Die Gartenlaube (1863)/Heft 33

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[513]
Martha.
Erzählung aus dem Leben.
Von A. Diezmann.

Ich war noch sehr jung, als ich eine kleine Reise benutzte, um einen befreundeten ehemaligen Mitschüler zu besuchen, der sich in dem Hause eines sehr reichen Altenburger Bauern als Lehrer des einzigen Sohnes befand.

Dieser Bauer, Michel Gerber mit Namen, war ein Mann eigener Art und Besitzer eines ererbten, durch Kauf und Heirath vergrößerten Gutes, das sich mit manchem großen Rittergute messen konnte. Seine zahlreichen Knechte, Mägde und andern Arbeitsleute behandelte er im Ganzen mit tyrannischer Strenge, bisweilen aber auch, wenn er mit ihren Leistungen sehr zufrieden war, mit einer gewissen herablassenden Milde, wie etwa ein Patriarch in der Bibel seine Sclaven behandelt haben mag, und Michel Gerber glaubte in der That so hoch über seinen Untergebenen zu stehen wie ein Herr über seinen Leibeigenen. Dies ging soweit, daß er sich sehr selten herbeiließ, persönlich mit Einem der Knechte zu sprechen – mit den Mägden sprach er nie selbst. Er ertheilte vielmehr seine Befehle und seine Vorwürfe dem Ersten der Knechte, welcher sie an die Betroffenen weiter zu befördern hatte. Sein Stolz waren seine großen starken feisten Pferde, „auf denen kein Tropfen Wasser stehn blieb,“ seine wohlgenährten Rinder, die alle genau von einer Farbe, schwarz mit einem weißen „Stern“ auf der breiten Stirn, und stets von dem kleinsten Schmuzfleck frei sein mußten, seine Heerde hochfeiner Merino-Schafe und endlich sein Geflügelhof, in dem es von Hühnern, Gänsen, Enten und Tauben der verschiedensten, zum Theil seltensten und theuersten Arten wimmelte. Wenn der breitschulterige stattliche Mann in der Thür seines Hauses stand, die schwer mit Silber beschlagene Meerschaumpfeife im Munde, den kleinen runden hinten leichtaufgekrempten Hut auf dem Kopfe, in der kurzen Jacke vom feinsten grünen Tuche, in den weitbauschigen kurzen Hosen und den langen engen Stiefeln von weichem Leder, die Daumen beider Hände auf der Brust unter die Hosenträger gesteckt, und so wohlgefällig seinen wimmelnden Hof überschaute, sah er allerdings wie ein Bauernfürst aus.

Diesen Hof umgaben auf drei Seiten die verschiedenen zum Theil neu aufgeführten, sämmtlich wohl unterhaltenen Wirthschaftsgebäude, während die vierte Seite das stattliche Wohnhaus nebst dem großen Einfahrtsthore einnahm und in der Mitte ein Taubenhaus in der Form eines riesigen Pilzes stand. Im Erdgeschosse des Wohnhauses befanden sich die Milch- und Vorrathskammern, die große Küche mit dem stets blitzendblank gescheuerten Zinn-, Messing- und Kupfergeschirr, des Herrn geheimes Cabinet, in dem er namentlich sein Mittagsschläfchen zu halten pflegte und das Niemand betreten durfte, und endlich die große allgemeine Wohn- und Eßstube, denn so stolz Michel war, hielt er doch fest und streng an dem Herkommen, welches verlangte, daß „der Herr“ mit seinem „Gesinde“ die Mittags- und Abendmahlzeiten gemeinschaftlich einnehme. Freilich stand der kleine Familientisch oben quer vor der langen Tafel und war mit einem blendendweißen feinen Tischtuche geschmückt, während sich die Tafel mit einem groben begnügen mußte; auch kamen auf den Tisch meist andere Speisen als auf die Gesindetafel, welche letztere indeß stets sehr reichlich, ja verhältnißmäßig reich besetzt wurde. „Die Leute“ mußten jedesmal, ehe sie sich zum Essen niedersetzten, an der Tafel stehend ein stilles Gebet verrichten, und dies that der Herr mit seiner Familie gleichzeitig ebenfalls. Lautes Gespräch oder gar Späße während des Essens duldete er nicht, und wenn es einigermaßen laut an der Tafel wurde, brauchte er nur leicht mit dem Messer auf seinen Teller zu klopfen, um sofort eine wahrhaft andächtige Stille herbeizuführen.

Dies Alles geschah freilich wohl auch ähnlich oder genau so in den andern großen Bauerhöfen, Michel Gerber aber hatte eine Eigenthümlichkeit, die ihn von allen seinen Standesgenossen unterschied. Er war allerdings ein echter Bauer von altem Schrot und Korn, er wollte ein Bauer sein und war stolz, daß er es war, aber er wußte auch wohl, daß die andern Stände an Bildung über den Bauern standen und deshalb bisweilen mit einer gewissen Geringschätzung auf dieselben herabsahen. Das wurmte ihn, wie es sein großer Aerger war, daß er in den Gesetzen, Verordnungen, gerichtlichen Bekanntmachungen, Advocatenschreiben und Zeitungen Vieles nicht verstand. Das verhehlte er weder sich noch Andern und darum nahm er sich vor, daß es seinen Kindern nicht ebenso ergehen solle und daß sie mehr, viel mehr lernen müßten, als er selbst gelernt und zu lernen Gelegenheit gehabt hatte.

„Die Leute in der Stadt und die Adeligen auf dem Lande,“ pflegte er zu sagen, „reden immer davon, daß sie größere Bildung hätten, und sie haben Recht. Warum sollen aber unsere Kinder nicht eine gleiche Bildung erhalten können? Weil es Geld kostet, viel Geld? Ich habe Geld, mehr Geld als mancher „Herr von“; darum sollen meine Kinder dieselbe Bildung erhalten wie die jungen Herrn und Fräuleins, und wenn es mich tausend Thaler und mehr kostet. Ich hab’s. Nichts, gar nichts sollen anderer Leute Kinder vor den meinigen voraushaben, denn ich kann’s bezahlen [514] und ich bezahl’s. Kauf’ ich mir ein paar Pferde, blos weil sie mir gefallen, für tausend Thaler, verspiel’ ich an einem Abend im „Schafkopf“ hundert Thaler, warum sollte ich meiner Martha nicht auch einen Flügel, wie sie’s nennen, für lumpige fünfhundert Thaler kaufen? Ich halte der Tochter eine „Gonvernante“ und dem Jungen einen „Informator“. Was können solche Leute kosten? Wenn die der Herr Gerichtsdirector und der Herr von Moosbach drüben bezahlen kann, kann es Michel Gerber erst recht!“

Und er that, wie er gesagt. Er schickte seine Kinder nicht in die gewöhnliche Dorfschule. Mehrere Jahre lang hielt er der Tochter eine Erzieherin, und er fand zum Glück eine solche in einer sehr verständigen, nicht mehr jungen Person, die er glänzend bezahlte, und dem jüngeren Sohne hatte er seit nicht langer Zeit in meinem Freunde Engel einen „Informator“ gegeben. Trotz allem dem aber und obgleich die Tochter im ersten Stock des Hauses ein fast elegant eingerichtetes eigenes Zimmer mit einem kostbaren Flügel darin besaß, hielt Michel Gerber streng darauf, daß die Kinder die gewiß nichts weniger als kleidsame Nationaltracht trugen, und es war ihm wohl zuzutrauen, daß er ein Kind lieber verstoßen als zugegeben hätte, daß es die sogenannte „städtische“ Kleidung anlege.

„Ich bin ein Altenburger Bauer“ sagte er, „meine Kinder sollen Bauern bleiben und darum sich kleiden, wie ich es thue und wie es unsere Vorfahren seit vielen hundert Jahren thaten.“

Als ich in den Hof Gerber’s trat, erschien eben an der Thür des Wohnhauses ein schlankes Mädchen von mehr zartem als kräftigem Bau in der Altenburger Tracht. Sie mochte etwa siebzehn Jahre alt sein und hatte ein frisches rundes Gesicht mit blauen Augen, einem Stumpfnäschen, kleinem Munde und Grübchenkinn. Sie streute goldfarbige Gerstenkörner in weitem Kreise für ein großes Geflügelvolk aus, und ich konnte die freudig überraschten Augen von dem frischen, mehr als schmucken Mädchen gar nicht abwenden. Als endlich ihre Blicke mich trafen und wie fragend ansahen, trat ich näher, begrüßte sie und erkundigte mich, ob der Hauslehrer anwesend sei. Sie machte einen freundlichen Knix, watete gewissermaßen aus dem um sie hin- und herwogenden Geflügelmeere, lachend aber vorsichtig, heraus und kam mir entgegen.

„Sie sind gewiß der Herr, den er erwartet,“ sagte sie. „Kommen Sie!“

Sie schritt rasch in das Haus, die breite Treppe nach dem ersten Stock hinauf, deutete da nach einer Thür, knixte leicht und sagte sehr freundlich zu mir: „Kommen Sie aber auch bald herunter zu uns, denn wir Alle freuen uns über Ihre Ankunft.“

Bei dem Mittagstisch, zu dem eine weitschallende Glocke die Leute zusammenrief, war das Mädchen, Martha, die Tochter vom Hause, meine sehr heitere Nachbarin, und als der Hausherr in sein Cabinet – zum Mittagsschlafe – sich zurückgezogen hatte, schlug sie vor, daß wir, Engel mit seinem Zöglinge und ich, sie in ihr Zimmer hinauf begleiten möchten. Sie befahl, wie eine kleine Gräfin, den Kaffee dahin zu bringen. Wir folgten ihr in das freundliche, mit Blumen geschmückte Zimmer, in dem ich eine kleine Büchersammlung – die Stunden der Andacht, das Conversationslexikon, Schiller’s Werke u. s. w. – bemerkte. Sie machte da in der natürlichsten und anmuthigsten Weise die Wirthin. Später spielte ich Manches auf dem prächtigen Flügel, der in dem Zimmer stand, und Martha war unersättlich im Zuhören, als ich aber C. M. v. Weber’s Variationen über Dorina Bella spielte, wurde das Mädchen allmählich still, während ihr Gesicht abwechselnd leichte Röthe und Blässe überflog. Auch nachdem ich geendet hatte, saß sie eine kurze Zeit noch wie in Gedanken versunken da. Dann stand sie rasch auf und sagte: „Nun nichts mehr! Ich könnte nach diesem nichts Anderes hören.“

Sie strich dabei mit einer Hand über Stirn und Augen, als wolle sie ein Traumbild, Gedanken oder Empfindungen verscheuchen, welche das Musikstück in ihr hervorgerufen. Mit einer gewissen Anstrengung fragte sie endlich:

„Darf ich Sie in den Garten führen und Ihnen meine Blumen zeigen?“

Sie eilte voraus, und in dem Garten, unter den Blumen, fand sie nicht nur ihre naive Heiterkeit bald ganz wieder, sondern auch den Muth mir das Versprechen abzunehmen, zum Erntefest meinen Besuch zu wiederholen, und endlich beim Abschied mir zuzuflüstern:

„Wollen Sie mir wohl das Musikstück schicken, das Sie zuletzt spielten? Ich .. ich möchte es auch spielen lernen.“

Sie reichte mir dabei die wahrhaft aristokratisch feine weiße Hand mit den langen schmalen Fingern, und sie erwiderte auch meinen Druck mit unbefangener Herzlichkeit.

Der Sommer verging, und zum Erntefest erschien ich wieder in dem Hause Michel Gerber’s. Bereits hatten sich zahlreiche Gäste aus der „Freundschaft“, d. h. nähere und entferntere Verwandte zu dem Feste eingefunden, das in jener Gegend zumeist durch fast den ganzen Tag fortgesetztes Essen und Trinken gefeiert wurde. Michel Gerber namentlich suchte seinen Stolz darin, seinen Gästen durch eine überreiche Fülle von Speisen und Getränken zu imponiren und es auch darin allen Andern zuvorzuthun. Auch konnte man ihm durch nichts mehr schmeicheln, als wenn man Verwunderung und Staunen über solchen Ueberfluß äußerte. Dann glänzte auf seinem breiten Gesicht, gleich Sonnenschein auf einem seiner Aecker, die befriedigte Eitelkeit des reichen Bauers, und er antwortete wohl auch: „Ich hab’s. Ich kann’s geben.“ Martha freilich, welche die Wirthin zu machen hatte, war so in Anspruch genommen, daß ich nur selten eine flüchtige Gelegenheit fand, allein mit ihr zu sprechen. Sie war aber ungewöhnlich heiter und wendete mir häufig genug verstohlen ein freundliches Lächeln oder einen Blick zu, der es deutlich aussprach, wie glücklich sie sich fühle. Am Nachmittag endlich, als die Gäste sammt und sonders sich zum Tanze begaben, steigerte sich ihre Heiterkeit bis zum Muthwillen. Sie hing sich plötznch schäkernd an meinen Arm und sagte:

„Wollen wir nicht auch zum Tanze gehen? Ich war noch nie dort. Mit wem soll ich auch gehen? Ihr Freund, der Herr Hauslehrer, den ich einmal bat mich zu begleiten, hält es nicht für schicklich, auf den Tanzplatz unter die Bauern zu gehen. Kommen Sie! Ja?“

Ich erklärte mich sofort und mit Freuden bereit.

„O, die Leute werden große Augen machen, wenn „Michel’s stolze Martha“ unter ihnen erscheint!“ fuhr sie fort und sie lachte laut auf in ausgelassener Freude.

Wir gingen, und das Erscheinen Martha’s machte allerdings, wie sie erwartet hatte, großes Aufsehen. Aller Blicke richteten sich auf sie und auf mich, ihren Begleiter. Der Tanz erfuhr fast eine Unterbrechung. Das Local war freilich ziemlich beschränkt, die Decke namentlich niedrig. Tabaks-, Branntwein-, und Bierdunst drang uns entgegen, obgleich alle Fenster weit offen standen. Die meisten der älteren nicht tanzenden Männer, selbst einige der Burschen, die, in Hemdärmeln, mit ihren Mädchen sich drehten, hatten die Tabakspfeife im Munde. Michel Gerber selbst, der im stolzen Gefühl seiner Bedeutung mit einigen seiner Gäste zuschauend nahe am Eingange stand, begrüßte die ihm unerwartet erscheinende Tochter mit freudiger Verwunderung und rief ihr laut zu:

„So ist’s recht! Tanz’ auch einmal mit dem Herrn.“

Darauf trat er an das kleine Orchester, griff in die Tasche seiner weitbauschigen Hosen, legte auf das Pult des Vorgeigenden einen harten blanken Thaler, so daß es Alle sehen mußten, und sagte:

„Nun spielt für mich Euer bestes Stückchen.“

Die Musikanten hörten augenblicklich mitten in dem Tanze auf, den sie eben spielten, und begannen einen anderen.

„Jetzt müssen wir tanzen,“ flüsterte mir Martha zu, „sonst werden wir ausgelacht.“

Die Anderen hatten bereits zu tanzen wieder angefangen, und wir traten denn auch an. Es war ein wunderlicher Tanz, den ich vorher nie gesehen, viel weniger getanzt hatte, aber so einfach, daß Jeder, mit nur einigem Taktgefühl, ihn sofort mittanzen konnte. Jedes Tänzerpaar blieb fortwährend genau auf der Stelle, auf der es zu tanzen angefangen hatte, weil man sich immer nur auf dem linken Absatz herumdrehete und den rechten Fuß in Dreiachtel-Takt herumschleifte. In dieser Weise tanzte ich denn auch mit Martha, und der so einfache Tanz machte mir bald in der That großes Vergnügen, zumal meine Tänzerin sehr glücklich zu sein schien. Das Hauptvergnügen der übrigen Paare bestand freilich in noch etwas Anderem. Der tanzende Bursch stieß nämlich von Zeit zu Zeit einen lauten Jauchzer aus, faßte dabei mit beiden Händen seine Tänzerin um die Taille und hob sie in dieser Weise empor, je höher desto besser. Die Aufgabe auch dabei bestand darin, immer genau auf der Stelle zu bleiben und das Drehen im richtigen Takte fortzusetzen, sobald die Füße der Tänzerin den Boden wieder berührten. Dieses Emporheben der Tänzerin unterließ ich natürlich [515] so leicht es auch gewesen sein würde, Martha’s zarte Gestalt emporzuschwingen. Sie würde es auch in keinem Falle geduldet haben. Wir tanzten indeß eine ziemlich lange Zeit, und Michel Gerber hatte offenbar seine große Freude daran, denn er wendete seine schmunzelnden Augen von der lieblichen Tochter nicht ab. Diese wurde jedoch des wüsten Schreiens, Stampfens und Jauchzens noch früher überdrüssig als ich, und als die Musikanten eine Pause machten, in deren Folge ein Hin,- und Herwogen und Drängen unter den Tanzenden entstand, schlug sie mir vor, die allgemeine Verwirrung zu benutzen und fortzugehen.

„Am Ende käme einer von den Burschen,“ sagte sie, „vielleicht gar ein Vetter, und verlangte, daß ich auch mit ihm tanze. Das könnte ich nicht, und doch möchte ich auch keinen durch mein Weigern beleidigen.“

Sie wand sich mit den geschmeidigen Gliedern zwischen den Drängenden leicht hindurch, schlüpfte hinaus und war verschwunden, ehe es Jemand bemerkte.

Draußen wanderten wir lange über eine duftende Wiese, an der sich ein Bach hinschlängelte. Die tiefste Stille herrschte ringsum. Einmal bückte sich Martha am Ufer des Baches nieder und pflückte einige Vergißmeinnicht. Mit diesen Blumen kam sie dann zu mir, und begann sie mir spielend in das Knopfloch des Rockes zu stecken. Sie sah mir dabei lachend in das Gesicht, und ihre Lippen kamen den meinigen so nahe, daß ich der lockenden Versuchung nicht zu widerstehen vermochte. Rasch bückte ich mich ein wenig und küßte sie auf den blühenden Mund.

