmers. Sein stark markirtes Gesicht strahlte in allen Farben des Regenbogens. Er war groß, corpulent, überaus kräftig gebaut und sehr wohl conservirt. In seinen grau-blauen Augen funkelten noch alle Leidenschaften des Jünglings.

Ich trat auf drei Schritte an ihn heran und machte meine Meldung. Er musterte mich mit der größten Aufmerksamkeit.

„Kehrt!“ Ich fühlte an dem elektrischen Strom, der mir am Rücken herunterlief, wie seine Augen langsam von der Spitze des Czako’s bis auf die Sporen herunterglitten.

„Front!“

„Wie heißen Sie?“

„L.“

„Wie lange dienen Sie?“

„Sechs Monate und sieben Tage.“

„Hoh, Hoh!“ rief der Alte mit gutmüthigem Lachen, „noch Rekrut und schon die Tressen? Da habe ich also wohl die Ehre, einen der jungen Herren vor mir zu sehen, die auf Officier-Avancement in der Brigade dienen?“

„Ich bin als Avantageur in die Brigade eingestellt, nachdem ich das vorgeschriebene Tentamen bestanden habe,“ erwiderte ich die mit starker Ironie versetzte Frage des Alten.

„O, ich zweifle nicht daran! Was im Civil nicht fortkommen kann, glaubt im Militair noch immer General werden zu können. Auf dem Gymnasium faul und widerspenstig, drei Jahre in einer Classe, mit jedem Semester eine schlechtere Censur und keine Hoffnung, jemals durch’s Abiturienten-Examen zu kommen, da faßten Sie den patriotischen Entschluß, Ihre verkannten Talente dem Militärdienste zu widmen, und das Vaterland gewann die Hoffnung auf einen Feldmarschall. Nicht wahr, so kamen Sie in die Uniform?“

War denn der Alte allwissend! In dieser Voraussetzung lag entsetzlich viel Wahrheit. Das Blut schoß mir in’s Gesicht, ich kämpfte diese verrätherische Wallung aber schnell nieder, richtete mich keck auf und mit einem Selbstbewußtsein, zu welchem mich nur die Noth der Situation forciren konnte, antwortete ich: „Herr Oberst, ich bin aus wahrhafter Neigung Soldat geworden und hoffe, der herrlichen Waffe, der ich anzugehören die Ehre habe, keine Schande zu machen.“

In diesem Augenblick trat der Brigade-Adjutant in’s Zimmer.

„Verfluchtes Maulwerk, dieser knirpsige Millionenhund von Bombardier!“ wandle sich der Alte an denselben. „Er ist kaum so groß wie ein siebenpfündiger Mörser, raisonnirt aber wie ein langer Vierundzwanzigpfünder.“

Und sich an mich wendend, sagte er mit ungemeiner Gutmüthigkeit: „Sie können abtreten, mein Kind. Nehmen Sie sich aber in Acht, daß Ihnen der schwere Säbel, an welchen Sie der Capitain v. R. gebunden hat, bei der Kehrtwendung nicht die noch sehr in der Entwickelung begriffenen Spazierstöcke entzwei schlägt.“

Ich machte nach Vorschrift Kehrt.

„Front!“ commandirte der Alte, und sich an den Adjutanten wendend, sagte er: „Lieber W., schenken Sie dem Kinde ein Glas Madeira ein, denn das hat doch noch weiter nichts im Magen, wie ein Weltmeer von warmem Spülwasser, was sie Kaffee nennen. Schenken Sie man immer den Humpen voll, dem wird es nicht zu viel. Ich kenne die Sorte! das Saufen haben sie aus dem Fundament gelernt und vertragen können sie soviel, wie eine fünfundzwanzigpfündige Haubitze.“

Der Alte zeigte schmunzelnd auf das volle Glas hin.

Ich leerte es, wie vorgeschrieben, mit einem Zuge und setzte es dann auf ein Nebentischchen.

„Brav!“ rief der Alte. „Sie können gehen.“

Es war mir doch um fünfzig Pfund leichter auf der Brust, als ich diese meine erste Vorstellung hinter mir hatte.

Jedenfalls durfte ich mit meinem Debüt zufrieden sein. Ich gewann an Selbstbewußtsein und Sicherheit, und dies mußte sich auch in meiner Haltung aussprechen, denn als ich auf die Straße trat, richtete sich die Ordonnanz, die phlegmatisch an ihrem Pferde lehnte, sofort in jene Stellung auf, die der Untergebene dem Vorgesetzten gegenüber einzunehmen hat. Das Gesicht des Kanoniers war ein großes Fragezeichen; ich wußte mir aber eine so unnahbare Haltung zu geben, daß derselbe es nicht wagte, sich mir mit einer vertrauten Frage zu nahen.

Nach einer halben Stunde wurden die Pferde für den Alten und den Adjutanten herausgeführt.

Das Pferd, welches der Oberst reiten sollte, war ein Fuchs ohne Abzeichen. Das starke, feurige Thier trug die gewichtige Masse seines corpulenten Reiters mit ungemeiner Leichtigkeit und folgte jeder Hülfe willig und leicht. Bevor der Alte es bestieg, betrachtete er das schöne und gut gepflegte Roß mit offenbarem Vergnügen. Er streichelte dessen stolzen Hals, sprach es freundlich an und schwang sich dann mit Leichtigkeit in den Sattel.

Der Ordonnanz gelang dies nicht so gut. Der Mann hatte sein Pferd offenbar zu kurz gezügelt, es war unruhig, und als er den Fuß in den Bügel setzte, um sich empor zu schwingen, gelang ihm dies erst nach dem dritten Versuche, und auch dann noch auf eine wenig graziöse Weise.

Der Betrachtung des Alten war dies nicht entgangen.

„Will der münsterländische Pumpernickelfresser gleich wieder von der Schindmähre herunter!“ rief er mit einer Stimme, die das ganze Stadtviertel alarmirte. „Wälzt sich der Tölpel wie ein vollgestopfter Wollsack auf den Gaul. Ich werde Ihm ein adrettes Aufsitzen lehren.“

Der Kanonier sprang schnell aus dem Sattel und nahm die vorgeschriebene Stellung am Kopfe seines Pferdes ein.

„Ich werde jetzt das Commando zum Aufsitzen geben,“ rief der Oberst, „und wehe Ihm, wenn er wieder wie ein lendenlahmer Schulmeister auf die Mähre krabbelt.“

„Fertig zum Aufsitzen!“ commandirte der Alte mit einer Stimme, die weit durch die Straßen schallte.

„Auf – gesessen!“

Der Mann saß im Sattel und hatte die vorgeschriebenen Tempo’s mit Leichtigkeit und ohne Tadel ausgeführt.

