Die Gartenlaube (1862)/Heft 28

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 28.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Untergang der „Amazone“.

(Schluß.)


Bald nachher waren wir im Gange, der Black Hawk gehorchte zierlich dem Steuer und glitt mit mäßiger Geschwindigkeit über die gekräuselte See hin. Jetzt konnten wir erst recht die Überlegenheit amerikanischer Schiffsbaukunst sehen. Während die andern Fahrzeuge ihr Bestes thaten, alle Leesegel aufgezogen hatten, benutzten wir kaum den dritten Theil unserer Leinewand und überholten doch binnen kurzer Zeit die plumpen Collier, Gallioten und andere kurzgebauten Schiffe. Nur die Amazone allein, welche besser als die andern, aber immerhin für ein Kriegsschiff schlecht genug segelte, ließen wir voraus. Als wir uns Kullen’s Spitze nahten, hatten wir die meisten schon weit hinter uns zurückgelassen. Gegen Abend schwand die schwedische Küste aus Sicht, und als es dunkel wurde, konnten wir die grün und rothen Lichter des Preußen deutlich vor uns sehen. Morton gab dem Mann am Ruder und der Wache auf der Back die gemessensten Befehle, stets die Amazone im Auge zu behalten, und begab sich dann in die Kajüte. Bald ließ er mich durch den Steward rufen. Ich fand ihn in tiefes Sinnen versenkt, den Kopf auf die rechte Hand gestützt am Tische sitzen.

„Charley,“ sagte er, „ich habe Sie rufen lassen, um ein wenig mit Ihnen zu plaudern; es ist nicht gut, so allein seinen Gedanken nachzuhängen.“

Dabei schob er mir ein Kistchen mit türkischem Tabak zu und verlangte, ich solle nur eine Pfeife stopfen, wie er es selbst thun wolle. Dann ließ er durch den Steward alles Nöthige zu einem starken Punsch mischen, schickte denselben fort und füllte die Gläser. Schweigend nahm ich ihm gegenüber Platz und in der Erwartung, was da kommen solle, hüllte ich mich in die blauen Wolken des Latakia.

Er leerte sein Glas auf einen Zug, gleichsam als wenn er sich Muth trinken wollte, und seine sonst so unheimlichen Augen schienen mildere Gefühle widerzuspiegeln. Dann begann er: „Charley, ich weiß sehr wohl, daß Sie mir mißtrauen, und daß Ihnen Manches in meinem Thun und Treiben räthselhaft erscheint, indessen wenn Sie meine Vergangenheit kennten, würden Ihnen die Schatten meines Charakters nicht auffallen. Vor mehr als zwanzig Jahren war ich Midshipman auf der Vereinigten-Staaten-Brigg Sommers, glücklich und unbefangen, wie ein junger Mann nur sein kann. Da plagte mich der Teufel, und ich betheiligte mich bei der Meuterei, welche der Sohn des damaligen Marinesecretairs in Washington an Bord dieses Schiffes anzettelte. Zu strenge Disciplin und schlechte Behandlung hatten uns zu diesem Schritte bewogen. Sie erinnern sich gewiß noch der Geschichte mit der Sommers, sie war das schnellste Schiff in der ganzen Navy und ging später auf der Rhede von Veracruz im mexicanischen Kriege zu Grunde, da ein plötzlicher Windstoß sie umwarf. Die Meuterei wurde entdeckt, die Rädelsführer auf der Stelle gehängt und ich mit vielen Anderen in Ketten nach New-York geschleppt. Dort gelang es mir von Governors-Eiland zu entspringen und in den Narrows an Bord eines Bremer Schiffes, das nach Rio segelte, zu entkommen. Von da an trieb ich mich auf allen Meeren herum, weil ich begreiflicher Weise auf lange Zeit die Staaten meiden mußte. Manche Fracht mit lebendigem Ebenholz brachte ich von der afrikanischen Küste nach Cuba und manche tausend Dollars habe ich in Havanna im Monte durchgebracht. Ich sank immer tiefer, die Franzosen sagen ja: ce n’est que le prémier pas qui coûte. Verwegen und glücklich im Geschäft, wie ich es war, wollte ich nun nicht mehr für die faulen Dons fahren, sondern rüstete auf eigene Kosten, es nahm mein ganzes Vermögen, einen schnellen Baltimoreklipper aus und brachte auf eigene Rechnung fünfhundert der schönsten Nigger glücklich bis an die Küste von Cuba. Da fügte es der Himmel, daß einer jener verdammten Regierungsdampfer, welche immer bei Key-West herumlungern, mir in die Quere kam. Hätten wir nur eine tüchtige Brise gehabt, so wäre ich ihm doch noch entschlüpft und hätte meinen Cargo noch zur rechten Zeit gelandet. So aber trat plötzlich Windstille ein, und ich mußte froh sein, mich und die Mannschaft noch in den Böten an die Küste zu retten. Der man of war kaperte mein Schiff und meine Neger; so wurde ich plötzlich ein armer Mann, kaum blieb mir so viel, um mich einige Wochen in Havanna halten zu können. Gern wäre ich nun nach New-Orleans zurückgekehrt, wo ich weniger bekannt zu sein glaubte, als ich im New-Yorker Herald einen Bericht über die Wegnahme meines Schiffes las, in dem auch erwähnt wurde, daß der Capitain desselben wahrscheinlich der entsprungene Meuterer von der Vereinigten-Staaten-Brigg sei, der nun zum zweiten Male seiner gesetzlichen Strafe entronnen wäre. Durch diesen Artikel erschreckt gab ich für das Erste jede Hoffnung auf, in mein Vaterland zurückkehren zu können. In demselben Blatte las ich einen langen Bericht über die neue Bildung einer deutschen Marine, und daß man dort befähigte Seeleute suchte. Da ich nun allen Grund hatte, mich für einen solchen zu halten, und auch entschlossen war, eine ganz neue Laufbahn anzutreten, da, wo ich vollständig unbekannt war, so eilte ich so schnell wie möglich nach Deutschland, wo ich, durch Zeugnisse, welche mir meine alten Freunde, die Dons, listiger Weise zu verschaffen gewußt hatten, unterstützt, es bald dahin brachte, als Deckofficier eines der neu auszurüstenden Kriegsschiffe angestellt zu werden. Freilich hatte ich jetzt nur so viel Thaler, als vormals Dublonen, indessen ich fühlte mich neu belebt dadurch, daß ich nun wieder ein ehrliches Mitglied der menschlichen [434] Gesellschaft geworden war. Ich wußte auch, daß, falls die neue Marine wirklich dazu bestimmt war, die dänischen Kriegsschiffe, welche damals die deutschen Küsten bedrohten, anzugreifen, ich reichlich Gelegenheit haben würde, mich auszuzeichnen, denn, Charley, Sie wissen, daß ich schon oft dem Tode in das Auge gesehen habe, ohne zu zwinkern. In dieser Erwartung that ich ruhig meinen Dienst, wie ich mir als Instructeur einen guten Namen erwarb. Einmal, in Bremerhaven, wollte es der Zufall, daß ich einen meiner alten Cameraden erblickte, indessen nahm er glücklicher Weise von mir keine Notiz, da er mich in der deutschen Marineuniform nicht erkannte. Da wir auf der Weser unthätig vor Anker lagen, hatten wir begreiflich viel Zeit übrig und benutzten dieselbe, um Ausflüge in die Umgegend zu machen; auf einem dieser lernte ich die Tochter eines Landgeistlichen kennen, ich wußte sie für mich zu gewinnen, und sie ward trotz des Widerspruchs ihres Vaters mein Weib. Charley, ich sage Ihnen, damals war ich sehr glücklich und ich glaube auch auf dem besten Wege ein braver Kerl zu werden.“

Hier wurde Morton unterbrochen, denn Brown, der Bootsmann, steckte sein buschiges Haupt in die Kajüte und rief uns schnell auf’s Deck. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Barometer und fand, daß das Quecksilber plötzlich gesunken war. Oben angekommen fanden wir das Firmament pechdunkel, kein Sternchen war zu sehen, nur hin und wieder leuchteten die grün und rothen Lichter des Preußen. Bei vollständiger Windstille schlugen die Segel schlaff an den Mast, und ein schwaches Wetterleuchten über den felsigen Küsten Schwedens mahnte uns, daß ein Gewitter im Anzuge sei, wie das so häufig in diesen Breiten bei dem Nahen der kalten Jahreszeit der Fall ist und stets als Vorbote von stürmischem Wetter betrachtet wird. Dieses Mal war es aber kein so zahmes Gewitter mit den dünnen Zickzacklinien nordischer Blitze, wie sie gewöhnlich in Nordeuropa vorkommen, sondern es glich an Heftigkeit jenen Donnerstürmen, wie sie die tropischen Gegenden heimsuchen. Wir zogen alle Segel ein, bis auf das doppelt gereffte Vormars- und das Vor-Steng-Stagsegel, gerade genug Leinewand, daß damit das Schiff dem Steuer gehorchte, und warteten auf die Dinge, die da kommen sollten. – Und das Gewitter kam, aber wie?

Wer auf dem Meer einmal Gelegenheit gehabt hat, diese Naturerscheinung in ihrer vollen Größe zu beobachten, wird gefunden haben, daß die See mehr durch ihre großartigen Längen- und Breitenproportionen imponirt, als durch Kühnheit und groteske Ausprägung der Formen, wie die Gebirge. Höhe, Spitze und Tiefe sind weniger da. Hier bei diesem Gewitter schien es mir, als wenn sich der Charakter des Meeres auch am Himmel abspiegele. Die Blitze bei solchem Donnersturm sind ganz anders beschaffen, als die auf dem festen Lande, oder vielmehr kann dabei vom Blitzen kaum die Rede sein. Die elektrischen Entladungen schießen oder vielmehr flammen und fallen wie ganze Lichtergüsse vom Himmel herab. Um die endlose, schäumende, aufgeregte Fläche des Meeres zu beleuchten, muß man ein anderes Licht aufstecken. Es ist, als wenn ganze Seen von Elektricität plötzlich ausleckten, als ob ganze Katarakten von Licht gleichsam herabstürzten. Bei jedem Schlage ist das ganze Firmament eine Halbkugel, die mit feuriger Röthe sich über uns wölbt. Man könnte denken, ein solcher Schlag sei hinreichend, möchte fürchten, die Kraft habe sich damit erschöpft. Allein wunderbar genug – man begreift es kaum wie, – auch die Anzahl der Blitze, wie auch die Stärke jedes einzelnen ist hier viel größer als auf dem festen Lande. Mehrere Stunden hinter einander war der Himmel in einem Schlag auf Schlag folgenden Zucken und leuchtenden Beben ergriffen, bis endlich der herabströmende Regen seine funkelnden Lichter auslöschte.

Morton stand neben mir auf dem Promenadedeck und deutete mit seinem Fernrohr nach der preußischen Corvette hin, die eine halbe Meile vor uns ihre Umrisse am feurigen Firmament abzeichnete; es war ein wahrhaft dämonischer Anblick, würdig des fliegenden Holländers. Die Amazone zeigte ebenso wie wir fast nackte Spieren, doch schien sie in der jetzt aufgeregten See hin und her zu taumeln, wie ein Betrunkener, offenbar eine Folge ihrer schlechten Bauart, während unser Schiff wie eine Puppe zierlich aber stetig auf der Backbordseite lag. Gegen Morgen ging Morton hinunter, nachdem er mir den strengen Befehl ertheilt hatte, das vor uns segelnde Schiff nicht aus dem Auge zu lassen; ich ging deshalb vorn auf die Back und ließ mir bei der jetzt vorherrschenden Dunkelheit mein Nachtglas bringen. Meine Aufgabe war um so leichter, weil die Amazone so gut wie wir das Skagener Riff sechs Meilen auf der Leeseite lassen mußte. Mr. Brown gesellte sich zu mir, machte einige Bemerkungen über das plötzliche Gewitter und meinte, wenn er nicht gewußt hätte, daß wir im Kattegat seien, würde er geglaubt haben, wir befänden uns auf dem Golfstrom mitten im Floridacanal. „Was hat denn der Master,“ fuhr er fort, „mit dem verdammten Preußen im Schilde? ich fürchte nichts Gutes. Wenn wir mehr Segel aufgesetzt hätten, würden wir ihn schon längst überholt haben; der Master ist doch sonst nicht so ängstlich um ein Paar Spieren oder ein Bischen Havarie; wir sind ja gut versichert.“

„Das weiß Gott und Morton allein,“ erwiderte ich. „Sie mögen Recht haben, indessen, Mr. Brown, Sie kennen den Act des Congresses, durch welchen die Mannschaft bei schwerer Strafe gezwungen ist, den Befehlen des Capitains unbedingt zu gehorchen; er allein hat die Verantwortlichkeit zu tragen.“

Der Bootsmann entfernte sich nach hinten, mit geheimnißvoller Miene, den Yankee-doodle pfeifend, und ich sah, wie er, der Zimmermann und Andere die Köpfe zusammensteckten. Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen, und das graue Gewölk verzog sich langsam vor den Strahlen der steigenden Sonne. Als sich der Horizont nach und nach aufklärte, sahen wir deutlich ungefähr zwei Meilen vor uns die preußische Corvette mit halbnackten Masten vor uns hertreiben, sie hatte ihre Oberbramstenge während des Gewitters verloren, wahrscheinlich durch einen kalten Schlag. Die See ging hohl, der Wind hatte sich mehr nach Osten umgeschlagen, und nicht sehr weit von uns, keine sechs Meilen, brandeten die Wellen an den Dünen einer öden sandigen Küste. Als ich diese nichts weniger als angenehme Gegend mit dem Fernrohr musterte, trat Morton zu mir, zeigte auf die Amazone und sagte: „Well, Charley, ich danke Euch, daß Ihr den Cameraden da nicht aus den Augen verloren habt. Der Kerl hat Havarie gehabt, eine Oberbramstenge hat ihm der Blitz zerschmettert; kömmt von den Kanonen, ziehen den elektrischen Funken an! Solchen Kindern muß man kein Geschütz anvertrauen; hätten sie Theertuch darüber gedeckt, würden sie besser gefahren sein.“

Immer stärker fing es jetzt an zu wehen, und immer näher kam uns die gefürchtete Landspitze des Skagener Riffes. Dort ist ein wahrer Kirchhof für Schiffe; mit dem Fernrohr konnten wir deutlich die geschwärzten Skelete der Wracks erkennen, die hoch oben auf dem Sande nur bei der Fluthzeit von den Wellen gepeitscht werden. Hier war es, wo Nelson, als er durch seinen Ueberfall die dänische Flotte vor Kopenhagen geraubt hatte, die schwach bemannten Prisen in einem Südoststurm verlor; hier war es, wo Peter der Große auf seiner Fahrt von Saardam nach Petersburg sein hochbordiges Schiff stranden sah und mühsam sein Leben rettete. – Die andern Fahrzeuge, welche mit uns Helsingör verlassen hatten, waren sämmtlich aus Sicht verschwunden, da wir sie alle übersegelt hatten, und so kämpften wir einsam mit der Amazone, um diese den Seefahrern so gefährliche Spitze bei ungünstigem Winde und hoher See zu umfahren. Endlich gegen Abend, als die lange nordische Dämmerung in Nacht überzugehen drohte, befanden wir uns, nachdem wir mühsam bei kurzen Segeln lavirt hatten, im Eingange des Skagener Racks, wie die Skandinavier es nennen. Außer dem Preußen war kein Schiff in Sicht, nur in der Ferne glaubten wir den Rauch eines nach der Ostsee segelnden Dampfers zu erkennen. Der Barometer deutete auf Sturm, Morton gab die nöthigen Befehle für die Nacht, befahl dem Manne am Ruder, die Lichter der Corvette nicht aus den Augen zu lassen, und lud mich dann in seine Kajüte ein. Nachdem der Steward wieder für den Punsch gesorgt hatte, und nachdem uns der Dampf des türkischen Tabaks wieder in seine Wolken gehüllt hatte, begann er wieder:

„Charley, wenn ich Ihnen erst recht mein Herz ausgeschüttet habe, werden Sie sehen, welche gerechte Ursache ich habe, jenem verdammten Preußen auf den Hacken zu sitzen. Nach dem, was mir in Deutschland passirt ist, möchte ich alle Schiffe, welche jene verd– schwarz-weiße Flagge führen, in Grund und Boden segeln. Sie wissen, wie glücklich ich im Besitz meiner Mary war, wie ich ein neues Leben angefangen hatte! Unser ganzes Streben auf der neugegründeten Flotte ging dahin, etwas Ordentliches zu leisten, die Ausländer wollten sich dem Adoptivvaterlande als dankbare Kinder erweisen; da verbreitete sich auf einmal das dumpfe Gerücht, [435] das deutsche Parlament, von dem unsere Existenz abhing, sei von den Fürsten gesprengt worden, und dieselben hätten, um dem Ansinnen ihrer Verbündeten, der Junkerpartei, zu entsprechen, beschlossen, die Marine als eine Schöpfung der Revolution zu vernichten. Man flüsterte sich leise zu, daß wir bald entlassen werden würden und daß die Flotte unter den Hammer kommen sollte. Unser Admiral, den wir Alle schätzten, machte mehrere Reisen, um durch seine Vorstellungen die Katastrophe abzuhalten; mit trauriger Miene kam er zurück, und wir lasen in seinen Augen, daß unser Schicksal besiegelt sei. Das brach ihm das Herz, und bald nachher ist er, wie ich später hörte, an seinem Kummer verschieden. Die Meuterei, bei der ich mich als junger Mann auf der Vereinigten-Staaten-Brigg Sommers frevelhafter Weise betheiligte, war gewiß gesetzlos, aber wenn wir in diesem Falle uns widersetzt hätten, wäre das gute Recht auf unserer Seite gewesen. Leider führten die Besprechungen, welche wir heimlicher Weise unter uns hielten, zu keinem Resultat, weil wir einen faux frère, einen Schotten, der sich schon früher dadurch verdächtig gemacht hatte, daß er ein in England für die Flotte gekauftes großes Dampfschiff in der Nordsee auflaufen ließ, unter uns aufgenommen hatten. Derselbe verrieth die noch unfertige Verschwörung an einen hochgestellten Chef der Reaction, durch den der Admiral, der von Nichts wußte, veranlaßt wurde, solche Vorkehrungen zu treffen, daß unser Vorhaben vereitelt wurde. Bald darauf wurden uns die Rückstände ausgezahlt und wir entlassen. Das Bischen Geld, welches ich bekam, ging bald darauf, und ich sah mich gezwungen, nach England zu gehen, um dort eine neue Anstellung zu suchen. Mein armes Weib, das seine Niederkunft erwartete, mußte in einer kleinen Weserstadt zurückbleiben, wo ich bei einer braven, aber unbemittelten Familie ein Zimmer für sie gemiethet hatte. Während meiner Abwesenheit drang die Polizei, durch einen Befehl aus Berlin dazu berufen, in ihre Wohnung, visitirte ihre ärmlichen Habseligkeiten nach meinen Papieren und fand Nichts! In Folge des Schreckens kam sie zu früh nieder und starb mit ihrem noch unreifen Kinde. Charley, ich sage Ihnen, nie habe ich in meinem Leben so gefühlt, wie bei dieser Nachricht! Bei Davy Jones’ locker, ich schwur mich zu rächen und ich glaube, die Rache ist da! – sie ist da für mich, während Andere die Schuld und – die Kosten derselben tragen!“

Hier wurden wir durch einen plötzlichen Knall, das Geschrei und das Stampfen der Matrosen auf dem Deck unterbrochen. Wir stürzten Beide herauf und fanden, daß die Heftigkeit des Windes unser Vorbramsegel zerrissen hatte. Der Schaden war nicht bedeutend und bald wieder ausgebessert, das Schiff wurde mehr an Norden gelegt und der Wache dringend befohlen, den Preußen, der jetzt bei der hohen See bald auf- bald untertauchte, nicht aus Sicht zu lassen. Wir gingen wieder hinunter.