Sie sah mich anfangs erschrocken an, dann wurde ihr Blick ernst und endlich erhielt er einen bittenden Ausdruck.

„Nicht küssen! Ach nein! Nicht küssen!“ sagte sie. „Wenn ich Ihnen gut bleiben soll,“ fuhr sie nach einiger Zeit fort, „und ich habe Sie gleich gern gehabt,“ setzte sie im Tone der ehrlichsten Aufrichtigkeit hinzu, – „dann küssen Sie mich nicht wieder.“ Die Röthe, welche bei diesen Worten ihr Gesicht überflog, stand ihr reizend. „Ich müßte mich sonst vor Ihnen fürchten, ich könnte Ihnen nicht mehr wie jetzt offen in die Augen sehen und auch nicht mehr mit Ihnen reden, wie mir’s eben um das Herz ist. Nicht wahr, Sie versprechen mir, mich – nicht wieder zu küssen?“

Sie hielt mir treuherzig die Hand hin, damit ich bestätigend und betheuernd die meinige hinein lege, und sie schien nicht im mindesten zu ahnen, wie schwer sie mir es machte, gerade in diesem Augenblicke sie nicht zu küssen. Ich versprach indeß, was sie verlangte, mein Versprechen beruhigte sie sogleich, und sie fuhr fort:

„Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen gut bin, daß ich Sie nicht gern bald wieder verlieren möchte und daß ich Ihnen das gerade heraus sage. Mit Ihnen kann ich über Alles reden. Sie verstehen mich, das weiß, das fühle ich. Hier,“ sprach sie in recht treuherzigem Tone weiter, „hier bin ich ganz allein. Ich habe keine Freundin; Niemand versteht mich, und ich verstehe Niemanden. Was mir gefällt, begreifen die Anderen nicht, und das, was ihre Hoffnung und Freude ist, läßt mich kalt oder stößt mich gar ab, denn Alles, was sie wünschen, erscheint mir ganz und gar nicht begehrenswerth. Ich bin nicht glücklich, wenn ich auch allgemein beneidet werde. Aber“ – und sie ging plötzlich in einen ganz anderen Ton über – „ich lasse solche Gedanken nicht gern in mir aufkommen, sondern – lache sie fort.“

Sie lief trällernd voraus, so daß ich rasch gehen mußte, um sie einzuholen. Als wir in das Haus zurückgekehrt waren, kamen allmählich auch die Uebrigen an, denn es galt ja, wieder ein reiches Essen zu halten.

Am zweiten Tage gab mir Martha einen neuen Beweis ihres besonderen Vertrauens.

„Heute zeige ich Ihnen mein Lieblingsplätzchen,“ sagte sie, und sie ging mit mir durch das Dorf nach der kleinen Kirche zu; dann bog sie nach dem Friedhofe ab, auf dem sie sich nach einer Stelle an der Mauer wendete, wo im hellen Sonnenschein die vergoldeten Spitzen eines Eisengeländers leuchteten. Dieses Geländer umschloß den wohlgepflegten grünen Hügel eines Grabes, auf welchem noch einige Spätblumen blüheten. Zu Häupten des Grabes, außerhalb des Geländers, neigte eine üppig gedeihende Trauerweide ihre Zweige nieder.

Martha nahm schweigend einen keinen Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze, schloß damit die Thür in dem Geländer auf, reichte mir dann ihre Hand und sagte:

„Ich führe Sie zu meiner guten Mutter, die hier schon lange schläft. Bei ihr ist mein Lieblingsplätzchen. Hierher gehe ich, wenn ich mich recht einsam und verlassen fühle und wenn Gedanken kommen wie gestern Abend auf der Wiese. Ach ja! Lebte die Mutter noch, dann würde Manches anders sein und anders – werden! Ich fürchte, ich weiß selbst nicht recht warum, daß ich hier noch recht oft weinend beten werde.“

Sie setzte sich auf das Grab, stützte die Ellenbogen auf die Kniee, den Kopf in die Hände und so saß sie eine Zeit lang schweigend da.

Es war ein rührendes Bild: das blühende Mädchen, welches vom Schicksal mit manchen seiner Gaben überreichlich bedacht war, in tiefer Trauer hier auf dem Grabe der Mutter, im Schatten der Trauerweide, umgeben von dem blitzenden Gold der Geländerspitzen.

Endlich brach Martha die einzige weiße Rose ab, die noch da blühete, und reichte sie mir mit den Worten:

„Nehmen Sie an, diese Rose gäbe Ihnen meine Mutter zum Dank dafür, daß Sie freundlich gegen die Tochter sind, die sie hier lassen mußte.“

Darauf schloß sie die kleine Thüre in dem Geländer wieder zu, und wir traten schweigend den Rückweg an.

Kaum aber hatten wir den Friedhof hinter uns, so sagte Martha:

„Nicht wahr? Ich bin ein recht thörichtes Ding, daß ich das heitere Fest durch solche Reden mir und Dir verderbe.“

Sie erschrak über das Du, das ihr entschlüpft war, und setzte hoch erröthend hinzu:

„Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Du zu Ihnen gesagt habe ...“

„Sie können mir keinen größeren Beweis Ihrer Freundschaft geben,“ fiel ich ein, „als wenn Sie fortfahren, mich so zu nennen, Willst Du, liebe Martha?“

„Ich weiß nicht, ob ich es thun darf,“ antwortete sie, „aber zur Erklärung meines Versehens muß ich sagen, daß das Du bei uns auf dem Lande gewöhnlich ist und daß mir Alles viel leichter vom Herzen und von der Zunge geht, wenn sich das „Sie“ nicht dazwischen drängt. Leider habe ich hier Viele Du zu nennen, zu denen ich viel lieber Sie sagte, und ich muß mich von ihnen Du nennen lassen, wenn es mich auch bei dem Du aus solchem Munde stets kalt überläuft.“

„So bleibt es zwischen uns bei dem Du?“ fragte ich.

„Wenn ... Du mir versprichst, in diesem Jahre uns noch einmal zu besuchen.“

„Im October komme ich noch einmal, wenn Du mir zu Hause Dorina bella vorspielst.“

„Ich glaube, daß ich es in – Deiner Gegenwart zu spielen im Stande wäre,“ antwortete Martha heiter und unbefangen.

Bei dem großen Mittagsessen nannte sie mich öffentlich Du, und als ihr Vater das zum ersten Male hörte, sagte er:

„Martha, der Herr ist nicht vom Dorfe.“

„Er hat es mir erlaubt, ihn so zu nennen,“ erwiderte sie.

„Nun, wenn er’s nicht übel nimmt, mir kann’s recht sein. Es freut mich, wenn Herren aus der Stadt sich auch einmal nach einer Sitte im Dorfe richten. Sehen Sie,“ fuhr er gegen mich gewendet fort, „das gefällt mir von Ihnen, daß Sie den dummen Stadtstolz nicht haben wie die Anderen.“ Er schenkte dabei sein und mein Glas voll Wein und fuhr fort. „Stoßen Sie mit mir an!“

Wir stießen an. Als es geschehen war, griff Martha nach ihrem Glase, blinzelte und nickte mir zu und ließ dann auch ihr Glas mit dem meinigen zusammenklingen.

Bald nach Tische erinnerte ich Martha an das Versprechen, das sie mir wegen des Spiels gegeben hatte.

„Ja,“ sagte sie, „jetzt kann ich spielen. Komm!“

Sie stand auf, und ich begleitete sie allein in ihr Zimmer. Ohne sich weiter bitten zu lassen, setzte sie sich an das Instrument, und als ich das Notenheft für sie suchen wollte, meinte sie lächelnd:

„Ich habe das Stück so oft gespielt, daß ich keine Noten mehr dabei brauche.“

Sie spielte mit einem Ausdrucke, in welchem sich das tiefste Gefühl, fern von Leidenschaftlichkeit, aber voll der innigsten Hingebung, kundgab. Und was sie bei dem Spielen empfand, war deutlich in den träumerisch verschleierten Blicken ihrer Augen zu lesen. Ich konnte die meinigen von ihr kaum losmachen, aber als [516] errathe sie, daß ich nahe daran sei, mein ihr gegebenes Wort wegen des Nichtküssens zu brechen, stand sie rasch auf und verschwand aus dem Zimmer, ehe ich sie zurückhalten konnte.

Bei dem Abschiede diesmal hoffte ich bereits auf das Wiedersehen im Herbst.

Es wäre aber von diesem meinem Besuche nichts Erwähnenswerthes zu berichten, wenn nicht ein charakteristischer Auftritt auf dem Tanzplatze vorgekommen. Martha äußerte an einem Sonntag-Nachmittage den Wunsch, noch einmal mit mir dahin zu gehen. Wir gingen und tanzten. Während unseres letzten Tanzes indeß sah Martha sich öfters wie ängstlich um, auch machte sie mich leise aufmerksam, daß die übrigen tanzenden Paare, eines nach dem anderen, abgetreten waren, so daß wir bald ganz allein noch tanzten, während die jungen Burschen rings an den Seiten umherstanden, halblaut unter einander sprachen und uns mit nicht eben freundlichen Blicken ansahen. Ich ahnte im Anfange, trotz der Aengstlichkeit Marthas, nichts Arges. Als wir aber ebenfalls zu tanzen aufhörten, entstand ein offenbar absichtliches und böswilliges Drängen und Stoßen um uns her. Man schien Streit anfangen und zunächst uns hindern zu wollen, den Ausgang zu gewinnen, jedenfalls um Martha ein Zeichen der allgemeinen Mißbilligung dafür zu geben, daß sie nur mit einem Fremden daherkomme und nur mit diesem tanze, dem Fremden aber in derber Bauernmanier das Wiederkommen grundlich zu verleiden. Martha, welche diese Absicht der Burschen sofort errathen hatte, zitterte an meinem Arme, während wir uns einen Weg durch die uns Umdrängenden zu bahnen suchten. Ehe es zu Schlimmerem kam, erschien, gerade zur rechten Zeit, Michel Gerber auf der obersten Stufe der Treppe, welche in den Tanzsaal führte, und auf den ersten Blick in denselben erkannte er, was man vorhatte. Mit zornglühendem Gesicht und mit so gewaltiger Stimme, daß der leichte Bau davon erzitterte, rief er hinein in den Saal:

„Wer untersteht sich meine Tochter und meinen Gast zu beleidigen? Michel Gerber möchte den sehen, welcher zu mucksen wagt, wenn er Ruhe gebietet!“

Er stand da, am Eingange des Saales, wie in den Boden gewurzelt, gleich einem Felsblocke im brandenden Meere, und die Bursche wichen langsam scheu zurück, die Furchtsamsten bis dicht an die Wand. Nur ein kleiner krummbeiniger Schneider, der wahrhaft lächerlich häßlich in seiner Altenburger Kleidung, namentlich in den kurzen weiten Pluderhosen, aussah, blieb keck vor den Vordersten stehen und schauete den zornigen Michel Gerber herausfordernd an, der ein Riese gegen ihn war.

„Na! na!“ sagte er dann mit quäkender höhnischer Stimme. „Hier hat Einer so viel Recht als der Andere, und Du bist auf dem Tanzplatze nicht mehr als ich, wenn Dir auch die Thaler zu Tausenden draußen auf dem Felde von selbst zuwachsen und ich meine paar Groschen mühsam zusammensticheln muß.“

„Krummbeiniger Schneiderknirps,“ donnerte ihn Michel dafür an, und in seinem Tone lag die wegwerfendste Geringschätzung, „fünfhundert solche Lumpenkerle wie Du machen noch lange keinen halben Michel Gerber aus! – Herr,“ fuhr er zu mir gewendet fort, „bringen Sie die Martha her zu mir. Ich möchte sehen, wer sie anzurühren wagt.“

Ehe wir von der andern Seite des Tanzsaales zu ihm gelangen konnten, trat der kecke Schneider noch einen Schritt näher an Gerber heran und sagte, während er den emporgestreckten dürren Zeigefinger der rechten Hand drohend bewegte und mit boshaften Blicken zu dem Gegner emporsah:

„Michel Großmaul, ich habe noch immer gehört: Uebermuth thut nicht gut, und Hochmuth kommt vor dem Fall!“

„Ich will Dir sagen, Du Schneiderlappen, was vor dem Fall kommt,“ antwortete Michel Gerber mit verächtlicher Gelassenheit. Dabei bückte er sich rasch, packte mit einer seiner starken Fäuste den kleinen Schneider in der Mitte des Leibes, hob ihn so, leicht wie eine Feder, empor und schien ihn von der Stelle aus, auf der er stand, durch das offene Fenster hinausschleudern zu wollen. Martha war todtenbleich geworben und rief in Verzweiflung: „Vater, thu’ ihm nichts zu Leid!“ Die anderen Mädchen und die Weiber kreischten vor Angst und drängten sich dicht zusammen; die Rohesten der Bursche lachten über den zappelnden kleinen Schneider und die Andern sahen gleichgültig und neugierig zu, was wohl geschehen werde. Dem Schneider widerfuhr kein Leid. Michel Gerber hielt ihn nur eine Zeitlang so „in schwebender Pein“, dann setzte er ihn, freilich sehr unsanft, auf die krummen Beine wieder nieder. Während der Geängstigte in der Menge sich verkroch und Michel über den Saal hinschaute wie ein Feldherr über das siegreich behauptete Schlachtfeld, ging ich mit der noch immer zitternden Martha so rasch als möglich hinweg.

„Unter solchen Menschen soll ich mein Leben verbringen!“ sagte sie, als wir eine Zeit lang still nebeneinander gegangen waren, mit einem tiefen schmerzlichen Seufzer. „Verstehst Du nun, warum ich nicht glücklich bin? Ach, hätte mir mein Vater eine andere Erziehung geben lassen, als er gethan, hätte er mich aufwachsen lassen wie die Andern hier aufwachsen gleich den Blumen auf dem Felde! Er meinte es gut, sehr gut, ich weiß es wohl, aber Recht that er nicht und er wird darunter leiden, wie ich schon gelitten habe, noch leide und – noch sehr viel werde leiden müssen!“

„Ich habe schon längst gefühlt, daß Du so, wie Du bist, hierher nicht gehörst,“ antwortete ich, „aber Du mußt ja hier nicht bleiben.“

„Wenn Du daran zweifelst,“ sprach sie weiter, „kennst Du meinen Vater nicht. Aber reden wir weiter nicht davon! Wenn mir solche Gedanken kommen – und sie kommen mir immer öfter – steht mir vor Angst das Herz fast still. Gott gebe, daß die Zeit noch fern ist, die über mein Schicksal entscheidet!“

Die Zeit der Entscheidung kam schneller, als Martha erwartet hatte, und ich sah sie nur noch einmal in ihrer Blüthe und Heiterkeit – Herrlichkeit, hätte ich beinahe geschrieben. Das war nach Verlauf des Winters, als der Frühling sich anschickte seinen Einzug zu halten. Er lockte mich hinaus auf das Land, und die Erinnerung an Martha, die ich so lange nicht gesehen hatte, bestimmte das Ziel meiner Wanderung. Ich verbrachte nochmals ein paar glückliche Tage in dem Hause Gerber’s, und daß ich der Tochter durch meinen Besuch eine wahre Herzensfreude machte, sah und fühlte ich. Vor dem Abschiede aber saßen wir eine Zeitlang allein in ihrem Zimmer, in dem wir abwechselnd gespielt hatten, und hier bat sie mich dringender als je, auch in einem andern Tone als sonst, aus dem ich eine gewisse Aengstlichkeit herauszuhören glaubte, noch einmal zu kommen – und diese Worte sprach sie ganz eigenthümlich – zu Pfingsten. Als ich in sie drang mir zu sagen, ob sie etwas fürchte und was, antwortete sie traurig:

„Noch kann ich es nicht mit Gewißheit sagen; ich weiß nur, daß mein Vater etwas vorhat, das mich beunruhigt. Er verkehrt viel mit einem Manne, der mir widerwärtig ist. Sie sitzen oft und lange in seiner Stube beieinander, haben also etwas sehr Wichtiges und Geheimes vor. Er fuhr auch an zwei Sonntagen hintereinander allein fort, nicht in die Stadt, und er sagte mir nicht, wohin er reise, obgleich ich ihn darum fragte. Er lächelte nur und antwortete: „Du erfährst es schon; ’s ist nur Deinetwegen.“ Ach ... ich fürchte, er will mich verheirathen! Er wird irgend einen jungen Bauer ausfindig gemacht haben, dessen Vermögen dem meinigen entspricht und der deshalb, seiner Meinung nach, für mich paßt. Ich weiß wohl, daß die Kinder ihren Eltern Gehorsam schuldig sind, aber – der liebe Gott verzeihe mir meine Sünde, wenn es eine ist! – gewiß dann nicht, wenn die Kinder besser wissen als die Eltern, daß solcher Gehorsam Aller Unglück sein muß.“

Ich suchte Martha zu trösten, ohne daß es mir gelang, und so schieden wir diesmal nicht mit leichtem Herzen von einander. Es war auch das erste Mal, daß das Mädchen bei dem Abschiede weinte und weinend mich bat, den Besuch zu Pfingsten „um Gottes Willen“ nicht zu versäumen.


(Schluß folgt.)
Der Freund der deutschen Arbeiter.