„Warum geht es denn jetzt?“ rief der Alte, und indem er sein Pferd in Bewegung setzte, sagte er zu dem an seiner Seite reitenden Adjutanten: „Ich kenne diese Art schon. Das ist einer von der verlotterten Batterie des Capitains v. C. Landkarten klexen kann der gelehrte Herr schon, aber um den Dienst bekümmert er sich nicht. Das ist zu kleinlich für diese beepauletteten Akademiker. Na, das muß auch noch anders werden, oder ich will nicht T. heißen.“

Der Capitain v. C. war ein höchst wissenschaftlich gebildeter Officier, der sich namentlich gern und viel mit Geographie und Landkarten beschäftigte. Auf dies sein Lieblingsstudium bezog sich die Anspielung des Alten.

Wir näherten uns dem Thore, durch welches die Straße nach dem Schießplatze führte. Die von Infanterie besetzte Thorwache trat in das Gewehr, um dem Brigadier die seinem Grade gebührenden Ehrenbezeigungen zu erweisen. Die Leute hatten noch nicht ihre Morgentoilette gemacht und sahen unsauber, maladrett und verschlafen aus. Der Oberst bemerkte dies und konnte es nicht ungerügt lassen. An den die Wache commandirenden Unterofficier herantretend, sagte er:

[656] „Ihre Leute sehen wie Ferkel aus, die sich soeben aus der Streu eines unsauberen Stalles herausgewühlt haben. Wär’ ich Euer Oberst, ich ließ Euch mit Ziegelmehl scheuern und mit einer Striegel das Haar glatt kämmen. Lassen Sie die westphälischen Schinkenfresser forttreten, sonst kriegen sie Maden, wenn sie die Sonne bescheint.“

Als wir uns außerhalb der Festungswerke befanden, hielt der Oberst sein Pferd an und verlangte nach seiner Tabakspfeife, die sammt der Frühstückstasche der Obhut der Ordonnanz anvertraut war. Der Kanonier überreichte die bereits gefüllte Pfeife dem Alten und beeilte sich Feuer anzuschlagen.

Als er ihm den glimmenden Schwamm reichte, sagte der Alte mit der ganzen Gutmüthigkeit, zu welcher er seine gewaltige Baßstimme moduliren konnte: „Na, so ist es recht. Ein tüchtiger Kanonier muß immer Feuer haben; Feuer im Herzen, Feuer in jeder Bewegung und endlich auch Feuer in der Tasche, um sich, wenn es der Dienst erlaubt, den Glimmstengel anzünden zu können.“

Und indem er die ersten Züge aus seiner Pfeife in dichten Wolken mit Wohlgefallen und sichtbarem Behagen in die klare Morgenluft blies, fuhr er fort: „Ein Soldat, der nicht Tabak raucht, kommt mir wie ein Hund ohne Schwanz vor. Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Lieutenant?“

„Ich bedauere, Ihnen nicht ganz beistimmen zu können,“ entgegnete der Adjutant, indem er sich eine Cigarre anbrannte. „Der österreichische Artillerist darf bekanntlich nicht rauchen, ich habe aber nicht gehört, daß er dadurch an seiner Tüchtigkeit oder militairischen Würde Abbruch erleidet.“

„Na, bleiben Sie mir mit den Herren Holters aus dem Tornister,“ erwiderte der Alte lachend. „An Pedanterie und Kleinigkeitskrämerei sind uns dieselben weit voraus, sonst aber habe ich von ihnen nicht viel Erhebliches gesehen.“

Sein Pferd wieder in Bewegung setzend, fuhr er fort: „Da muß ich Ihnen doch eine Geschichte erzählen, die für das, was ich gesagt habe, bezeichnend genug ist.“

Darauf theilte er uns eine Geschichte aus dem Kriegsjahre 1814 mit, die allerdings sehr komisch war und nicht sehr zu Gunsten der österreichischen Artillerie sprach, die aber hier besser unerzählt bleibt. Sie dauerte ziemlich lange, und der Alte hatte sich durch diese Mittheilung aus seinen Erlebnissen, in eine Gemüthlichkeit hineingeredet, welche die Derbheit seiner Züge fast ganz auflöste und die Güte seiner innersten Natur erkennen ließ. Er erzählte viele Schnurren aus seinem vielbewegten Leben, die ihn immer liebenswürdiger erscheinen ließen und außerordentlich unterhaltend waren. Die Zeit war dabei wunderbar schnell vergangen. Die bedeutendste Strecke des öden staubigen Weges hatten wir hinter uns und wir traten bereits in den Schatten des dichten Fichtenwaldes, der den Schießplatz in nicht zu großer Tiefe von allen Seiten umgibt. Der Alte klopfte schon die Pfeife aus und gab sie an die Ordonnanz; nur noch einige Minuten, und wir mußten auf dem Platze sein.

Da schallte uns plötzlich von einem Fußwege, welcher aus dem hohen Holze kam und an der Stelle, wo wir uns gerade befanden, die Chaussee kreuzte, eine kräftige, angenehme Männerstimme entgegen, die das Reiterlied aus Wallensteins Lager meisterhaft vortrug. Der Alte schien angenehm überrascht zu sein. Er hielt sein Pferd an und lauschte mit sichtbarem Vergnügen den wohlklingenden Tönen, die sich melodisch über das dichte Blätterdach der alten Föhren erhoben. Der fröhliche Sänger, der von unserer Gegenwart noch keine Wissenschaft zu haben schien, kam uns mit jeder Minute näher und mußte in der kürzesten Zeit gerade vor dem Platze, an welchem wir hielten, die Chaussee betreten.

Es währte auch nicht lange, so tauchte aus dem dichten Unterholze, welches den Fußweg zu beiden Seiten einfaßte, ein umfangreicher, rother Regenschirm empor. Der Kopf des Sängers ließ sich noch nicht wahrnehmen, weil denselben der Schirm verbarg, mit welchem sich der Mann gegen die schon empfindlichen Strahlen der Sonne zu schützen suchte. Aber ich erkannte mit Entsetzen, daß der Besonnenschirmte die Uniform der Brigade trug, und konnte mir sofort die Scene vergegenwärtigen, welche erfolgen mußte, wenn der Oberst einen Kanonier seiner Brigade in einem so durchaus dienstwidrigen Aufzuge erblickte. Doch uns waren noch weitere Ueberraschungen vorbehalten. Noch immer singend, hatte der Harmlose bereits die Chaussee erreicht, ohne uns zu bemerken. Da donnerte ihm plötzlich ein „Halt“ des Obersten entgegen, welches mit so zornigem Gebrüll ausgestoßen wurde, als käme es aus der Kehle eines Löwen. Dem Kanonier entfiel das unglückliche Sonnen-Parapluie, er brach beinahe zusammen und konnte sich nur zitternd aufrecht erhalten. Er stand unmittelbar vor dem Pferde des Brigadiers und stierte uns mit Entsetzen und Grauen wie gespensterhafte Erscheinungen an.