„Glauben Sie mir, Charley,“ sagte Morton, „je mehr die Elemente stürmen, desto besser fühle ich. Ein wildes Entzücken überkommt mich, wenn die Wetter rasen, das harmonirt so recht mit meinen Leidenschaften. Stoßen Sie an, der Sturm soll leben!“ Damit goß er ein Glas des starken Getränkes hinunter. „Ach,“ fuhr er fort, „wenn mein Weib noch lebte, wäre ich ein anderer Mann; so wurde ich wieder in das wilde Thun und Treiben hineingehetzt, und so wurden meine besseren Gefühle getödtet, und so groß wie früher meine Sympathie für das deutsche Volk war, so groß ist jetzt mein Haß gegen die Regierungen, welche die Anfänge ihrer eigenen nationalen Marine, der ich meine ganze Zukunft und Hoffnung anvertraut hatte, auf solche rücksichtslose Weise zerstört haben. – Nach verschiedenen Schicksalsfällen kehrte ich aus Europa endlich wieder nach Amerika zurück, wo ich nun mit ziemlicher Gewißheit darauf rechnen konnte, nicht wieder erkannt zu werden, und Senator W., für den ich früher manche Ladung Nigger von der afrikanischen Küste geholt hatte, als er noch in Havanna einem spanischen Don associirt war, der aber jetzt einer der Hauptschreier unter den Abolitionisten ist, vertraute mir aus alter Freundschaft, oder weil er vielleicht fürchtete, ich würde ihn bloßstellen, das Commando des Black Hawk an. – In Petersburg traf ich einen alten Bekannten, einen Preußen, der mich früher auf der deutschen Flotte, wo er als Regierungscommissair herumschnüffelte, gekannt hatte; derselbe gab mir Empfehlungsbriefe an zwei deutsche Junker in Kopenhagen; es waren die beiden Männer, mit denen ich dort so häufig conferirte.“

Hier erdröhnte abermals unser Deck von einer gewaltigen Sturzsee, die auf der Luvseite über die Bollwerke geschlagen hatte, und so war unsere Anwesenheit oben nöthig. Der Wind hatte während unserer Unterhaltung der Art zugenommen, daß wir bei dem Umlegen die größte Vorsicht anwenden mußten, um kein Segel zu verlieren. Dieser Theil der Nordsee, den man Skager Rack zu nennen pflegt, ist auch oft von schweren Strömungen heimgesucht, welche dann die Gewässer noch mehr aufregen. Gegen Morgen, als der weißlichgelbe Nebel sich etwas aufklärte, und wir einigermaßen den Horizont beobachten konnten, sahen wir auch die Amazone. Morton hatte lange auf dem Campagnedeck mit dem Teleskop nach ihr ausgeschaut, und ein Lächeln der Befriedigung überlief sein gebräuntes Gesicht, als er dieselbe im Trog der See auf- und niederstampfen sah. Sie schien hart zu arbeiten, offenbar steuerte sie zu schwer, und die zu hohen Masten schlingerten hin und her, da ihre Wanten zu schwach waren. Weiter entfernt waren noch einige Segel in Sicht, doch ließ sich nicht erkennen, was sie waren. Als die Sonne höher stieg, ließ auch der Wind etwas nach, und wir konnten das Besansegel aufziehen, so daß der Black Hawk sicher und graciös auf der Seite liegend die hohen Wellen durchschnitt. Dieser Tag ging ohne weitere Ereignisse vorüber, es wehte freilich hin und wieder einmal stoßweise sehr heftig, indessen da der Wind nach Norden herumging, konnten wir sowohl, wie die Amazone, unsern südwestlichen Curs ohne viel Mühe verfolgen. –




So ging es mehrere Tage hintereinander, das Wetter war wohl stürmisch, und der Wind wechselte häufig, doch wehte er meistens von Norden. Wir begegneten vielen Segelschiffen und auch einigen Dampfern, die ihren Curs nach der Ostsee hin richteten, um noch vor Schluß der Jahreszeit und dem Eintritte des starken Frostes den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Morton befand sich die meiste Zeit auf dem Deck, von wo er mit seinem Fernrohr nach dem Preußen und andern Schiffen hinüberlugte. Sobald ein neues Segel am Horizont auftauchte, fluchte er unwillig; es schien, als ob er darin Zeugen seines verbrecherischen Vorhabens erblickte, indessen nahm kein einziges Schiff Notiz von uns, da jedes bei der hohlen See mit sich selbst genug zu thun hatte. Eines Abends, es war einer der ersten Tage des Novembers, machte er mich auf eine kleine weiße Wolke aufmerksam, welche sich im fernen Westen kaum über den Sehkreis erhob. Das Wetter war verhältnißmäßig warm für diese Breite zu nennen, und der Barometer war schon früh bedeutend gefallen. Diese weiße Wolke kommt eigentlich nur in den Tropengegenden vor und ist dann stets der Vorbote eines aufbrechenden Orkans oder einer Cyclone (Wirbelwind). Wir Alle an Bord kannten die Gefahr, und Nichts wurde versäumt, um Alles fest und klar zu machen; wir bemerkten auch, daß der Preuße, der ungefähr drei Meilen windwärts von uns war, oben kahle Stengen zeigte, ein Beweis, daß er den kommenden Orkan erwarte.

Morton und ich standen auf dem Quarterdeck, als Mr. Brown zu uns trat und die Bemerkung machte, daß er in der Nordsee nicht erwartet hätte, die weiße Wolke zu sehen, ebensowenig wie jenes furchtbare Gewitter im Kattegat. „Wir werden das Wetter sich bald über uns entladen sehen,“ bemerkte er, indem er windwärts nach dem Horizont schaute, welcher nunmehr schwarz wie Pech war und die Umrisse der mit weißen Schaum bedeckten Wellen deutlich zeigte. „Sollen wir die Schnausegel einziehen, Capitain?“

„Ich glaube wirklich, wir werden einen Orkan haben,“ erwiderte Morton, indem er den Wettergangweg verließ, auf dem er eben gestanden hatte, und sich den Gischt vom Gesicht wischte, mit dem die Atmosphäre überfüllt war; „auch bemerkte ich, daß das Glas sehr gefallen ist. Nehmen Sie alle kleinen Segel da oben herunter, und sobald als das Stagsegel fest angezogen ist, lassen Sie die Gaffel herunter und falten den Spanker; eine Wache, denke ich, wird für’s Erste hinreichend sein, wir wollen unsre Leute nicht zu sehr ermüden, sie werden ihre Kräfte nöthig haben.“

„Ja, ja, Herr,“ erwiderte Brown, als der Master fortging. „Ich möchte schwören, daß er sich nicht viel daraus macht, er sah wenigstens so aus, als er den Gangweg verließ.“

„Das ist so seine Manier, je mehr die Elemente drohen, desto herausfordernder ist sein Blick.“

Nach dem Abendessen wurde die neue Wache aufgerufen, und der Master gab mir die Befehle, denen ich pünktlich gehorchte; ich mußte einen Matrosen aus Canada, einen Halbindianer, auf die Back postiren, mit dem gemessenen Befehl, die preußische Corvette [436] nicht aus den Augen zu verlieren. Soublette, so hieß er, hatte die besten Augen auf dem Schiffe.

„Nun, Mr. Whitman, wir wollen für die Nacht Alles in Ordnung bringen. Falten Sie das Vorbramsegel und riefen Sie das große Segel gehörig; dieses mit dem Fock-, Vorstag- und Schnausegel wird Alles sein, was wir führen können.“

„Soll ich nicht auch den Fock riefen, Sir?“ sagte ich. „Ich fürchte, wir müssen es vor Mitternacht thun, wenn wir es jetzt nicht thun.“

„Wenn Sie glauben, ja!“ war die kurze Antwort.

Während der ersten Wache nahm der Sturm gewaltig zu. Große Regentropfen mischten sich mit dem Gischt, ferner Donner rollte windwärts, und von Zeit zu Zeit fuhren scharfe Blitze durch die Finsterniß. Die Wache unten schlief sorglos, indem sie ihren Cameraden oben vertraute. Aber die Nacht war schrecklich, und Morton, ich und die Deckofficiere verließen das Steuerhaus keinen Augenblick, weil unsere Gegenwart nothwendig war.

Um sechs Uhr Morgens war der Sturm auf seiner Höhe. Der Blitz durchzuckte das Firmament in jeder Richtung, und der Donner übertönte das Heulen des Windes, wie er durch das Takelwerk fuhr. Die See schlug heftig am Bug an und sich von vorn nach hinten überstürzend überschwemmte sie das Schiff bis zum Quarterdeck, wenn es mühsam sein Vordertheil aus dem Wasser erhob.

„Wenn das länger so fortgeht, müssen wir das Focksegel ganz einziehen und uns auf das Hauptstagsegel verlassen,“ sagte ich zum Capitain.

„Ich glaube, wir müssen es in der That,“ bemerkte Morton, „aber sehn Sie, der Tag bricht an. Lassen Sie uns noch ein wenig warten.“ Dann befahl er dem Mann am Steuer, das Schiff etwas abfallen zu lassen.

Bei zunehmendem Tageslicht, und als der Sturm eher zu- als abnahm, war Morton eben in Begriff die nöthigen Befehle zu geben, um das Focksegel sofort einzuziehen, als Soublette von dem Leegangwege, wo er eben stand, plötzlich herüberrief: „ein Segel auf der Leeseite!“

„Ein Segel auf der Leeseite, Sir,“ rapportirte ich augenblicklich Morton, indem ich mich mit der einen Hand an einem Tau hielt und mit der andern den Hut berührte.

„Holt mir schnell mein Fernglas aus der Kajüte,“ sagte der Master zu einem der Matrosen, „ich hoffe, es wird unser alter Bekannter sein.“

„Es ist kein sehr großes Schiff, kaum halb so schwer wie wir,“ rief ich aus, als ich ein halbes Dutzend Stufen an den Wanten in die Höhe geklettert war.

Der Matrose brachte das Glas, und der Capitain, nachdem er seinen Arm um ein dickes Tau geschlungen hatte, um bei dem Schlingern des Schiffes nicht leewärts zu fallen, und nachdem er den Fremden in das Sehfeld gebracht hatte, was in diesem Falle keineswegs eine leichte Aufgabe war, rief aus: „Wahrhaftig, das ist der Preuße, aber übel zugerichtet!“

Andere Gläser wurden nun geholt und Morton’s Meinung von Allen bestätigt.

„Lassen Sie nur das Focksegel stehen, Mr. Brown, wir wollen gleich auf ihn lossteuern.“ Der Black Hawk fiel etwas ab, fuhr tief in den Trog der See und näherte sich rasch dem Fremden; in weniger als einer Stunde waren wir nur eine halbe Meile von ihm entfernt.

Es war leicht auch ohne Hülfe des Fernglases zu sehen, daß die Leute an Bord der preußischen Corvette, welche Besan- und Mittelmast verloren hatte, wie man jetzt, trotz des dicken Wassergischtes, deutlich bemerkte, es auf jede Weise versuchten, einen Nothmast hinten aufzurichten, wozu ihnen aber die Kräfte zu fehlen schienen. Auf diese Weise hofften sie durch das Zustandebringen eines neuen Besansegels das Schiff besser an den Wind zu bringen. Das Focksegel wagten sie nicht einzuziehen, weil ohne alle Segel die Corvette nicht steuern konnte, und so der einzige übergebliebene Mast über Bord gerollt wäre; aber ohne Segel am Hintertheil war es unmöglich sie an dem Winde zu halten, und so fiel sie um gut zwei Striche ab, schnell und hülflos von den Wellen umhergeworfen, obgleich der Mann am Steuer gewiß seine Schuldigkeit that.

In wenigen Minuten waren wir nur drei Kabelslängen von dem Preußen entfernt. Unser Schiff zitterte unter dem Druck der übermäßig gespannten Segel. Der Wind heulte, die See toste, der Donner betäubte, und der Blitz blendete. Der Ewige war gegenwärtig in seiner ganzen Majestät, doch tobte grimmige menschliche Leidenschaft in dem Herzen Morton’s. Schnell sprang er in die Wanten herauf, um sich zu überzeugen, ob kein Segel in Sicht war; befriedigt stieg er wieder herunter. Mit einem Blick auf die hülflose Corvette, der ein zweizölliges Bret hätte durchbohren können, hieß er den Mann am Steuer sich zum Teufel scheeren und ergriff selbst mit kräftigem Arm die Speichen des Rades. Das fremde Schiff lag gerade über Steuerbordhalsee ab, und wir segelten über Backbordhalsee auf jenes zu. Der Regen, der früher von oben herab gefallen war, wurde nun in horizontaler Richtung uns in das Gesicht gepeitscht, so daß alle Gegenstände noch mehr in dem Gischt der See verschwammen. Wir hörten einen Ruf, der aber vom Toben des Sturms fast erstickt war, und sahen, wie die Amazone schnell ihr Ruder nach Lee umlegte. – Zu spät! ein Stoß, ein Krachen und ein Angstgeschrei, welches das Heulen der See übertönte! Unser Bug hatte sie gerade in der Mitte gefaßt, die Reiliegen, Schanzdeckel und einen Theil des Hecks zerschmetternd. Dann hob sich, von einer ungeheuren Welle getragen, unser Vordertheil noch einmal und ritt einen Augenblick gleichsam auf dem berstenden Wracke. Unser Gewicht hatte ihr Rückgrat gebrochen, und die beiden Theile des unglücklichen Schiffes sanken im Nu in die gähnende Tiefe. Da, wo sie verschwanden, erhob sich von Neuem eine große Woge und drückte vollends im Zusammenbrechen die lebenden Wesen, welche etwa noch nach Rettung strebten, unter die Oberfläche hinunter.

Der Stoß hatte mich und fast die ganze Wache zu Boden geschleudert, nur Morton hielt sich krampfhaft am Ruder fest. Die andere Hälfte der Mannschaft, welche unten geschlafen hatte, stürzte erschrocken hervor, und die Verwirrung hörte nicht eher auf, als bis der Capitain, noch immer am Ruder stehend, mit donnernder Stimme die nöthigen Befehle gab. Morton übergab dann einem alten zuverlässigen Matrosen das Rad und eilte schnell auf die Back, während der Zimmermann in den untern Raum eilte, um nach einem etwaigen Leck auszuspähen. Der Schaden war nicht so bedeutend, als wir anfangs geglaubt hatten; das zwölf Tonnen schwere Bugspriet mit seinen Stützbalken war freilich arg beschädigt und in der Mitte abgebrochen, indessen der Bug in Folge der in Kopenhagen angebrachten Verstärkungen nicht so bedeutend lädirt, als man nach der Heftigkeit des Stoßes hätte schließen können. Die dicken, eichenen Bohlen hatten ihre Schuldigkeit gethan und das cutwater so ziemlich geschützt. Bald erschien auch der Zimmermann wieder auf Deck und berichtete, daß der Vordersteven noch gesund sei.

Da sich vom Leck keine Spur zeigte, so klärten wir bald mit Hülfe unserer Aexte das Wrack des Bugspriets und nagelten Theertuch über die Risse der vordern Verschanzung, sodaß wir bald unsern Curs wieder aufnehmen konnten. Als Morton sah, daß die Mannschaft die Köpfe zusammen steckte, um über den letzten Vorgang Bemerkungen einzutauschen, beorderte er die eine Hälfte wieder unter Deck und wies der andern solche Arbeiten an, daß die Leute nicht gut zusammen sprechen konnten. Dann rief er mich in eine Ecke des Quarterdecks, machte einige Bemerkungen über den jetzt sichtbar abnehmenden Sturm und sagte dann: „Charley, Sie sind der Einzige an Bord, der meine Handlungsweise am heutigen Morgen vielleicht richtig zu würdigen versteht, Sie allein kennen die Motive einer That, die allen Andern ein unglücklicher Zufall scheinen muß; ich bitte, nein, ich fordere Ihr unverbrüchliches Stillschweigen; das Gesetz kann mir nichts anhaben; bedenken Sie, daß ich Ihr Capitain bin und daß die Bestimmungen des Congresses meine Stellung unangreifbar machen.“ Hiermit wandte er sich ab, nahm gleichgültig sein Fernrohr und lugte am Horizont herum, ob nicht vielleicht Segel in Sicht seien. – In gedrückter Stimmung legte ich mich an die Reilieg und – habe bis heute geschwiegen über eine That, die Eigennutz und Rache geboren und deren Opfer nun auf immer von den rollenden Wogen bedeckt werden.[1] [437]

Ein russisches Dichterleben.

Die Meister in Kunst und Wissenschaft haben zwar ein specielles Vaterland, aber ihre Werke gehören der Welt und schaffen ihnen gewissermaßen eine zweite Heimath überall, wo in den Herzen Liebe für Hohes und Edles wohnt. Wer vermöchte dem Zauber des Liedes sich zu entziehen, wer gefühllos zu bleiben vor der Schöne des Kunstwerks, wer unergriffen von der Tiefe des Gedankens? Ein kleinrussischer Dichter, Schewtschenko, der im vorigen Jahre starb, hat in den letzten Jahrzehnten nicht blos in seiner Heimath, der Ukraine, sondern im ganzen großen Rußland vielfache Anerkennung gefunden, die ebenso durch seine Bedeutung als volksthümlicher Dichter, Künstler und Mensch, wie durch seine Erlebnisse hervorgerufen wurde. Dennoch geht dem Auslande mit unserer Mittheilung vielleicht die erste Kunde über Schewtschenko zu.