Wenn man in Berlin während des vergangenen Winters an einem Sonntagsmorgen zwischen 11 – 12 Uhr in die Nähe der sogenannten Tonhalle gelangte, welche in der großen Friedrichsstraße liegt, so erblickte man einen ungewöhnlichen Menschenstrom, der sich nach jenem bekannten Vergnügungslocale in stiller, ernster Haltung bewegte, nicht um daselbst Zerstreuung und materielle Genüsse

[517]

Schulze-Delitzsch.

zu suchen, sondern um Belehrung und Unterricht über seine wichtigsten Interessen zu finden. Die Meisten der Anwesenden sind Arbeiter mit schwieligen Händen und intelligenten Gesichtszügen, in denen ein aufmerksamer Beobachter zwar die Sorge um das tägliche Brod, aber auch den Durst nach Wissen und Erkenntniß lesen kann. Dazwischen bemerkt man auch wohl Männer von höherer Bildung, Gelehrte, Künstler und Kaufleute, Fabrikanten, junge Studenten und Beamte, darunter hochgeehrte und weltberühmte Persönlichkeiten, den ehrwürdigen Präsidenten Lette, den genialen Virchow, angesehene Fremde, Nationalökonomen, Volksfreunde und Volksvertreter. Bald füllt sich der große Saal und die damit verbundenen Gallerien bis auf den letzten Platz; es herrscht trotz der großen Versammlung eine bewunderungswürdige Ordnung und Ruhe, eine fast andächtige Stille, wenn der erwartete Vortrag beginnt, so daß man in einer Kirche der Andacht einer frommen Gemeinde beizuwohnen glaubt.

Jetzt besteigt der Redner die Bühne, ein kräftig gedrungener Mann mit geistvoll energischen Zügen, hoher Stirn, leuchtenden Blicken und beredten Lippen, um die ein freundliches, gewinnendes Lächeln schwebt. Er begrüßt die Versammlung mit kräftiger, wohlklingender [518] Stimme, die den weiten Saal vollkommen ausfüllt. Sein Vortrag ist wunderbar klar und allgemein verständlich, ohne Phrase, einfach, logisch und stets zutreffend, so schlicht, daß ihn jeder Arbeiter begreifen und ihm folgen kann. Er spricht nicht zu den Leidenschaften, sondern zu dem Verstande und den Herzen seiner Zuhörer; er belehrt sie, ohne pedantisch zu sein, er überzeugt sie durch die bloße Macht der Wahrheit, durch die Kraft seiner Gedanken, ohne je der Menge zu schmeicheln; er ist im höchsten Grade populär, ohne je trivial oder oberflächlich zu werden. Frei von jeder Effecthascherei, von blendenden Schlagwörtern, von lustigen Theorien, ist es ihm nur allein um die Sache selbst zu thun, obgleich ihm alle Künste der Rede in einem seltenen Maße zu Gebote stehen, die feinste Ironie, der glänzendste Witz, der rollende Donner sittlicher Entrüstung, das erhabene Pathos der Begeisterung. So entwickelt er seine Ansichten über die schwierigste Aufgabe der Zeit, über die sociale Frage, über das Verhältniß der Arbeit zum Capital, über die Lage der Arbeiter und die Mittel zu ihrer Verbesserung, indem er das große Problem in praktischer Weise zu lösen sucht und den einzig möglichen Weg zur Versöhnung der einander gegenüberstehenden Interessen zeigt, so daß man mit Recht behaupten darf, daß er die herrlichsten Samenkörner der Bildung und Gesittung, des Friedens und der bürgerlichen Ordnung mit segenbringender Hand ausstreut.

Dieser volksthümliche Redner ist der bekannte Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der Apostel der Arbeiter, wie er mit Recht genannt zu werden verdient, seine Zuhörer aber sind die Mitglieder des Berliner Arbeitervereins, der in kurzer Zeit einen hohen Aufschwung genommen hat und eines solchen Lehrers würdig ist. Jene Vorträge aber, die einen so mächtigen Einfluß ausgeübt, sind jetzt gesammelt unter dem Titel „Capitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus“ im Verlage des Herausgebers der „Gartenlaube“ erschienen. Sie geben ein vollständiges Bild von dem Wirken und Streben dieses wahren Volksfreundes, welcher als Begründer der deutschen Arbeiter-Associationen sich ein unsterbliches Verdienst um die deutschen Arbeiter erworben hat. Dieser Seite seiner Thätigkeit ist der vorliegende Aufsatz vorzugsweise gewidmet, nachdem die „Gartenlaube“ bereits früher eine ausführliche Biographie von Schulze-Delitzsch gebracht hat, worin hauptsächlich seine politische Wirksamkeit nach Gebühr gewürdigt worden ist.

Von jeher hat es bekanntlich nicht an Versuchen gefehlt, die sociale Frage, deren Wichtigkeit allgemein einleuchtet, in zufriedenstellender Weise theoretisch und praktisch zu lösen. Ganz besonders beschäftigten sich die Franzosen mit dieser schwierigen Frage, die sie mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres für jede Neuerung schwärmenden Geistes ergriffen. In kurzer Zeit tauchten die verschiedensten Systeme und kühnsten Theorien auf, wobei es auf nichts Geringeres als auf einen vollständigen Umsturz der bisherigen Weltordnung abgesehen war. Selbstverständlich mußten diese meist unhaltbaren und phantastischen Pläne bei ihrer Ausführung scheitern. Die Einmischung des Staates, welche der Alles centralisirende Geist des französischen Volkes nicht zu entbehren vermag, erwies sich eher schädlich als nützlich. Die Nationalwerkstätten, welche nach der Revolution vom Jahre 1848 der geistreiche, aber unpraktische Louis Blanc gewaltsam in’s Leben rief, gingen an ihren falschen Voraussetzungen und ihrer fehlerhaften Einrichtung bald wieder zu Grunde und discreditirten alle ferneren ähnlichen Versuche. Durch den Aufstand des fanatisirten Proletariats und die blutigen Kämpfe in den Straßen von Paris wurde der ruhige Bürger und die besitzende Classe zum Feinde jeder socialen Bewegung gemacht und von einer fast lächerlichen Furcht erfüllt. Erst Louis Napoleon, der die ganze Bedeutung der socialen Frage erfaßt hat, benutzt dieselbe als eine mächtige Bundesgenossin für seine selbstsüchtigen Zwecke, indem er sich durch das allgemeine Stimmrecht zum Kaiser erhob und gegenwärtig noch auf die Arbeiterbevölkerung, welche er durch einen vorübergehenden, künstlichen Wohlstand zu gewinnen wußte, sich fortwährend stützt und durch sie seine Stellung behauptet.

Praktischer wurde der Socialismus in England begriffen und angefaßt, wie in der Natur dieses handeltreibenden, der Speculation und bloßen Theorie feindlichen Volkes liegt. Bereits im Jahre 1800 hatte hier der bekannte Socialist Robert Owen die Lage seiner eigenen Fabrikarbeiter zu verbessern gesucht und zu diesem Behufe eine auf moralische Hebung der Arbeiter berechnete sociale Musteranstalt in dem schottischen Dorfe Newlanark gegründet, wobei er von dem Grundsatze ausging, durch Erziehung und Betheiligung der Arbeiter an dem Gewinn dieselben moralisch und auch materiell zu verbessern. Owen hatte seine Ideen dem Kongresse zu Aachen 1818 und mehreren Staatsmännern in London und Paris vorgelegt, aber das Parlament in England widersetzte sich der Annahme seiner Vorschläge, weil einige darin entwickelte religiöse und moralische Ansichten Owen’s mit Recht bedenklich erschienen, indem er nämlich das persönliche Interesse als die Triebfeder und die Hauptsache aller menschlichen Handlungen hinstellte und den Menschen selbst lediglich als ein Product der äußeren Verhältnisse auffaßte. Sein Beispiel indeß sollte nicht so leicht verloren gehen; in den vierziger Jahren bildeten sich in den nördlichen Grenzdistricten von Lancashire und Yorkshire kleine Genossenschaften ärmlicher, durch schlimme Zeiten und Arbeitseinstellung heruntergekommener Fabrikarbeiter, die sich in Erinnerung an das Vorbild Owen’s zusammenthaten, um einige wirthschaftliche Vortheile durch ihre Vereinigung zu erzielen. Diesen ersten und unvollkommenen Versuchen folgten bald größere Associationen von handwerksmäßigen Arbeitern zur Gründung eines Productionsgeschäftes mit fabrikmäßigem Betriebe.

Mit reißender Schnelligkeit vermehrte sich die Zahl dieser Associationen, so daß im Jahre 1861 allein in England ohne Schottland 400 derartige Associationen mit 50–60,000 Mitgliedern, einem Capital von 2 Millionen und einem Umsatz von 6 Millionen Pfd. Sterl. bestanden. Um einen Begriff von den Vortheilen dieser Genossenschaften zu gewinnen, braucht man nur die Geschichte der unter dem Namen der Pioniers von Rochdale bekannten Genossenschaft zu lesen. Dieselbe fing 1844 mit 20 Mitgliedern und einem mühsam beschafften Capital von 28 Pfd. Sterl. an und macht gegenwärtig mit 3000 Mitgliedern und 35,000 Pfd. Sterl. Capital ein jährliches Geschäft von 160,000 Pfd. Sterl. mit einem Reingewinn von 16,000 Pfd. Sterl. Ihren Bedarf an Kleidungsstücken aller Art liefern ihre eigenen Werkstätten. Außerdem wurden hauptsächlich von den Mitgliedern dieser Genossenschaft zwei gewissermaßen Zweiggeschäfte begründet. Erstlich eine Getreidemühle, welche 1852 mit 250 Mitgliedern, einem Capital von 2000 Pfd. Sterl., einem Geschäftsbetrieb von 7000 Pfd. Sterl. und einem Gewinn von 360 Pfd. Sterl. anfing und 1860 schon 500 Mitglieder, 21,000 Pfd. Sterl. Capital, einen Betrieb von 102,000 Pfd. Sterl., einen Gewinn von 10,000 Pfd. Sterl. und eine Dividende von 10 Pfd. Sterl. aufweisen konnte. Noch beachtenswerther in mancher Beziehung ist das zweite Unternehmen, eine Spinnerei und Weberei, welche 1858 mit einem Capital von 5.500 Pfd. Sterl. begründet, seit October 1860 mit den vorzüglichsten Dampfmaschinen und Einrichtungen aller Art, welche 50,000 Pfd. Sterl. erforderten, arbeitet und 1600 Mitglieder zählt. Dazu kommt noch neuerdings die Gründung einer „Baugesellschaft“ zur Erwerbung eigenen Grundbesitzes und eigener Häuser für die Mitglieder, mit einem Actiencapital von 80,000 Pfd. Sterl.

Auch in Deutschland beschäftigte die sociale Frage vielfach die Arbeiter und besonders die kleinen Handwerker, welche sich durch den raschen Aufschwung des Fabrikwesens in ihrer Existenz bedroht und einer unvermeidlichen Armuth preisgegeben sahen, indem sie der drückenden Macht des Capitals keinen Widerstand zu leisten vermochten. Gegen diese Uebel suchte man vergebens Schutz durch die Wiederbelebung des alten Zunftwesens und durch Beschränkung der überhand nehmenden Concurrenz. Das Jahr 1848 brachte nicht nur eine politische Revolution, sondern eine eben so große sociale Erschwerung hervor. Vorzugsweise suchte der Handwerkerstand durch Petitionen und Deputationen bei den gesetzgebenden Versammlungen in Frankfurt und Berlin einen Einfluß auf die Gesetzgebung auszuüben und seine nicht immer gerechtfertigten Forderungen und Wünsche durchzusetzen; was ihm auch zum Theil durch den ausgeübten Druck und die Macht der Verhältnisse, nicht eben zu seinem Vortheile und zum Nutzen des Ganzen, gelang. Bald erwiesen sich aber diese sogenannten Verbesserungen, wie das in der Natur der Sache lag, als eitles Flickwerk und keineswegs ausreichend, die Hülfe und das Eingreifen des Staates als unzulänglich, da keine Gesetzgebung der Welt im Stande ist, Todtes zu beleben und den unaufhaltsamen Gang der Geschichte, der rücksichtslos fortschreitet, zu hemmen.

Bald erkannten die Einsichtsvolleren unter den Handwerkern und Arbeitern ihren begangenen Irrthum und suchten Rettung und Hülfe in sich selbst und in der freien Genossenschaft mit ihren unerschöpflichen Hülfsquellen. Zugleich fand sich auch der rechte [519] Mann im rechten Augenblick, und dieser war kein anderer als Schulze-Delitzsch, der, mit einem wunderbaren Organisationstalent begabt, die erste deutsche Genossenschaft in seiner Vaterstadt Delitzsch in’s Leben rief. Als Deputirter der ehemaligen preußischen Nationalversammlung mit Leitung der zur Ordnung der Handwerker-Verhältnisse eingesetzten Fachcommission betraut, hatte er sich mit großer Vorliebe dieser Aufgabe gewidmet und dabei einen reichen Schatz von Erfahrungen gesammelt, so daß er besonders seit seinem Austritt aus dem Staatsdienste die Förderung des Associationswesens in Deutschland als seine eigentliche Lebensaufgabe betrachtete. Er ging dabei mit weiser Vorsicht zu Werke, indem er die gegebenen Verhältnisse, die eigenthümliche Natur des deutschen Volkes und des deutschen Handwerkers im Besonderen berücksichtigte und, von kleinen Anfängen ausgehend, durch langsames, aber stetiges und sicheres Vorschreiten immer größere und bedeutendere Resultate erzielte. Im Gegensatze zu den glänzenden Theorien der französischen Socialisten und ihren großartigen, aber auf Sand gebauten Experimenten schlug er den einzig richtigen Weg der praktischen Selbsthülfe nach englischem Vorbilde ein, ohne darum der einseitigen Richtung und der ausschließlich materiellen Praxis der Engländer zu huldigen. Auch hier bewährte sich der echt deutsche Geist des Gründers der deutschen Genossenschaften, indem ein ideeller Hauch seine Schöpfung durchzieht, Theorie und Praxis, Gedanke und That in ihm harmonisch verschmelzen. Das von ihm befolgte System beruhte auf der alten Erfahrung, daß mehrere kleine Capitale zusammen ein großes geben, das den Betheiligten auch alle Vortheile des großen Capitals gewährt, billigere Beschaffung der nöthigen Rohstoffe, der Lebensmittel, des Handwerkszeugs, der Maschinen, der ganzen Production und des Vertriebes. Zu diesem Zwecke bildeten sich, meist auf seine Veranlassung, die verschiedenen Genossenschaften, Consum-, Vorschuß- und Productionsvereine, welche durch gemeinsame Kräfte in kurzer Zeit einen bedeutenden Gewinn erzielten und den Nutzen der Association auf diesem Gebiete praktisch darthaten.

Nach Schulze’s Ansicht aber, die er in seiner Schrift: „Die arbeitenden Classen und das Associationswesen in Deutschland“ niedergelegt hat, mußte gerade in Deutschland mit einer gewissen Zurückhaltung vorgegangen werden, „weil die Zerstörung der früheren Gewerbsorganisationen noch nicht vollständig genug erfolgt, der Platz noch nicht von allen Trümmern so weit geräumt ist, um mit völliger Freiheit zum Neubau zu schreiten.“ „Insbesondere hat man mit dem den Deutschen eigenthümlichen Hange zur Absonderung zu kämpfen, der in der Isolirung die Selbstständigkeit opfern zu müssen meint, obschon die letztere der Mehrheit nach nur durch jenen innigen Anschluß der Einzelnen aneinander gerettet werden kann.“ Von diesen Ansichten ausgehend hat Schulze ein ineinandergreifendes System von Associationen und gewerkschaftlichen Genossenschaften geschaffen, mit denen die von ihm ebenfalls ins Leben gerufenen Creditverbände, Vorschußvereine und Darlehnscassen Hand in Hand gehn. Gegenwärtig bestehen durch seine Bemühungen zweitausend derartige Associationen in Deutschland, wovon jedoch die Hälfte sich auf Bildungszwecke beschränkt, von den übrigen kommen ungefähr 500–550 auf die Vorschuß- und Creditvereine, gegen 200 auf Rohstoff-Vereine, 50 auf Vereine zur gemeinsamen Magazinirung und Production, gegen 100 auf Consum- und ebenfalls 100 auf Krankenpflege-Vereine.

Um einen Begriff von Umsatz und Verkehr derselben zu geben, entnehmen wir den regelmäßig erscheinenden Jahresberichten folgende Zahlen. Von ungefähr 360 Vorschußvereinen, welche bereits im Jahre 1861 thätig waren, hatten 188 ihren speciellen Jahresabschluß eingereicht. Obschon darunter 46 sich befanden, deren Abschluß ihr erstes Jahr betraf, wo der Verkehr natürlich noch ganz unentwickelt ist und sich in sehr kleinen Verhältnissen bewegt, so ergab sich an gewährten baaren Vorschüssen, einschließlich der Prolongationen, meist auf die Frist von 3, manchmal auch bis 6 Monaten, die ungeheure Summe von 1,876,009 Thlr. Die Migliederzahl belief sich bei 188 Vereinen auf 48,760, der Nettogeschäftsgewinn für das Jahr 1861 zusammen auf 78,055 Thlr. Rechnet man zu diesen Resultaten noch die fehlenden Berichte der übrigen 140–150 Vorschußvereine, so dürfte sich der Umsatz dieser allerdings am meisten entwickelten Classe der Genossenschaften auf mindestens 20 Millionen Thaler, der eigene Fond auf 1 Million bis 1,200,000, die fremden Anlehen auf 5½ Million schätzen lassen. Aehnliche großartige Erfolge haben aber auch die übrigen Consum- und Productionsvereine aufzuweisen.