Aber auch wir, und vor Allem der Oberst, sahen mit maßlosem Erstaunen auf den Kanonier hin. Es war kein gewöhnlicher Anblick, den derselbe darbot. Die Gestalt, die gebannt durch das zornsprühende Auge des Alten bewegungslos vor uns stand, war eckig und klein. Der ungemein große Kopf schien unmittelbar auf den Schultern zu sitzen und war bis zu den Ohren von Vatermördern eingerahmt, die handhoch über den Kragen der sehr abgetragenen Dienstuniform hervorragten. Den kurzen Hals umschlang mehrfach ein weißes Tuch, dessen gestickte Zipfel prahlend im Winde flatterten. Der Kragen und die drei obersten Knöpfe der Uniform waren gelöst und ließen eine rothe Plüschweste bemerken, auf welcher sich ein großer Blumenstrauß wiegte, den der Fuchs des Alten sehr begehrlich beroch. Unter der Uniform ragte die Weste fußlang hervor, aus deren Tasche eine Uhrkette von vierfachen Stahlringen in prahlerischen Windungen über den kugelrunden Bauch hing. Die überaus dünnen und sehr krummen Beine waren mit engen Pantalons von englischem Leder bekleidet, auf dem stark behaarten Scheitel prangte eine mit dem verpönten Sammetstreifen geschmückte schirmlose Mütze, die keck auf einem Ohre saß. Die Hände waren mit schwarzen Handschuhen bekleidet und an den Stiefeln mit auffallend hohen Absätzen glänzten lange neusilberne Sporen. In der rechten Hand trug er den schon bezeichneten Regenschirm, in der linken eine kostbare Pfeife mit langem Weichselrohr und dicken Quasten von Glasperlen.

Der Oberst, der noch in jüngster Zeit geschärfte Befehle gegen das Tragen eigener Uniformstücke erlassen hatte, schien zuerst die maßlose Frechheit, mit welcher hier das „Kleid des Königs“ durch den seltsamsten Aufputz verunstaltet war, gar nicht begreifen zu können. Er starrte diese beißende Carricatur auf die ganze Artillerie mit Ungewissen zweifelnden Blicken an und rief mehrmals: „Ein Chinese, ein leibhafter Chinese!“

Doch bald schien die Sache ernsthafter werden zu wollen. Der Alte hob sich mit ungewöhnlicher Elasticität aus dem Sattel und warf sich auf den armen Kanonier. Er packte ihn mit der linken Hand am rechten Ohre, begrub die rechte in die Falten des weißen Halstuches, drehte dies um seine Finger und schob den Gewürgten einige Minuten mit unwiderstehlicher Kraft hin und her, wobei er unarticulirte Laute der höchsten Erregung ausstieß.

Endlich fand er Worte. „Verfluchter Chinese,“ rief er zornbebend, „Cousin des Mondes und der Sonne, ekelhafter Ratten- und Spinnenverzehrer, wie heißt Du, und wie kommst Du in die Uniform meiner Brigade?“

Der Kanonier konnte nicht antworten, weil ihm die Eisenfaust des Alten die Kehle zuwürgte.

„Antworte!“ schrie dieser, „oder ich reiße Dir die funfzigpfündige Bombe, die Dir als Kopf auf Deinen Krötenrumpf gestellt ist, von den Schultern, so wahr ich T. heiße.“

„Wenn der Mann antworten soll, so werden Sie wohl erst seinen Hals freigeben müssen,“ bemerkte der Adjutant, der vom Pferde gestiegen und der Gruppe näher getreten war.

Der Oberst machte seine Finger aus dem Halstuche frei, gab dem Kanonier einen Stoß, daß er zehn Schritte rückwärts taumelte und dann wie ein Klotz auf die Chaussee niederschlug. Er raffte sich aber schnell wieder auf und machte eine Bewegung, als wenn er fliehen wollte. Der Oberst bemerkte dies, riß den Säbel aus der Scheide und rief: „Kerl, steh’, oder ich spalte Dir Deinen Kürbiskopf mit einem Hiebe!“

Der Adjutant, der das Schlimmste befürchten mochte, sprang auf den Kanonier zu, und indem er ihn beim Kragen faßte, als ob er seine Flucht verhindern wollte, flüsterte er ihm zu: „Mensch, Du bist verloren, wenn Du Furcht zeigst. Melde Dich, als wenn nichts vorgefallen wäre, bei dem Herrn Oberst.“

(Schluß folgt.)
[657]
Illustration zu Schiller’s Lied „an die Freude“.

„Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält’ es Gut und Blut –
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut.“


In der Reihe der Festgaben, welche zur Verherrlichung unsers Dichterfürsten geschaffen sind und mit jedem Tage noch geschaffen werden, prangt auch eine illustrirte Ausgabe des Schiller’schen Lieds: „An die Freude.“ Ludwig Loeffler in Berlin, unsern Lesern durch seine kleinen Reiseskizzen in Wort und Bild bekannt, hat es unternommen, die Gedanken und Empfindungen des Liedes künstlerisch zur Darstellung zu bringen, eine Aufgabe, die just bei diesem Gedicht nicht zu den kleinsten gehört. In siebzehn vollständig ausgeführten, in Holz geschnittenen Illustrationen, auf schönstes Kupferdruckpapier sauber mit Tonplatte gedruckt und in elegantem Carton verschlossen, liegt die Festgabe jetzt vor uns. Die Verlagshandlung (H. Mendelssohn) war so freundlich, uns eine der Illustrationen behufs Abdruck in der Gartenlaube zu überlassen. Wir haben die Stelle des Liedes:

„Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält’ es Gut und Blut –
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut.“

gewählt, die der Künstler mit glücklichem Takt durch die Darstellung des gefangenen Dichters Schubart (auf Hohenasperg) illustrirte.




Aus der Beamtenwelt.[2]
Skizzen nach der Natur.
III. Das Stipendium.

Ein zeitiger Herbst hatte früher als sonst die Bäume entlaubt, und die rauschenden Blätter, die ein schneidender Ostwind, der Vorbote baldigen Schnees, emporjagte, umwirbelten im raschen Tanze einen verspäteten Wanderer, der auf den Promenaden einer deutschen Universitätsstadt mit raschen Schritten seiner Behausung zueilte. Das flackernde Licht der Gaslaternen, das den trüben Octoberabend erhellte, ließ einen hagern Mann in mittleren Jahren erkennen, der den Kragen seines abgetragenen Burnus schützend emporgezogen und die Mütze tief in die Stirn gedrückt hatte.