Die Ukraine, jene Gegend Rußlands, die der Dniepr durchfluthet, von dessen hohen Ufern die alte Czarenstadt Kiew stolz hinabschaut, den Reisenden ebenso mit Ehrfurcht für die Vergangenheit als mit Entzücken über die herrliche vor ihm ausgebreitete Natur erfüllend, war von je an Dichtern aus dem Volke reich. Ihre Namen sind vergessen, vielleicht auch viele ihrer Lieder, aber in dem Volke lebt der Sinn für Poesie fort und wird immer neu belebt durch die schöne Natur, mit der sich das unverdorbene Menschengemüth so gerne im Einklange befindet. Aus ihrer innigen Wechselwirkung gehen jene bevorzugten Menschen hervor, die, vom Genius geweiht, segenbringend durch das Leben wandeln, die in keiner Lebenslage ihren höhern Adel verleugnen und die kein Hemmniß ihrer Bestimmung zu entfremden vermag. Wie dunkel und mehr geahnt als bewußt auch anfänglich die Aufgabe ihres Lebens in ihrer Brust lebt, sie bricht sich durch zum vollen Bewußtsein und erfüllt sich mit Nothwendigkeit. Zu diesen Naturen gehörte Schewtschenko.

Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.

Taras Grigorjewitsch Schewtschenko wurde 1814 in einem Dorfe Kirilowko im Kreise Swenigorod des Gouvernements Kiew geboren. Seine Eltern waren Leibeigene, starben frühe und ließen ihn im 8. Jahre als Waise zurück. Der dem Trunke ergebene Kirchner des Dorfs nahm ihn zu sich in die Schule, zugleich aber auch in der Absicht, um einen Diener zu haben. Schewtschenko’s Lage wurde bei seinem Herrn und Lehrer, dessen grausame Laune er täglich ertragen mußte, bald unerträglich; er entwich in ein nahes Dorf. Hier wurde ein Maler von Heiligenbildern sein Lehrer, aber auch hier war seines Bleibens nicht lange. Der neue Lehrer glich dem verlassenen in vielen Stücken, ja übertraf ihn sogar in einigen. Die roheste Behandlung und über alle Kräfte gehende Arbeit zwangen Schewtschenko, auch diesen Lehrer zu verlassen und in einem andern Dorfe bei einem Maler von Heiligenbildern in die Lehre zu gehen. Seine Lage war dadurch keineswegs gebessert, und als nun gar sein Meister ihm jedes Talent zum Malen absprach, kehrte Schewtschenko traurig in sein Heimathsdorf zurück, entschlossen Hirt zu werden. Doch ihn erwartete eine andere Bestimmung. Der bisherige Gutsherr hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet, der Sohn hatte das Gut übernommen und dieser machte Schewtschenko zu seinem Zimmerkosaken. Als solcher mußte er im Vorzimmer sitzen, die Pfeife des Herrn stopfen, ein Glas Wasser reichen und jedes andern Befehls gewärtig sein, ein elendes Leben, das Schewtschenko durch Copiren von Bildern mit gestohlenem Bleistift und durch Lesen und Auswendiglernen alter Lieder für sich nützlich machte. Auf den Reisen seines Herrn benutzte er die Gelegenheit, aus jeder Herberge ein Bild auf Lindenbast, womit die Wände gewöhnlich geschmückt sind, mit sich zu nehmen, um es zu Hause in Muße zu copiren. – Indessen seine Sehnsucht nach Petersburg zu kommen, um bei einem ordentlichen Meister seinem Hange Genüge zu thun, wuchs mit jedem Tage. Sein Herr, der mit Schewtschenko’s Diensten nicht sehr zufrieden war, wurde der unaufhörlichen Bitten müde und gab endlich seinen Zimmerkosaken auf 4 Jahre in die Lehre zum Maler Shirajew in St. Petersburg. Unterschied sich auch dieser von den früheren Lehrern nicht allzu sehr, so lebte doch Schewtschenko jetzt in einer andern Welt, in der Hauptstadt, die nicht unterließ ihre Wirkungen auf den fähigen Jüngling zu äußern. Er konnte in seiner freien Zeit mit der schönen Kaiserstadt und mit Menschen bekannt werden, im Sommergarten sich ergehen und die Statuen studiren, in den wunderbaren Frühlingsnächten sich ganz dem über die Newa ausgebreiteten Zauber und seinen Träumen hingeben. Sein Geist fand Nahrung, wie elend auch seine sonstige Stellung war. Einst überraschte ihn beim Copiren der Statuen im Sommergarten der Akademiker Soschenko. Erstaunt über die Arbeiten, die keine gewöhnliche Anlage verriethen, gab er Schewtschenko den Rath, nach der Natur Aquarellportraits zu versuchen, und legte, als Schewtschenko es mit Erfolg that, diese Arbeiten dem damaligen Secretair der Akademie der Künste, Grigorowitsch, vor, dessen Interesse er für den jungen Mann rege machte. Grigorowitsch sprach mit dem Dichter Shukowski, dieser mit Brulow, dem berühmten russischen Maler, und Dank diesem erhielt Schewtschenko seine Freiheit und den Eintritt in die Akademie der Künste (1837). Brulow malte nämlich das Portrait von Shukow, sie verloosten es, und mit dem Ertrage dieser Lotterie wurden die Ansprüche von Schewtschenko’s Herrn befriedigt. – Der Unterricht in der Akademie, das Zusammenleben mit gleichem Ziele nachstrebenden Jünglingen, das Vorbild edler Lehrer, am meisten aber das beglückende Gefühl der Freiheit, das den Jüngling belebte und seitdem immer der Grundton seines tiefsten Denkens und Handelns blieb, ließen Schewtschenko reißende Fortschritte machen, ja riefen in ihm jene erhöhte glückliche Stimmung wach, der er die Entfaltung seines schönen Dichtertalents dankte. Dieses, sowie seine künstlerischen Arbeiten, machten ihn bald



[438] in größeren Kreisen bekannt. Eine Reise in die Heimath trug nicht wenig dazu bei, seine Liebe für dieselbe tiefer und inniger zu machen, ihn zu neuem dichterischen Schaffen zu begeistern.

Doch ein schwarzer Schatten sollte bald seinen heitern Lebenshimmel verdüstern. Mit den damaligen Regierungsansichten stand der Geist, den seine Lieder athmeten, ebenso wenig im Einklange als der Freimuth, mit dem er sich über alle Verhältnisse aussprach, und so wurde er im Jahre 1847 nach Nowopetrowsk, einer Festung im Orenburg’schen Gouvernement, verbannt. Zehn Jahre lebte er dort, fern von Allem, was ihm theuer, auf sich beschränkt, von elenden, verwerflichen Menschen umgeben und überwacht. – Was Wunder, wenn nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg der angegriffene Körper dem frohen Aufschwunge und Schaffen des Geistes nicht zu folgen vermochte, wenn körperliche Leiden sich einstellten, denen er schon im Februar 1861 unterlag.

Von den vielen an seinem Grabe gehaltenen Reden drücken die Worte des Dichters Kulisch am besten aus, was er seinem Volke gewesen. Sie lauten: „Es giebt Niemanden unter uns, der am Grabe Schewtschenko’s ein vaterländisches ukrainisches Wort zu sprechen würdig wäre, denn nur ihm hat sich die ganze Kraft und Schönheit dieser Sprache offenbart. Doch danken wir ihm das Recht, dieselbe in diesem weiten Reiche (Rußland) hören zu lassen … Schewtschenko’s Hauptverdienst besteht darin, nicht daß er uns gelehrt hat, wie wir verderbenbringend Städte und Dörfer erobern, sondern daß er uns das lebenbringende Wort der Wahrheit verkündet hat.“

Die irdischen Ueberreste Schewtschenko’s wurden von St. Petersburg in die Ukraine gebracht, um im heimathlichen Boden zu ruhen. Die Theilnahme, die auf diesem Wege sich für den vom Volke hochverehrten Dichter kund gab, dürfte einzig dastehen. –

Tiefes, inniges Gefühl, vollendete Form und wohltönende Sprache zeichnen Schewtschenko’s Poesien aus. Seine Lieder spiegeln alle die Gefühle wieder, die seine Brust bewegten, seine reine Freude an der schönen Natur, seinen tiefen Schmerz über das, was das Leben ihm versagte, seine Hoffnungen, mit denen er vertrauensvoll in die Zukunft blickte, besonders aber seine Liebe für seine Heimath und seine ukrainischen Brüder. –

Ein Theil von seinen Gedichten erschien 1840 unter dem Titel „Kobzar“ d. i. Sänger, der seine Lieder mit der Kobza, einem ukrainischen Instrumente, begleitet.




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 4. Die Pässe und Säumerpfade der Schweizeralpen.
(Schluß.)

Die Pässe, welche vom Bernerlande in’s Wallis führen, darunter besonders die Gemmi, sind jährlich von Tausenden fremder Vergnügungsreisenden besucht. Hier werden besonders die Damen auf Saumrossen über die Höhen befördert. Im Allgemeinen sind Unglücksfälle nicht eben häufig und kämen wohl selten oder nie vor, wenn die Reiterin gegen die dämonische Gewalt des Schwindels hinlänglich gewappnet ist. Die Saumthiere haben aber die Eigenthümlichkeit, stets auf dem äußersten Rande des Weges sich zu halten, wenn dieses an einer Felswand hinläuft; die klugen Thiere wissen nämlich gar wohl, daß, wenn sie mit dem ihnen von der Seite herabhängenden Gepäcke auf der innern Seite anstoßen würden, dieses sie aus dem Gleichgewichte bringen und in den Abgrund stürzen müßte. Da ist’s denn für Ungewohnte freilich eine tüchtige Aufgabe, ohne Zittern in die schaurige Tiefe niederzuschauen, in welche der leiseste falsche Tritt des Thieres Roß und Reiterin schleudern kann. Ein recht trauriger Fall dieser Art ereignete sich letzten Sommer eben auf der Gemmi. Eine junge französische Gräfin, von blühender Schönheit, war im Begriffe, auf einem Saumrosse die Reise nach dem Leuker Bade zu machen. Sie war nebst den Führern noch von einem alten Diener begleitet, der an den gefährlichsten Stellen sorglich auf der Seite des Abgrundes neben dem Saumthiere herging. Seine schöne Herrin, selbst um den guten Alten besorgt, befahl ihm wiederholt, sich nicht so auszusetzen und hinter dem Pferde herzugehen. Kaum hatte der Diener diesem Befehle nachgegeben, als ein Schrei des Entsetzens die Reisegesellschaft erstarren macht: – die reizende junge Dame war, von dem unheimlichen Geiste des Schwindels gepackt, von ihrem Thiere herab und über die hohe Felswand hinuntergestürzt. Ihr Leichnam wurde nur in zerschmettertem Zustande wieder aufgefunden.

Die Alpenpässe der Centralschweiz und des Westens bieten des Schönen und Ueberraschenden weit mehr dar, als der Südosten. Als der König aller dieser Pässe wird wohl nicht mit Unrecht der große St. Bernhard mit seinem weltberühmten Hospiz betrachtet. Ebenso besucht ist der Grimselpaß, dessen Hospizgebäude bekanntlich vor wenigen Jahren aus Gewinnsucht von dem damaligen Pächter eingeäschert wurde. Das Gebäude ist jedoch von der Landschaft Hasle schöner und bequemer wieder hergestellt worden. Auch hier werden, wie auf dem Gotthard, Bernhard und Simplon, die Reisenden unentgeltlich beherbergt. Auf der Gemmi existirt ein ziemlich armseliges Wirthshaus. Dem deutschen Dichter Werner ist es eingefallen, dasselbe durch eine Schauerkomödie berühmt zu machen.

Die Bernerpässe nach dem Wallis erschließen imponirende Anblicke auf die umliegenden riesigen Gebirgs- und Gletscherformationen. Gegen den Süden zu sind die Niedergänge schwindelnd steil, wie z. B derjenige von der Grimsel die Meyenwand hinab bis zum gewaltigen Rhonegletscher; alle überbietet aber an Abenteuerlichkeit eine Strecke des Gemmipasses. Der Saumweg ist hier in die beinahe senkrecht abfallende 2000 Fuß hohe Balmwand gesprengt und windet sich, wie die Ringel einer Boa Constrictor übereinander geschichtet, aufwärts oder zu Thale. Der Pfad wurde durch eine tiefe klaffende Spalte des Gebirges durchgezwängt, in welcher jedes lautgesprochene Wort in zehnfachem Echo wiederhallt. Kommt man zum Bade Leuk in Wallis herauf, so vernimmt man schon auf die Entfernung einer halben Stunde die Jauchzer und Rufe der Führer der entgegenkommenden Reisegesellschaft, bevor man sich mit dieser selbst kreuzt. Von oben herabkommend, erblickt man anderthalb Stunde lang, in senkrechter Tiefe unter sich liegend, das neue Bad Leuk. Daß die Passage im Winter auf den Saumwegen viel gefährlicher sein muß, als im Sommer, das leuchtet ein, weil die Saumrosse da der Gefahr des Ausgleitens auf dem Schnee mehr ausgesetzt sind. Eine solche Scene hat denn auch unser wackrer Künstler zum Motiv seiner Darstellung gewählt. Die Scene spielt am Südabhange der Alpen, was schon die italienische Tracht der Säumer andeutet. Die letztern selbst sind nun aber auch schon durch die vielfach erbauten Kunststraßen zu einer Antiquität geworden. Meistens begegnet man denselben noch vereinzelt auf der Gemmi und auf dem Sanetsch. Das Saumthier trägt einen roh aus Holz construirten Sattel. An und auf demselben werden die Waarenballen so befestigt, daß die ganze Last im Gleichgewicht hängt. Die Maulkörbe, welche den Thieren vorgebunden werden, sollen verhindern, daß die armen Lastträger durch die am Wege sich darbietenden Grasbüschel nicht in Versuchung geführt werden und unnützen Aufenthalt des ganzen Zuges verursachen.

Das allmähliche Verschwinden dieser Säumerzüge mit ihrem harmonischen Schellengebimmel hat der Romantik im Gebirge einen schweren Stoß versetzt. Sie belebten besonders die obersten Paßhöhen, weil die ultramontanen und cismontanen Säumer da oben auf der Paßscheide einander zu begegnen und die Waaren zum Weitertransport einander abzunehmen pflegten. Um die Säumer selbst ist es nicht eben schade. Poseidon’s göttliche Grobheit, die Homer so einladend besingt, war jedenfalls Salonhöflichkeit, Höflichkeit in Glacéhandschuhen gegen die Sprache, welche unter diesem culturfeindlichen Geschlechte gäng und gebe war, und die zarte Nymphe Echo mag sich oft genug entsetzt haben, wenn jeder Laut, der sie aus ihren Klüften hervorlockte, eine haarsträubende Lästerung oder einen vierundzwanzigpfündigen Kernfluch enthielt. Der Gefahr freilich schauten sie mit ziemlichem Gleichmuth in’s Auge; wußten sie doch im Voraus, daß die Meisten von ihnen gelegentlich von Lauinen in den Abgrund geschleudert werden würden, wenn [439] nicht vorherige Verstümmelung durch Sturz, Erfrieren u. s. w. ihrem mühseligen Treiben ein Ende machte.

Zu guter Letzt aber giebt es noch eine Art Pässe, denen keine Kunststraßen je etwas anhaben werden. Diese aber werden nur von Hirten, Gemsjägern und Schmugglern, und das auch nur im Sommer, begangen. Ihre Hauptvorzüge bestehen darin, daß man da nicht so leicht unwillkommene Begegnungen zu fürchten hat, daß sie eigentlich keine gemachten Wege, überhaupt gar keine Wege, sondern bloße Klettergelegenheiten sind, um von einem Thale in das andere zu gelangen. Sie sind eigentlich mehr in der Tradition als in der Wirklichkeit vorhanden und nur an den halsbrechenden Stellen, wo der Fuß sonst nirgends einen festen Standpunkt findet, an eine bestimmte Richtung gebunden. Sonst mag Jeder bequem die Gelegenheit sich aussuchen, wie er am besten über steinige Alpweiden und bewegliche Geröllhalden wegkommen kann, ohne den Hals zu brechen. Die südöstliche Schweiz ist besonders reich an solch einladenden Spaziergängen, die wenigstens zuweilen prachtvolle Ausblicke gestatten. Je höher hinauf man kommt, je schauerlicher und halsbrecherischer werden diese Wege, und geht’s gar über die Grenze des ewigen Schnees hinauf, so ist auf denselben nicht gut hausen. Ueber schmale Felskanten und eisige Firnen wegschreitend, wird der Wanderer nur zu häufig vom grimmigen Wirbelwinde gepackt und in die Tiefe geschleudert. Besonders reich an solchen Annehmlichkeiten ist der bekannte 8,500 Fuß hohe Kistenpaß, vom Linththal im Canton Glarus nach Briegels im Bündnerlande hinüberführend. An den schroffen Felsenwänden des Ruchi emporkletternd führt dieser schauerliche Weg zu einer Felsspalte, „das hohe Loch“ genannt, welche gerade weit genug ist, um eine einzelne nicht gar zu dickleibige Person durchkriechen zu lassen. Am andern Ende der Höhlung hat man das haarsträubende Vergnügen, unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinabgucken zu können. Trotz dieser verlockenden Perspective möchte aber der Verfasser dieser Zeilen keine der schönen Leserinnen der Gartenlaube zu dieser Vergnügungstour einladen, denn später muß man nicht nur drunten in der schauerlichen Kluft durch einen Wildbach waten, sondern zum Ueberfluß noch an einer Stelle, die nicht vergeblich den ominösen Namen „Rothstein“ trägt, von einem Felsenabsatze in schmutziges Wasser hinunter springen, wenn der Wind etwa zufällig das Tannenbäumchen wieder einmal weggeblasen hat, das die Jäger zum bequemeren Hinabklettern an den Fuß gestemmt haben.

Nicht alle diese Gebirgspässe bieten übrigens der Gefahren so viele dar. Selbst Gletscherpässe, die in einer Höhe bis zu 10,000 Fuß über weite Eiswüsten gehen, wie z. B. derjenige über die Strahlegg, der vierzehn Stunden lang meist über blankes Eis wegführt, werden mitunter nicht nur von Touristen, sondern auch von muthigen und neugierigen Touristinnen begangen. Besonders sind die Engländer auf solche Parforcetouren versessen. Freilich bekommen ihnen dieselben nicht immer gut. So verunglückten 1860 drei den ersten Familien von Wales angehörende junge Männer auf der Passage des Col de Géant in der Montblancgruppe. Gegen das Dorf Courmayeur hinuntersteigend und einen schmalen Felsgrat überkletternd sank der Hinterste aus Müdigkeit zusammen und riß, da Alle sich mittelst eines Strickes an einander gebunden hatten, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich ist, seine beiden Reisegefährten sammt dem Führer mit sich in den Abgrund. Zwei andere Führer, welche die Enden des Seils hielten, hatten nicht die Kraft, die Stürzenden zurückzuhalten, deren grausiger Fall noch eine Lauine aufweckte, die nachdonnernd die Unglücklichen begrub, die man später nur als blutige, schier unkenntliche Leichen auffand.