Diese bewundernswürdigen Resultate hat aber der deutsche Arbeiter hauptsächlich der rastlosen Thätigkeit und dem außerordentlichen Organisationstalent dieses Mannes zu verdanken, der sein ganzes Leben, seine unermüdliche, vor keinem Hinderniß zurückschreckende Energie dem deutschen Volke und vor Allen den deutschen Arbeitern und Handwerkern widmet. Ein neues Zeugniß dafür legt der deutsche Arbeiterkatechismus, jene im Berliner Arbeitervereine von ihm gehaltenen Reden, ab. Sie geben in musterhaft populärer Sprache die Grundzüge seines Systems und enthalten einen wahren Schatz volkswirthschaftlicher Grundsätze und Erfahrungen. Hier werden das Wesen und die Natur der Arbeit und des Capitals mit wunderbarer Klarheit dargethan, die Arbeiter über ihre wahren Interessen belehrt, die alten Vorurtheile gegen die Concurrenz und das Maschinenwesen schlagend beseitigt, die Mittel angegeben, um den in ihrem Gefolge nothwendig auftretenden Uebelständen zu begegnen, das Selbstgefühl und das Selbstvertrauen des Arbeiters gehoben und gestärkt, die Vortheile der Selbsthülfe durch die Genossenschaften theoretisch und praktisch nachgewiesen und die ausschweifenden Forderungen und phantastischen Träume moderner Volksbeglücker und falscher Voksfreunde nach Gebühr gewürdigt und ihr verderbliches Treiben schonungslos aufgedeckt.

Vor Allem aber kann nicht genug hervorgehoben werden, daß Schulze-Delitzsch im eigentlichen Sinne ein Apostel des Friedens, der Gesittung und der Bildung ist, die er als die Hauptfactoren zur Hebung und Verbesserung der deutschen Arbeiter betrachtet. Im Gegensatz zu den socialen Agitatoren stellt er nicht das Capital der Arbeit feindlich gegenüber; für ihn „ist die Fähigkeit der Capitalansammlung bei den Menschen gleichbedeutend mit ihrer Culturfähigkeit, indem vom Wachsthum dieses geistigen und sachlichen Capitals der Menschheit jeder Fortschritt in der Civilisation, die allmähliche Vervollkommnung menschlicher Zustände in intellectueller, sittlicher und wirthschaftlicher Hinsicht notwendig bedingt wird.“ So sucht er die Kluft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen unablässig auszufüllen, indem er Arbeit und Capital als gleichberechtigte Mächte hinstellt, die allein durch ihre innige Verbindung und gegenseitige Förderung sich und der Menschheit durch Lösung der socialen Frage dienen. Beide können aber zu diesem Resultate nur durch die politische und bürgerliche Freiheit gelangen, welche die Lebensluft des Staates und der Gesellschaft ist. Daher geht bei Schulze-Delitzsch seine sociale Thätigkeit mit seinem politischen Wirken Hand in Hand, und sein Wahlspruch lauter: Kein socialer Fortschritt ohne politische Freiheit, keine politische Freiheit ohne socialen Fortschritt.



Der deutsche Schützenzug nach La Chaux de Fonds.
Von Wilhelm Jungermann.
2.

Die Bürger von La Chaux de Fonds haben fast mehr als ihr Möglichstes gethan, um den Festort festlich herzurichten. Bis in die kleinsten Gassen hinein war der Ort mit Blumengewinden, mit Fahnen, Bildern, venetianischen Masten, Triumphbogen und Inschriften geschmückt; am Gebäude der Uhrenausstellung war uns Deutschen zu Ehren Schiller’s lebensgroßes Bild angebracht, und auf dem Denkmal Leopold Robert’s, des berühmten Malers aus La Chaux de Fonds, war dessen Bildsäule in Gyps aufgestellt. Hier hoch oben im Jura auf dem dürren Kalkboden wachsen der Blumen nur wenige, da hieß es also die Blumen selbst gemacht, wenn die Häuser festlich geschmückt werden sollten. Und so haben denn die Frauen und Mädchen von La Chaux de Fonds viele Monate – manche sagten sogar ein Jahr – lang mit unermüdlicher Geduld Blumen und wieder

[520] Blumen für den Schmuck ihrer Häuser gemacht, damit der Festort doch auch wirklich festlich und freundlich aussehe.

Was so alle einzelnen Bewohner für den Schmuck der Häuser und Straßen, das hatte der Festausschuß für die würdige Herrichtung des Festplatzes gethan. La Chaux de Fonds liegt in der muldenförmigen Vertiefung des höchsten Kammes eines der Jurarücken. Zu beiden Seiten ziehen sich die Wände dieses Bergeinschnittes theils als Wiesen-, theils als Waldgrund in angenehmer, ja in malerischer Abwechslung nach den Höhen des Rückens hinauf, während auf der Grundfläche in der Richtung von Ost nach West der Ort selbst angesiedelt ist. Unmittelbar nun am Westende von La Chaux de Fonds und in nächster Nähe der beiden Bahnhöfe war der sehr geräumige Festplatz angelegt. Links, wenn man auf der großen Hauptstraße Leopold Robert heraustrat, befand sich die weite, geschmackvoll gebaute Festhalle mit den Küchengebäuden; dem Eingangsbogen gegenüber, am Westende des Festplatzes, stand der in maurischem Styl gehaltene Gabentempel, und rechts vom Eingang, der Festhalle gegenüber, waren die 120 Schießstände mit den dazu gehörigen Localitäten errichtet, so daß also die Flugbahn der Schießstände sich die nördliche Seitenwand des Thalbeckens hinauf zog. Auch das Polizei-, Telegraphen-, Post-, Schreib- und Zeitungsbüreau befand sich auf der den Schießständen angewiesenen Nordseite des Festplatzes.

Wenn ich mir das Bild des Frankfurter Festplatzes vergegenwärtige, so drängt sich meiner Erinnerung zunächst immer die schimmernd weiße Bildsäule der Germania auf, wie sie von der Spitze des Gabentempels mitten im Festplatz die Eintretenden grüßte und dem Sieger den Eichenkranz entgegenreichte. Die Schweizer hatten es unterlassen, einen so herrlichen decorativen Schmuck ihrem Gabentempel und dem Festplatz überhaupt zu verleihen. Statt der Helvetia grüßte die eidgenössische Bundesfahne von der Höhe des Gabentempels, unter dieser wiegten sich die deutsche und die italienische Flagge – die Ehrengaben der Schützenvereine beider Nationen – und vom Gesims des Daches hinab flatterten die Fahnen der eben beim Fest anwesenden Cantone. Die Fahnen der einzelnen Städte hatten nicht den Ehrenplatz auf dem Gabentempel, sie wurden in der Festhalle zu beiden Seiten des Mittelschiffes angebracht. Im Uebrigen aber war die Festhalle stattlich, geräumig und geschmackvoll hergerichtet; war sie doch nur wenig kleiner als die Frankfurter, so daß 4000 Personen bequem darin Platz finden konnten. Ueber dem Haupteingang war das Bild der Helvetia angebracht, darüber wehten die Fahnen der verschiedenen großen Culturnationen und zu alleroberst zwei deutsche Fahnen; die Fahnen der übrigen Völker hingen etwas tiefer, auch waren sie nur einfach, nicht doppelt wie die deutsche Fahne, vertreten. Dieselbe Auszeichnung war unserer Nation an der westlichen Seitenwand der Festhalle zu Theil geworden. Dort befand sich das Bild von Arnold von Winkelried – wie gegenüber an der östlichen Seitenwand das Bild von Wilhelm Tell mit seinem Knaben – und rechts und links davon war das schweizerische Wappen und der deutsche Reichsadler angebracht. Etwas tiefer aber hingen die Wappen von Bremen, Frankfurt und Hamburg und abermals das weiße schweizerische Kreuz im rothen Feld. Die Wappen der übrigen Nationen waren nicht angebracht. Rings um die Festhalle her, an der äußeren Seite unterhalb des Daches, standen die Namen der ruhmvollsten Schlachttage der Schweizer, wie Sempach, Murten, St. Jakob, und auch von der äußeren Wand der Schießstände unter den Haupteingängen grüßten ernst die einfachen und doch so viel sagenden Namen: St. Jakob, Morgarten, Murten, Grandson, gleichsam als stille Mahnung für die Schützen, daß sie der Thaten der Väter sich würdig erweisen sollten. Ringsum am Festplatz endlich, soweit nur der Raum reichen mochte, zogen sich die Buden der Krämer, der Carroussels, der Wachsfigurencabinete, Menageriebesitzer und all der sonstigen Speculanten auf die Neugierde und Schaulust der großen Menge.

Das ist in flüchtigen Umrissen ein Bild des Schauplatzes, auf dem sich das großartigste und bewegteste Schützenfest abspielte, das die Schweiz bis dahin gesehen. Die Farben zu diesen Umrissen lieferte vor allem ein fortwährend heiterer sonniger Himmel und sodann das bunte Menschengewühl, das sich Tag für Tag über den Festplatz und durch die Festhalle ergoß. So laut und geräuschvoll wie in Frankfurt war freilich das Treiben auf dem Festplatze nicht. Es bewegten sich zwar im Laufe eines jeden Tages immerhin 20,000 Menschen in den Schießständen, in der Halle, in den Buden und auf dem freien Platz, allein so ganz aus sich heraus geht der Schweizer nicht so leicht wie wir Deutschen; das hatten wir schon in Basel bei unserem Einzug und in La Chaux de Fonds beim Festzug bemerkt. Der Schweizer ist eben im öffentlichen Auftreten viel zurückhaltender, er ist mit einem Wort ernsthafter als wir. Erst im Laufe des Festes, als immer mehr Cantone angezogen kamen, als den Schützen mit den gewonnenen Bechern auch der Muth und der Frohsinn wuchs, kam das Treiben auf dem Festplatz und namentlich in der Festhalle so recht in den gemächlichen Fluß. Viel trugen dazu die Aufzüge der Schützen bei, die mit ihren Preisbechern von dem Gabentempel, meist auf den Schultern ihrer Cameraden, unter Vorantritt eines Musikcorps in die Festhalle gezogen kamen. Da entschädigte man sich dann für alle Geduld, Aufregung und Entsagung, die in den Schießständen geübt worden war. „Zwanzig Flaschen Champagner!“ commandirten einmal zwei Züricher, die so mit ihren Bechern in die Festhalle kamen, und dies Quantum wurde auch richtig unter Jubel und Standreden und hellem Gesang leergetrunken. Noch großartiger aber war der Champagnerfluß, als die Italiener mit ihren ersten sieben Bechern und die Deutschen mit ihren sechs Bechern sich legitimiren konnten. Des Jubels der Italiener, Schweizer und Deutschen wollte kein Ende werden, deutsche, französische und italienische Reden klangen durcheinander, und auf zehn Schritt im Umkreis war Niemand vor den Champagnergläsern der überseligen Schützen sicher.

Besondere Vorbereitungen zur Belebung des Festes waren vom Comité von La Chaux de Fonds erst für die letzten Tage getroffen worden, nämlich die bengalische Beleuchtung des Sees von Brenets und ein glänzendes Feuerwerk. Beide Festlichkeiten galten offenbar den Mitgliedern des Bundesrathes, die zuletzt noch erschienen waren. Im Uebrigen überließ man das festliche Treiben ganz sich selbst und der eigenen Wucht an Leben und Lebenslust, die einer gleichzeitig versammelten Menge von mehreren Tausenden immer innewohnt. Nur die Musikcorps schmetterten unablässig in der Festhalle ihre Tänze und Lieder, und die deutsch-schweizerischen Gesangvereine von La Chaux de Fonds und Locle trugen wiederholt des Abends ihre vierstimmigen deutschen Lieder vor. Bei der reichen, zuletzt fast ermüdenden Abwechselung, welche die Aufzüge der einzelnen ankommenden und abziehenden Cantone Tag für Tag boten, waren besondere Vorbereitungen auch wahrlich nicht nöthig. Ein jeder Canton zog feierlich mit Musik vor dem Gabentempel auf, überreichte dort dem Comité seine Fahne, wurde in aller Form willkommen geheißen und, wenn er wieder abzog, in derselben feierlichen Weise wieder entlassen. Da gab es denn den ganzen Tag zu sehen und zu hören genug. Aber auch zu trinken gab es genug, denn der Ehrentrunk kreiste selbstverständlich in den silbernen Schützenbechern bei jeder dieser Ceremonien. Einen besondern Humor entwickelten bei diesen an sich ganz ernsten Begrüßungsacten die Schaffhausener und die Berner, die Schaffhausener mit ihrem Steinbock, die Berner mit ihrem „Mutz“. Der „Mutz“ ist der Berner Bär, von dem die Stadt ihren Namen hat und den sie im Wappen führt. Der „Mutz“, der ja noch bis auf diesen Tag in mehreren Exemplaren im Stadtgraben von Bern auf Staatskosten gefüttert wird, ist aber im ganzen Canton Bern, ja in der ganzen Schweiz, eine populäre Figur geworden. Man hat den „Mutz“ gern, ja die Berner heißen und nennen sich selbst, ihrem Bären zu lieb, „Mutze“. Ohne den „Mutz“ nimmt die Stadt Bern nicht leicht einen öffentlichen Act vor, und so muß denn auch seit alter Zeit der „Mutz“ mit marschiren, wenn die Berner Schützen auf das eidgenössische Bundesschießen ziehen. Natürlich ist es kein Bär, den sie mitnehmen, sondern nur ein Bärenfell. Das Fleisch und Blut darin gehört irgend einem muthwilligen jungen Berner an, dem es nicht darauf ankommt, einmal zu Ehren seiner Vaterstadt einen Tag lang in ein Bärenfell eingenäht zu sein. So kam denn auch diesmal der „Mutz“ mit angezogen. Er ging dem Zug voran dicht hinter der Musik, die Zähne grimmig fletschend, sonst aber ganz friedlich und gemüthlich mit Schwert und Hellebarde und einer breiten schwarz-rothen Feldbinde angethan. Wir Deutsche haben über diesen alten gesunden Volkswitz laut und herzlich mitlachen müssen, und wirklich war es ein komisches Bild, den „Mutz“, der mit seinen Bärenaugen denn doch seiner Sache nicht so ganz sicher war, vor dem Zuge der Berner gravitätisch ein hertrollen zu sehen. Es gehört schon Etwas dazu, sich bei [521] 20 Grad Réaumur einen ganzen Tag lang in ein Bärenfell einnähen zu lassen, aber die Berner thun es schon. „Er hat aber auch einen guten Durst gehabt,“ meinte ein Berner zu mir, als ich ihn fragte, ob denn der „Mutz“ wirklich schon in Bern in sein Fell gesteckt worden sei, und ich glaube es gern. Ganz dieselbe Figur wie der „Mutz“ bei den Bernern spielt nun der Steinbock bei den Schaffhausenern. Auch sie führen ihn im Wappen, und überall, wo sie als Schaffhausener auftreten, muß der Steinbock mit dabei sein. Nach dem Aufzug der Berner begrüßten sich „Mutz“ und der Steinbock ganz feierlich und würdig in der Festhalle, ja sie stiegen auch zusammen auf die Rednerbühne hinauf und umarmten sich vor der versammelten Eidgenossenschaft. Auch nahm „Mutz“ bei dieser Gelegenheit seinen Bärenkopf ab und hielt eine Rede. Ich habe aber vor dem Lärm und den Beifallssalven kein Wort von dieser Bärenrede verstehen können. Das ist Schweizer Volkswitz, und es steckt wirklich viel urwüchsige Komik darin.

„Wort und That dem Vaterland!“ stand in goldenen Buchstaben an der Rednerbühue in der Festhalle. Von den Begrüßungsreden der einzelnen Cantone habe ich schon gesprochen. Vierundzwanzig Cantone waren zu begrüßen und mit feierlicher Rede wieder zu entlassen. Dazu kamen noch die Reden in der Festhalle während des gemeinschaftlichen Mittagsmahles, und daran schlossen sich dann die anderen Redner und zwar in ununterbrochener Reihe. Wir Deutschen haben uns dabei sehr bescheiden verhalten. Außer einigen Herren aus Bremen, Dr. Plater, Consul von Heymann und Kaufmann Buff, brachte, wie ich mir denke, zu Ehren des internationalen Festes und der deutschen Wissenschaftlichkeit, Dr. Karl Grün aus Frankfurt in fünf Sprachen, französisch, italienisch, englisch, vlämisch und deutsch, ein Hoch der Verbrüderung aller freien Völker.