Mit Unmuth gedachte er des kalten Zimmers, das ihn daheim erwartete, da er noch keinen wärmenden Holzvorrath für den häuslichen Heerd zur Abwehr der Kälte hatte bergen können, und mit banger Sorge sah er der unruhigen Nacht entgegen, die ihm bevorstand, da im gemeinsamen Schlafgemach ein krankes Kindlein die langen dunkeln Stunden im Arm der Mutterliebe durchwimmerte. „Elende Generation, die man da heranzieht!“ murmelte er endlich zwischen den Zähnen, den unmuthigen Gedanken, die ihn erfüllten, Worte gebend, „aber wie kann es anders sein bei Kartoffeln und Schwarzbrod? denn weiter reicht der Gehalt eines Secretairs ja nicht, als um das Leben der Familie eben zu fristen. [658] Fast weiß ich nicht mehr wie durchkommen mit den fünf Kindern! Und nun die neue Sorge, die mir der Heinrich macht – daß ihm auch das verwünschte Hebräisch nicht in den Kopf will! Hilft nichts – er muß sich anstrengen; ich weiß keinen andern Ausweg für sein Fortkommen.“

Daheim im kalten Stübchen saß indessen der Gegenstand seines Zürnens, der unglückliche Heinrich, beim Licht einer grünen Schirmlampe vor einem aufgeschlagenen dicken hebräischen Bande. Seine blasse Wange ruhte in der aufgestützten Hand und trüben Blickes starrte er auf die wunderlichen Buchstaben hin, deren Sinn ihm auch heut’ gänzlich verschlossen blieb. Wie Hieroglyphen wimmelten sie vor seinen Augen auf dem vergilbten Papier durcheinander, und sorgenvoll schweiften seine wirren Gedanken nach Rath und Hülfe umher. Plötzlich schreckte ihn der wohlbekannte Klingelzug des Vaters empor, und mit einem schweren Seufzer eilte er hinaus nach dem Vorplatz, ihm zu öffnen. Finsteren Blickes trat der Secretair ein und erwiderte kaum den schüchternen Gruß des Sohnes, der schon im Voraus geängstet durch die peinlichen Erklärungen, zu denen es jetzt kommen mußte, schweigend dem Vater den Mantel ablegen half und ihm in das Stübchen folgte.

Stumm nahm er seinen Platz am Tische wieder ein, während der Zürnende hastig auf und ab schritt. An der Thür des Schlafzimmers, aus welchem man eben wieder die wimmernden Schmerzenstöne eines Kindes und die tröstende Stimme der Mutter vernahm, verweilte er einen Augenblick und fragte kurz: „Schlafen die Kinder noch immer nicht?“

„Die Größeren wohl,“ antwortete Heinrich, ohne aufzusehen, „aber Mariechen leidet gar so arge Schmerzen an den aufgegangenen Drüsen.“

„Auch dies Kind wieder scrophulös!“ murrte der Vater und trat dann dem erbebenden Sohne näher, zu dem er strengen Blickes sagte: „Du hast wohl daran gethan, mir Deine Censur durch die Mutter übergeben und Dich nicht eher vor mir sehen zu lassen, als bis sich mein Zorn etwas gelegt hat. Du, ein achtzehnjähriger Secundaner, bringst mir in Latein und Griechisch die Drei und im Hebräischen gar eine Vier. Pfui, der Schande! Aber ich durchschaue Dich; ich weiß, daß Du zur Theologie keine Lust hast, und Du denkst mich durch schlechte Censuren zu zwingen, meinen Plan, Dich Theolog werden zu lassen, aufzugeben und Dir einen andern, weltlichen Beruf zu erlauben. Aber daraus wird nichts; denn auf keinem andern Wege darf ich auf die Unterstützung durch Stipendien hoffen, die mir Dein Pathe, der Herr Consistorialrath, zugesagt hat, wenn Du Theolog wirst.“

„Aber lieber Vater, wie kannst Du so Schlimmes von mir glauben?“ stammelte der gekränkte Jüngling, und seine ganze schmächtige Gestalt erbebte vor innerer Aufregung, „ich kann auf’s Heiligste versichern, daß ich mir alle Mühe gegeben, und Tag und Nacht daran gesetzt habe, in so kurzer Zeit als möglich diese unglücklichen Sprachen zu erlernen, aber ich habe einmal dafür keine Auffassungsgabe, und deshalb – nur deshalb – scheue ich mich vor dem Studium der Theologie. Du weißt, ja selbst, lieber Vater, daß ich mit schwerem Herzen, aber dennoch willig meinem Lieblingswunsche, Techniker zu werden, entsagt habe; aber diese Sprachen nachzuholen, das geht über meine Kräfte! In Mathematik und im Deutschen habe ich ja noch immer die Eins erhalten“ – und zögernd setzte er hinzu: „O, wenn es jetzt noch möglich wäre; wenn ich wieder zu dem früher erwählten Studium zurückkehren dürfte – Du solltest Deine Freude an meinen Fortschritten haben!“

„Techniker!“ warf der Vater verächtlich ein, „also noch immer der verrückte Gedanke, der unaufhörlich in Deinem Gehirn spukt, so oft ich Dir ihn mit vernünftigen Gründen ausgeredet zu haben glaubte! Soll ich Dir’s immer von neuem wiederholen, daß damals, als ich Dich auf’s Gymnasium brachte, mit der Absicht Dich später zum Techniker ausbilden zu lassen, noch ganz andere und bessere Zeiten für die Staatsdiener waren? In den letzten Jahren sind ja die Preise der Lebensmittel und Wohnungen um fast fünfzig Procent gestiegen, die Besoldungen also auf die Hälfte entwerthet, und Du hättest ein Handwerk lernen müssen, wenn Dein Herr Pathe sich nicht mit seinem Anerbieten in’s Mittel geschlagen hätte.“

„Vater,“ bat der geängstigte Sohn, „laß mich doch noch den Versuch machen; ich erwerbe mir ja schon jetzt so Manches durch Unterrichtgeben. Die Mathematikstunden werden sehr gut bezahlt, und ich will Tag und Nacht arbeiten und mich gewiß auf’s Aeußerste einschränken!“

„Es ist unmöglich,“ erwiderte der Vater barsch, „diesen Gedanken mußt Du Dir aus dem Sinne schlagen. Allein kannst Du Dich nicht fünf Jahre lang auf der theuren Schule erhalten, und auswärts kostest Du mir bei weitem mehr, als wenn Du hier die Universität besuchst und Dein Kämmerlein mit Deinen Brüdern theilst, für die doch auch gesorgt werden muß. Zwar ist dies Kämmerlein schon jetzt zu eng für Euch Drei, aber eine theurere Wohnung kann ich nicht bezahlen! So werden wir wohl,“ fügte er bitter lachend hinzu, „Cojen oder Hängematten für Euch anbringen müssen wie auf den Schiffen. Uebrigens ist in dieser Angelegenheit ein Wort so gut wie tausend, denn die Sache ist zwischen mir und dem Herrn Consistorialrath längst abgemacht. Nicht Jedem wird es so gut geboten, und Du, als Erstgeborner, bist es Deiner Familie schuldig, diese herrlichen Aussichten nicht von der Hand zu weisen, denn wenn Du ausstudirt hast, verschafft Dir Dein Herr Pathe eine einträgliche Hauslehrerstelle und später eine ansehnliche Pfarrei, wo Du Latein und Griechisch an den Nagel hängen und den dicken Hebräer meinetwegen vermodern lassen kannst! Also strenge Dich nur ein paar Jahre noch an; dann kannst Du auf Deinen Lorbeeren ruhen. Und nun gute Nacht; dies is mein letztes Wort.“

Rasch wandte er sich und ging in’s Schlafzimmer, ohne die flehende Gebehrde und den verzweiflungsvollen Blick des unglücklichen Sohnes zu beachten.