Als Beispiel, bis zu welcher Ungeheuerlichkeit die Schwierigkeiten mancher Alpenpässe sich aufthürmen, mag noch der Col du Trift, vom Walliser Einfischthale nach Zermatt hinüberführend, genannt werden. Da hat man die nicht Jedermann zusagende Gelegenheit, eine nahezu senkrechte Eiswand mittelst ungeheuerer Stufen wie auf einer Leiter hinan zu klimmen und an einer nicht minder steilen Felsenmauer an einer da zu größerer Bequemlichkeit eingeschmiedeten Kette, wie ein Glockenschwengel zwischen Himmel und Erde schwebend, sich hinauf zu ziehen. Diese Passagen gehören nun freilich nicht mehr in’s Gebiet der Säumerpfade. Wer möchte sie aber alle zählen, diese erforschten und unerforschten Pfade in der riesigen Gletscherwildniß, deren Eismeere allein an funfzig deutsche Quadratmeilen umfassen und deren beständig noch neue in der Bildung begriffen sind, während die vorhandenen bereits die Zahl von 600 übersteigen, von denen 400 von einer bis zu sieben Stunden lang sind. Da unten in den blaugrünen Krystallgrotten schläft gar mancher kühne Geselle den Todesschlaf, ohne daß seine Bekannten den Ort nur ahnen, wo er der Auferstehung entgegenträumt, während sie achtlos über die verrätherische, von Schnee und Eis neu überbrückte Spalte schreiten, deren klaffender Mund den Unvorsichtigen verschlang.

A. B.




Ist das Rasiren des Bartes der Gesundheit nachtheilig oder nicht?

Die obige Frage ist von einem Edinburger Arzte neuerlich aufgestellt, da in seinem Vaterlande die Bartmode mit unerwarteter Raschheit sich ausbreitet und schon die nationalglatten Untergesichter auch in der fashionablen Welt zu verdrängen droht, darob aber eine bartlose und barthassende Partei großes Geschrei erhebt und sogar Gefahr für die Gesundheit im Nichtrasiren gewittert hat. Lächerlich ist die Frage nicht, davon hat uns die Motivirung überzeugt, welche jener Arzt derselben gegeben, und mir hoffen, auch der Leser werde ihre ernste Bedeutung, sobald er uns gehört, nicht verkennen.

Fragen wir zunächst: Weshalb sollen wir uns rasiren? Weshalb das Kinn entblößen und den Kopf ungeschoren lassen? Oder, um mit einem Schriftsteller zu reden, sollen wir „den Kinnbacken weniger in Ehren halten als den Schädel, oder David’s Bart nicht so verehrungswürdig finden als Absalom’s Haarlocken“? Lassen Sie uns die Sache in Ruhe ergründen.

Rasiren ist sicherlich nicht durch das Alter des Brauches geheiligt. Die Bärte sind Altersgenossen der Schöpfung, denn jüdische Gelehrte erklären: „wir glauben mit Recht, daß unser Aeltervater Adam in der Frische des Mannesalters geschaffen wurde und in der ersten Stunde seines Lebens dastand im Schmucke eines üppigen schwarzen Bartes.“ Im Morgenlande schwört man noch heute bei Mosis Bart, und verweilt nicht der Psalmist mit Vorliebe bei dem ehrwürdigen Barte Aaron’s, welcher „herabreichte bis zum Saume seines Gewandes“? Die levitischen Priester ließen ihre Bärte wachsen, und eine bestimmte Verordnung verbot das Abstumpfen der Kanten des Bartes.[2] Lange Bärte und schleppende Gewänder wurden von den Juden der Vorzeit als Zeichen der Ehrenhaftigkeit betrachtet, und Kürzung der letzteren wie Abschneiden der ersteren waren Merkmale tiefer Erniedrigung.[3]

Alle heidnischen Götter, mit Ausnahme des Apollo, trugen buschige Bärte. Im ersten Buche der Iliade wird erzählt, Thetis habe, als sie Jupiter gewinnen wollte, mit der Rechten sein Knie, mit der Linken seinen Bart umfaßt. Gleicher Brauch wurde bei den Juden ausgeübt, wenn es galt, eine Gunst zu erwerben. So „faßte Joab mit seiner rechten Hand Amasa bei dem Barte, daß er ihn küssete.“[4] Die Zierde des Bartes zu erhöhen, durchflocht man ihn im Alterthum mit Goldfäden, und Jünglinge opferten als ihr höchstes Gut den ersten Flaum von ihrem Kinne auf dem Altare. Der Trauernde gab seine Verzweiflung durch Abschneiden seines Bartes kund. – Homer sagt den Griechen nach, sie seien wohlgeübt gewesen in der Kunst, den Bart zu pflegen: er selbst verabscheute die Vernichtung desselben, denn sein „rauhes Antlitz“ war versteckt „im alterstarrenden Gewand des Winterschnees“. Nach Athenäus trugen alle Griechen Bärte bis zur Zeit des Alexander, welcher seinen Macedoniern das Bartabschneiden anbefahl, weil der Feind im Kampfe sie am Barte ergreifen könnte. Die Athener schoren sich auch ohne diesen Zwang den Bart, bis Justinian die struppige Staffage der Gesichter wieder in Mode brachte. Die Philosophen des alten Griechenlands waren der Länge ihres Bartes [440] halber berühmt, und Lucian erzählt von einem derselben, welcher um eine Professur sich bewarb, jedoch der Kürze seines Bartes wegen zu solchem Amte untauglich befunden wurde. 400 Jahre lang, sagt [Cicero]], gab es keine Barbiere in Rom; sie kamen, wie Plinius meldet, zuerst 454 v. Chr. von Sicilien nach Rom, und Scipio rasirte sich täglich. Verfeinerte Cultur, aber auch verweichlichende und schließlich die Nation verderbende Sitten entstanden und wirkten fort mit der Bartlosigkeit der Römer.

Was unsere Altvordern anbetrifft, so steht es fest, daß langes Haar und langer Bart das Ehrenzeichen der Freien und Edlen war. Die Angelsachsen schoren sich niemals; Druiden und Barden waren langbärtig, so berichtet Julius Cäsar.[5] Die Langobarden erhielten ihren Namen von ihrem Barte, wie Friedrich den des Barbarossa (Rothbart, später Robert). Die stolzen Bärte deutscher Ritter verschwanden, mehr und mehr, als die Kreuzzüge sie über die vaterländischen Grenzen und Interessen hinauslockten und in fremden Sitten verkommen ließen. Als in Frankreich zwei Monarchen, Ludwig XIII. und XIV., herrschten, welche beide während ihrer Minorennität den Thron bestiegen, schoren die Hofleute aus Kriecherei sich das Kinn glatt, und unser Volk in elender Nachahmungssucht that ebenso. Doch deutsche Bärte gingen so wenig verloren, als deutsche Kraft und deutscher Freiheitssinn; sie tauchten, sobald die Zeit dazu kam, wieder auf, und des Kraft- und Turnvaters Jahn Silberbart erschien bei dem neuen Aufschwunge des Volkes verjüngt und den Zopfträgern zum Schrecken wieder auf den Gesichtern der Demokraten und der patriotischen Jugend.

Wir wollen die Geschichte der Bärte nicht weiter verfolgen, nicht an ihre politische Bedeutung erinnern, nicht daran, daß Peter der Große wohl die Russen, aber nicht ihre Bärte bezwang; es ist genügend bewiesen, daß der Gebrauch des Scheermessers nicht durch das Alterthum geheiligt ist und nur als ein die nationale Entwicklung und den Freiheitssinn störendes Element sich einbürgerte.

Entbehrlich scheint es, weitläufig zu beweisen, daß ein bärtiges Gesicht der männlichen Schönheit weit mehr entspricht, als ein mönchisch glattgeschornes. Was giebt es Ehrwürdigeres als das Bild des Homer, welches Tennyson also zeichnet:

„In’s Antlitz eingekerbt der Runzeln tausend,
Einhundert Winter hingeschneit auf seine Brust,
Herab von Wange, Hals und Kinn.“

Welche würdige Ruhe, welche tiefe Weisheit schwebt um den goldnen Bart des Aesculap! Die Väter unserer Kirche waren sich der Würde eines Bartes wohl bewußt. Clemens von Alexandrien sagt: „der Bart erhöht die Schönheit eines Mannes ebenso viel, als dies ein reiches Kopfhaar bei dem Weibe thut.“ Selbstverständlich können wir in ästhetischer Beziehung nicht alle Bärte empfehlen. Es giebt solche, welche das Gesicht nicht verschönern, z. B. der des Hudibras –

„Der ob’re Theil von ihm war milchig blau,
Der untere orangegelb mit grau.“

Wir denken nur an einfarbige, wohlerhaltene, nicht an schmutzige Judenbärte, an die Bärte der Abrahams und Isaaks und Jacobs, welche bis auf den Gürtel Herabreichen. Wir bewundern die reizende Form der Bärte in den Bildern des van Dyk, ihre bezaubernde Schönheit bei G. Dow und Anderen. Wir staunen den Bart des Ritters Räuber aus Maximilian’s Zeit an, welchen er

„– – um einen Stab gewickelt,
Gleich dem Paniere in die Lüfte flattern lies;.“

Die Allgewalt und Allmacht bekleidet der Künstler mit dem Schmucke des reichsten Bartes. Am bartlosen Kinne erkennen wir Knaben, Weiber, Eunuchen. Wir mißtrauen der Vollkommenheit der Mannheit, wenn der Bart sich lichtet und ergraut, aber wir fühlen uns hingezogen zu der männlichen Kraft des Antlitzes, in welchem

„– des Auges Feuer hebt gebräunter Wangen Roth
Und schwarzen Bartes schattige Umrahmung.“

Ein lachender Philosoph (Democritus) meint, das Wegputzen des Bartes habe dieselbe Bedeutung wie das Stutzen des Geweihes und der Sporen bei Hirsch und Hahn, und die Fruchtbarkeit der Juden und Orientalen hänge vielleicht von ihren Bärten ab. Soweit gehen wir nicht in unserer Behauptung, aber wir machen darauf aufmerksam, daß, so lange man Bärte trug, mehr Männlichkeit unter Männern, mehr Gehorsam bei den Weibern herrschte.

Ist Bartscheeren nun etwas Angenehmes? Der geneigte Leser mittleren Alters streicht mit Daumen und Zeigefinger bei dieser Frage über sein „grauliches Kinn“, welches er dreißig Jahre lang täglich unter Angst und Zittern mit der scharfen Klinge tractirte, stößt ein höhnisches, ingrimmiges Lachen aus und denkt, der gesunde Verstand verbiete solche Frage! Was sagt Byron?

„Dem Mann ist mit dem Sündenfall in’s Kinn
Der Bart gepflanzt als ewig tastend Erbe.“

Und behauptet nicht Martinus Scriblerus – freilich unserer obigen Annahme entgegen – Adam sei erst, nachdem er gesündigt, bärtig geworden und die Qual des Rasirens auf seine Nachkommen vererbt, damit der Mann im Laufe seines Lebens durch tägliche Abzahlung den Gesammtbetrag der Leiden erdulde, welche das Wochenbett dem Weibe bereite? Wir sind in diesem Punkte befriedigt, haben nicht nöthig, an alle die Widerwärtigkeiten zu erinnern, welche stumpfe Messer, blinde Spiegel oder unser Gesicht betastende stinkende Barbierhände, blutdürstige Jünger der Bartscheerkunst, uns bereiten. Angenehm ist das Rasiren niemals!

Die wichtigste Frage aber lautet: Ist das Bartscheeren der Gesundheit förderlich? Wir denken: Nein! und wollen unsere! Gründe nennen. Ein neuerer Dichter sagt:

„Kein Theil am Menschenkörper ohn’ zwiefachen Zweck,
Zu fest’gen hier und auszuhelfen,
Zu runden dort und zu verschönen.“

So ist der Bart uns nicht blos als ein Ornament der Manneskraft und Frische gegeben, auch gewiß nicht allein zu dem Zwecke, dem schönen glattwangigen Geschlechte gegenüber für den Mann ein mächtiger Alliirter zu sein, sondern seine Bestimmung ist auch Erhaltung der Gesundheit.

Der Schnurrbart ist ein natürlicher Respirator, das Haar an Backen, Kinn und Hals soll Wärme und Schutz den zartgebauten Nachbarorganen geben, namentlich dem Schlunde und dem Kehlkopfe als eine naturwüchsige Cravatte. Vernichten wir also nicht die Absichten der Vorsehung, wenn wir uns rasiren? Dr. Szokalski machte 1803 an 53 kräftigen Männern, zwischen 25 und 45 Jahren alt, welche früher den ganzen Bart trugen und jetzt sich denselben abschoren, folgende Beobachtungen. Alle fühlten, anfangs ein unangenehmes Frösteln, nur vierzehn gewöhnten sich schnell an den Wechsel und verspürten weiter keinen Nachtheil; die Anderen aber litten in verschiedener Weise. Siebenundzwanzig wurden von Schmerzen in den Zähnen und Kinnladen befallen, – nämlich elf von Zahnweh und Gesichtsschmerz und sechszehn von rheumatischer Entzündung des Zahnfleisches. In sechs Fällen schwollen die Unterkieferdrüsen, und in vierzehn Fällen machte der Knochenfraß bereits kranker Zähne rasche Fortschritte. Er stellte Vergleiche an bei vierzig Männern von dreißig Jahren, die eine Hälfte barttragend, die andere geschoren. Bei der ersten Hälfte waren nur acht Zähne ausgegangen, bei der zweiten nicht weniger als sechsundzwanzig. Bei Einzelnen wich das nervöse Zahnweh nicht eher, als bis der Bart wieder gewachsen war.

Es steht fest, daß das Rasiren schwächliche Personen sehr empfänglich macht für Temperaturwechsel und somit zu Krankheiten geneigter; es ist wahrscheinlich, daß Bartlose leichter von Lungenschwindsucht (tuberculösem Nachschub) befallen werden als Bärtige, und in Frankreich, wo man sehr viel Bärtige sieht, findet man diese Krankheit überwiegend bei dem weiblichen Geschlechte. Der Bart wärmt und schützt den Mund, die Zähne und die Speicheldrüsen, bewirkt also mit, daß diese für unsere Ernährung wichtigen Organe gesund und kräftig bleiben. Er entwickelt sich beim Manne eben zu der Zeit, in welcher die größte Thätigkeit und Kraft der Verdauung nothwendig ist. Es ist von Andral und Gavarret bewiesen, daß die Thätigkeit des Blutbereitungsprocesses in bestimmtem Verhältnisse steht zur Menge der in einer gewissen Zeit ausgeathmeten Kohlensäure. Wir wissen aber, daß diese Ausathmung am stärksten ist, wenn der Bart hervorwächst. Man hat gefunden, daß Frauen während ihrer geschlechtlichen Blüthe halb so viel Kohlenstoff aufnehmen, als von Männern durch das Athmen verändert wird; aber seltsam genug ist es, daß nach dieser Periode mehr Kohlenstoff von ihnen verzehrt wird und dann nicht selten Bartspuren auftreten, welche ihr Gesicht eben nicht verschönern.

Die Eingeborenen kalter Länderstriche haben dickere, stärkere Bärte, als die der warmen Klimate, weil in nördlichen Breiten die Natur eine besondere Thätigkeit der Speichel- und Kauorgane erfordert, damit eine Menge Nahrung verdünnt und in das Blut aufgenommen werden kann, groß genug, die mit der Blutbereitung [441] sich entwickelnde thierische Wärme dem Körper in genügendem Maße zu erhalten. Als Respirator nützt uns der Bart, wie keine Kunst mit Drahtgeweben dasselbe leisten kann, und dazu sitzt dieser Respirator nicht wie ein schwarzes Siegel im Gesichte, ähnlich dem Stempel eines Passes mit dem Visum in das Reich der Leiden und des Todes. Das Haar des Schnurrbartes nimmt nicht nur Nässe und Miasmen der Atmosphäre auf und hindert mechanisch das Eindringen von Staub und Rauchschmutz in unsere Luftwege, sondern wirkt auch strengwissenschaftlich, aus der ausgeathmeten Luft Wärme aufnehmend und solche der in die Brust einströmenden wiedergebend. Und wie bequem ist dieser Respirator zu tragen! Er wird niemals zu Hause gelassen, wie Schirm und andere Dinge, welche immer fehlen, sobald man ihrer bedarf. Professor Alison beobachtete schon vor vielen Jahren, daß die Steinhauer nur zum kleinsten Theil das vierzigste Jahr überschritten, weil sie in Folge des steten Einathmens feiner Staubtheilchen schwindsüchtig wurden; er empfahl diesen Leuten, den Bart auf der Oberlippe stehen zu lassen (wir athmen vorzugsweise durch die Nase), und es bewies sich der Schnurrbart äußerst wirksam.

Niemand wird die wärmende Eigenschaft des Halsbartes bezweifeln. Die afrikanischen Entdeckungsreisenden Livingstone, Moffat und Andere behaupten, für eine Nacht im Freien komme keine Umhüllung dem Barte an Werth gleich. Merkwürdig aber ist es, daß der Bart gleich dem Kopfhaare auch gegen die Sonnenhitze schützt. Hier wirkt er wie das Strohdach des Eishauses, aber noch besser, denn die ihn durchdringenden Schweißtropfen kühlen, indem sie verdunsten, die Haut. Wer diesen Schutz der Natur annimmt, kann dem rauhen Sturme und dem strengsten Winter Trotz bieten; er kann ungestraft aus heißem Zimmer in die Winterkälte hinaustreten. Deshalb sollen Locomotivführer, Eisenbahn-Couducteurs, Postillons, Nachtwächter, Polizisten Bärte tragen. Verkehrt ist das Verbot, daß Matrosen und Soldaten den vollen Bart nicht führen sollen. Es liegt die Erfahrung vor, daß Soldaten mit Schnurrbart von katarrhalischen Uebeln weit mehr verschont blieben, daß bartlose Rekruten am häufigsten wegen Brustentzündung in die Hospitäler wanderten.

Wem also Gott ein bärtiges Gesicht gegeben, der wahre diesen Schatz als Manneszier und seinem körperlichen Wohle zum Schutz und Trutz, und wer von uns erst heute überzeugt wurde von dem Werthe eines Bartes, welchen er als nutzlos bisher vernichtete, er verlache unbärtiger Moden Zwang und barterschrockener Reactionäre politische Bedenken; er schleudere hinaus zum Fenster Scheermesser, Streichriemen, Pinsel, Seifenbüchsen und wie die Folterwerkzeuge alle heißen!

Burghard.