Die Schweizer haben uns wiederholt versichert, daß ein so schönes und bewegtes Fest, wie das zu La Chaux de Fonds, die Schweiz noch nicht gesehen, selbst die großen Feste zu Basel, Bern und Zürich könnten sich weitaus nicht damit messen. Und wenn das die Schweizer selbst sagen, so muß es wohl wahr sein, und wenn ich die bescheidene Summe von 15000 Francs, welche im Jahre 1824 von Festpreisen für das erste Bundesschießen zu Aarau ausgeworfen war, mit der stolzen Summe von 375,582 Francs vergleiche, welche diesmal der Opfermuth der Schweizer im In- und Auslande aufgebracht hatte, so beweist dieser bis dahin ganz unerhörte Reichthum des Gabentempels allerdings genug für das hochgespannte Interesse der ganzen Schweiz an dem diesjährigen Feste. Ein gutes Theil der Bewegtheit des Festes war indeß, und zwar ebenfalls nach dem eigenen Geständniß der Schweizer, auch durch die Anwesenheit der deutschen und italienischen Schützen veranlaßt. Erst als wir am Dienstag, den 14. Juli, und nach uns die Italiener die deutsche und italienische Fahne, diese beiden Ehrengaben für die schweizerischen Schützenvereine, am Gabentempel übergeben hatten, erst als in diesen beiden feierlichen Acten die große Idee des Bundes aller freien Völker ihren sichtbaren Ausdruck gefunden hatte, fingen die Wellen der eigentlich festlichen Stimmung höher und höher zu gehen an, und der Geist der Weihe zog auf den Festplatz ein. Es war ein einfaches schwarz-roth-goldenes Banner, das wir im festlichen Zug von dem Neuen Platze aus am Gabentempel den Schweizern entgegenbrachten, und ein tiefer Ernst lagerte sich auf die Gesichter Aller, als Dr. Heineke aus Bremen, unser Sprecher, in seiner Rede die Worte sprach: „Hoffen wir zu Gott, daß es nie wieder eine Zeit geben werde, wo diese Farben sich auf der deutschen Erde nicht zeigen dürfen. Aber wenn dem doch noch einmal so sein sollte, dann haben wir es den treuesten Händen zur Obhut übertragen, damit es doch einen Fleck auf Erden gebe, wo wir uns wieder sammeln können um das geliebte Banner, von wo wir den Kampf wieder aufnehmen können, wo wir ihn gelassen haben, und siegreich durchführen, denn wir lassen ihn nicht.“ „Die Freiheit ist es, die uns trotz aller Verschiedenheit zu Brüdern macht. Ihr verdanken wir unsern Wohlstand und unser Glück.“ Das waren die Worte, die Präsident Odermatt bei der Uebergabe der schweizerischen Bundesfahne gesprochen. Wie klangen die tief empfundenen und leider wahren Worte unseres deutschen Sprechers so schmerzlich zweifelhaft gegenüber dem stolzen Wort der Schweizers! „Was ist des Deutschen Vaterland?“ fragen wir noch immer in Deutschland; „Rufst du, mein Vaterland,“ singt voll frischen Vertrauens, voll freudigen Opfermuthes der Schweizer. In dieser Verschiedenheit der Empfindungen und Anschauungen beider Nationen liegt der ganze Verlauf der Geschichte Beider beschlossen. Wann werden auch wir einmal aufhören nach unserem Vaterland zu suchen und zu fragen? wann werden wir endlich einmal aus frischer Brust die Worte singen: „Rufst du, mein Vaterland?“

Im vorigen Jahre zu Frankfurt schlossen wir den Bund mit dem Schweizer-Volke ab, nicht einen Bund besiegelt und verbrieft, wie ihn die Diplomaten abschließen, sondern einen Bund der Herzen, der freien Zuneigung. Wir wußten beide wohl, gegen was dieser Bund gerichtet war, aber es wurde in Frankfurt noch nicht gesagt. In La Chaux de Fonds ist es mit klaren Worten gesagt worden: „Zwischen den Alpen und den Juragebirge“ – hieß es in der Antwortrede von Obristlieutenant Girard aus La Chaux de Fonds – „ist eine Gasse, die nach Ulm, nach Wien, nach Jena führen könnte. Nun, diese Gasse wollen wir hüten, durch diese Gasse soll kein Unbefugter, wer er auch sein möge, durchgehen können. Diese Gasse und unser Gebiet bis an seine äußersten Grenzen wollen wir bis auf den letzten Mann vertheidigen. Ihr habt begriffen, deutsche Schützen, welchen Nutzen ein solches Vorgehen der Schweiz für Deutschland haben könnte, darum Verbrüderung unter uns.“ Das war ein offenes kräftiges Freundeswort, und ein lautes Bravo antwortete darauf aus unseren Reihen.

Aber noch eine zweite Freundeshand reichte sich uns bei dieser Gelegenheit entgegen. Legnani aus Mailand, ein bekannter italienischer Patriot, der schon im Jahre 1860 auf der Versammlung des Nationalvereins zu Coburg für die Freundschaft des deutschen und des italienischen Volkes gewirkt hatte, ergriff zum Schlusse ebenfalls das Wort; er war schon vom Neuen Platze aus Arm in Arm mit Sigmund Müller aus Frankfurt in unserem Zuge gegangen. „Wir haben vergessen“ – sagte er – „was im vorigen Jahre bei Gelegenheit des Frankfurter Schützenfestes zwischen uns vorgefallen, und hier auf’s Neue tragen wir Euch deutschen Schützen unsere Sympathien entgegen. Auf den Bund Italiens und des freien Deutschland! Und deß zum Zeichen will ich hier den Vorsitzenden des Frankfurter Festausschusses vor Euer Aller Augen umarmen.“ Gesagt gethan, und beide Männer lagen sich mit brüderlichem Kusse in den Armen. Nicht immer geräth eine solche Scene; aber hier, unter dem Eindrucke der vorausgegangenen ernsten Worte, gerieth sie. Ein ungeheuerer Beifallssturm erhob sich, und tief bewegt schüttelten wir uns mit den Italienern die Hände. Am Nachmittag, als die Italiener ihre Fahne übergaben, ging ein großer Theil von uns ebenfalls Arm in Arm mit ihnen im Zuge, und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien fanden abermals in der Rede ihren Ausdruck. Das letzte Siegel aber wurde am Donnerstag Abend beigedrückt, als uns die Italiener zu einem Banket in das Gasthaus zur Lilie eingeladen hatte. Hier erst konnte ich vollständig übersehen, mit welcher Umsicht die Italiener ihren Schützenzug in die Schweiz vorgesehen hatten. Gewiß waren Schützen bei ihnen und zwar mit die besten, die sie überhaupt hatten, und die haben denn auch alle zehn ihren Becher herausgeschossen. Aber außer den Schützen waren auch noch ebensoviele andere Leute da, die nicht nur des Schießens willen gekommen waren: zwei Mitglieder beider Kammern, der schweizerische Consul in Neapel, Barone, Marquis, Grafen, genug eine auserwählte, vornehme Gesellschaft, und als vornehmstes Mitglied – wenn es anders wahr ist, was mir die Italiener wiederholt versicherten – Prinz Amadeus von Italien, der zweite Sohn Victor Emanuel’s. Mit liebenswürdigem Anstand hieß uns der Sprecher der Italiener, Banquier Fenzi aus Florenz, Mitglied der zweiten Kammer, willkommen, als wir, neun Mann an der Zahl, sechs Frankfurter, ein Bremer, ein Berliner und ein Kurhesse, nach 9 Uhr im Saale der Lilie erschienen. Auch einige schweizerische Berühmtheiten trafen wir, mehrere Mitglieder des Centralcomité’s und außer diesen: James Fazy, den langjährigen Beherrscher von Genf, ferner Major de Brunner aus Frauenfeld, den berühmten Vertheidiger Venedigs gegen die Oesterreicher im Jahre 1849, und General Burnand, den Chef der gesammten eidgenössischen Artillerie. Der Champagner löste bald die Zungen, und Rede auf Rede folgte, um es noch einmal und immer wieder auszusprechen, daß keine Feindschaft bestehen solle zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien, daß diese drei Nationen sich die Hand reichen sollten für Förderung der Freiheit, des Friedens, der allgemeinen großen Culturaufgaben. „Auf Wiedersehen in Bremen! auf Wiedersehen beim Bundesschießen in Mailand!“ das waren die letzten Worte, mit denen wir tief in der Nacht von den Italienern schieden. Ob es [522] wahr werden wird, ob es uns die Baiern und Tyroler nicht abermals unmöglich machen werden, die Italiener als unsere Gäste in Bremen bei uns zu sehen? Ich will den warmen Eindruck, den das herzliche Entgegenkommen der Italiener auf uns Alle gemacht, nicht weiter stören durch diese unerquickliche und vorerst noch unzeitige Frage.

Es begegnet uns Deutschen nicht allzuoft in der Fremde, daß wir auf Landsleute stoßen, die wirklich noch Deutsche sein wollen oder die sich gar mit Stolz Deutsche nennen. So tief uns das schmerzen muß und so wenig wir es rechtfertigen können, so viele Umstände sind doch leider überall und regelmäßig vorhanden, die uns dies begreiflich erscheinen lassen. Wer schützt uns denn im fernen Ausland, wer vertritt denn unser Recht? Ein deutscher Gesandter oder Generalconsul, eine deutsche Flotte? Es ist ein unglückliches Thema, auf das ich mit diesen Fragen gerathe, lassen wir es lieber fallen. Wir hatten es uns nicht versehen, als wir in die welsche Schweiz, hoch oben in den Jura, gezogen kamen, auf so zahlreiche und so gut deutsch gesinnte Deutsche zu treffen, und doppelt überrascht waren wir, als wir erfuhren, daß schon seit Jahren ein großer, über die ganze Schweiz verbreiteter Bund der deutschen Arbeiter besteht, der nicht blos seine Mitglieder in Krankheiten und aus der Wanderschaft unterstützt, nicht blos ihre Ausbildung und deutsches Turnen und deutschen Gesang fördert, sondern der auch wesentlich mit die Erhaltung und Hebung der nationalen deutschen Gesinnung als Zweck verfolgt. So angenehm uns indeß diese Begegnung mit deutschen Landsleuten berührte, so hoch erfreut waren diese selbst über unseren Besuch. Es war ja zum ersten Mal, daß sie deutschen Schützen in der Schweiz begegneten, deutschen Schützen, die noch dazu wie wir im Triumph durch das Schweizerland gefahren waren und als hochgeehrte Gäste der Schweizer hier auftraten. Unsere Ehre war ja aber auch ihre Ehre, und so viel Herzlichkeit unsere Landsleute in La Chaux de Fonds und Locle im persönlichen Verkehr mit uns entfalteten, so viel Stolz auf sich, auf uns, aus unsere gemeinsame Eigenschaft als Deutsche blickte doch auch überall mit durch. Wie freuete uns dieser Stolz – hat doch der Deutsche im Auslande gar so selten Veranlassung, auf sich als Deutscher stolz zu sein! Schon für den Dienstag Abend hatte uns der Gesangverein „Frohsinn“ zu sich in sein Local eingeladen, für Mittwoch baten uns die deutschen Arbeiter in Locle um unseren Besuch, und am Donnerstag Abend, bevor wir zu den Italienern gingen, brachten wir wenigstens eine kurze Zeit noch bei dem deutschen Arbeiterbildungsvereine in La Chaux de Fonds zu.

Hier war es auch, wo wir – es waren leider nur etwa 20 von uns da – zur Erinnerung an den deutschen Schützenzug in den Jura 138 Francs für die Vervollständigung der Bibliothek des Vereins stifteten. Es ist dies zwar nur eine kleine Summe, aber sie reicht doch gerade aus, um ein weiteres festes Band zwischen den Deutschen in La Chaux de Fonds und uns zu knüpfen – dafür bürgt uns die ungeheuchelte Dankbarkeit unserer Landsleute – und um ein gutes Beispiel zu geben für alle noch kommenden deutschen Schützenzüge in die Schweiz oder ein anderes Land. Unvergeßlich wird uns Allen der Mittwoch Nachmittag sein, den wir als die Gäste der deutschen Arbeiter in Locle dort und am Wasserfall des Doubs verlebten. Leider waren es unser nur wenige, die sich dabei betheiligten; viele waren bereits abgereist, die meisten waren schon in den vorhergehenden Tagen am Doubsfall gewesen, und die Schützen waren nicht aus den Schießständen zu bringen. Aber so wenige es unser auch waren, die Herzlichkeit unserer Arbeiter konnte nicht größer sein, wenn auch wir Alle zusammen gekommen wären. Mit frischem vierstimmigem Gesang zogen wir, eine deutsche und eine schweizerische Fahne voran, nach dem reizenden stillen See von Brenets und zum Wasserfall des Doubs. Dann ging es zu Schiff über den See zurück und das Echo der steilen Kalkwände, die rings den See umgeben, trug uns in dreifachem Wiederhall die deutschen Lieder zurück, die wir in die warme Abendluft hinaussangen. Nie habe ich die nationale Bedeutung des deutschen Gesanges so lebhaft empfunden, als hier im Gebiete der welschen Zunge. Die Macht des deutschen Liedes ist hier so mächtig, daß in den selbstständigen Gesangvereinen stets Deutsche und deutsche Schweizer gemeinschaftliche Mitglieder sind, und es bestehen doch dieser Vereine gegen acht im welschen Jura. Ein Deutscher ist es, der sie sämmtlich gegründet hat und zum Theil leitet: Herr Ch. Taucher in La Chaux de Fonds, ein Sohn der Stadt Weimar. Ihm sei an dieser Stelle nochmals dafür unser Dank gesagt.

Den deutschen Arbeitern in Locle und La Chaux de Fonds gegenüber waren wir blos Deutsche, den Schweizern gegenüber aber waren wir zugleich deutsche Schützen, und es ist daher wohl an der Zeit, daß ich endlich auch ein Wort über das Schießen sage. Ein Schützenfest in der Schweiz ist wirklich und wahrhaftig ein Schützenfest, das sind unsere Ohren gewahr worden. Mit dem Schlage sechs des Morgens ging das Schießen an und dauerte, bis des Abends der verhängnißvolle Kanonenschuß ein unwillkommenes Ende machte. Mit solcher Beharrlichkeit und Leidenschaft ist in Frankfurt nicht geschossen worden und wird wohl schwerlich auch schon in Bremen geschossen werden, denn bei den Schweizern ist nicht blos ein Schütze auf den andern eifersüchtig, sondern auch eine Stadt und ein Canton auf den andern. Es ist ein Ruhm nicht blos für den Schützen, der beste Schütze der Eidgenossenschaft zu sein, sondern auch für seine Vaterstadt, den besten Schützen groß gezogen zu haben. Daher denn auch in den ersten Tagen des Schießens der tolle Eifer in den Schießständen: es galt ja den ersten Becher im Feldkehr oder im Standkehr und die ersten beiden Becher im Standkehr und Feldkehr zusammen zu haben. Da wurde keine Mühe und kein Geld gescheut; mit fünf, ja mit sechs Büchsen standen die Schützenkönige da und schossen und schossen wieder, während die Lader das frisch abgeschossene Gewehr wieder luden, und so kam es denn auch richtig dahin, daß noch im Laufe des Sonntag-Nachmittags fünf Becher im Feldkehr und vier Becher im Standkehr beschossen waren. Johannes Staub aus Wädenschwyl (Canton Zürich) und Knecht aus Glarus waren die ersten im Feldkehr, dann folgten Knuty aus Basel, Streiff-Luchsinger aus Glarus und Vautier aus Genf, während Groß aus Brunnen, Hotz aus Fellanden, Bänziger aus Wald und Féquier aus Fleurier die ersten Becher im Standkehr davon trugen. Das Beste leistete jedoch Streiff-Luchsinger, vielleicht der beste, jedenfalls der schönste Schütze der Schweiz; er hatte schon am Montag Morgen auch den Becher im Standkehr geschossen. Unsere deutschen Schützen nahmen sich etwas mehr die Zeit, sie schossen aber auch meist nur aus Einer Büchse und luden sie sich selbst, wie sich das auch für den rechten und echten Schützen geziemt. Aber doch trug Ludwig Bermeittinger aus Schopfheim in Baden – und zwar mit Einer Büchse, die er selbst geladen, wie dies auch rühmend bei der Uebergabe hervorgehoben wurde – schon am Montag als erster deutscher Schütze seinen Becher im Standkehr davon, während freilich erst am Dienstag Paul Tritscheller aus Lenzkirch in Baden den ersten deutschen Becher im Feldkehr gewann.

Im Ganzen haben überhaupt unsere Landsleute mit Ehren und mit Glück geschossen: etwa 20 bis 25 Becher nahmen sie wohl mit nach Hause, und von den Festscheiben auch wohl manchen hübschen Preis. Constantin de Leuw aus Düsseldorf, der bekannte Schützenkönig am Niederrhein, hat auf die Festscheibe drei capitale Schüsse gethan und einen Becher im Feldkehr und statt des Bechers im Standkehr eine goldene Uhr herausgeschossen. Freilich sind Manchem die Becher sehr theuer gekommen, und mehr als einer hat wohl 300, 400, auch 500 Francs dafür gezahlt, aber die deutsche Ehre ist doch auch in den Schießständen gerettet worden. Das ist aber auch um so mehr anzuerkennen, als die Bedingungen für das Schießen bei den Schweizern viel schwieriger sind, als seither bei uns. Das Blättchen in den Standkehrscheiben war nur halb so groß (7½ Centimeter) als in Frankfurt, und die Zielfläche in den Feldkehrscheiben – wobei außerdem jeder Treffschuß nur einen Punkt zählte – war nur etwa so breit als die Brustfläche auf den Frankfurter Feldscheiben. Freilich galten dann auch wieder im Standkehr schon 25 Nummern einen Becher – in Frankfurt 36 – und im Feldkehr waren nur 80 Punkte erforderlich – in Frankfurt 120 –; aber wenn das Treffen selbst so erschwert ist, daß man kaum treffen kann, so will es nicht viel sagen, wenn statt 36 oder 120 nur 25 oder 80 Treffer gefordert werden. Das sind also Fingerzeige für unsere Schützen, die sie wohl zu beachten haben werden, wenn sie es den Schweizern überhaupt noch gleich zu thun gedenken, und das steht doch wohl zu hoffen.

Sehr reich – ein glänzender Beweis für den Opfersinn der Schweizer – war der Gabentempel geschmückt. Aus China und Brasilien, aus Californien und Rußland, aus London und Paris hatten die Schweizer ihre Gaben zum Bundesschießen gesandt; die freien Schweizer hören eben nie auf Schweizer zu sein, sie mögen [523] so weit und so lange entfernt sind wie sie wollen, ihnen verjährt ihr Heimathschein nicht und ihr Staatsbürgerrecht geht ihnen nie verloren. Aber auch die Schweizer im Inland hatten den Gabentempel reich bedacht, so daß es nicht weniger als 565 Preise waren. Die beiden höchsten, nämlich je 6000 Francs, waren vom schweizerischen Bundesrath und von der Regierung des Cantons Neuenburg gestiftet, der niedrigste Preis, von einer kleinen Schützengesellschaft herrührend, waren 6 Francs. Die höchsten Preise, die überhaupt gewonnen werden konnten, waren den beiden Scheiben „Vaterland“ im Standkehr und Feldkehr zugetheilt. Sie konnten nur von Schweizern gewonnen werden und hatten beide einen Werth von 2800 Francs. Der eine von diesen beiden höchsten Preisen bestand in Gold- und Silberbarren von Schweizern in Schanghai, der andere bestand in 2000 Francs in baar und einem silbernen Becher von Schweizern in Rio de Janeiro sowie in mehreren Flaschen Wein und in Cigarren aus der Schweiz selbst.