Draußen fand er die arme Mutter am Lager ihres eben ein wenig eingeschlummerten leidenden Lieblings in bitteren Thränen, die sie vergebens vor ihm zu verbergen suchte. Aber er sagte ihr kein teilnehmendes Wort; er fürchtete die Bitten der weichherzigen Gattin, und begab sich schnell zur Ruhe, wenn auch nicht zum Schlummer, denn Unmuth und Sorge hielten ihn noch lange wach. Leise schluchzte die Tiefbetrübte hinter dem Tuche; sie hatte jedes der harten Worte gehört, und mit jedem war ein Schwert in ihre Seele gedrungen, aber sie wagte nicht den grollenden Gatten durch wiederholte Bitten noch mehr zu erzürnen.

Sie war die Vertraute des armen gequälten Sohnes: sie war Zeugin und Gefährtin seines nächtlichen Fleißes gewesen, wenn sie, die am Tage unermüdliche und thätige Hausfrau, auch die Stunden der Nacht noch zu Hülfe nehmen mußte, um die sich mehrende Arbeit zu bewältigen.

Wie viele heiße Thränen hatte sie da schon mit dem vergebens sich abmühenden und ringenden Sohne vergossen! Wie oft hatte sie ihn mit der Hoffnung zu trösten gesucht, daß er gewiß, was ihm jetzt schwierig erscheine, noch mit Leichtigkeit überwinden werde, wenn ihm einmal erst das Verständniß für die ihm so widerwärtigen Sprachen aufgegangen sei! Doch konnte sie auch ihrem Gatten, den nur die Last der Sorgen aus einem milden, zärtlichen Vater in einen so rauhen, unerbittlichen umgewandelt hatte, nicht ganz Unrecht geben; sie konnte nur mit dem Sohne weinen; und sein Schicksal beklagen, das ihn in eine Laufbahn drängte, die ihm nicht zusagte. Aber die günstige Lage, in die er durch Gehorsam gegen den Willen des Vaters später vielleicht die ganze Familie versetzen würde, schien auch ihrem einfachen Verstande die einzige Rettung aus der drückenden Noth, in welche sie, ohne diese Aushülfe, nur immer tiefer versinken mußten.

Vergebens hatten sich die beiden Gatten abgemüht, durch Fleiß und Entbehrungen ihre Lage zu verbessern; nur höchst selten gestattete er sich – wie heute – im Kreise einiger Freunde Erheiterung und Erquickung bei einem Glase einfachen Bieres zu suchen; eben so selten erlaubten sie sich einen längeren Spaziergang in’s Freie, um den Kleinen einmal Erholung in der schönen Gottesnatur zu gönnen; umsonst waren all ihre Entsagungen – die Theurung wuchs und die Noth nahm zu, da auch die Kinder alle mit mehr oder weniger langwierigen Krankheiten zu kämpfen hatten. All diese trüben Gedanken wogten in der Seele der armen Mutter auf und ab, und ihr Schluchzen unterdrückend, um den Gatten nicht zu stören, stand sie endlich leise auf und schlich in's Nebenstübchen, dem Sohne ihres Herzens, den sie so unglücklich wußte, noch ein Wort der Theilnahme zu sagen.

Das junge sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß er noch immer, in tiefes Sinnen verloren, Selbst die sanfte, tröstende Stimme der Mutter vermochte nicht sogleich, ihn aus seinem starren Hinbrüten zu wecken. Eine Weile stierte er sie mit glanzlosen Augen an, dann fuhr er empor und sagte mit heiserer, beklommener Stimme: „Gut, daß Du kommst, meine Mutter; eben wollte ich gehen!“

[659] „Ach ja, geh nun zu Bett, mein armes Kind,“ flüsterte sie zärtlich, „Du bist überwacht und aufgeregt; morgen wird Dir hoffentlich nicht Alles mehr in so trübem Licht erscheinen, und mit neuem Muthe wirst Du Dich in Dein Schicksal finden.“

„Mein Schicksal wird mich finden, Mutter!“ entgegnete er mit dumpfem Tone, „ich kann mich mit den entsetzlichen Sprachen nicht länger abquälen; es würde doch zu nichts führen, und meine ganze Ehre steht auf dem Spiele.“

„Gib Dir von nun an doppelte Mühe, mein lieber Heinrich,“ sagte die Mutter ermuthigend; „ich will treulich mit Dir wachen und zu Gott beten, daß er Dir Kraft gebe, Deine Abneigung zu überwinden. – Thu’s aus Liebe zu mir und zu Deinen armen kranken Geschwistern,“ fügte sie bittend hinzu.

„Ach, Ihr fordert das Unmögliche von mir!“ rief er verzweifelnd und händeringend aus. „Der Rector, der es ehrlich mit mir meint, rieth mir heute selbst, noch vor Beginn des Semesters abzugehen, da ich das Maturitätsexamen schwerlich bestehen werde!“

„Ich weiß mir keinen Rath mehr,“ flüsterte weinend die Mutter, „aber ich setze mein Vertrauen auf Gott: der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, wo Dein Fuß wandeln kann. – Doch gehe nun zur Ruh; Mariechen regt sich schon wieder, und es ist spät.“

„Wie weit ist’s in der Nacht, Mutter?“ frug er, plötzlich aufschauend, mit seltsamem Blick.

„Bald zwölf Uhr, mein Sohn.“

„Bald zwölf – da ist Alles still und einsam auf den Straßen.“ –

„Ganz still – und wenn der Wind oben in Eurem Dachkämmerchen nicht gar zu arg tobt, kannst Du ungestört schlafen. Doch nun gute Nacht, mein armer Heinrich; Gott schenke Dir eine sanfte Ruhe, Deinen Kummer zu vergessen.“

„Das ist ein guter Wunsch,“ sagte er ernst; dann die Hand der Mutter ergreifend und ihr liebevoll in’s Auge schauend, flüsterte er mit innigem, aber schmerzlichem Ausdruck: „Gute Nacht denn – meine liebe, liebe Mutter. –“

Er riß sich von ihr los und schritt nach der Thür, während sie rasch aber lautlos in’s Schlafzimmer eilte, da Mariechens leises Wimmern sich wieder vernehmen ließ. –

Nach mehrstündigem Wachen am Bett des Kindes, wobei das bleiche, schmerzerfüllte Bild des geliebten Sohnes der armen Mutter unablässig vor der Seele schwebte, wurde die Kleine ruhiger, und die übermüdete Frau durfte endlich auch die Ruhstatt suchen.