Das erste deutsche Bundesschießen in Frankfurt a. M.[6]

1. Die Vorbereitungen.
Von Dr. Karl Wagner.

Uns Deutschen ist es von der Vorsehung absonderlich schwer gemacht worden, frei, einig und mächtig nach innen und außen zu werden. Unsere ganze geschichtliche Entwickelung, vierunddreißig souveraine Häupter und der durch sie genährte königlich, großherzoglich, herzoglich etc. privilegirte Localpatriotismus, der lose Zusammenhalt unserer bundesstaatlichen Organisation, religiöse Verschiedenheiten, Particularismus an allen Ecken und Enden, das Interesse des Auslandes an unserer Zerstückelung und viele sonstige, hundertmal besprochene Ursachen haben alle dazu gedient, uns von einander zu entfernen, anstatt uns zusammenzuführen. Der tiefe Riß zwischen Nord- und Süddeutschland oder – damit wir lieber das Kind beim Namen nennen – zwischen den Cabineten von Wien und Berlin, die Eifersucht zwischen den dort herrschenden Dynastien, denn die Abneigung zwischen den nord- und süddeutschen Volksstämmen wäre in der That leichter auszugleichen – sie tragen die Hauptschuld an diesen unseligen Zuständen, ihnen fällt manche unheilvolle That zur Last. Muß es nicht das Herz eines jeden Deutschen mit Wehmuth und Zorn erfüllen, wenn er ruhig zusehen muß, wie die Diplomaten zweier Großstaaten jetzt wieder mit einem braven und biedern Stamme, der schwergeprüft mit unsäglicher Langmuth das fast Unerhörte getragen hat, ihr Ballspiel spielen und dessen unglückliches Land zum Schauplatz ihrer Absichten machen, wenn in einem andern Staate, nachdem der Fortschritt sich kaum einen Fuß breit neuen Boden erobert, die Reaction wieder drohend ihr Haupt zu erheben wagt? Angesichts dieser und ähnlicher Thatsachen möchte man fast den Muth sinken lassen und an allem Besserwerden, wenigstens auf dem bisher betretenen Wege, verzagen, – wenn nicht zwei Großmächte, die den anderen Großmächten heutzutage gewaltig zu schaffen machen, mit uns im Bunde wären, der Geist der Zeit und der zum Bewußtsein seiner selbst erwachte Geist des Volkes.

Der Geist der Zeit, der die Völker aller Zungen zum friedlichen Austausch ihrer materiellen und geistigen Erzeugnisse auf einen Punkt zusammenruft, der über kurz oder lang die Vorurtheile zwischen den Nationen schwinden machen wird, er duldet es nicht, daß Volksstämme, die eine Sprache reden, sich feindlich gegenüber stehen, er kann es nicht dulden, denn er würde sich selbst untreu werden. Und ebenso ist mit diesem Geiste, der auch die leuchtende Fackel der Wissenschaft schwingt, jeder Anklang an mittelalterliches Feudalwesen und an dumpfe Verfinsterung der Gemüther durch religiösen Wahn unvereinbar. Als einen Ausfluß dieses vereinigten Volks- und Zeitgeistes dürfen wir wohl mit Recht die Gründung des deutschen Schützenbundes und das von demselben veranstaltete erste deutsche Bundesschießen betrachten, welches in diesen Tagen vom 13. bis 20. Juli in der freien Stadt Frankfurt a. M. stattfinden wird.

Das deutsche Schützenwesen, ein so bedeutsames Culturmoment es auch in unserer Geschichte in früheren Jahrhunderten war, hatte längst aufgehört, einen wesentlichen und fördernden Einfluß auf unsere nationale Entwickelung zu äußern. Es fehlte ihm ganz und gar jede höhere Bedeutung und jene einheitliche Tendenz, welche z. B. das schweizerische Schützenwesen zu einer so tief in das nationale Leben der Schweiz eingreifenden, heilsamen Einrichtung gemacht hat. Es gab und giebt zwar heutzutage noch an vielen Orten sogenannte Schützengilden, auch werden von den meisten derselben alljährlich noch „Schützenfeste“ veranstaltet. Aber das ganze Auftreten und Gebahren dieser Gesellschaften ist mit wenigen Ausnahmen – dahin gehört z. B. das Schützenthum von Bremen – eher eine Persiflage auf die fortgeschrittene Schießkunst unserer Tage, als eine ernstliche Uebung in den Waffen zu nennen. Man schießt auf ganz kurze Distancen (250–400 Fuß) und meistens aufgelegt. Die Schützenfeste in den Provinzialstädten sind zu einer lächerlichen Komödie, zu einem niedern Jahrmarkt mit Volksbelustigungen herabgesunken. Der großmächtige Federbusch auf dem Hute, die von der Schulter bis zur Ferse Herabwallende breite Schärpe, der rasselnde Säbel an der Seite und die Sporen an den Füßen spielen eine Hauptrolle. Das Ganze läuft auf nicht viel mehr als auf Befriedigung kleinlicher Eitelkeit und Soldatenspielerei hinaus. In den Schießständen ist der Vogel das Hauptziel, dessen einzelne Stücke auf ganz kurze Distancen abgeschossen werden. Wer das Glück hat – denn die Kunst ist bei diesen Schießen wahrlich nicht entscheidend – den Rumpf vom Pfahl zu schießen, wird zum Herrn und König ausgerufen und mit schweren güldenen Ketten und Schildern behängt. Daß von solchen Helden im Fall der Noth kein Heil für das Vaterland zu erwarten sei, bedarf keines Nachweises. Man hat bei dem vorjährigen Schützenfeste in Gotha das Unnütze und Zweckwidrige der gegenwärtigen Einrichtungen sofort erkannt und mit rückhaltloser Offenheit diese Seite des deutschen Schützenwesens, welche es bei den Gebildeten der Nation in Mißcredit gebracht hat, gegeißelt. Soll das deutsche Schützenwesen wirklich zu neuem Leben erstehen und als ein die vaterländischen Interessen thatkräftig förderndes Institut, Anspruch auf die Theilnahme der Nation machen dürfen, so ist eine durchgreifende Reform desselben dringend geboten. [442] Dem im Herbst vorigen Jahres zu Bremen gegründeten Schützenbunde gebührt das Verdienst, die ersten Schritte auf dieser Bahn gethan zu haben. Die Vertreter von mehr als hundert Schützengesellschaften, welche den Ausschuß für die Berathungen zu Bremen constituirten, haben als leitende Gesichtspunkte bei der Gründung des deutschen Schützenbundes aufgestellt: „die Vervollkommnung in der Kunst des Schießens und dadurch Hebung der Wehrfähigkeit des deutschen Volkes und die Verbrüderung aller deutschen Schützen“. Diese Ziele wird man von nun an unverrückt im Auge behalten und damit dem Vaterlande eine gut verbreitete und leicht bewegliche Wehrkraft zuführen, welche gleichsam als Ergänzung der stehenden Heere in den Tagen der Gefahr dienen soll und wird. Zu diesem Behuf war vor Allem auf eine einheitliche, leichte und handliche Waffe Bedacht zu nehmen, und man hat daher den Schweizer Ordonnanzstutzen als Bundeswaffe[7]angenommen. Dieselbe darf nur zwölf Pfund wiegen. Auf die Feldscheiben sollte eigentlich schon beim diesjährigen ersten Bundesschießen nur mit der Schützenwaffe geschossen werden, doch hat man diese Bestimmung in Anbetracht, daß sich die Einheit der Waffe nicht so rasch herstellen lasse, und um nicht dadurch Theilnehmer vom Feste abzuhalten, nachträglich für diesmal wieder aufgehoben. Aus ähnlichen Rücksichten hat man die ursprüngliche Bestimmung der in Bremen vereinbarten Schießordnung, daß nur aus freier Hand geschossen werden dürfe, dahin modificirt, daß auf 10 von den 100 aufgestellten Scheiben das Aufgelegt-Schießen gestattet ist. Der freie Handschuß soll jedoch natürlich bei Weitem vorwiegend bleiben. Die Schußlänge der Standscheiben beträgt 175 Meter (1 Meter ungefähr – 3 Fuß), die der Feldscheiben (Mannsscheiben) 300 Fuß. Man sieht also, daß der Schütze, der sich auf diese Entfernungen tüchtig eingeschossen hat, seine Kunst auch anderswo als auf dem Schießplatz, d. h. im Felde und wo er ihrer ernstlich bedarf, verwerthen kann. Aber auch bei Feststellung der Schützenkleidung hat der Ausschuß des Schützenbundes bewiesen, wie sehr ihm zeitgemäßes Vorgehen und Zweckmäßigkeit am Herzen liegt. Die dunkelgraue Joppe (mit Zündhütchentäschchen, grünem Kragen und Passepoil), weit genug, um nöthigenfalls noch einen Rock unterzuziehen, sowie der dunkelgrüne Filzhut haben den Sieg über die buntscheckigen Schützenuniformen davon getragen, denen man beim Schützenfeste in Gotha noch in ziemlicher Menge begegnete.

Mit Beseitigung alles veralteten Plunders und unnützen Trödelkrams, mit gänzlicher Aufgebung des alten Schlendrians hat der deutsche Schütze fortan seine Ehre nur in der geschickten Behandlung der Waffe zu suchen. Diesen Gedanken, diese Gesinnung sollen die alle zwei Jahre stattfindenden deutschen Nationalschießen überall im Vaterlande zum Durchbruch und zur Ausführung bringen helfen. Ob sie ihre Aufgabe erfüllen? Wir wollen es wünschen und zugleich hoffen, daß an kleinlichen Bedenken nicht wieder große Ziele scheitern. Jedenfalls aber werden sich durch das persönliche Zusammentreffen auf diesen Festen die verschiedenen Volksstämme näher rücken, mit erweitertem Gesichtskreis und befruchtet mit neuen anregenden Anschauungen in die Heimath zurückkehren und so zur allmählichen Ausgleichung vieler Vorurtheile und Gegensätze beitragen. In diesem Sinne heißen wir das erste deutsche Bundesschießen willkommen und ersuchen den Leser, mit uns eine Wanderung auf den Schauplatz desselben, die alte, echt deutsche Stadt Frankfurt am Main, anzutreten.

Bei dieser Wanderung durch die berühmte Krönungsstätte des weiland heiligen römischen Reiches deutscher Nation wird er auf Schritt und Tritt die Spuren einer im großartigsten Maßstabe angelegten vorbereitenden Festthätigkeit treffen. So mag es einst in dieser Stadt hergegangen sein, da man sich zum würdigen Empfang und zur Krönung der deutschen Kaiser rüstete, nur daß der zu erwartende Fremdenzudrang in keinem annähernden Verhältniß mit dem damaligen steht, denn – selbst die Kaiser fuhren damals noch nicht auf Eisenbahnen. Zehn Festcomités, welche sich in förmlich und genau organisirter Verwaltung in die verschiedenen technischen, finanziellen, künstlerischen, literarischen etc. Geschäftszweige theilen, haben alle Hände vollauf zu thun. Sitzungen folgen auf Sitzungen, viele Hunderte von Arbeitern sind seit Monaten für das Fest thätig, die Annoncen in den Zeitungen, die Auslagen in den Erkern, Alles weist darauf hin; es bildet den Ein- und Ausgangspunkt aller Gespräche und greift tief in die ganze bürgerliche Thätigkeit der Stadt und in viele Privatverhältnisse ein.

Die Betheiligung der Behörden und der Bürgerschaft ist im Allgemeinen eine sehr rege, mit Ausschluß der sogenannten Crème der Gesellschaft, welche dem Nationalfeste keinen angenehmen Geschmack abzugewinnen scheint. Nicht die leichteste Ausgabe ist dem Wohnungscomité zugefallen, denn es ist keine Kleinigkeit, in einer großen Stadt wie Frankfurt, in der jedes Eckchen Raum von hohem Werth ist und die, wie andere große Städte, auch ein Lied von der Wohnungsnoth zu singen weiß, eine Schaar von 5–6000 Schützen und die gewiß fast doppelte Anzahl von Verwandten und Freunden, die in den Familien zum Besuch des Festes eintreffen, gastfreundlich unterzubringen. Man hat sich deshalb genöthigt gesehen, Schulen und andere öffentliche Gebäude für die Unterkunft der Schützen herzurichten und das Bettwerk zum Theil von außerhalb zu verschreiben. So hat der Großherzog von Baden, der als echt deutscher Fürst alle nationalen Bestrebungen befördert und unterstützt, dem Festcomité 1800 ganz neue Betten aus den badischen Militairdepots zur Verfügung gestellt. Man hatte anfänglich höchstens auf 4000 Festtheilnehmer gerechnet. Nachdem aber jetzt der bekannte Conflict wegen des Erscheinens italienischer Schützen beim Feste glücklich beigelegt ist, laufen die Anmeldungen aus Süddeutschland, besonders aus Baiern, massenhaft ein und wird die oben genannte Zahl von 5–6000 Schützen ohne Zweifel erreicht werden, worunter sich allein 600 Schweizer befinden. Viele deutsche Eisenbahnen befördern die Schützen zu ermäßigten Fahrpreisen, eine österreichische sogar ganz umsonst. So ist auch der baierische Staatstelegraph dem Festcomité zu freier Benutzung überlassen.

Der großen Betheiligung von Einzelnen und Vereinen entspricht auch die Masse und der Werth der angemeldeten und einlaufenden Ehrengaben, die sich bis jetzt schon auf annähernd 200 belaufen und einen Gesammtwerth von ungefähr 45,000 Gulden darstellen; die geringste derselben ist 18 Gulden werth. Aus einer einzigen Stadt z. B. (Stuttgart) kommen zwölf Gaben in Silber und Gold, Hanau sendet das Hermanns-Denkmal, vier Fuß hoch, in Silber, Gold und Bronze; Pokale und Trinkhörner im Werthe bis zu 600 Gulden, kostbare Büchsen, Pistolen und Revolver, in Silber ausgelegt, Uhren in Gold und Silber, Pendules, silberne Bestecke und dergl. sind in Fülle vorhanden. Viele Buchhändler Deutschlands senden ihre besten Verlagswerke in Prachteinband, Oelgemälde von vorzüglichen Meistern sind aus München, Frankfurt, Lemberg beigesteuert, darunter ein Morel aus dem Jahre 1681. Aus allen Theilen Deutschlands sind Gaben edlen Weins eingetroffen, und die Fässer, in denen derselbe verwahrt ist, sind fast alle Meisterwerke feiner Arbeit. Kurz, die Ausstellung sämmtlicher Preise wird eine deutsche Industrieausstellung im Kleinen bilden. Die bedeutenden von der Stadt Frankfurt, von Vereinen und Einzelnen ausgesetzten Geldpreise sind in einer früheren Nummer der Gartenlaube bereits erwähnt worden.

Verfügen wir uns vor das Friedberger Thor auf den Schauplatz des Schießens selber, so stoßen wir auch hier auf jenes buntbewegte und anregende Treiben, welches einem großen Feste vorauszugehen pflegt und das Ergötzen aller Flaneurs bildet, die sich halbe Tage lang mit neugieriger Betrachtung und Kritik aller Einrichtungen auf dem Festplatze unterhalten. Zwischen Bergen von Hobelspähnen, Bretern, Balken und Moos rennen geschäftig und schaffend die Zimmerleute, Schreiner, Decorateure, Maler und Gärtner hin und her, um die großartigen Baulichkeiten ihrer Vollendung zuzuführen. Die Entwürfe zu den Festgebäulichkeiten sind von Herrn Architekten Pichler. Mit den Localitäten des Festplatzes ist der Leser im Allgemeinen schon in einer früheren Nummer der Gartenlaube bekannt gemacht worden. Der Vollständigkeit halber seien hier die Hauptdata nebst einigen Ergänzungen nochmals in Kürze angeführt. Der Festplatz ist ein 480,000 Quadratfuß großes, mit [443] einer Holzwand eingefaßtes Feld, zu dessen Decoration 600 Tannen, 300 Fichten und 100 Birken aus unserm Stadtwalde wandern. Er wird mit einer Gaseinrichtung, Wasserleitung und Springbrunnen versehen. An seiner Nordseite ziehen sich die 1170 Fuß langen und 50 Fuß breiten (ungefähr ebenso lang, freilich viel breiter, ist das Londoner Ausstellungsgebäude) Schießstände hin, an der Ostseite eine große, für 100 Personen eingerichtete Badeanstalt, die Festhalle und hinter derselben die 180 Fuß lange und 80 Fuß breite Küche mit vielen geräumigen Nebenlocalitäten zum Anrichten, Tranchiren, Spülen etc. Es lohnt der Mühe, einen Blick in die großartigen Einrichtungen der Küche zu werfen, die nun beinahe vollendet ist. Sie ist mit eigener Dampfmaschine und laufendem Wasser versehen. Vier kolossale Heerde, von denen einer zwanzig Riesenkessel und acht Bratöfen enthält, sind im Stande, täglich fünfundzwanzig Kälber und vier schwere Ochsen nebst fünfzehn Centner Kartoffeln und grünem Gemüse zu braten und zu kochen. Eine kleine Beilage auf das Gemüse erfordert drei bis vier Centner Bratwürste, dürres Schweinefleisch, Häringe oder dergleichen. Salat werden ungefähr 30,000 Köpfe bestellt. Ein Conditor hat sich verpflichtet, täglich 400 Stück große Torten zu liefern. Der Mittagstisch, zu dem die Karten jedesmal bis um zehn Uhr Vormittags gelöst sein müssen, ist warm und kostet mit einer halben Flasche Schützenwein 1 fl. 24 Kr. Die Küche ist im Stande, am Abend 10,000 Portionen, wovon ein Fünftel warm, abzugeben. Das Bäckerhandwerk hat die tägliche Lieferung von 16,000 Stück Brödchen, sowie 1000 dreipfündigen Broden übernommen. Das Metzgerhandwerk wird für den Consum der Festhalle 300 Kälber aus der Ferne kommen lassen, um die Preise in der Umgegend nicht in die Höhe zu treiben. Im Keller soll ein täglicher Umsatz bis auf 30,000 Flaschen Wein, sowie einer ebenso großen Anzahl Seidel Bier möglich gemacht werden. Diesen Zahlen entsprechend ist natürlich auch das aus beinahe 500 Personen bestehende Bedienungspersonal (Beamte des Beimanns, der Controle und der Cassa, Köche, Kochfrauen, Sectionschefs, Aufwärter, Metzger, Küfer, Mädchen für Zurichten der Gemüse und Reinigen der Tafelservice, Tagelöhner etc.), für welches ein vorzüglich organisirter Dienst mit streng vorgeschriebener Hausordnung eingerichtet und bereits publicirt ist. Und diesem Riesentreiben sehen die Wirthe der eidgenössischen Schießen, welche die Festwirthschaft in Frankfurt übernommen haben, laut eines früheren Schreibens derselben „in der Hoffnung auf günstiges Wetter und heitere Feststimmung mit aller Ruhe entgegen.“ Man sieht also, für die materielle Seite des Festes ist glänzend gesorgt – möchte ihm auch die geistige entsprechen!

Kehren wir jedoch von der Küche in die Festhalle zurück, welche dem Leser in nächster Nummer in Abbildung vorgeführt wird. Ein imposanter und stolzer, schon von Weitem sichtbarer, sehr hoher Holzbau, besteht sie aus einem Längsschiff von 400 Fuß und einem Mittelschiff von 100 Fuß, welche zusammen eine Kreuzesform bilden. Dem Hauptschiff entlang laufen niedrigere Seitenhallen. Das ganze Holzwerk ist von innen und außen dicht mit Moos, Laubwerk, Festons und Blumen verkleidet. Die Tragsäulen sind mit schwarz-roth-goldenen Fahnen und den Wappen sämmtlicher Bundesstaaten decorirt.