Unter den Gaben selbst befanden sich nicht so viele und nicht so schöne Kunstwerke wie in Frankfurt, dagegen mehr Geldpreise. Gaben, wie das Trinkhorn des Nationalvereins und des Herzogs Ernst von Coburg, oder der Elfenbeinbecher der Stadt Wien, oder die Fruchtschale der preußischen Fortschrittspartei habe ich in La Chaux de Fonds nicht gesehen. Doch befanden sich auch einzelne sehr schöne Kunstsachen dort, so: eine silberne Bierkanne mit zwei Bechern und einem Teller (1500 Francs an Werth) von den Schweizern in Paris; eine silberne Vase, das Ehrengeschenk der Direction des italienischen Nationalschießens zu Turin (1200 Francs an Werth), der silberne Candelaber, der Becher, ein Gemskopf auf Rehbockstangen ruhend, und eine Carasine von Krystall mit silbernem Rebenlaub und goldenen Trauben (zusammen im Werte von 1725 Francs) von dem Schützenverein zu Frankfurt. Sehr reich war auch die Gabe der Freimaurerloge in La Chaux de Fonds, ein silbernes Besteck im Werth von 1200 Francs; sehr praktisch waren die 39 Ordonnanzstutzen und die zahllosen goldenen und silbernen Uhren; sehr ansprechend, wenigstens für uns Deutsche, war ein Geldpreis von 400 Francs, gestiftet von „vier preußischen Fortschrittsmännern“.

Schon am Mittwoch Morgen gingen wohl an hundert von unseren Leuten fort, um in den savoyischen oder den Alpen des Berner Oberlandes sich auch ein wenig umzusehen; fast eben so viele folgten am Donnerstag und Freitag, und mich selbst litt es in dem Lärm und Gewühl des Festes nicht länger als bis zum Sonnabend. Wir alle sind geschieden voll Dank gegen die gastliche freie Schweiz, voll Dank auch gegen die liebenswürdigen Bewohner von La Chaux de Fonds, voll hoher Achtung vor der sittlichen Tüchtigkeit einer Nation, die uns, ohne von einer Polizei überwacht zu sein, in Mäßigkeit, Friedfertigkeit und in ihrem freien Anstand während des ganzen Verlaufes des Festes ein glänzendes Beispiel von öffentlicher Volkserziehung gegeben hat. Für den erhebendsten Tag aber, den wir auf unserer Schützenfahrt in der Schweiz erlebt, haben wir schon in La Chaux de Fonds öffentlich unseren Dank ausgesprochen, und dessen Wortlaut mag denn auch hier den Schluß meines Berichtes bilden:

„Abschied der deutschen Schützen.

Liebe Eidgenossen! Ihr habt den deutschen Schützen einen Empfang bereitet, der uns tief gerührt hat, der unvergeßlich für alle Theilnehmer, ehrend für unser ganzes Vaterland ist. Glich doch unsere Fahrt durch Euer schönes Land mehr einem Triumphzug Euerer eigenen Söhne! Nehmt dafür unseren heißesten Dank. Ihr habt uns Euer Herz erschlossen, wie nie ein Volk! Möge der in der Festesfreude geschlossene Freundschaftsbund dauern für alle Zeit. Auf Wiedersehen in Bremen!“




Nach der Schlacht bei Großbeeren.

Am Morgen des 23. August 1813 befand sich ganz Berlin in einer aufgeregten, bangen Stimmung. Die Arbeit ruhte, leer waren die meisten Werkstätten, die Läden zum Theil geschlossen. Trotz des umwölkten Himmels und des in einzelnen Schauern niederströmenden Regens gingen auf den Straßen Tausende unruhig auf und ab, blieben stehen, sprachen mit einander, Männer mit Männern, die sich nie zuvorgesehen, allein die Besorgniß, welche aus Aller Augen blickte, hatte schnell ein Band zwischen ihnen geknüpft. Kanonendonner hallte bald einzeln, bald in schneller Aufeinanderfolge dumpf und erschütternd in der Stadt wieder. Er war der Grund der aufgeregten, bangen Stimmung. Nur wenige Stunden von Berlin entfernt hatte ein Kampf begonnen, von dessen Ausgange das Geschick der ganzen Stadt abhing, abgesehen von den unberechenbaren weiteren Folgen, welche ein Sieg oder eine Niederlage für den ganzen Krieg mit sich bringen mußte.

Mit 80,000 Mann, die zum größten Theil aus Sachsen bestanden, war Oudinot gegen Berlin herangerückt, um nach Napoleon’s Plan: Berlin, Breslau und Prag zu nehmen und zu besetzen, mit der preußischen Hauptstadt den Anfang zu machen. Ihm gegenüber stand das Nordheer der Verbündeten unter dem Befehle Bernadotte’s, des Kronprinzen von Schweden. Eine Schlacht zwischen beiden Heeren hatte begonnen.

Großes stand auf dem Spiele. Für Preußen vielleicht Alles. Mit der festen Zuversicht, in Berlin einzuziehen und an der ihnen in mancher Beziehung verhaßten Stadt Rache zu üben, waren die Franzosen und Sachsen herangerückt. Noch war Napoleon’s Kriegsglück und Ruhm zu wenig erschüttert, das Selbstbewußtsein des deutschen Volkes war noch zu jung, um ohne Besorgniß ein solches Heer, wie es Oudinot führte, herannahen zu sehen. Dazu kam noch, daß man auf Bernadotte mit wenig Vertrauen blickte. Er hielt fest an dem von den preußischen, österreichischen, russischen Herrschern und ihm bestimmten allgemeinen Kriegsplane, welcher so lange ein Zurückweichen des angegriffenen Armeekorps vorschrieb, bis es den drei verbündeten Heeren gelungen sei, sich möglichst zu vereinigen und den französischen Herrscher mit Uebermacht zu erdrücken. Er zögerte deshalb, mit einem Würfel Alles auf das Spiel zu setzen, und mochte vielleicht auch für seine Schweden allzu besorgt sein. Dazu kam noch, daß er bei der Berathung über einen Rückzüg nach Norden und das Aufgeben Berlins auf Bülow’s Einrede ausgerufen hatte: „Was ist Berlin? eine Stadt, nichts weiter!“ Die Aufregung der Berliner, welche zunächst um das Geschick ihrer Stadt besorgt waren, war dadurch noch gesteigert. Zwar hatte Bernadotte nachher die Versicherung gegeben, daß die Stadt vom Feinde nichts zu besorgen habe, doch man vertraute derselben nicht mehr.

Wenn der Kampf für das Nordheer unglücklich ausfiel, oder wenn dasselbe zurückgedrängt die Stadt aufgeben mußte, so war sie verloren. Zwar waren während des Waffenstillstandes auf dem Kreuzberge und am Schafgraben Schanzen aufgeworfen, und hierher eilte an diesem Tage mancher entschlossene Landstürmer, unter ihnen Buttmann und Schleiermacher mit ihren „weithin schattenden Lanzen“, Fichte mit zwei Paar Pistolen in dem breiten Ledergürtel und Iffland mit dem Helm und dem Brustharnisch der Jungfrau von Orleans angethan, um die Stadt zu vertheidigen; allein jedem nur etwas unbefangenen Auge konnte es nicht entgehen, daß durch jene Schanzen das Geschick Berlins nicht abgewandt, ja vielleicht nicht einmal um eine Stunde verzögert werden konnte.

Die Unruhe und Angst wuchs mit jeder Minute. Versprengte und Verwundete aus dem Gefechte, welches am Tage zuvor bei Blankenfelde stattgefunden hatte, kamen in die Stadt und steigerten die Aufregung, weil man sie anfangs für Flüchtlinge aus dem an diesem Tage stattgefundenem Kampfe hielt. Der Donner der Geschütze schien bald näher zu kommen, bald sich mehr zu entfernen, und mit ihm wechselten Furcht und Hoffnung. Lange, angstvolle Minuten und Stunden schwanden hin. Vergebens suchte man von den Thürmen und dem Kreuzberge südlich von der Stadt durch Fernrohre etwas über den Fortgang der Schlacht zu erfahren.

Schon am Morgen, sobald der erste Donner der Kanonen gehört war, hatten sich Manche zu Roß und Wagen nach der Gegend begeben, aus welcher der Schall der Geschütze kam, um so schnell als möglich Auskunft über den Fortgang und den Erfolg der Schlacht zu erhalten. Von ihnen kamen am Nachmittage einige zurück, oder von ihnen abgesandte Boten, welche die Nachricht brachten, daß der Hauptkampf um und in der Nähe des Dorfes Großbeeren stattfinde, daß die preußischen Truppen im Vortheil seien und namentlich die Landwehr unter Bülow Wunder der Tapferkeit thue. Der Sieg sei fast schon gesichert. Boten auf

[524] Boten kamen, welche die Nachricht bestätigten und neues Erfreuliches berichteten.

Jubel erfüllte mit einem Male die ganze Stadt. Ein anderer Geist war in ihr eingekehrt. Alle, welche bis zu dieser Stunde mit Angst für Hab’ und Gut und Weib und Kind erfüllt waren, vergaßen jede Furcht. Begeisterung war in Aller Herzen entflammt. Viel hatten die Meisten hingegeben, um die Freiwilligen zu dem heiligen Kriege auszurüsten, sie dachten jetzt nicht an sich, sondern nur an die, welche in dieser Stunde für sie Blut und Leben zum Opfer brachten – das Letzte gaben Manche für sie hin.

Wagen mit Brod, Fleisch, Wein, mit Nahrungsmitteln und Erquickungen aller Art, soviel nur aufzutreiben war, wurden fortgeschickt zum Kampfplatze, um die Kämpfenden zu stärken und den Verwundeten Hülfe zu bringen. Spitäler wurden in aller Eile errichtet, um die Verwundeten aufzunehmen, Frauenvereine bildeten sich, die Blessirten zu pflegen, die ganze Stadt, alle Hände regten sich, Jeder wollte in der Hoffnung des Sieges das Seinige dazu beitragen, den Siegenden beizustehen und ihnen ein Zeichen der Freude zu senden.

Es waren Stunden der freudigen Begeisterung und der Opferbereitwilligkeit, wie sie selten schöner vorgekommen und wie sie nur in einer Zeit möglich sind, in der ein solcher Geist das ganze Volk belebt, wie der ist, welcher das Jahr 1813 als groß und heilig in der deutschen Geschichte hingestellt hat.

Während dieser freudigen und begeisterten Vorgänge in Berlin wurde auf dem Schlachtfelde noch immer mit größter Erbitterung gekämpft. Als die Franzosen Nachmittags 5 Uhr das Dorf Großbeeren genommen und in Brand gesteckt hatten, glaubten sie den Sieg für sich schon gesichert, und sächsische Lieutenants vom Regiment Riesemauschel riefen von der Zinne der Windmühle auf dem Windmühlenhügel, welche sie erklettert hatten, den Berlinerinnen schon spottende Grüße für das Nachtquartier am folgenden Tage zu. Der General v. Bülow hatte indeß die Gefahr der Lage erkannt und mit dem Degen in der Hand den Brigade-Generälen den ferneren Angriffs- und Schlachtplan dictirt. Zwar hatte Bernadotte durch seinen Adjutanten den schriftlichen Befehl überbringen lassen: „General von Bülow hat nach dem Empfang dieses sofort den Rückzug nach Berlin anzutreten und auf den Weinbergen[1] Position zu nehmen,“ allein Bülow hatte unwillig gerufen: „Vor uns liegt die Entscheidung!“ und war mit seinem Generalstabe fortgesprengt, um seine Truppen gegen den Feind zu führen.

Im Sturmschritt gingen sie auf das brennende Dorf los. Mit lautem Hurrah! stürzte sich vor Allem das erste neumärkische Landwehrregiment in den Kampf und auf die Batterien des Feindes. Der Regen strömte noch fortwährend und hinderte, von den Schießwaffen Gebrauch zu machen. Das Bajonnet wurde gebraucht. Mit äußerster Hartnäckigkeit vertheidigten die Sachsen das Dorf und die Batterien, die Landwehr drängte sie zurück, stach die Kanoniere neben den Kanonen nieder, und als das Bajonnet unter den in dichten Haufen zusammengedrängten sächsischen Gardegrenadieren nicht schnell genug aufräumte, griff die Landwehr zum Kolben und schlug darauf los. „Det fluscht better!“ riefen die Pommern, und die Kolbenschläge drangen durch die hohen Bärenmützen und die krebsrothen Röcke mit gelben Kragen der sächsischen Grenadiere. In kurzer Zeit war das Dorf in den Händen der Preußen.

Mit Gewalt drängten die Preußen, den erlangten Vortheil benutzend, sofort nach und stürmten auf den Feind los. Mit größter Tapferkeit wurde auf beiden Seiten gekämpft, allein mehr und mehr neigte sich der Sieg den Preußen zu, und nach zweistündigem, äußerst heftigem Kampfe war der Sieg entschieden und die Schlacht bei Großbeeren von den Preußen gewonnen.

Endlos war der Jubel, als endlich die sichere Siegesnachricht nach Berlin gelangte. Die ganze Aufregung und Spannung löste sich in namenlose Freude auf. Gerettet war die Stadt, der Feind vollständig geschlagen und auf der Flucht, ein Ruhmesreis mehr war von dem Haupte des französischen Herrschers gerissen.

Manche eilten trotz der hereinbrechenden Nacht noch auf das Schlachtfeld, um die Sieger zu begrüßen. Kaum war aber der Morgen des 24. August hereingebrochen, so zog es in dichten Zügen aus der Stadt gen Großbeeren, Männer und Frauen, Greise und Knaben, alle in lautem Jubel trotz des Regens und fast Jeder mit irgend einer Gabe oder Erfrischung für die Sieger oder die Verwundeten. Wagen folgten auf Wagen, entweder mit Lebensmitteln beladen oder bereit, die Verwundeten nach der Stadt zu holen, wo die sorgsamste Pflege sie erwartete. Das ganze Volk war sich bewußt, daß es das Seinige zum Siege beigetragen hatte, denn mit Freuden hatte es die größten Opfer gebracht.

Und groß waren die Errungenschaften des Sieges. Angesichts der Stadt war der bereits frohlockende und siegesgewisse Feind niedergeworfen und in die Flucht geschlagen. 26 Kanonen, 60 Munitionswagen und 2000 Gefangene hatte er in den Händen der Sieger zurück lassen müssen, und 1800 Mann seiner Tnppen lagen todt oder schwer verwundet auf dem Schlachtfelde. Und wichtiger vielleicht noch als diese Errungenschaften war die moralische Kräftigung, welche das preußische Heer durch diesen Sieg gewann. Seit Jahren hatte Napoleon über kriegsgeübte Heere fast immer den Sieg davon getragen, seine Heere unterlagen Männern gegenüber, die mit Begeisterung und Todesverachtung für ihr Vaterland kämpften. Die Landwehr, welche von vielen Officieren der Linie bis dahin mit vornehmem, verächtlichem Achselzucken behandelt worden war, hatte zum ersten Male sich in rühmlichster Weise bewährt, und offen ertheilte ihr Bülow in dem nach der Schlacht erlassenen Tagesbefehle das verdiente Lob.

Man fühlte in dem freudigen Siegesrausche den bitteren Mißklang nicht, der darin lag, daß in dieser Schlacht Deutsche gegen Deutsche im erbittertsten Kampfe standen; man übersah es fast, daß selbst in jenen Tagen der hereingebrochenen Freiheit der Censor in Berlin – ein Geh. Legationsrath Renfner – es wagte, Bülow’s Siegsberichten die Druckerlaubniß in den Zeitungen zu versagen, – den Sieg konnte er trotz alledem nicht schmälern und Bülow die Palme desselben nicht entreißen.

Unleugbar ist es, daß Bülow der Held dieser Schlacht war, daß er sie selbst gegen die Befehle des Kronprinzen von Schweden gewonnen, der sich nicht an der Schlacht betheiligte und erst zum Schluß derselben den Preußen einige Truppen zur Unterstützung sandte. Ebenso unleugbar ist es aber auch, daß Bernadotte’s Verhalten von den Meisten verkannt und falsch gedeutet wurde. Bülow hatte im Vertrauen auf die gute Sache kühn die Schlacht gewagt, und das Glück war ihm zur Seite gestanden, Bernadotte durfte nicht Alles auf eine im Erfolge noch sehr unsichere Schlacht setzen, er war ein zu gereifter und erfahrener Feldherr dazu.

Was wäre aus Berlin, aus der ganzen Nordarmee, vielleicht aus ganz Preußen geworden, wenn die Schlacht bei Großbeeren unglücklich endete? In dieser einen Frage liegt die ganze Rechtfertigung für Bernadotte’s Verhalten.

Unser Bild bedarf kaum ein Wort zur Erklärung. Eine Scene am Morgen nach der Schlacht auf dem Friedhofe zu Großbeeren stellt es dar. Von Berlin war bereits zahlreiche Hülfe für die Verwundeten angelangt. Auf dem Kirchhofe war am erbittertsten gekämpft worden. Er war von einer hohen Mauer von Feldsteinen umgeben, hatte also eine schwache Befestigung. Anfangs wurde er durch die pommersche Landwehr vertheidigt, sie mußte weichen, als das ganze Dorf durch die Sachsen unter Reynier erobert wurde. Nach hartnäckigem Kampfe gewannen die Preußen mit dem Dorfe auch den Kirchhof wieder.

Eine große Anzahl der im Dorfe Gefallenen wurde auf dem Friedhofe beerdigt. Neben ihren Gebeinen erhebt sich, rings von Ketten umgeben, ein Denkmal mit dem Adler und dem Landwehrkreuze oben darauf.

Sicherlich werden am 23. August dieses Jahres Viele von Berlin nach der Stätte wallfahrten, wo vor fünfzig Jahren über Berlins, ja über Preußens Geschick entschieden wurde. Sie werden der Männer gedenken, welche dort Alles gewagt für ihr Vaterland und welche den Sieg mit ihrem Leben erkauft haben, sie werden sich des Jubels erinnern, welcher ganz Berlin nach der Schlacht bei Großbeeren erfüllte; mögen sie aber auch des Geistes eingedenk sein, der damals das ganze Volk, vom Bettler bis zur Krone hinauf, erfüllte, jenes großen, heiligen Freiheitsgeistes, und mögen sie sich dann zurufen: „So war es vor fünfzig Jahren, und wie ist es jetzt!“

Fr. Fr.