Noch schlief sie den Schlaf der Erschöpfung, als sie durch die ängstlichen Stimmen der jüngern Söhne aus demselben aufgeschreckt wurde.

Blutigroth und trübe war der rauhe Herbstmorgen heraufgezogen, aber trüber noch zog er in die beklagenswerthe Familie des Secretairs ein, denn Heinrich – der geliebte treue Heinrich – wurde vermißt. Sein Bett war unberührt, und Niemand konnte Auskunft über ihn geben; Niemand hatte ihn erblickt, seit er um Mitternacht so schmerzlichen Abschied von der Mutter genommen. Jetzt erst vergegenwärtigte sie sich seinen stieren Blick, sein trauriges Lächeln und den heißen Händedruck, womit er ihr gute Nacht wünschte, und eine entsetzliche Ahnung tauchte in ihrer Seele empor, sie mit tödtlicher Angst erfüllend. Wie ein Alp lag diese Ahnung ihr auf dem Herzen, und nur mechanisch erfüllte sie ihre häuslichen Pflichten, während Vater und Brüder nach allen Richtungen hin eilten, den Verschwundenen zu suchen und nach ihm zu forschen.

Manchmal, wenn sie recht inbrünstig zu Gott gebetet hatte, er möge das Entsetzliche – was Keiner aussprach, und doch Jeder im Stillen fürchtete – von ihrer Familie abwenden, kam eine gläubige Zuversicht in ihre Seele, und sie hoffte wieder auf eine frohe Kunde von dem theuren Verlornen. Aber als Tage und Wochen dahin schwanden ohne die leiseste Spur von seinem Schicksale, starb auch diese Hoffnung langsam dahin, und eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich des Mutterherzens.

Stumm trug der Vater die schwere Sorge um den geliebten, durch seine Härte zur Verzweiflung getriebenen Sohn, und keines der übrigen Kinder wagte in seiner düstern Gegenwart ein lautes Wort.

Endlich tauchte ein Gerücht auf; der Fluß habe einige Stunden unterhalb der Stadt die Leiche eines Jünglings an das Ufer geschwemmt. –

Welch entsetzlicher Gang für den bekümmerten Vater war es, als er an einem heiteren Herbstmorgen hinauswanderte, die Todtenschau zu halten! Er vermochte nicht, die geliebten schon entstellten Züge enthüllen zu lassen – die einfache Kleidung des Ertrunkenen verrieth ihm die ganze gräßliche Wahrheit. –

Als der letzte Morgen des October in goldner Pracht über den Horizont emporstieg, ward in aller Stille das unschuldige Opfer der traurigsten Verhältnisse auf dem friedlichen Dorfkirchhofe beerdigt.

Es war ein schauerlich einsamer Leichenzug, der dort aus der niedrigen Todtenhalle hervortrat und sich still nach der Ecke der Kirchhofsmauer bewegte. Nur der gebeugte Vater und die beiden Brüder gaben dem geliebten Todten das Geleit; die Mutter vermochte es nicht. Dohlen und Raben krächzten dort oben vom Kirchthurme ihr traurig eintöniges Lied, und selbst die Dorfkinder standen in scheuer Entfernung.

Was in jenen schrecklichen Augenblicken in der Seele des unglücklichen Vaters vorging, ward nur dem Allwissenden kund, denn nie hat der tiefgebeugte Mann ein Wort über jene entsetzliche Begebenheit gesprochen, selbst nicht zu seiner treuen Gattin, die ihm in dem tiefen Kummer so gern tröstend und theilnehmend zur Seite gestanden hätte. Aber er war von jenem schrecklichen Tage an wieder der milde, zärtliche Vater, der er früher gewesen, und frei durften später die beiden jüngern Söhne ihren bescheidenen Beruf wählen; nur bat er sie mit zitternder Stimme, ihn nicht in der Sphäre des Beamtenthums zu suchen.

Das Unglück erweckte der bisher unbeachteten Familie teilnehmende Freunde; man half ihnen, wo man vermochte; wohlhabende Gönner sorgten für ärztliche Hülfe und für den Unterricht der Kinder, so daß von da an ihr äußeres Leben frei von drückenden Sorgen verfließen konnte – aber das traurige Andenken an den heißgeliebten Tobten verließ sie nie.

Jahre sind seitdem verflossen, doch den einsamen Hügel in der Ecke des Dorfkirchhofes schmückt noch immer grünender Epheu, und alljährlich am Geburtsfeste des theuren Dahingeschiedenen, das in die mildere Jahreszeit fällt, wallfahrtet die trauernde Familie hinaus nach dem stillen Friedhofe, um sein Grab mit frischen Blumen zu schmücken.




Blätter und Blüthen.

Staub. Wir alle wissen, daß die Atmosphäre – das unwägbare Element der Alten – eine schwere elastische, aus zwei Gasen zusammengesetzte Substanz ist. Das eine dieser Gase, der Sauerstoff, ist das Princip des Lebens; das andere, der Stickstoff, dient dazu, die allzu energische Wirkung des erstern zu mildem, und macht die Atmosphäre eigentlich zu einer Art verdünnter Auflösung von Sauerstoff.

Ebenso wissen wir, daß in der Atmosphäre Kohlensäure, Wasserdunst und leichte Spuren von Jodin vorhanden sind, und daß diese fünf Körper – Sauerstoff, Stickstoff, Kohlensäure, Wasserdunst und Jodin – sich blos im Zustande Mischung, nicht aber in dem chemischer Combination befinden.

Neben diesen einfachen und zusammengesetzten Substanzen sind noch jene Myriaden von Atomen vorhanden, welche bei vollem Tageslicht nicht wahrnehmbar sind, aber in einem einzelnen Sonnenstrahl wie kleine Silberflittern wirbeln und funkeln – jene in der Atmosphäre schwebenden Körperchen, deren allmählicher Niederschlag das ausmacht, was man gewöhnlich Staub nennt.

Dieser bisher nur flüchtig beachtete Körper ist es, welchem ein neuerer französischer Naturforscher, Namens Pouchet, in der letzten Zeit seine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wer diesen unermüdlichen Forscher von seinen Apparaten, Gläsern und Büchsen umgeben und ihn dieselben mit so unablässiger Aufmerksamkeit betrachten sieht, könnte glauben, er sei ein moderner Alchymist, der den Stein der Weisen suche, oder ein Geiziger, der sich an dem Anblicke kostbarer Juwelen weide. Und dennoch enthalten diese Röhren und Gläser weder Gold noch Perlen noch Edelsteine, sondern einfach weiter nichts als atmosphärischen Staub.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die größte Ausdauer erforderlich war, um diese kostbaren Pulver zu sammeln. Es gibt hier Proben aus allen Theilen der Welt, Dieser Staub zum Beispiel kommt aus der Abtei Fécamp; jener aus einem verfallenen Tempel Griechenlands; dieser von dem Thurme [660] St. Georg in Rouen, und jener aus den alten Grabmälern Oberegyptens. Wer weiß, ob nicht ein Theil davon früher in der die Pharaonen umgebenden Atmosphäre geschwebt hat.