Die ganze innere Halle ist in einen blühenden Garten mit rauschenden Cascaden und kühlenden Springbrunnen verwandelt. Von ihrer offenen, nur mit leichten Leinwandhüllen versehenen Hauptfronte aus übersieht man bequem den ganzen Festplatz. An der innern Seite des Längsschiffes laufen Gallerien hin, während an den beiden Enden des Mittelschiffes weite Tribünen für die Orchester, die Productionen der Gesangvereine etc. angebracht sind. Unter denselben befinden sich vier vom Historienmaler Lindenschmitt ausgeführte Gemälde, welche vier Hauptschlachten darstellen, in denen die Deutschen den äußeren Feind zurückschlugen: die Schlacht im Teutoburger Wald gegen die Römer, die Schlacht im Lechfeld gegen die Ungarn, die Schlacht bei Wien (1683) gegen die Türken und die Schlacht an der Katzbach gegen die Franzosen. Die zwischen diesen Schlachtgemälden angebrachten Bilder von Armin, Karl dem Großen, Otto I., Prinz Eugen, Stein und Blücher sollen außerdem die Hauptrepräsentanten der Freiheitskämpfe der Deutschen darstellen. Im äußeren Giebelfelde des Mittelschiffes ist Germania, unter ihre Söhne die Waffen vertheilend (von Maler Hausmann) abgebildet.

Setzen wir unsere Wanderung über den Festplatz fort, so finden wir auf der Südseite desselben die 300 Fuß lange Bierhalle, den Verkaufsbazar, die Post- und Telegraphenbureaux, Localitäten für die Feuerlösch- und Wachmannschaften, Zimmer für die Aerzte und das Preßbüreau. In der Mitte des Platzes erhebt sich der in gothischem Styl ausgeführte 64 Fuß hohe, mit den Fahnen sämmtlicher Schützenvereine und der von Bildhauer Nordheim in Gyps ausgeführten Statue der Germania gezierte Gabentempel. Ihm gegenüber an der Westseite öffnet sich die in reichem schwarz-roth-goldnem Fahnenschmuck wie alle Festgebäulichkeiten prangende Eingangspforte. Auf einem zweiten, viel größeren und ohne Eintrittsgeld Jedermann zugänglichen Festplatze, welcher dicht an den ersten stößt, auf der sogenannten Bornheimer Haide, werden der Circus Suhr und Hüttemann und die sämmtlichen Volksbelustigungen, sowie eine große Anzahl von Restaurationen und Gartenwirthschaften concentrirt sein.

Haben wir den Leser der Gartenlaube sonach mit dem Schauplatze des ersten deutschen Bundesschießens, das am Sonntag den 13. Juli mit einem glänzenden Festzuge beginnt, einigermaßen bekannt gemacht und ihn auf dasselbe vorbereitet, so können wir demselben jetzt, wie die Schweizer Festwirthe, „in der Hoffnung auf günstiges Wetter und heitere Feststimmung in aller Ruhe entgegensehen“ und werden nicht verfehlen, ihm später alles weiter Wissens- und Mittheilenswerthe und den ganzen Verlauf des Festes zu referiren. Möge der Geist, der es in’s Leben gerufen, über dem ersten Bundesschießen segnend walten!




Aus den Tyroler Bergen.

Nr. 1. Der Curort Meran.

Es giebt einen gewissen Grad von Naturschönheit, der auf das Gemüth feinfühlender, gebildeter Seelen einen Eindruck macht, als ob hier der Heimathsboden all ihrer stillen Träume, ihrer phantastischen Vorstellungen und idealsten Wünsche gefunden wäre. Gegenden, wo diese seltene Empfindung herrschend wird, zeichnen sich nicht sowohl durch imposante Formen und kühne Naturphänomene, als durch ein harmonisches inniges Zusammenwirken all ihrer Einzelheiten aus.

Als ein solcher Urboden sehnsüchtiger Naturträume erscheint dem Reisenden Meran. Es ist ohne den farbenreichen Pinsel des Malers schwierig, von einer merkwürdigen Gegend ein anschauliches Panorama zu entrollen. Während der Maler alle Eindrücke neben einander stellen und mit einem Male dem Auge faßlich machen kann, vermag das Wort nur nach einander im Geiste des Lesers Vorstellungen zu erwecken, welche endlich das Gesammtgemälde zusammenbauen. Der einzige Vortheil ist, daß die erzählende Schilderung, weil sie die leiblichen Augen und ihre optischen Gesetze nicht zu berücksichtigen braucht, auch hinter die Büsche schauen, durch die Berge bis in die Nebenthäler hindurchblicken, mit einem Wort, um die Ecke sehen kann.

Unter allen Thälern der gesammten Alpenwelt zeichnen sich vorzüglich vier durch die Länge und Bedeutung ihres geschlossenen Bergcharakters aus: das Rhonethal, das Rheinthal, das Innthal und das Etschthal. Während das Innthal von keinem andern an Größe und Gewaltigkeit erreicht wird, da es sich im ungeheuersten Landschaftswechsel von Silva Plana in Graubünden bis dicht vor Rosenheim in Baiern dahin zieht: bietet das Etschthal die größten Gegensätze durch seine klimatischen Verhältnisse. Hierin steht es einzig da, denn noch unter dem Namen des oberen Vintschgau bei Reschen beginnend und ganz von der eisigen Düsterkeit einer nordischen Gletscherwelt im höchsten Styl umgeben, von der gigantischen Nachbarschaft des Ortler und der Laaser Ferner überragt und durch die steilen Vorberge der Oetzthaler Gletscherwelt eingeengt, geht es allmählich bei Mals in die mittlere Alpentemperatur des unteren Vintschgaus über, fällt dann bei der Töll in einen warmen, sonnigen Bergkessel hinab und erstreckt sich von hier aus unter dem wirklichen formellen Namen „Etschthal“, den Lauf von Mitternacht nach Mittag richtend, über Botzen, Trient, Roveredo und die Chiusa bis nach Verona. Wer die Etsch von [444] ihrer Quelle im öden kalten Rahenthal bis zu den Lorbeer- und Cypressenhügeln des Giardino Ginsti bei Verona verfolgt, dessen Sinne haben fast alle Klimata Europa’s kennen gelernt.

Jener geschützte warme Kessel nun, den ich vorhin erwähnte, und in welchen die Etsch von der Töll aus sich hinabsenkt, ist das eigentliche Thal von Meran. Ein wahrhaft bedeutungsvoller Punkt, wie er sich unter so günstiger Situation nirgend weiter auffinden läßt. Wie eigentlich auch Botzen nicht direct an der Etsch, sondern seitwärts am Zusammenfluß der Talfer und des Eisack liegt, so werden auch die Gärten Merans nicht von der Etsch, vielmehr von der reißenden Passer bespült, welche eine Viertelstunde oberhalb der Stadt in die Etsch mündet. Betrachten wir das Panorama.

Wir überschreiten den hohen gewölbten steinernen Brückensteg, welcher über die Passer führt, und ersteigen den kleinen Hügel, auf dem das Dorf Obermais liegt, ganz nahe als Vorort an Meran grenzend. Es ist der Standpunkt, von dem unser beigefügtes Bild aufgenommen ist. Im Norden steigt mit imposanter Kühnheit und in sonnenblendender Felsenpracht eine zackige, aber dabei doch graziös wellenförmige Gebirgsgruppe empor. Ihre höchsten Kanten sind fast das ganze Jahr hindurch mit blitzendem Schnee gesäumt, denn dieser mächtige Bergstock, der einen weiten flachgestreckten Bogen, nordöstlich vom Eingang in das Passeyerthal bis nordwestlich weit in das untere Vintschgau nach Partschius hinein bildet, erhebt sich durchschnittlich 8000 Fuß über die Meraner Thalsohle. Diese selbst liegt nur 900 Fuß über dem Meere, eine verhältnismäßig große Tieflage am Fuße der Hochalpen, die viel zur Wärme des Klimas beiträgt.

Jene herrliche Bergreihe, am Fuße blühend und prangend mit Obst-, Nuß- und zahmen Kastanienwaldungen bestanden, während sich höher hinauf Tannen anschließen, von den Gipfeln der kahlen Urgebirge, Mutspitz, Redelspitz, Tschigat (Tschegot), Zielspitz und Sonnenberg überragt, bilden die gewaltigen Vorsprünge der Oetzthaler Ferner. Sie schützen das Meraner Thal gegen Norden vor dem rauhen Andrang der Luft und geben einen wahren Heerd für die zurückprallende Mittagssonne. Die Rebe gedeiht an dieser Berglehne in üppiger Fülle. Die besten Trauben bringt sie am Küchelberg, einem niedrigen, das heißt immer doch 1200 Fuß dicht über dem Städtchen Meran aufsteigenden Vorhügel, der sich wahrscheinlich durch einen vorgeschichtlichen Bergsturz von den Wänden der Mutspitz herabgesenkt hat. Er trägt auf seinem hinteren Rücken fruchtbare, wasserdurchrieselte Wiesen und Baumfelder und das Dorf Tyrol. Weiterhin überblickt man am Fuße dieser eben beschriebenen stilvollen Berggruppe, mehr oder minder im Grunde oder auf mäßiger Höhe, zwischen Weingärten aufgebaut, noch die Oertchen Grätsch, Steinach, Algund, Plars, Töll und Partschins.

Dies ist also der Blick nach Nord-Nord-West, Nord-West und Westen bis in das Vintschgau hinein, dessen Krümmung vom vorspringenden Sonnenberg so ziemlich geschlossen wird. Die untere Fläche dieses Thalwinkels von Meran zwischen der Stadt und der Töll präsentirt sich als ein schwimmendes Wiesenmeer, von einzelnen Bauerngehöften geschmückt und mit reichen Plantagen von Obstbäumen und Weiden an den zahlreichen Bewässerungsbächen und Rinnen durchzogen. Die jungen Weiden werden in ihren biegsamen Zweigen zum Anbinden der Weinreben benutzt; die Obstbäume sind meistens Apfelbäume mit jenen europäisch berühmten Aepfelsorten, welche als Maschausker (Borsdorfer), Lederäpfel (eine besonders schöne Reinettenart), Taffetäpfel und besonders weiße und rothe Rosmarin die Desserttafeln aller nordeuropäischen Gastmähler zieren.

Wendet man sich nun nach Süden, so schaut man das eigentliche Etschthal entlang, nach Botzen zu. Der waldige, kuppelförmige Marlinger Berg nimmt die Ecke ein, an welcher dieses Thal in das Vintschgau einbiegt. Die Berge von Ulten, der Hoch-Laugen und die Mendelspitz (La Mendola) setzen die westliche Einfriedung des Botzener Thales weiter fort. In tiefem blaugrünem Sonnenduft, wie auf Glas gemalte durchsichtige Gebilde, liegen sie im Mittagsbeleuchtung entzückend vor dem Beschauer. Nur die Mendelspitz, welche diese Bergreihe schließt, in der Gegend von Kaltern, fällt als röthliches Dolomitgebirge mit ihrer hellen Felsenwand steil in’s Thal hinab, in scharf markirter Form. Ganz im Süd-Süd-Westen, wohl in einer Entfernung von zwölf Stunden, ist die Aussicht von einem lichtblauen Gebirgszug Welschtyrols geschlossen.

Die andere östliche Seite des Etschthals wird von einem bewachsenen, nur in einzelnen röthlich gelben und rothvioletten Felswänden kahlen Porphyrgebirge eingefaßt. Es ist der Zug des Freiberges, der sich vom Iffinger bis nach Botzen in abwechselnden, mäßigen Formationen erstreckt. In dem Etschthal, gleichfalls wiesengrün und baumdurchwachsen, fallen besonders freundlich auf die Ortschaften Untermais, am Fuße des Hügels, auf dem wir stehen; Marling, mit ausgezeichnetem Glockengeläut, auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges; die Geschwisterdörfer Lana, Völlan und Tifens. Alles trägt einen blühenden, lachenden Charakter und einen Farbenschmelz der Vegetation, der zwischen dem italienischen und deutschen die Mitte hält; tiefes Grün, mannigfaltige südliche Früchte, aber hoher, mächtiger Baumwuchs und Grasflächen, wie sie nur dem Norden eigenthümlich sind.

Dreht man sich nun direct nach Norden hin, so daß der Panoramakreis um die ganze Windrose beschrieben ist, so sieht man zwischen der links (westlich) gelegenen circa 8000 Fuß hohen Mutspitz mit dem vorspringenden Fußgestell des Küchelberges und dem rechts (östlich) gelegenen etwas höheren, gespaltenen Felskegel des Iffingerberges den Eingang in das Passeyrthal, welches durch den großen patriotischen Bauernhelden Andreas Hofer für alle Verehrer des vaterländischen Opfermuthes, für alle Bekenner dieser höchsten Pflicht so berühmt geworden ist. Man kann dieses Thal insofern ganz entlang schauen, als man den Schluß desselben, den blauviolett-grünen Bergrücken des Jausenpasses (mons Jovis) hinter St. Leonhard übersieht. Zugleich erblickt man die Dörfer Schönna, Kains und Riffian.

Was aber zunächst als romantischer Punkt des Vorgrundes, nahe am Eingänge des Passeyrthals in das Meraner, dem Auge auffällt, ist die alte Ruine der Zenoburg, deren noch ziemlich erhaltenes Gemäuer, epheuumrankt und mit Bäumen verwachsen, auf einem senkrechten Felsvorsprung sich zu pittoresker Decoration der Thalmündung erhebt. Am Fuße braust die Passer zwischen Steinblöcken im ausgewühlten Bett tosend daher. Es ist ein wilder gefährlicher Alpenbach, dessen jäh aufbäumende Fluthen oft schon die Mauern Merans bedenklich beschädigt haben. Aber er versorgt auch die Meraner mit Brennmaterial, denn das Holz, das im Passeyrthal in übergroßer Menge, oft von sehr unzurechnungsfähigen Händen, geschlagen wird, flößt die Passer im Frühjahr nach Meran, wo es an einem Wehr aufgefangen und auf einem dazu bestimmten Holzanger aufgestellt, vermessen und verrechnet, einen trüben Anblick für alle Diejenigen gewährt, welche die klimatischen und ökonomischen Verschlechterungen durch eine unverständige Entholzung schützender Gebirgsabhänge kennen gelernt haben. Die Passer windet sich bei ihrem Austritt aus Passeyr in einem stumpfen Bogen nach Westen hinüber, und zwischen ihrem Uferrand und dem schon erwähnten Küchelberg ist im Mittelalter, nicht zur Römerzeit, das Städtchen Meran erbaut[8], welches nach Obermais zu, am Rande des Wassers, jenen Theil mit an sich geschlossen hat, der eigentlich Steinach heißt.

Obermais, auf dem Hügel unseres Standpunktes, ein zwischen Weingärten, Maisfeldern und Obstbäumen freundlich gelegenes und mit zahlreichen mittelalterlichen Villen, Schlößchen und kleinen Burgen malerisch decorirtes Dorf, hängt auf seinem schrägen Abhang eigentlich mit Untermais zusammen. Jenes Untermais ist die Stätte, welche ein wichtiger Punkt für die Geschichte und antike Literatur werden könnte; von hier aus ließe sich Vieles aufklären, was bis jetzt dunkel war und dunkel bleiben wird. Unter diesem lachenden Dorfe Obermais nämlich liegt – eine alte Römerstadt begraben. Hier stand die von Drusus gegründete Mansio Maja, das alte Castrum majense, ein wichtiger Punkt für das damalige Alpengebiet und allen Vermuthungen zu Folge ein stattlicher Ort.

Vornehme Römer, denen die eroberten märchenhaften Alpenlande etwas Neues waren und die nach dem Gardasee (Bennacus Lacus) und nach anderen Gegenden zum Lustaufenthalt zogen, um der drückenden ungesunden Sommerluft Roms zu entfliehen, werden auch nicht verfehlt haben, in Maja ein Tusculum aufzuschlagen. Schätzte man doch schon damals das herrliche Klima und das Gedeihen des Weinstocks im Etschgrund und am Küchelberg.

Auf welche Weise nun ging diese römische Niederlassung zu Grunde? Noch ist es nicht gelungen, das Jahr zu ermitteln, in welchem sich jene schreckliche Katastrophe zugetragen; sicher ist aber, daß dieses Naturereignis zwischen 800–850 nach Chr. Geb. eintrat. Es geschah nämlich ein ungeheurer Bergbruch, der den ganzen Vorberg des Iffinger, dadurch das jetzige Raisthal bildend, herabstürzte [445] und Maja ohne Rettung begrub. Die Schuttmassen waren unbeschreiblich, denn sie liegen bei Labers (in Obermais) 250 Fuß hoch und erstrecken sich herabsenkend bis nach Meran in einer Ausdehnung von 1200 Klaftern. Die Passer, welche früher bei St. Valentin, nahe am Freiberg, entlang geflossen war, wurde durch diese Verschüttung mit begraben und im Passeyrthal eingeengt. Hier einen mächtigen See aufstauend, fand sie endlich an der niedrigsten Stelle, am Felsen von Zenoberg, einen Durchbruch und bildete allmählich ihr heutiges Rinnsal. Die gewaltigen Felsblöcke waren bis zu der Stelle gerollt, auf welcher jetzt Meran steht, denn noch findet man im oberen Theile desselben, in Steinach, diese Findlinge vom Iffinger in den Fundamenten und Gartenmauern mit eingebaut. Einige Zeit darauf, vielleicht achtzig bis hundert Jahre, erscheint auf der tragischen Grabstätte des römischen Maja das Dorf


Meran.


Mais. Etwa um das Jahr 1000 aber erfolgte eine zweite Verschüttung, „Uebermurung“ in der Gebirgssprache genannt, welche bei Nacht eintrat und Mais 6–20 Fuß tief begrub. Endlich ist eine dritte, bei der der Sage nach die meisten Einwohner gerettet wurden, da sie sich auf einem Kreuzgang nach Lana befanden, wohl in die Zeit von 1350 zu setzen.

Diese letzteren Verschüttungen sind für die Geschichte wenig wichtig; gelänge es aber, durch einen Stollen mit richtig dirigirten Seitengängen wesentliche Gebäude des alten Maja wieder aufzufinden und besonders das alte Archiv, so würde man, da nichts gerettet werden konnte, nicht blos vielerlei Schätze und werthvolle Alterthümer, nein, man würde wahrscheinlich auch die uns fehlenden Werke wichtiger Classiker, z. B. des Tacitus, wiedergewinnen. Welcher Triumph für die Wissenschaft! Welches neue Licht für ewig dunkele historische Perioden!