[525]

Eine Scene am Morgen nach der Schlacht auf dem Friedhofe von Großbeeren.

[526]
Die unsichtbare Geistermusik.
Ein Graudenzer Erlebniß
Von Ludwig Walesrode.
(Schluß.)

Spät am Nachmittage war, wie angeordnet, die für mich bestimmte Casematte in vollständige Bereitschaft gesetzt und wurde auch sofort von mir bezogen. Ihre Lage war keine besonders anmuthige. Während die anderen Oberthor-Casematten in gebrochener Linie Halbfront gegen die durch die Festung führende Alleestraße und vor Allem gegen die Morgensonne machten, lag die meinige im rechten Winkel an die hohe finstere Mauer der Festungskehle gelehnt, gewissermaßen im ewigen Schattenreiche. Selbst wenn die Sonne bei ihrem scheinbaren Jahresgange um die Erde sich in diese Ecke der Festung Graudenz verirrte, vermochte sie doch keinen ihrer goldenen Strahlen durch die niedrig am Boden gelegenen tief in die Mauer gebrochenen Fenster in das Innere dieser Casematte zu senden. Darum war diese so kalt und feucht, daß ich selbst während des heißen Sommers von 1846 genöthigt war, dieselbe heizen zu lassen. Auch das offene Latrinengewölbe in meiner nächsten Nachbarschaft, vor welchem in den Morgenstunden die Baugefangenen die widerlichsten aller öffentlichen Arbeiten verrichten mußten, war gerade nicht im Stande, das ästhetische Behagen an diesem Platze zu steigern. Das Einzige, was einigermaßen Ersatz für diese unerquickliche Lage bot, waren die schräg zulaufenden Musketen-Schießscharten in der Befestigungsmauer, durch welche ich in schmalen perspektivischen Streifen eine Aussicht über den Weichselstrom, seine Kempen und das gegenüberliegende Ufer bis an den weitblauenden Horizont hatte. Ein solches noch so knauserig zugemessenes Stückchen Aussicht ins Freie ist von unschätzbarem Werthe für den auf Jahr und Tag auf den engen, von hohen Wällen umschlossenen Festungsraum beschränkten Gefangenen. – Der Zutritt zu meiner eigentlichen Casemattenstube ging über einen schmalen Hausflur, von welchem gerade vor meiner Stube eine doppelte mit Eisenüberwurf und Vorhängeschlössern versicherte Fallthüre in den „Mordkeller“ hinabführte, wie das tiefe unter der Erde ausgemauerte Gewölbe genannt wurde, welches den Zugang zu den labyrinthischen Gängen des nach den Außenwerken der Festung führenden Minensystems bildete. Also zu der schauerlichen Geistergeschichte auch noch der Mordkeller. Es war als ob ich in die Einleitung eines haarsträubenden Schauerromans, verlegt von Gottfried Basse in Quedlinburg oder von Fürst in Nordhausen, einträte. – Die zu ebener Erde liegende, durch eine doppelte Bohlendecke von dem oberen Gewölbe getrennte Casematte hatte die Dimensionen eines Pferdestalles für mindestens 10 Gespanne. Selbst an den hellsten Tagen herrschte in dem Hintergrunde derselben in der Nähe des Ofens ununterbrochene Dämmerung. Sonst war sie, den Umständen nach, nicht unfreundlich. Die Fenster waren ohne die sonst übliche Eisenvergitterung und die Wände al fresco mit einer gelben Tünche bepinselt, die mit dem Gelb der Baugefangenen-Uniform auf’s Innigste harmonirte. Außerdem hatte mein in seiner Sorgfalt und Aufmerksamkeit für mich unermüdlicher Freund W. aus der Stadt durch Hinaufsendung einiger Möbeln, wie eines Lehnstuhles, Schreibtisches, Spiegels und Bettes, die Casematte so behaglich als möglich ausstatten lassen.

So war ich denn richtig auf ein volles Jahr ding- und bombenfest untergebracht. In sentimentaler Anwandlung hätte ich mir wohl auch provisorisch eine bis zu Thränen rührende Leichenrede halten können. Ruhte ich doch nunmehr, wie’s wenigen Sterblichen bei Lebzeiten beschieden ist, unter feuchtem Rasen, der mit dem nächsten Frühling gar grün und blumig über mir aufsprießen sollte; und auch eine Kuh sollte da oben über meinem irdischen Leichnam grasen, wie eine solche über dem verfallenen Staube des Königsberger Humoristen Hippel auf dem Armenkirchhof zu Königsberg graste, bis vor kurzem dort dem immer mehr um sich greifenden Festungsbau auch das grüne Fleckchen eines rührenden Friedhofhumors zum Opfer fiel.

Vor Allem aber wollte mir die Geschichte meines Vorgängers, des polnischen Grafen, gar nicht aus dem Sinn. Denn es ist ein Anderes, so etwas flüchtig zu hören oder zu lesen und unter den Zerstreuungen des geräuschvollen Tages zu vergessen, ein Anderes in enger Räumlichkeit auf den Boden einer solchen Schauergeschichte gebannt zu sein, gewissermaßen in einen lebendigen Zusammenhang mit einer unheimlichen Tradition zu treten. Wer könnte ruhig in einem Bette schlafen, von dem er wüßte, daß ein Mensch seinen letzten schweren Todesseufzer darin verröchelt? Wer möchte auf einer ehemaligen Richtstätte die Comforts und die geselligen Freuden der Häuslichkeit genießen?

Ich hatte mir Licht angezündet, das meine langgestreckte Casematte nur zweifelhaft erhellte, und an der Lectüre der „Instruction für die Königlichen Festungscommandanten wegen Behandlung der Festungsstubengefangenen“ vom Jahre 1826, unterzeichnet: Kriegsminister v. Hacke, suchte ich mich von all den Eindrücken zu ernüchtern, mit welchen ohnedies die erste im Gefängniß anbrechende Nacht den Neuling umfängt. Die damalige bureaukratische Weisheit des preußischen Staates hatte zum Ueberflusse auch das Leben des Gefangenen in ein dichtes Netz von Paragraphen eingesponnen. Ich hatte für eine volle Stunde genug zu lesen. Aber unwillkürlich schweifte mein Blick oft von der Instruction an den Wänden umher, als zöge ihn ein gewisses Etwas, die besagten Blutspuren an denselben zu entdecken, und in der That schien’s fast, als träten blutige Flecken unter der frischen gelben Tünche hervor. – Endlich war’s, nach Paragraphus so und so viel der Instruction, vorschriftsmäßige Zeit, das Licht auszulöschen und zu Bett zu gehen.

In der Festung war’s still geworden bis zur Lautlosigkeit. Nur von Viertelstunde zu Viertelstunde hörte man das sogenannte „lange Werda?“, das sich die Wachen als Controle ihrer Wachsamkeit ringsum zurufen müssen, eine Art von gedehntem Hahnenschrei, das R im „Werrrrrrrrda?“ so rollend, daß unsere Schauspielerinnen und Sängerinnen sich desselben für das so zungenschlagfertig schnarrende Bühnen-R als treffliche Uebung bedienen könnten.

Auch von den Außenwerken trug der Wind den Wachtruf in die Festung hinein, so daß man ihn wie in einem zwanzigfachen Echo verhallen hörte. Dieses „Werda?“ in seiner eintönigen Regelmäßigkeit hatte etwas Einschläferndes wie der Pendelschlag einer Uhr oder wie das Rauschen des Mühlrades. Nochmals zog Alles, was ich am Tage erlebt und gehört, als Einleitung zu einem phantastisch bunten Traume durch die halbwachen Sinne. Da mit einem Mal streifte eine leise abgedämpfte Musik wie aus einer Wolke schwebend dicht über mein Lager hin, bald im leisen Pianissimo verhauchend hinsterbend, bald wieder in wunderbaren Modulationen anschwellend den ganzen Casemattenraum durchringend. – Anfangs glaubte ich wirklich zu träumen und willenlos dem Spiele meiner entfesselten Einbildungskraft hingegeben zu sein; aber der gerade von der Oberthorwache herschallende Anruf der Ronde, das Commandowort, das Klirren der Musketen der unter’s Gewehr tretenden Wache etc. weckte mich zum vollen Bewußtsein der Sinne.

Jetzt war’s wieder still geworden, man hörte nichts als das Rascheln des Windes in dem Geäste der Linden gegenüber, da – richtig – da klang’s wieder wunderbar geisterhaft bald in diesem bald in jenem Winkel der Casematte, schwebte es über meinem Haupte weg, verlor sich’s leise, kehrte es anschwellend hin und wieder. Es hörte sich meist an wie ein Streichquartett mit obligat concertirender Geige. Die Töne, wie sie so aus weiter jenseitiger Ferne klangen, und doch wiederum in nächster und unmittelbarer Nähe, hatten etwas geisterhaft Neckisches; man wurde an den muthwilligen Ariel mit seiner unsichtbar durch die Lüfte ziehenden Musik in Shakespeares „Sturm“ erinnert. – Hört man erst Töne, so bleiben auch die Melodien nicht aus. Alle meine musikalischen Reminiscenzen wurden wach gerufen. Bald glaubte ich ein Violinconcert von Mayseder, bald einen Satz aus einem Quartette von Beethoven, Onslow, Feska u. A. zu hören. Bald meinte ich wieder die chevaleresk galante Polonaise des Grafen Oginsky zu erkennen. Gesteh’ ich’s nur, ich fühlte die Schauer unheimlicher Geisternähe mich kalt durchrieseln; denn mein Herz ist so gläubig hingebend, wie nur eins in der Welt, und das Wunder ist sein liebstes Kind. Allein mein Kopf ist wiederum ein gar kühler Skeptiker, der dem gläubigen Herzen und dessen verzogenem Wunderkinde auch nicht das Geringste durchgehen läßt. Ich war fest entschlossen, meine bestochene Einbildungskraft zur Ordnung zu rufen und nicht eher [527] zu rasten, als bis ich dem Spuke seine geheimnißvolle Larve abgerissen. – So stand ich denn auf und zündete, trotz des Paragraphen X. der Instruction, Licht an – hatte ja auch die Instruction den Fall nicht vorgesehen, daß es auf der Festung spuken könnte.

Ich durchleuchtete jeden Winkel der Casematte, um den Schlüssel zu dem musikalischen Geheimnisse zu finden; allein die schwebende Musik schien förmlich mit mir zu spielen oder meiner zu spotten; sie war bald hie bald dort, nur da nicht, wo ich sie suchte. Nur kam’s mir vor, als ob’s in der Nähe des Ofens stärker tönte als an anderen Stellen. So erst entdeckte ich, was ich bei meinem abendlichen Einzuge in die Casematte übersehen: im Hintergrunde derselben unfern des Ofens eine Eichenthür. Sie war unverschlossen und nur eingeklinkt. Ich öffnete sie und trat in ein schwarz ausgeschlagenes Gemach, das bei näherer Besichtigung ganz so wie das bereits geschilderte Vorzimmer zur Niederthor-Casematte mit dichtem glänzendem Ruß an Decke und Wänden bekleidet war. Auch ließ der eigenthümlich muffige Ofenrußgeruch keinen Zweifel über die stoffliche Eigenschaft der Decoration aufkommen.

Es war eine förmliche Rauchkammer. Die Zugröhre meines Ofens mündete auf einen großen Heerd, der die ganze mit dem Wallprofile parallel laufende Wand einnahm und in dessen sogenanntem „Heerdmantel“, der unteren Schornsteinöffnung, trichterförmig auslief. – Es war mir gleich klar, daß hier der musikalische Spuk seine natürlich akustische Lösung finden müsse, wie die biblischen Wunder in Dinter’s Schullehrerbibel in den Anmerkungen zum Texte sich natürlich auflösen. Und wirklich klangen hier die Töne nicht nur unmittelbar mit stets wechselndem Crescendo und Decrescendo, sie wehten mich förmlich luftig an in den durch den Schornstein streifenden Windstößen; nur daß es jetzt meiner Einbildungskraft nicht mehr gelang, bestimmte Melodien heraus oder hinein zu hören. Doch immer tönte es ätherisch lieblich gleich den Accorden einer Aeolsharfe.

Ich stellte mich auf den Heerd und leuchtete mit dem Licht so hoch als möglich in den Schornstein hinein; da sah ich auch etwa drei Fuß über dem Heerdmantel fünf wie Saiten einer Lyra nebeneinander gespannte Eisenstäbe eines Rostes, durch den zweifelsohne die Gefangenen an Fluchtversuchen durch den Schornstein verhindert werden sollten. Das war in der That eine Aeolsharfe, auf welcher der in diesem Festungswinkel stets rege Zugwind durch den Schornstein spielte; der Heerdmantel bildete dazu eine allmählich sich erweiternde Schallöffnung von ausgezeichneter Resonanz, aus welcher die hervorflutenden Schallwellen durch die weiten Räume der Casematte schwammen und ebbend verhallten, oder sich an den eigenthümlich construirten Mauern brachen, oder endlich, wie aus unberechenbarer Ferne abgedämpft, in dem Ofen erklangen. Die technischen Aufschlüsse, die ich einige Tage später von einem liebenswürdigen Ingenieurofficier der Festung über den eigenthümlichen Bau der Cassemattenschornsteine erhielt, bestätigten nicht blos meine Erklärung des Phänomens, sondern bereicherten dieselbe noch um einige weitere akustische Momente. Ich erfuhr nämlich, daß der Schornstein in spiralen Windungen durch die Wallerde gezogen sich nach oben hin immer mehr verenge und daß die Höhlung desselben noch an mehreren Stellen von Eisenstäben unterbrochen wäre, die also als immer mehr sich verkürzende Saiten eine gar mannigfaltige Tonscala bildeten.

Als ich am andern Tage meiner freundlichen Nachbarin im „Zündloch“ mein erstes nächtliches Casemattenabenteuer und dessen Lösung mittheilte, war diese sichtlich über die letztere verstimmt. Und auch auf die meisten eingebürgerten Festungsbewohner machte meine Erzählung keinen günstigeren Eindruck. Ich hatte ihnen unbarmherzig ein Stück unheimlicher Poesie geraubt, an dem sie schon seit Jahren gehangen – das schauerliche Geisterwunder war ihnen lieber gewesen, als dessen physikalisch nüchterne Deutung. So geht es mit allen Erscheinungen des Aberglaubens, die sich heut zu Tage noch durch irgend ein überraschendes Phänomen der Gesellschaft bemächtigen; so geht es mit dem dogmatischen Aberglauben, der sich durch Jahrtausende hindurch von Geschlecht zu Geschlecht als Heilswahrheit vererbt hat. Das gläubige Gemüth läßt sich kein Jota davon rauben, weil es durch einen solchen Raub in seinem Innern zu verarmen fürchtet. Die rücksichtslose Herrschaft der Logik mit ihren kalten unbeugsamen Gesetzen erscheint den gläubig seligen Gefühlsmenschen als eine um so unerträglichere Tyrannei, als sie selbst durch dieselbe zum Denken gezwungen werden sollen.

Einen psychologisch interessanten Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Sage bietet auch noch der Umstand, daß die Sage von der unsichtbaren Geistermusik sich erst nach der schauerlichen Katastrophe mit dem Grafen J-sky bildete, obwohl die besagte Musik, seitdem die Festung Graudenz besteht, hätte gehört werden müssen. So auch hat das Volk gewiß von jeher seine Sagen gedichtet, indem es ein erlebtes, seinen Sinnen oder seiner Empfindung imponirendes Factum in das Reich des Uebersinnlichen und Dämonischen hinüber spielte; so wurde eine rohe Thatsache poetisch zur Tradition verklärt.

Das wären die Betrachtungen und Nutzanwendungen, die dieser harmlosen Erzählung auch in den Augen des Lesers vielleicht einiges Interesse verleihen könnten.

In Bezug auf mich habe ich schließlich hinzuzufügen, daß ich oft noch mit Vergnügen auf die ihres schauerlichen Ursprungs entkleidete „Geistermusik“ in stillen Gefängnißnächten gelauscht und daß es meiner Phantasie nicht schwer wurde, gar herrliche bekannte Tonschöpfungen aus derselben auch ferner herauszuhören.




Blätter und Blüthen.

Berliner Plaudereien. Die beiden ältesten Berliner Zeitungen sind die Vossische und Spenersche Zeitung, von dem Berliner Volkswitz „Tante Voß“ und „Onkel Spener“ getauft. Das Priviligium der Ersteren stammt aus dem Jahre 1721, während die Letztere am 30. Juni 1740 bei dem Buchhändler Ambrosius Haude erschien. Derselbe hatte Friedrich den Großen, als er noch Kronprinz war, heimlich und gegen den Willen seines strengen Vaters mit den neuesten Erzeugnissen der französischen Literatur versorgt und dafür zum Lohn die Concession zur Herausgabe einer neuen Zeitung erhalten. Der große König gewährte beiden Blättern eine angemessene Preßfreiheit, indem er bei Gelegenheit den noch jetzt beherzigenswerthen Grundsatz aufstellte: „Gazetten dürfen nicht genirt sein, wenn sie das Publicum interessiren sollen“. Während des siebenjährigen Krieges drohte den beiden Redacteuren der Berliner Zeitungen eine tragische Execution, indem ihnen von den Russen, welche die Residenz 1759 eingenommen hatten, 200 Stockprügel wegen vorangegangener Beleidigungen zugedacht waren. Die unglücklichen Zeitungsschreiber Krause und Kretschmer betheuerten vergebens ihre Unschuld, sie wurden ergriffen und verurtheilt, die eben so schmerzhafte als schimpfliche Strafe a posteriori zu erleiden. Nur den unablässigen Bemühungen des patriotischen Kaufmanns Gotskofsky gelang es endlich, den russischen General von Tottleben, der sich persönlich beleidigt fühlte, milder zu stimmen. Nach vielem Bitten brachte er es dahin, daß die beiden Verurtheilten ihre Strafe nur figürlich erlitten, indem sie auf dem Neumarkt durch eine Gasse von 200 mit Ruthen bewaffneter Soldaten geführt, darauf begnadigt, ihre Schriften aber durch den Henker verbrannt wurden. – Beide Zeitungen erschienen damals in Sedezformat nur dreimal wöchentlich und kosteten zwei Thaler für das ganze Jahr; einzelne Nummern wurden für 6 Pfennige verkauft. Die Zahl der Abonnenten und Leser war natürlich sehr beschränkt und betrug kaum so viel Hunderte wie jetzt Tausende.