Woraus aber bestehen diese verschiedenen Proben von Staub? Ihre Bestandtheile können in zwei Gruppen getheilt werden, von denen die eine einen mineralischen Ursprung hat und die andere der organischen Natur entstammt.

Die nichtorganischen Bestandtheile sind von nicht sehr mannichfaltigem Charakter, sondern weiter nichts als die Ueberreste von Felsen, die durch die in der Natur fortwährend thätigen mechanischen Kräfte – Hitze und Kälte, Regen und Wind, Alluvialfelsen in den Thälern und Ebenen und plutonische Felsen in Gebirgen vulcanischen Ursprungs – in ungreifbares Pulver verwandelt worden sind.

Die organischen Ueberreste dagegen sind in der größten Mannichfaltigkeit zugegen. Wir wollen, um dies zu veranschaulichen, uns womöglich einmal denken, daß in Folge der Einwirkung irgend einer übernatürlichen Gewalt sämmtliche jetzt vorhandenen Thiere und Pflanzen plötzlich von der Oberfläche der Erde hinweggenommen wären und daß mitten in dieser ungeheuren Wüste ein einsamer Naturforscher stände – der einzige noch auf der Erde zurückgebliebene lebende Bewohner. Wir wollen ferner annehmen, daß in seiner Brust noch Lust zum Studium lebt, und ihm ein starkes Mikroskop in die Hand geben.

Wünscht er zu wissen, was für Pflanzen früher auf dem Boden blüheten, auf dem sein Fuß wandelt? welche Gattungen von Thieren früher diese unermeßlichen Wüsteneien bewohnten? Dann möge er nur ein kleines Häufchen Staub von jener Säule sammeln, die mitten in der allgemeinen Verödung stehen geblieben ist.

Diesen Staub unterwirft er einer angemessenen vergrößernden Kraft und sieht hier die Ueberreste aller organischen Wesen von dem Schmarotzermoose bis zur vollkommensten Pflanze, von dem niedrigsten Pflanzenthiere bis zum Menschen.

Zuerst sieht er jene unendlich kleinen Würmer, deren Körper in zwei Kronen oder kleine Räder auslaufen, jene Gerippe von Infusorien, diesen seltsamen Thierchen, welche sich freiwillig in mehrere lebende Stücke spalten können. Neben diesen Zoophyten oder Pflanzenthieren sieht er die Ueberreste von höher organisirten Wesen. Einige Fragmente von harten hornigen Flügeln erinnern ihn an jene Flügeldecken, unter welchen gewisse Insecten – die aus diesem Grunde Coleopteren genannt werden – ihre Häutchen und durchsichtigen Flügel verbergen. Einige feine Schuppen erinnern ihn an die Lepidopteren oder Schmetterlinge. An diesen Spätsommerfäden erkennt er das schwebende Gewebe der Spinne, und die Haare von zahllosen Gattungen Federn und Häuten beweisen ihm, daß die Luft mit Vögeln und die Erde mit Säugethieren bevölkert war.

Die Ueberreste des Pflanzenreichs sind nicht weniger zahlreich. Man sehe zum Beispiel diese Fragmente von Zellen und spitzigen gestreuten oder leiterförmigen Gefäßen. Diese Ueberreste von spiralförmigen Gefäßen rühren von Pflanzen mit einem oder mehrern Samenblättern oder Kotyledonen her. Wenn die Ueberbleibsel von holzigen Fasern nicht so reichlich vorhanden sind, so sind dagegen Körnchen von Blumenstaub, Klümpchen von Blumenfasern und die scharfen Stacheln der Brennnessel in Menge anzutreffen, und die blau-, roth- oder grüngefärbten Baumwollenfasern sind überzeugende Beweise von menschlicher Betriebsamkeit.

Ganz besondere Aufmerksamkeit aber verdient die auffallende Menge von Stärkekörnchen in dem Luftstaube. Dabei darf man nicht glauben, daß diese Stärke irgend eine ihrer Eigenschaften verloren habe. Sie löst sich noch in siedendem Wasser, eine Sodalösung bewirkt noch eine Vermehrung ihres Volumens, sie nimmt sofort eine blaue oder violette Färbung an, wenn sie mit Jodin in Berührung kommt, und besitzt mit einem Wort noch alle Eigenschaften so eben erst bereiteter Stärke. Auch darf man nicht glauben, daß diese Stärkekörnchen blos in Staub, der aus neuerer Zeit herrührt, zu finden seien, denn sie werden selbst in den ältesten Proben angetroffen.

Eine merkwürdige Thatsache darf in Bezug hierauf nicht unerwähnt bleiben, und diese ist, daß, während die Stärkekörnchen in Staub von neuerer Formation gewöhnlich von in’s Graue spielender Färbung sind, die älteren Proben dagegen eine violette Farbe haben.

Worin liegt der Grund dieser Verschiedeneheit in der Farbe?

Die Antwort auf diese Frage würde den Scharfsinn der Forscher noch lange beschäftigt haben, wenn nicht der Franzose Chatin vor einigen Jahren entdeckt hatte, daß die Atmosphäre Jodindunst enthält, und da es jetzt anerkannt ist, daß dieser Dunst in der Atmosphäre wirklich vorhanden ist, und da wir alle wissen, daß Jodin die Stärke violett färbt, so ist nichts einfacher als die Erklärung, die auf diese Weise von der blauen Färbung gegeben wird, die an dem in unsern alten Kathedralen oder in den unterirdischen Tempeln Oberegyptens gefundenen Staube sich zeigt.

Auf diese Weise sieht man, daß die in der Atmosphäre schwebenden kaum sichtbaren Atome etwas von Allem enthalten. Die drei Reiche der Natur begegnen sich in einer Prise Staub.

Ein neuerer Naturforscher sagt, es werde eine Zeit kommen, wo wir Alle von der aus comprimirter Luft gewonnenen Nahrung leben werden. Und warum wäre dies nicht möglich, da Stärkekörnchen in der Atmosphäre so reichlich vorhanden sind?




Das Vaterland der Lieder, in denen man Empfindungen, Urtheile und Lehrsätze ausdrückte, war in früheren Zeiten das südliche Frankreich. Weil in dieser Dichtungsgattung kein gegebener, nämlich geschichtlicher Stoff verarbeitet, sondern von den Dichtern „erfunden“ wurde, hießen sie „Erfinder“, Trovadores, Troubadours, von trovare, erfinden. Die Blüthezeit dieser Gesänge in occitanischer Sprache sind das zwölfte und dreizehnte Jahrhundert. – Bei den Deutschen waren es die Hofdienstmannen, Ministeriales, vom Stande des niedern Adels, welche ihre Lieder zur Geige, Harfe, Laute, Cither oder Leier bei Hoffesten, Hochzeiten etc. vortrugen, daher der Name Ministrelli, Minstrels, Menestriers. Die herumziehenden Troubadours erhielten auch den Namen Lustigmacher, Joculatores, verderbt in Giollari, Jongleurs. – In Deutschland benannte man später solche Sänger mit dem noch jetzt gebräuchlichen Worte Bänkelsänger, weil sie von Gerüsten herab, genannt Bänke, ihren Zuhörern vortrugen. – Noch sei hierbei erwähnt, daß mit beweglichen Marienpuppen, Marianetten, nachmals Marionetten, wahrscheinlich die Schauspiele des abendländisch-christlichen Europa’s eröffnet worden sind.