Doch wir eilen, da unsere Rundsicht vollendet ist, von der Vergangenheit und von dem Hügel des schönen Mais hinweg und steigen nach Meran hinab. Es ist an und für sich ein altes, etwas finsteres Städtchen von circa 4000 Einwohnern, hauptsächlich nur von zwei Straßen, dem Rennweg und den „Lauben“, gebildet. Die letzteren, den Ort der Länge nach durchschneidend, sind in der Mittagsgluth und bei Regentagen als Promenade zu benutzen, da sie durch ihren trockenen Breterfußboden und durch ihre steingewölbte Decke der Häuser, unter denen sie entlang führen, gegen Feuchtigkeit von unten und Wetterlaunen von oben Schutz gewähren. Hier findet auch der sehr mangelhafte Obst- und Gemüseverkauf statt, dessen sich der Fremde in Meran zu erfreuen hat. Ich sage, der sehr mangelhafte, und bin darüber Rechenschaft schuldig. Der Meraner Bauer, bequem, vorurtheilsvoll, am Alten hängend und jedem Fortschritt abgeneigt, beschäftigt sich gar nicht mit feinerer Gemüsezucht, so theuer ihm auch die vielen Fremden, die hier eigene Küche führen und oft nichts zu kochen haben, diese Producte bezahlen würden. Was die Händlerinnen feil bieten, ist größtentheils sehr geringe Waare. Drei Obstgattungen giebt es aber, die hier und überhaupt im ganzen südlichen Etschthal köstlich sind: Wein, Feigen und Pfirsich. Unter den Meraner Trauben zeichnet sich die gewöhnlichste, eine blauschwarze Traube, ausnahmsweise von 2 – 3 Pfund Gewicht und mit einer grossen weichen, fleischig saftreichen Beere, am meisten aus. Sie heisst Vernatsch (wahrscheinlich von Veronaccia, Veroneser) und ist dicht unter der dicken Schale am süssesten. Obgleich sie eigentlich wenig Aroma hat, so übt doch der angenehme volle Fruchtgesckmack einen unwiderstehlichen Reiz.

Da die vielen Fremden (etwa 6–800 im Jahresdurchschnitt), welche Herbst, Winter und Frühjahr in Meran zubringen, entweder für ihre kranke Brust die Luft- oder Ziegenmolkencur, oder als Unterleibsleidende die Traubencur gebrauchen, so ist für die Letztern jener reizende Geschmack des Meraner Weins ein wahres Glück. Er erleichtert ihnen die Pein dieser Heilmethode, da sie auch mit sehr vorzüglichen weißen Trauben (einer Art Malvasier und Gutedel) wechseln können. Es giebt nämlich Traubencurpatienten, die [446] aus eigener Unkenntnis; oder aus der ihres Hausarztes täglich 5–10 Pfund Weinbeeren verspeisen und sich dabei wundern, daß sie so matt, so appetitlos sind und keinen Bissen anderer Speise mehr genießen mögen, die ihrem Körper Kraft und ihrem Gehirn Nahrung und Verstand gäbe. Später wundern sie sich noch mehr, wenn sie erst einsehen, wie durch dieses Uebermaß ihr Verdauungsapparat und ihr ganzer Organismus auf Jahr und Tag verdorben sind.

Einen höchst überraschenden, poetischen Anblick gewährt hier die Art des Weinbaues. Nicht wie am Rhein und in Frankreich werden die Reben an einzelnen Stöcken gezogen, kriechen auch nicht, wie in Calabrien, Sicilien und Griechenland, am heißen Boden dahin, sondern der Meraner Landmann baut für sie eigene Laubengänge aus Holzgerüsten, wobei ihm das Holz der zahmen Kastanie zum Einpfählen in die Erde wegen seines Widerstandes gegen die Fäulniß am liebsten ist. Unter diesen grünen lebendigen Weinlauben kann man im kühlen Schatten entlang gehen und sich an dem Anblick der herrlichen Früchte laben. Dieses Vergnügen kostet nur einige Kreuzer, denn zu all den Zeiten, wo sich Obst und Wein der Reife nähern, wird der Lustwandelnde hier von einer höchst abenteuerlichen Gestalt, mehr einem indianischen „Medicinmann“ als einem Europäer ähnlich, um „oan Tobakkroeuzer“ angehalten. Dieser Mensch, genannt der Saltner (Saldner, wahrscheinlich von Söldner herzuleiten), welcher von seinem Standpunkt aus alle Wege beobachtet, die von Spaziergängern betreten und von Spitzbuben gemieden werden, hat zu den Ersteren wegen des Tabakkreuzers, der häufig in einem Sechskreuzerstück besteht, eine ganz besondere Zuneigung. Er trägt eine curios gestaltete lederne Jacke und dito Hose, in der Hand, wie ein mittelalterlicher Flurschütz, eine mächtige Hellebarde und auf dem Kopfe einen dreikantigen Hut, der mit Gemsbärten, Eulenflügeln, Eichhornschwänzen, von der schwarzen und rothen Gattung, und bunten Bändern abenteuerlich geschmückt ist.

Von dem Wein von Meran, unter dessen Laubengängen zugleich wegen der Fruchtbarkeit des Bodens und Klimas noch allerlei Feldfrüchte, vorzüglich türkischer Weizen (Mais, „Kukerutz“), unvergleichlich wohlschmeckende Bohnen (Fisolen) und Plentenkorn (eine nahrhafte Haidegrütze, die ein graues Mehl zu täglichen Speckknödeln liefert) gebaut werden, wird ein fabelhaftes Quantum in Meran selbst verbraucht; in einer kleinen Haushaltung mit zwei Dienstleuten und einem zeitweisen Tagelöhner 20 – 24 Ihren (die Ihre zu 54 Tyroler Maß berechnet), in einer großen 50 –100! denn die Magd bekommt täglich ein halbes Maß, der Knecht ein Maß, bei allen anstrengenden Arbeiten, beim Heumachen, „Wimmen“ (Weinlesen), Bewässern jedoch drei. Wenn man dazu im Uebrigen eine reichliche, ja fette Kost und den Umstand rechnet, daß wegen der vielen Feiertage auf drei Jahre gerade ein volles Faulenzerjahr kommt; ja wenn man ferner bedenkt, daß ein Bauer, dessen Gut etwa 25,000 Gulden werth ist (beispielsweise der Hallbauer unter der Ruine Fragsburg, wohin so viele Fremde lustwandeln) zwölf Dienstleute hält, so kann man begreifen, daß hier der Eigenthümer von seinen Arbeitern gemüthlich „aufgezehrt“ würde, wenn der Himmel nicht durch die unglaubliche Tragkraft des Bodens Nachsicht gegen die unvortheilhaften Sitten und Übeln Gewohnheiten übte.

Trefflich aber sieht dieser Meraner Bauer aus. Es ist der Kern Südtyrols, der schwerere Bruder des kühnen Passeyrers, der sichere Schütze und todesmuthige hartnäckige Kämpfer des Befreiungskrieges von 1809, der, wenn sein Stutzen zertrümmert war, durch seinen Faustschlag den französischen Tschako mit sammt dem Schädel darunter zerschmetterte. Selbst die im Raufen so verwegenen bairischen Gebirgstruppen konnten dieser entfesselten Riesenkraft nicht Stand halten. Ein großer starker Männerschlag tritt uns entgegen. So wenig diese Bauern auch noch mit der früheren Begeisterung am österreichischen Regime hangen, so sehr halten sie doch auf ihr Nationalcostüm. Es ist wohl das auffallendste und dabei kleidsamste in den Alpen: sie tragen mit rother Naht geschmückte flache Schnallenschuhe, hellblaue oder eigentlich weiße Strümpfe; die Kniee sind bloß, die Beinkleider von schwarzem Leder; die braune Jacke, von starkem Lodentuch mit spannlangem Schooßlatz ringsum, hat vorn spitze Aufschläge von scharlachrothem Tuch; ein ebenso rothes Leibchen wird von grünen Hosenträgern mit einem Querband auf der Brust desto lebhafter hervorgehoben, und ein breiter, schön gestickter Ledergürtel schließt die Hüften, man möchte sagen, kugelfest ein. Mit der Tracht der Hüte ist in letzter Zeit eine Veränderung vorgegangen. Noch 1844 fand ich sehr breitkrempige, gegen die Sonne schützende Filzhüte mit niedrigem Kopf. Die verheiratheten Männer trugen sie schwarz, die Bursche grasgrün, natürlich mit Bändern und Sträußchen geschmückt. Jetzt trägt man eine Mittelgattung, der Rand halb so breit wie früher, der Kopf höher und etwas zugespitzt, doch beides nicht so stark wie bei den Inn- und Zillerthalern. Die alte Art erschien charaktervoller, die neuere ist flotter.

Das Nationalcostüm der Frauen hat sich sehr verloren, wenn ihnen auch eigentlich rothe Strümpfe, ein dunkler rothgeränderter Rock, ein seidenes, im Nacken, nicht unterm Hals, zugeknüpftes Tüchelchen, weiße Schürzen und schwarze Spitzhauben zukommen. Obgleich der Meraner Bauer im Grunde gutherzig und trotz seiner schweigsamen Bequemlichkeit von Natur sogar aufgeweckt ist, so wird es doch wegen einer gewissen mißtrauischen Scheu vor „Stadtherren“ dem Fremden schwer, mit ihm zu verkehren. Dazu kommt ein unendlich starker Dialekt. Und dennoch ist dieser Verkehr nöthig, wenn sich der Gast hier wirklich heimisch fühlen soll. In Bezug auf öffentliche Kaffeegärten und Restaurationen an schönen Punkten sieht es mit der Meraner Speculation noch sehr bescheiden aus. Der Fremde sehnt sich vor Allem nach Naturgenuß, verbunden mit leiblicher Stärkung außerhalb der Stadt. Da wandelt er denn zu Esel oder zu Fuß in anderthalb Stunden nach Schloß Tyrol, wo früher die Landeshauptleute der Grafschaft Tyrol residirten, während man von der Gründung dieser alten, im Innern wenig sehenswerthen Burg nichts Bestimmtes weiß. Desto wunderbarer ist die Aussicht über die Ruine Brunnenburg hinab, das sonnenbeleuchtete, blauduftige Etschthal entlang. Unten im Wiesengrund liegt die alte Burg Forst mit einem Brauhausgarten in der Nähe, in welchem alle Nichtkenner sich an einem für sie sehr angemessenen Biere laben.

In gleicher Entfernung wie Tyrol gelangt man auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges zu der noch sehr wohlerhaltenen Burg Lebenberg. Man sieht, wie köstliche Früchte hier der Citronenbaum trägt, wenn er auch im Winter zuweilen tüchtig leidet, labt sich an den prachtvollen Blüthen des Granatbaumes und genießt die Landschaft von einer andern Seite. Das Thal nach Italien zu liegt im Sonnengold duftig verhüllt, gegenüber die Höhen des Freibergs mit der hohen Fragsburg und hoch oben das alte Kirchlein St. Katharina in der Schart, vor dem Dorfe Hafling Wacht haltend. Nordöstlich an den Felswänden des Iffinger und des 10,000 Fuß hohen Hirzer blitzen die Sonnenstrahlen in gelbem Lichte. Anders wieder ist das Gemälde von Rametz aus, über St. Valentin, wo Lorbeer duften, Mandelbäume ihre rauhhaarigen Aprikosenfrüchte tragen und die große saftige Maulbeere von allen Arten den Gaumen erfrischt. Anders zeigt sich das ewig wandelnde Bild vom Schlosse Rubein in Mais mit seinen dunkeln Cypressen, und wer endlich nach Gain (Goyn) am Raisthal hinauf steigt und aus dem alten Burgerker blickt, wird sich immer wieder in ein neues Paradies versetzt glauben. Hat er es aber gelernt, mit dem Landmann ein wenig zu verkehren, oder begleitet ihn ein gefälliger Bewohner Merans, so wird er überall ein Bauerngut finden, in dessen Weinberg sich ihm ein gastlicher Tisch mit Kaffee, halbgeschlagenem Rahm („Maibutter“, die man mit Zucker tellerweis ißt), Nüssen, Kastanien, Wein, Feigen und sonstigen Früchten schönster Art für ein geringes Geld bedeckt.

So restaurirt man sich, wie man es nirgend sonst haben kann, auf wahrhaft poetische Weise, und will der Fremde noch außerdem in dieser nicht theuren Gegend praktisch wohnen, so wird er wohl thun, in der wärmern Jahreszeit das luftfrische Obermais, in der kühleren Zeit unten in der Stadt die Mittagsgegend an dem schönen Damm der Wassermauer oder die Häuser an und vor dem Vintschgauerthor zu wählen.

Was an historischen Ueberlieferungen, Sagen, Sitten und Culturzuständen von Interesse ist, wird sich ergänzend herausstellen, wenn ich es wagen darf, den nachsichtigen Lesern auch andere Punkte Südtyrols und des Etschthals zu schildern. Der überreiche Stoff gestattete für diesen Raum über Meran nur eine Skizze.

O. B.



[447]

Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Ein flüchtiges Roth war bei den Worten Winter’s in das Gesicht des Deutschen getreten, und mit einer leichten Bewegung verließ er den eingenommenen Sitz. Es war wie eine Art Scham über ihn gekommen; das ganze Wesen des Mannes schien nur darauf berechnet zu sein, irgend einer möglichen Forderung seinerseits vorzubeugen. „Sie sind beschäftigt, Sir, und so will ich nicht weiter stören!“ sagte er gemessen und machte eine Bewegung, um sich zu entfernen.

„Sie haben in Folge eines unangenehmen Vorfalls Berlin verlassen – wenn ich recht bin?“ fragte Winter jetzt, indem zum ersten Male eine Regung in sein Gesicht kam.

„Ich glaube nicht, daß Sie sich in der Person irren!“ erwiderte der junge Mann, einen Augenblick seinen Schritt hemmend, „indessen will ich, wie gesagt, nicht weiter stören!“

„Und Sie wollen hier Lehrer werden – ist das Ihre letzte Chance, Sir?“ fuhr Jener fort, ohne die Abschiedsbewegung seines Gastes zu beachten.

Hugo sah groß auf und wandte sich langsam zurück. „Ich weiß nicht, weshalb Sie in dieser Weise fragen, Mr. Winter,“ sagte er, „indessen möchte ich Ihnen zur Beruhigung sagen, daß ich nicht hierher kam, um Sie um irgend etwas zu bitten, das Ihnen Geld kosten könnte!“

Ein Lächeln wie leiser Spott glitt über des Kaufmanns Gesicht. „Ich habe die Versicherung nicht verlangt, Sir, nehme sie aber an,“ erwiderte er, „und nun beantworten Sie mir meine Frage, vielleicht kann ich Ihnen dann in etwas dienen!“

Der Deutsche stand einen Augenblick sichtlich schwankend. „Ich habe mir allerdings irgend eine Stellung zu verschaffen, wenn ich existiren will,“ erwiderte er endlich, „und es wäre eben nur ein freundlicher Rath oder eine Empfehlung gewesen, welche ich mir dafür von Ihnen erbeten haben würde.“

„Very well, Sir! so sind wir mit einander klar,“ erwiderte Winter mit einem neuen Lächeln, das den jungen Mann verletzte, er wußte selbst nicht weshalb; „gegen oberflächliche feine Bekanntschaften aus Europa sieht sich der Geschäftsmann gern vor, wenn sie hier zufällig wieder auftauchen; sie kosten in der Regel mehr, als man vermuthet!“ Er hielt einen nachdenklichen Blick auf den Referendar geheftet und strich sich dann mit der Hand über das Gesicht. „Ich könnte Ihnen möglicherweise selbst genügende Beschäftigung geben, wenn Ihnen das für den Anfang convenirte,“ fuhr er dann fort; „ich habe schon daran gedacht, mich nach einem deutschen Correspondenten umzusehen, da ich mancherlei neue Verbindungen während meiner letzten Reise angeknüpft habe. Ferner aber hätte ich gern einige Nachhülfe für meinen jungen Sohn, den Kränklichkeit zu oft aus der Schule hält; und verstehen Sie etwas von Piano und Französisch, so würde sich meine Tochter ebenfalls noch gern unter Ihre Leitung stellen.“

Hugo mußte alle Selbstcontrole anwenden, um die während des letzten Theiles der Rede in ihm aufsteigenden Empfindungen nicht auffällig werden zu lassen. Er war mit einem Male seiner drückenden Sorge enthoben, er sollte in Winter’s Familie treten, in ihre unmittelbare Nähe, die plötzlich in dem ganzen Zauber, der ihn früher gefangen genommen hatte, vor ihm stand – aber er sollte das in einer Stellung, die jede warme Regung in ihm verbot, wenn er nicht von Anfang an das in ihn gesetzte Vertrauen betrügen sollte – während er in ihren Augen zugleich als ein Mensch, der eine Nothhülfe in Anspruch genommen, gelten mußte.

„Ich möchte Ihnen dabei gleich sagen,“ unterbrach Winter seine Gedanken, als gäbe er der Zögerung seiner Antwort eine bestimmte Deutung, „daß Sie unter gewissen Umständen sich zugleich für das Ganze des amerikanischen Geschäfts hier würden herausbilden können, denn ich setze voraus, daß Ihnen nur an einem Engagement, welches Ihnen zugleich eine Zukunft bietet, etwas liegen kann.“

„Sie beschämen mich völlig, Sir!“ beeilte sich jetzt Hugo zu erwidern; „sagen Sie mir aber nur Eins: Würde die Hülfe, welche Sie mir jetzt gewähren wollen, wirklich mit Ihrem eigenen Interesse übereinstimmen, so daß ich die mir gebotene Beschäftigung nicht nur als eine Art – Almosen in meiner augenblicklichen Lage zu betrachten hätte –?“

„Ich gebe nie Almosen, Sir!“ versetzte Jener trocken; „wenn Sie aber das, was Sie eine Hülfe meinerseits nennen, völlig mit meinem Interesse vereinen wollen, so dürfen Sie sich diesem eben nur ganz anschließen. Ich bedarf einer neuen Arbeitskraft im Geschäfte, der ich in Bezug auf strenge Discretion und aufrichtige Hingabe für meine Ideen unbedingt vertrauen kann, und was Ihnen jetzt an Geschäftskenntniß und Routine naturgemäß abgeht, das würde mir für den Augenblick der Umstand ersetzen, daß Sie frei von jeder frühern Geschäftsverbindung sind, von der man bei jungen Leuten nie weiß, mit welchen Fäden sie noch mit ihnen zusammenhängen. Sie sehen, daß ich vollkommen offen spreche. Den Unterricht in meiner Familie aber habe ich Ihnen vorgeschlagen, da die geschäftlichen Arbeiten erst, wenn Sie genügende Umsicht gewonnen haben, Ihre Zeit voll in Anspruch nehmen werden, anderntheils ich auch wünschte, auf die kürzeste Weise mit Ihren Eigenthümlichkeiten mich vertraut zu machen. Ist Ihnen nun sonst noch etwas unklar, so sprechen Sie sich offen aus!“

„Ich bin mit vollem Herzen und ganzen Kräften zu Ihrer Disposition, Sir!“ erwiderte Hugo, in dessen Innern plötzlich das ganze Glück der ihm gebotenen Stellung wach geworden war, und streckte mit dem unverhüllten Ausdruck seiner Empfindung dem Kaufmann die Hand entgegen, „und wenn ich Ihnen nicht genügen sollte, so mögen Sie wenigstens versichert sein, daß weder mein Eifer noch mein guter Wille die Schuld daran tragen.“

„Very well, Sir! ich denke es einmal damit versuchen zu können,“ erwiderte Winter, mit zufriedenem Nicken die dargebotene Hand drückend, „und so machen Sie sich fertig, mit mir Nachmittags drei Uhr nach meiner Farm zu fahren, wo ich Sie meiner Familie vorstellen und Weiteres mit Ihnen reden werde. Unterwegs mögen Sie mir dann etwas Näheres über die Ereignisse, die Sie mit meiner Tochter zusammengebracht, erzählen; ich weiß nur Oberflächliches davon und hätte wohl auch das kaum erfahren, wenn nicht Ihre letzte Angelegenheit in Berlin uns direct berührt hätte.“

„Direct berührt, Sie, Mr. Winter?“ rief Hugo, überrascht aufsehend.