Zu den Mitarbeitern der Vossischen Zeitung gehörte der berühmte Lessing, der als junger Mann „seinen Beruf verfehlt“ und Zeitungsschreiber geworden war. Mehrere Jahre lieferte er für das genannte Blatt verschiedene größere und kleinere Aufsätze meist kritischen Inhalts. Hier bildete er sich im Umgange mit Mendelssohn und Nikolai zu dem größten Kritiker Deutschlands und übte seine jugendliche Kraft, mit der er später als kritischer Hercules den Augiasstall der deutschen Literatur säuberte. Seine Einkünfte müssen nicht eben glänzend gewesen sein, denn er schrieb zu jener Zeit an seinen Vater: „Der Tisch bekümmert mich in Berlin am allerwenigsten. Ich kann für 1 Groschen 6 Pfennige eine starke Mahlzeit thun.“ Mit der eigentlichen Politik wollte er nichts zu thun haben, wie aus demselben Briefe hervorgeht, worin er unter Anderm meldet: „Der jüngere Mylius ist mit dem älteren Rüdiger (dem damaligen Besitzer der Vossischen Zeitung) zerfallen und schreibt also die Zeitungen nicht mehr. Ich bin mehr als einmal darum angegangen worden, sie an seiner Statt zu schreiben, wenn ich mit solchen politischen Kleinigkeiten meine Zeit zu verderben Lust gehabt hätte.“ – Durch einen merkwürdigen Zufall wurde später die Vossische Zeitung das Eigenthum der Lessing’schen Familie, deren Nachkommen sie noch in diesem Augenblick besitzen.

Unter den nachfolgenden Mitarbeitern der Vossischen Zeitung bemerken wir den Kriegsrath Müchler, den bekannten Anekdotensammler und unerschöpflichen Gelegellheitsdichter, der im hohen Alter erst vor wenigen Jahren gestorben ist. Er war die lebendige Chronik seiner Zeit, ein liebeswürdiger Erzähler aus vergangenen Tagen und eine allgemein bekannte Stadtfigur. An Popularität wurde er fast noch durch den nicht minder bekannten Rellstab übertroffen, welcher lange Zeit die Hauptstütze der Zeitung war. Als junger Mann hatte derselbe durch seinen Roman „die schöne Henriette“, eine gelungene Satire auf die berühmte Sängerin Henriette Sonntag und ihre Verehrer in Berlin, die größte Sensation [528] erregt. Von dem Aufsehen dieses Buches in der damaligen Zeit, wo sich das ganze Interesse in Deutschland um das Theater, um Schauspieler, Sänger und Tänzer drehte, kann man sich heut schwerlich noch einen Begriff machen. In allen Kreisen war von nichts Anderem als von der „schönen Henriette“ die Rede; die höchsten Personen, Staatsmänner und fremde Diplomaten, der russische und englische Gesandte in Berlin, betrachteten diese vorübergehende literarische Erscheinung als eine höchst wichtige Angelegenheit. Dem Verfasser, der trotz seiner Anonymität nicht verborgen blieb, wurde der Proceß wegen Beleidigung der angebeteten Sängerin gemacht und eine längere Festungsstrafe ihm für seine Verwegenheit zuerkannt. Aber das Buch hatte seinen Ruf begründet, und bald wurde Rellstab Mitarbeiter der Vossischen Zeitung und das kritische Orakel der Residenz. Kein Berliner wagte ein Urtheil auszusprechen, bevor nicht Rellstab das seinige abgegeben. Ueberall, im Theater, im Concertsaal, an allen öffentlichen Orten, bei jeder Festlichkeit erblickte man den „Unvermeidlichen“ mit dem gutmüthigen Gesichte, das durch einen militärischen Schnurrbart martialisch geziert wurde, und mit der behaglich kräftigen Figur. Man konnte förmlich an Zauberei glauben, da man ihm immer wieder begegnete, und es wurde in allem Ernst behauptet, daß er die Kunst besitze, an zwei verschiedenen Orten zu gleicher Zeit tu sein. An einem Abend konnte man ihn im Opernhause, bei Kroll und in der Singakademie erblicken, stets mit der rothledernen Brieftasche in der Hand. Rellstab besaß in der That bis kurz vor seinem Tode eine bewunderungswerthe Arbeitskraft; er schrieb eingehende Kritiken, Reisebilder, Weihnachtswanderungen, Notizen, Berichte und redigirte den Artikel über Frankeich für die Zeitung. Außerdem erschienen von ihm Romane, darunter der viel gelesene und bewunderte Roman „1818“, Novellen und Erzählungen für verschiedene Taschenbücher und Kalender, Schauspiele und Operntexte für die Bühne und eine Unzahl von kleineren Aufsätzen, Gelegenheitsgedichten etc. Nebenbei war er später Verwaltungsrath einer Eisenbahn und bekleidete noch manche andere Posten; auch ertheilte er, wenn auch nur ausnahmsweise, Unterricht im Gesang und Generalbaß, da er eine ausgezeichnete musikalische Bildung und gediegene Kenntnisse in dieser Kunst besaß. Schon diese Vielseitigkeit beweist, daß Rellstab kein gewöhnlicher Mensch war, obgleich er vielfach im Leben angegriffen und besonders in letzter Zeit verspottet wurde, wozu allerdings eine gewisse breite Geschwätzigkeit und philisterhafte Gemüthlichkeit beitrug, die sich mit der veränderten Zeitrichtung und dem durch schärferes Gewürz verwöhnten Geschmack einer jüngeren Generation nicht mehr vertrug.

Gegenwärtig ist der Hauptredacteur der Vossischen Zeitung Dr. Lindner, ein classisch gebildeter Gelehrter, der auch als theoretischer Musiker einen ausgezeichneten ruf genießt. Ihm hauptsächlich verdankt die Zeitung ihre jetzige liberale Richtung und eine Reihe trefflich geschriebener politischer Leitarikel. Unter den Mitarbeitern befindet sich der geistreiche Nationalökonom Dr. Guido Weiß, der ehrwürdige Gubitz, der tüchtige Musiker Dr. Engel, der sanfte Lyriker Klette und Max Ring. – Die Abonnentenzahl schwankt zwischen 15–18,000, von denen der größere Theil auf Berlin selbst kommt. Die Haupteinnahme besteht jedoch in den Annoncen, welche der Zeitung so reichlich zufließen, daß sie sich zuweilen, besonders vor Weihnachten, genötigt sieht, 6–8 Beilagen zu geben.

Minder günstig situirt ist die Spener’sche Zeitung, welche von ihrer alten Concurrentin längst überflügelt ist. Die Hauptschuld trägt die schwankende Haltung der Ersteren in der Politik seit dem Jahre 1848, indem die sonst mit großer Umsicht geleitete Redaction kein scharf ausgesprochenes, festes Princip verfolgt, obgleich auch sie im Grunde einem allerdings so sehr gemäßigten Liberalismus huldigt, daß man ihn zuweilen fast gar nicht merkt. In früheren Jahren wurde die Zeitung von dem Dr. Spieker, auch „Lord Spieker“ genannt, nicht ohne Geschick geleitet. Den Beinamen hatte der etwas steife, aber verdienstvolle Gelehrte seiner Vorliebe für England, englische Sitten und Literatur zu verdanken. Als interessante Mitarbeiter aus früherer Zeit nennen wir vor Allen den liebenswürdigen Holtei, während seines Berliner Aufenthalts, und den berühmten Spuck-Schulz, einen eben so ausgezeichneten als originellen Kritiker, den Goethe durch seine Anerkennung geehrt hat. Den Namen Spuck-Schulz verdankte er der sonderbaren und gerade nicht sehr angenehmen Gewohnheit, den Leuten, mit denen er sprach, sprudelnd in’s Gesicht zu spucken. Außerdem war er in seiner vernachlässtgten Kleidung und seinen sonstigen Gewohnheiten ein ausgemachter Cyniker, obgleich er bei den Damen des Theaters gern den Galanten spielte und wirklich in dem Wahne lebte, daß er unwiderstehlich sei. Als er einst eine Redoute in Berlin besuchen wollte und die berühmte Bethmann um ihren Rath fragte, welche Maske er wählen sollte, um nicht erkannt zu werden, sagte die berühmte Künstlerin, auf seine bekannte Wasserscheu anspielend: „Lieber Schulz, wenn Sie sich das Gesicht waschen, wird Sie gewiß kein Mensch erkennen.“

Gegenwärtig wird die Spener’sche Zeitung von dem Dr. Alexis Schmidt, einem früheren Theologen, redigirt. Die Theaterkritiken schreibt der bekannte Aesthetiker Professor Hötscher, der leider augenblicklich an einer Lähmung schwer erkrankt ist. Seine Kritiken zeichneten sich durch ihre Gediegenheit und Anständigkeit aus, wenn auch ihre Unparteilichleit unter seinen immer liebenswürdigen und menschlichen Schwächen zuweilen litt. Vorzugsweise wird das Blatt in den gebildeten Beamtenkeisen gelesen, da seine artistischen und literarischen Beigaben von jeher das beste Lob wegen ihrer Vollständigkeit und sorgsamen Auswahl verdienten.


Aus dem Insectenleben. So reich auch die Insectenwelt an Arten und Individuen ist, so entzieht sich doch meist das eigentliche Leben und Treiben dieser Thiere unserer genaueren Beobachtung. Nur bei einigen wenigen in nächster Nähe des Menschen angesiedelten Arten sind die Verhältnisse etwas günstiger, während wir bei der weit überwiegenden Mehrzahl uns begnügen müssen, die erlangten Exemplare der vollkommenen Insecten an Nadeln aufzuspießen und ihre Puppen und Larven in Spiritus aufzubewahren oder sie mit Wachs auszuspritzen. Eben deshalb dürften auch Mittheilungen von ganz bescheidenem Inhalt, sobald sie sich auf das Leben der Thiere selbst beziehen, nicht ganz unwillkommen sein.

Ende Juli d. J. hatte ich mich an einem besonders warmen Tage in einen mir zugänglichen Garten begeben, um daselbst bei einer Tasse Kaffee Siesta zu halten. Zu diesem Zwecke stellte ich einen Gartentisch in den tiefen Schatten einer großen, aber etwas kernfaulen Eiche, nahm ein Buch in die Hand und versuchte, mich so behaglich, als die Hitze zuließ, in die Lectüre zu vertiefen. Bald wurde indessen meine Aufmerksamkeit durch ein eigenthümliches Geräusch abgezogen. Aus den unteren Zweigen der Eiche ließ sich in kurzen Zwischenräumen ein leises, aber dennoch deutlich unterscheidbares Knacken oder Knirschen vernehmen, als ob kleine, dürre Zweige zerbrochen würden. Kurz darauf fiel ein schwärzlicher Gegenstand vom Baume herab in das Gebüsch. Nach längerem Suchen entdeckte ich den Gefallenen. Es war ein Hirschkäfer, Baumschröter oder Feuerschröter der größten Art, der jetzt, so rasch es ihm möglich war, an der rauhen Eichenrinde wieder empor klomm. Da inzwischen das Knirschen und Krachen fort und fort ertönte, so richtete ich meine Blicke dahin, woher es kam, d. h. nach oben.

Am Stamme selbst und etwa 15 Fuß vom Boden bemerkte ich eine eigenthümliche bräunliche Masse, auf welcher der Sonnenstrahl in höchst seltsamem Wechsel reflectirte. Bei meiner Kurzsichtigkeit vermochte ich zunächst nichts Näheres zu unterscheiden. Inzwischen fiel bald ein zweiter und dritter Hirschkäfer herab.

In Zeit einer Viertelstunde hatte ich 11 Stück von allen Größen, Männchen und Weibchen, auf dem Tische gesammelt, die wirr neben einander herumkrochen. Das leise Knirschen tönte inzwischen immer noch vom Baume herab. Ich beschloß deshalb die Sache näher zu untersuchen, holte eine kurze Leiter herbei und stieg hinan. Hier bot sich mir ein seltsames Bild.

Auf einer Fläche von etwa einem Quadratfuße war an der Eichenborke ein süßlicher Baumsaft herabgeflossen. Zu diesem leckern Male nun hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft von Insecten zu Gaste geladen. Große Ameisen kletterten geschäftig hinauf, nahmen ihre Mahlzeit und stiegen dann wieder zu Thal; genäschige Fliegen aller Art saßen dicht beisammen, und auch die große jähzornige Hornisse schwärmte grimmig summend um den Stamm. Die auffallendsten Gäste aber, sowohl nach der Zahl, als nach ihrer sonstigen Bedeutung waren unzweifelhaft die Hirschkäfer. Obwohl der Käfer hier nicht so selten ist, als an manchen anderen Orten, so habe ich doch nie eine so große Zahl an einem Flecke beisammen gesehen. Ich zählte in wenig Minuten und auf einer kleinen Fläche 24 Stück, die in meiner Gewalt befindlichen Gefangenen ungerechnet. Sie spielten auch offenbar die wichtigste Rolle bei diesem Gastmahle, schienen aber trotz der süßen Speise nicht besonders guter Laune zu sein. Selbst die gewaltigen Hornissen scheuten sich, den plumpen, aber gefährlichen Gesellen und ihren gewaltigen Kiefern zu nahe zu kommen, und hielten sich deshalb in respectvoller Entfernung.

Um so wüthendere Zweikämpfe fochten die Käfer unter einander aus, und zwar rangen mindestens zwei Drittheile der Versammelten zusammen. Da auch die Weibchen mit ihren kurzen, kräftigen Kiefern sich zornig verbissen hatten, so lag das Motiv wohl nicht in der Eifersucht, sondern in dem wenig idealen Futterneide. Besonders interessant waren indessen nur die Kämpfe der Männchen. Die geweihartigen Kiefern bis an das Ende schief übereinander geschoben, so daß sie über den Kopf und das Halsschild des Gegners hinwegragten und die Köpfe selbst sich dicht berührten, zum Theil hoch aufgebäumt, rangen sie erbittert mit einander, bis den einen Streiter die Kräfte verließen und er hinab zur Erde stürzte. Hin und wieder gelang es auch wohl einem geschickteren Fechter, den Gegner um die Taille zu fassen. In diesem Falle richtete sich der Kopf des Siegers stolz auf und ließ den Gefangenen einige Zeit in der Luft schweben. Dann folgte stets der unvermeidliche Sturz in die Tiefe. Das Knirschen, welches ich gleich anfangs gehört hatte, rührte nur von dem trägen, aber kräftigen Schließen der Kiefern her. Von den gebogenen seitlichen Wulsten des Kopfschildes in die mittlere Einbiegung abgleitend, verursachten sie jenes leise bis auf mehrere Schritt Entfernung hörbare Knacken. Uebrigens sah der Kampf gefahrvoller aus, als er in Wirklichkeit war. Ich habe wenigstens keinen einzigen Käfer gefunden, welcher ernstlich verwundet gewesen wäre. Der dicke Panzer schützte die Ergrimmten sowohl gegen die feindlichen Waffen, als gegen den Sturz. Nur bei einem Einzigen zeigte sich eine leichte Verletzung der Kiefern.

Fast noch interessanter als jene Zweikämpfe war mir ein anderer Umstand. Die Thiere schienen meine Annäherung im Allgemeinen nicht zu bemerken, die Kämpfer kämpften fort, die Sieger leckten begierig den süßen Saft oder gingen den Liebesfreuden nach. Nur wenn mein Athem sie direct berührte, zeigten sie sich beunruhigt. Dagegen wirkte das leiseste Geräusch, z. B. das Knacken eines brechenden Zweiges, rasch auf die ganze Gesellschaft. Sie richteten sich sämmtlich rasch und hoch auf und schienen eine Weile zu lauschen. Aehnliches geschah, sobald einer der Gefallenen von unten heraufsteigend sich dem Kampfplatze näherte. Auch in diesem Falle richteten sich die Männchen auf und gingen dann dem Gegner etwa eine Spanne lang mit weit ausgebreiteten Kiefern kampfbegierig entgegen. Unwillkürlich fiel mir dabei das Bild eines zornigen Stieres ein, der dem Nebenbuhler begegnet.

Die Kämpfe waren in den Nachmittagsstunden am heftigsten. Gegen Abend summte allmählich der größere Theil der Käfer davon, augenscheinlich nur um sich nach den Tafelfreuden eine kleine Motion zu machen. An Serenaden, verliebte Stelldicheins und dergleichen romantische und idyllische Dinge glaube ich nicht; das konnten sie ja näher und bequemer haben. Oder suchten sie etwa auch ein pikanteres Glück außer dem Hause?

Als ich endlich nach 8 Uhr Abends den Garten verließ, tönte noch immer aus den Zweigen der Eiche das verhängnisvolle Knacken herab, wenn auch seltener und schwächer.

Sondershausen.

Karl Chop.

  1. Die Weinberge liegen nordöstlich von Berlin; Bernadotte hätte hiernach jetzt noch Berlin preisgeben wollen. Wahrscheinlich liegt in dem Befehle eine Verwechslung der Weinberge mit dem in südlicher Richtung von Berlin gelegenen und, wie bereits erwähnt, mit Schanzen versehenen Kreuzberge.