Auch eine Schillerfeier! Es war am 13. August dieses Jahres, als ich wieder nach Weimar einwanderte – dieses Mal mit meinem Sohne, dem ich die Stätten zeigen wollte, wo früher unter dem Schutze eines großherzigen Fürsten die größten Dichter Deutschlands gewandert und gesungen. Unser erster Gang war nach dem Schillerhause. Der freundliche Castellan war selbst nicht zugegen und hatte das Amt eines Cicerone seiner Schwester, einer liebenswürdigen gebildeten Dame, übertragen. Nachdem wir die große, jetzt so prachtvoll hergestellte Wohnstube, das ärmliche Schreib- und Sterbezimmer und die verschiedenen kleinen Erinnerungen besehen hatten, war ich eben im Begriff, die heilige Stätte zu verlassen und im Vorzimmer eine der kleinen Büsten anzukaufen, die dort ausgestellt sind, als unten am Hause ein Wagen vorfuhr und kurz darauf eine reich in Atlas gekleidete ältere Dame, ein von Sammt und Seide strotzendes Fräulein, ein junger Mann von circa 20–22 Jahren und ein reich galonnirter Diener in den Vorsaal rauschten und das Schillerzimmer zu besehen verlangten. Ich bat sofort meine freundliche Führerin, die Wünsche der Ankommenden zu erfüllen und sich meinetwegen nicht zu geniren, ich könne warten. Fast hätte ich meine Artigkeit bereut, denn die Herrschaft brauchte nahe eine Stunde, um sich Alles genau durch die Lorgnette zu besehen. Sie ließ sich umständlich alle Einzelheiten erklären, durchblätterte alle Schriftstücke, spielte auf dem alten Claviere, befühlte die Masken und Meubles, und auch der Diener beschaute sich Alles mit Sachkennermiene, genug der Besuch nahm die Dame des Hauses fast eine Stunde in Anspruch. Endlich rauschte das vierblätterige Kleeblatt in das Vorzimmer, wo ich mich befand, und die ältere Dame suchte unter den Ansichten eine der kleinsten des Schillerhauses aus. Ich stand ganz in der Nähe und konnte jedes ihrer Worte hören. „Was kostet das?“ frug sie kurz und vornehm. „Zwei Groschen,“ war die Antwort der freundlichen Führerin. „Bezahle,“ wandte sich die Atlasschwere an den jungen Herrn und flüsterte ihm einige mir unverständliche Worte zu. Der Herr suchte lange in seiner Börse, bis er das Nöthige gefunden, und drückte endlich der Dame des Hauses einige Geldstücke in die Hand. „Das ist mehr, als ich zu erhalten habe,“ sagte die Führerin höflich, nachdem sie das Geld besehen. Die Atlasschwere warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich weiß es,“ schnarrte sie dann, „das Uebrige ist für Sie.“ Dabei nickte sie vornehm mit dem Kopfe und stolzirte mit ihrem Gefolge zur Thüre hinaus.

In demselben Augenblicke sah ich auch, wie die Dame des Hauses jählings erbleichte und sprachlos, ohne den Gruß zu erwidern, den fortgehenden Fremden nachsah. Sie zitterte am ganzen Leibe und in den Augen standen Thränen. Erstaunt blickte ich sie an. „Es ist empörend,“ sagte sie endlich mit leiser Stimme, die vor Erregung zitterte, „wie man behandelt wird. Da sehen Sie,“ fuhr sie fort und öffnete die Hand, die vor wenigen Augenblicken das Geld in Empfang genommen hatte.

In dieser Hand lagen sieben schäbige Kupferstücke, darunter vier ausländische Kreuzermünzen, die also in Weimar nicht einmal galten. Das war der Dank für eine Stunde Schillerfeier, der Lohn für stundenlange Erklärungen, Mittheilungen, Beantwortungen und Dienstleistungen – mit Mühe herausgesuchte sieben schäbige, theilweise ungültige Kupferdreier für vier Personen!

Ich war so empört über diese Erbärmlichkeit, daß ich das Geld nehmen und den zur Treppe hinunter rauschenden Damen nachwerfen wollte. „Lassen Sie,“ sagte die Dame resignirt, „ich habe kein Recht dazu. Mir thut es nur wehe, daß man mich wie eine Bettlerin behandelt, während ich doch Hunderten und Tausenden das Schillerzimmer ohne alle Bezahlung gezeigt habe und auch dieser vornehmen Dame ohne allen Dank gezeigt haben würde. Ich habe nichts zu fordern, aber ich kann Ihnen versichern, der ärmste Schullehrer, der hier seinem Schillerenthusiasmus Genüge that, – wenn er einmal bezahlte – hat uns niemals wie diese vornehme Herrschaft behandelt!“

Ich ging noch einmal in’s Sterbezimmer unseres großen Dichters zurück, wo auch das Fremdenbuch aufgeschlagen liegt. Dort stand mit großen Worten: M. O– – geb. L–n nebst Sohn und Tochter aus H–b–g.“ Ich kannte die Dame, eine der reichsten der reichen Republik, par renommée und wußte, daß sie viel in Kunst und Literatur machte und in ihrer Heimath als eine Protectorin der schönen Künste galt. Hier aber, wo es Niemand sah – sieben arme Kupferdreier für eine Stunde Schillerfeier!

Mich überkam ein Ekel vor all’ dieser Scheinheiligkeit und Filzerei, und gedrückt verließ ich das Haus des Dichters, dessen Andenken eine reiche deutsche Familie mit – sieben Kupferdreiern feierte.


Nicht zu übersehen!
Alle Einsendungen von Manuskripten, Büchern etc. etc. für die Redaction der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir geben in obiger Skizze die Erinnerung eines älteren Militairs, die neben der frischen Darstellung zugleich das Verdienst der strengsten Wahrheit für sich hat. Sie bezieht sich auf den bekannten Artillerie-Oberst von Tuchsen, den Hackländer in seinem Erstlingswerke: „der Soldat im Frieden“, mit talentvoller Feder, aber nicht ganz treu geschildert hat.
    D. Redact.
  2. Siehe Gartenlaube, Jahrgang 1857, Nr. 38 und 44.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufdrückt
  2. Weitere Briefe sind nicht erschienen.