„Natürlich, Sir!“ lachte der Kaufmann. „Niemand wußte den Namen des Mannes, der nächst dem Gestochenen an dem Vorfalle betheiligt war, und so sollte bei meiner Tochter, die im Gespräche mit Ihnen gesehen worden, deshalb angefragt werden. Sie hatte indessen mit der Tochter des amerikanischen Gesandten, die eine Schulfreundin von ihr ist, gerade zur rechten Zeit einen Ausflug gemacht und entging der Examination – zwei Tage darauf reisten wir dann ab.“

„Und in dieser Zeit ist Ihnen nichts über die Angelegenheit weiter zu Ohren gekommen?“ fragte Hugo mit halbem Athem.

„Möglich, Sir, aber ich habe es in meinen Geschäften jedenfalls überhört!“

„Dann können Sie mich aber jetzt noch für einen Mörder halten, Mr. Winter!“

„Mörder – pshaw! Sie werden sich Ihrer Haut gewehrt haben; so, glaube ich, wurde auch damals allgemein die Sache aufgefaßt.“

„Aber ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort, daß der Mensch selbst in seinen Degen gefallen ist!“

„Desto schlimmer für Sie, Sir, so haben Sie sich ohne Ursache aus Ihrer Carriere gerissen!“ lachte der Kaufmann, „um die Angelegenheit machen wir uns keine Kopfschmerzen mehr, Sie werden hier zu Lande derartige Affairen überhaupt leichter ansehen lernen – und so lassen Sie uns jetzt Weiteres versparen bis zum Nachmittag.“

Mit vollem, glücklichem Herzen hatte der Neuangestellte den Weg nach dem deutschen Gasthause zurückgelegt und traf den Tischler in lebhaftem Gespräche mit dem alten Wirth. „Treffer, Heinrich!“ rief er und schlug im Ueberfluthen seiner frohen Stimmung den Gefährten auf die Schulter, daß dieser mit einem halbunterdrückten Schmerzensrufe in die Höhe fuhr; dann aber reichte er dem Hausbesitzer die Hand. „Werden sich doch wohl nach einem dankbareren Menschen zum Barkeeper umsehen müssen,“ sagte er, „ich habe auf einen Bekannten, dem ich früher in Berlin begegnet, getroffen – John Winter, dessen Geschäft Sie jedenfalls kennen werden – und bin als Correspondent von ihm engagirt worden!“

[448] „Halloh! jetzt wird noch einmal gefrühstückt!“ schrie der Tischler auf, „ob wohl der Mangold schon einmal einen verkehrten Einfall gehabt hat!“

Der Wirth indessen blickte in sichtlicher Befremdung auf, ergriff nur leicht die dargebotene Hand und rückte dann zu verschiedenen Malen an seiner Mütze. „John Winter!“ sagte er endlich langsam; „muß eine sonderbare Laune haben, daß er noch einen Andern in seine Geschäfte sehen lassen will! Haben Sie schon in genauerer Verbindung mit ihm gestanden?“

„Nur wie man sich auf der Reise kennen lernt!“ erwiderte Hugo aufmerksam werdend, „ist etwas Besonderes mit dem Manne?“

Der Alte schob die Mütze zurück und kratzte sich hinter den Ohren. „Nichts, was sich so ohne Weiteres sagen ließe,“ versetzte er, „es thut mir aber beinahe leid, daß Sie gerade dort Ihren Anfang machen sollen!“

Der junge Mann war in diesem Augenblicke am wenigsten in der Stimmung, sich sein neues Glück trüben zu lassen; unwillkürlich trat ein Vergleich zwischen dem Besitzer des kleinen Gasthauses und dem Kaufmanne, der in der ersten Gesellschaft lebte, vor seine Seele, und fast mit einem Anklänge von Ironie fragte er: „Glauben Sie, daß ich Gefahr bei dem Manne laufen könnte?“

„Wenn Sie das damit meinen, was er Ihnen versprochen haben mag, gewiß nicht!“ war die ruhige Antwort, „sein Geld ist so sicher untergebracht, daß es ihm nicht wieder genommen werden kann; aber – nun ja!“ unterbrach sich der Sprechende, „ich könnte Ihnen sehr viel erzählen, und Sie würden mich doch nicht verstehen; es gehört eben schon eine Zeit in Amerika dazu, um sich aus Manchem selber einen Vers zu machen. Eins aber will ich Ihnen sagen: Ich bin der Alderman Marquart, was man in Deutschland Stadtrath nennt, und meine es mit Ihnen von Herzen gut, denn Ihr Landsmann hier hat mir genug von Ihnen erzählt. Wenn Sie einmal über Eins oder das Andere, das Ihnen bei Ihrer Arbeit aufstößt, Zweifel im Gemüthe fühlen sollten, so kommen Sie nur zu mir, und ich werde als rechter Freund zu Ihnen reden, und vielleicht ist dann auch der Stadtrath gerade die rechte Person, die Sie sich wünschen!“ Er erhob sich langsam und ging nach dem Hintergrunde des Zimmers, wo der Schenktisch stand.

Hugo wandte einen fragenden Blick nach dem Tischler, und dieser zog eine wunderliche Grimasse. „Ein Barkeeper wie Du hätte ihm freilich schmecken sollen!“ sagte er halblaut und erhob sich dann mit einem Winke, das Zimmer zu verlassen.




6. Die Täuschung.

Am Nachmittag saß Hugo zur Seite seines neuen Principals in einem leichten eleganten „Buggy“, den ein großer, prachtvoll gebauter „Traber“ windschnell auf der Straße jenseits des Flusses davon führte, und das Gefühl, wieder in Kreise einzutreten, die seinen bisherigen Neigungen und Gewohnheiten entsprachen, schuf eine Leichtigkeit und Sicherheit in ihm, welcher selbst der Gedanke an das erste Begegnen mit ihr, die er in der nächsten halben Stunde zu sehen erwartete, nichts anzuhaben vermochte – war doch ihr Bild so lange schon mit allen Träumen und Vorstellungen von seinem hiesigen Leben verwebt gewesen. Was aber von den sonderbaren Aeußerungen seines Wirths etwa in ihm haften geblieben, war vorläufig ad acta in den Hintergrund seiner Seele gelegt worden. „Ich habe Augen und ein Urtheil,“ hatte er zu dem Tischler gesagt, „und werde bald selbst erkennen, auf welchem Grunde die ganze Rederei ruht; bis dahin indessen will ich mir nicht selbst das Leben verbittern!“ Demohngeachtet hatte er, von einem unbestimmten Gefühle geleitet, seinen Aufenthalt in dem deutschen Gasthause gegen Winter verschwiegen und bei einer Frage desselben nach seiner bisherigen Unterkunft nur sein Nachtquartier in dem amerikanischen Hotel angegeben.

Die rasche Fahrt war wenig zu einem weitern Wortaustausch zwischen den beiden Männern geeignet; nur beim langsameren Passiren einer Anhöhe hatte Winter, wie die Gelegenheit ergreifend, gesagt: „Das Beste wird sein, ein Pferd für Sie in die Stadt zu stellen, das ohnedem nicht aus dem Stalle kommt, seit meine Tochter es nicht mehr benutzt. Sie können dann ganz unabhängig Ihre Zeit meinen Kindern widmen, wie es Ihre Office-Arbeiten erlauben. Wollen Sie ferner sich nicht für ein besonderes Logis Kosten machen, so kann Ihnen ein Zimmer über dem Geschäftslocal eingeräumt werden, das ich selbst früher längere Zeit benutzt habe. Es würde mir ohnedies lieb sein, Sie Nachts dort zu wissen, da mein alter Henderson schon ziemlich wacklig wird; natürlich soll dies aber in keiner Art Ihrer Freiheit Abbruch thun!“ Hugo, der sich im Augenblicke nur dem wohlthuenden Gefühle hingab, welches Winter’s Freundlichkeit ihm erzeugte, ohne nach einer besondern Erklärung für diese zu suchen, hatte sich im Voraus mit jeder Anordnung in Bezug auf seine Verwendung einverstanden erklärt, und damit hatte das schärfer anziehende Pferd das Gespräch wieder unterbrochen. Nach einer Fahrt, die vom Flusse aus kaum eine halbe Stunde gewährt haben konnte, stieg das weiße geschmackvolle Landhaus über dem Eichenkranze von Oakhill auf, bald bog der Wagen von der Straße ab, in den aufwärts führenden Weg, und jetzt erst, als in unmittelbarer Nähe die Besitzung vor seinen Augen lag, begann der junge Mann eine Art Beklemmung zu empfinden, der er sich umsonst zu entreißen strebte. Das Gefährt hatte die Höhe erreicht und bog um das Haus; Winter deutete mit der Hand nach der sich aufthuenden überraschenden Aussicht; Hugo aber ließ nur mechanisch ein zustimmendes: „Brillant, Sir!“ hören; seine ganze innere Aufmerksamkeit war dem Portico des Hauses zugewandt, von woher sein Ohr ein plötzliches Rauschen von Frauenkleidern aufgefangen hatte. Er wandte den Kopf, sobald ein Schwarzer herbeisprang, um das Pferd in Empfang zu nehmen, und sah eine zierliche Mädchengestalt wie einen wilden Vogel die Freitreppe herabflattern, bei dem Anblicke der fremden Erscheinung aber plötzlich ihren Schritt anhalten und mit einem prächtigen Erröthen halb neugierig, halb befangen zu ihm aufblicken.

„Halloh, Carry, da bring’ ich einen Partner für Deine Musik, der Dir noch die richtigen Künste zeigen wird!“ rief Winter aus dem Wagen springend; „Mr. Zedwitz aus Berlin, der heute in mein Geschäft eingetreten ist,“ fuhr er vorstellend fort, als Hugo ihm rasch gefolgt war; „meine Tochter Carry, Sir! – Und nun führe unsern Gast nach dem Parlor, Kind, ich werde die Mutter mit John herunterbitten lassen, damit wir uns gleich Alle zusammen kennen lernen!“ Er grüßte den jungen Mann leicht und schritt nach dem Innern des Hauses voran. Carry aber blickte zu dem Zurückgebliebenen mit großen, lächelnden Augen auf. „Sie sind aus Berlin, Sir, und jetzt in Pa’s Geschäft? o, dann werden Sie uns viel erzählen müssen, es soll so schön in Europa sein!“ sagte sie, wie einen besonderen Gedanken verfolgend, „aber, bitte, treten Sie herein!“

Sie eilte in leichten Schritten die Treppe hinauf, um ihm den Weg zu zeigen, und er folgte ihr in einer plötzlichen Verwirrung aller seiner Vorstellungen. Das war Winter’s Tochter? und wer war sie dann, die er hier zu finden gemeint? Winter hatte seine Frau und seinen Sohn als die allein Fehlenden der gesammten Familie bezeichnet, und so schien sie, deren Namen er nicht einmal wußte, kaum in nächster Beziehung zu ihm zu stehen; aber dennoch – Hugo entsann sich genau – hatte er ihrer bei Berührung der Berliner Affaire als Tochter erwähnt!

Allen diesen sich durchkreuzenden Gedanken aber mußte sich der junge Mann zu entreißen suchen, wenn er seine Stimmung nicht auffällig machen wollte; Carry hatte das Zimmer, in welchem das Piano stand, vor ihm geöffnet und lud ihn mit einem so hellen Blicke, mit so unverhohlenem Vergnügen in den lebendigen Zügen zum Eintritt ein, daß er selbst unter dem Drucke seiner Täuschung die wohlthuende Wirkung dieser unverhüllten Natur auf sich fühlte.

„Sie spielen Piano, Sir?“ fragte sie, nachdem sie den Gast zum Sitzen aufgefordert und sich selbst in einem Fauteuil niedergelassen, „so habe ich doch Hoffnung, auch wieder zum Ueben zu kommen; es ist so langweilig, sich nur immer selbst vorzuspielen, wenn man wirklich auch einmal ein Stück gelernt hat; seit Jessy nicht mehr im Hause ist, hatte ich fast alle Lust dazu verloren!“

Hugo blickte rasch auf. „Sie erwähnen da einer jungen Lady, die in Ihrem Hause gelebt, Miß,“ sagte er, mit aller Anstrengung seinem Tone den Charakter leichter Conversation gebend, „und mir fällt da eben ein, daß ich in der Schweiz und in Berlin einer jungen Lady in Mr. Winter’s Gesellschaft begegnete –“

„O, das waren Sie also,“ unterbrach ihn das Mädchen lebhaft, „ich hatte fast eine Ahnung davon! Jessy ist verheirathet, Sir, und wird sich gewiß sehr freuen, Sie in ihrem Hause zu sehen – es werden morgen acht Tage, daß sie unser Oakhill verlassen hat!“

(Fortsetzung folgt.)


Anfrage. Giebt es ein Mittel, durch dessen Anwendung man Sandstein (Gesimse, Säulen etc.) gegen den nachtheiligen Einfluß der Witterung und des Kohlenrußes schützen und ihm das ursprüngliche Ansehen erhalten kann? – Antworten etc. bittet man an die Verlagshandlung von E. Keil zu richten.


  1. Obwohl wir die Verantwortlichkeit für obenstehenden Artikel nicht übernehmen können, so glaubten wir doch im Interesse der bis jetzt noch unaufgeklärten furchtbaren Katastrophe diese Darstellung, die uns aus gut empfohlener Hand zugeht, der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten zu dürfen. Wie weit sie der Wahrheit entspricht, können wir in Leipzig unmöglich ermitteln, wir bemerken nur, daß unsere redactionellen Bedenken durch Zuschriften der gewichtigsten Art beschwichtigt wurden. Das unglückliche Schiff ist wirklich übersegelt worden, wie die spärlichen aufgefundenen Fragmente des Wracks deutlich beweisen, denn wenn in so kurzer Zeit Gegenstände, welche unten im Raum aufbewahrt werden, an die Küste schwimmen, so ist dieser Umstand fast immer ein Beweis, daß das Schiff mitten auseinander gebrochen ist, was in diesem Falle sich nur durch einen Zusammenstoß beweisen läßt, da im Fahrwasser der Amazone kein Felsen zu finden ist, der eine ähnliche Wirkung hervorbringen konnte. Wenn in der Nordsee ein Fahrzeug sinkt, so bettet es sich in den Sand und zwar langsam, so daß Lasten, welche sich im Raum befinden, nie wieder oder doch erst nach langen Monaten ans Tageslicht kommen. Man kann dies in der Nähe jeden Herbst auf den berüchtigten Godwin-Sands und den noch gefährlicheren Galloper vor der Themsemündung beobachten. Wäre die Katastrophe nicht plötzlich eingetreten, so hätten sich wohl Einer oder Einige von der Bemannung gerettet. – Zu diesen eben angeführten Gründen kommt noch, daß die Lootsen von Deal und Margate sich ganz unbefangen über den Vorfall ausgesprochen haben, da sie zur entsprechenden Zeit einen großen Yankeeklipper mit zerbrochenem Bugspriet und beschädigtem Bug in See sprachen, der ihren Beistand auf ganz ungewohnte schroffe Weise abwies. Wer im letzten Winter in New-York lebte, wird weiter wissen, daß man in allen Kaffeehäusern der Bowery und anderwärts ganz offen erzählte, die Amazone sei in der Nordsee von einem Amerikaner, den man in Kopenhagen zu diesem Zwecke bestochen habe, übersegelt worden. Ein jetzt bei Fort Monroe auf der Unionsflotte stationirter Seemann hat den dortigen deutschen Soldaten die Katastrophe ebenfalls erzählt. Auch die nordamerikanische Presse hat davon Notiz genommen, und man wird bei näheren Nachforschungen in der Shippers news des Herald oder der Times leicht die betreffenden Mittheilungen auffinden. Da aber die transatlantische Presse gegenwärtig mit den eigenen Angelegenheiten ausschließlich beschäftigt ist, so darf man sich nicht wundern, daß dieser Gegenstand nicht weiter beleuchtet wurde. Vielleicht giebt unser heutiger Artikel Veranlassung zu weitern und gewissenhaften Untersuchungen, die hoffentlich sehr rasch herausstellen werden, wie weit diese Darstellung ein Werk der Phantasie ist.
    Die Redaction.
  2. 3. Buch Mosis, Cap. 19, 27.
  3. 2. Buch Samuelis, Cap. 10, 4.
  4. 2. Buch Samuelis, Cap. 20, 9.
  5. Gallischer Krieg, Buch 5, Cap. 14.
  6. Wir bitten unsere Leser, nicht zu vergessen, daß die Herstellung einer Nummer der Gartenlaube jetzt drei Wochen Zeit erfordert, Text und Abbildungen also nicht gleichzeitig mit dem Feste erscheinen können.
    D. Red.
  7. Für Diejenigen, welche sich specieller dafür interessiren, möge hier die genaue Beschreibung dieser Waffe nach §. 56 der Satzungen des deutschen Schützenbundes folgen: „Die deutsche Schützenwaffe hat einen einschließlich der Patentschraube 0,84 Meter langen gezogenen Lauf, der bis hinter das Absehen achtkantig, dann bis zur Mündung rund geschliffen ist. Absehen mit Klappe und Korn sind offen. Die Waffe ist durchaus – bis 0,08 Meter vor der Mündung – geschäftet. Die Kolbennase darf höchstens 0,033 Meter, das Kolbenende höchstens 0,066 Meter von der geraden Linie abstehen, die man sich über die Oberfläche des Laufes gezogen denkt. Die Kappe darf höchstens einen Einschnitt von 0,028 Meter haben. Der Kolben hat keine Backen. Die Waffe ist versehen mit einfachem Feldstecher und Abzugsbügel mit nur einem Griff. Die Waffe ist versehen mit Vorrichtung zum Aufstecken eines Bajonnets und mit eisernem Ladestock. Das Geschoß hat einen Durchmesser von 0,010 bis 0,011 Meter. Die Waffe darf einschließlich Bajonnet höchstens zwölf Pfund wiegen.“
  8. Die erste Urkunde datirt vom Jahre 1239; erst 1320 erscheint Meran als Stadt („civitas“).