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Die Gartenlaube (1867)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625] No. 40.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Nicht zu übersehen!


Um dem großen Interesse Rechnung zu tragen, welches die begonnene Erzählung von Herman Schmid „Der Habermeister“ allseitig erregt, gehen wir von dem Principe der Gartenlaube, jedes neue Quartal auch mit einer neuen Novelle zu eröffnen, für diesmal ab und bemerken für die neuhinzutretenden Abonnenten, daß ihnen die Nummern, welche den Anfang der erwähnten Erzählung enthalten, zu dem billigen Preise von 4 Ngr. durch jede Buchhandlung nachgeliefert werden.

Redaction und Verlagshandlung der Gartenlaube.




Der Habermeister.
Ein Volksbild aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der Amtmann brauste auf. „Ich muß?“ rief er. „Wer will sich erdreisten, mir Vorschriften zu geben?“

„Aber, Herr Amtmann …“

„Herr Amtmann und immer Herr Amtmann!“ fuhr der Beamte auf, der die ruhige Fassung immer mehr zu verlieren schien. „Ich bin der Baron von Lanzfelt … dem Aicher von Aich würde keine Perle aus der Krone fallen, wenn er den schuldigen Respect nicht aus den Augen setzen und mir den Titel geben würde, der mir gebührt!“

„Ich wüßt’ nit, daß ich’s je am schuldigen Respect hätt’ fehlen lassen,“ erwiderte Sixt und fuhr sich, wie um sich seiner Besonnenheit zu vergewissern, über Stirn und Kraushaar. „Ich nehm’ Ihnen auch von Ihren Titeln nichts, gestrenger Herr, aber nichts für ungut, mit dem Herrn Baron von Lanzfelt, mit dem hab’ ich nichts zu thun, sondern nur mit dem Herrn Bezirksamtmann, mit dem darf ich reden, weil er mich selber hieher hat rufen lassen, und deswegen dring’ ich darauf, daß die Waldbegehung noch vorgenommen oder, wenn’s dazu schon zu spät sein sollt’, ein anderer Tag gleich jetzt festgesetzt wird! Ich kann gar nit begreifen …“

„Und ich begreife nicht,“ sagte der Amtmann mit einem Lächeln, welches zeigte, daß er nun den Weg gefunden zu haben glaubte, den stolzen Bauer empfindlich seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen … „ich begreife nicht, wie Sie überhaupt dazu kommen, hier das Wort zu nehmen.“

„Ich bin ein Angehöriger der Gemeinde Osterbrunn … der Aichhof ist eines der größten Güter in der Gemeinde – ich bin also Einer von denen, die bei der ganzen Sache am meisten betheiligt sind!“

„Das ist hier sehr gleichgültig,“ sagte der Baron mit immer boshafterem Lächeln, „die Größe des Grundbesitzes ist es nicht, worauf es hier ankommt … die Mitglieder der Gemeindeverwaltung und die Bevollmächtigten allein sind hieher berufen worden. Gehören Sie zu diesen?“

„… Nein …“ stieß der Aichbauer mühsam hervor, indem er mit der einen Hand sich wieder durch das Haar fuhr, mit der andern wie tastend um sich griff, als suche und bedürfe er etwas, sich daran zu stützen. „Ich hab’ gemeint, ich hätte doch auch ein Recht …“

„Gemeint!“ entgegnete der Amtmann höhnisch. „Gemeint! Wenn sich nur nicht mit dem Meinen abgeben wollte, wer nicht dazu berufen ist! Wenn es darauf ankäme, hätte der dort auch ein Recht, hier zu sein, denn nach seiner Meinung ist er noch immer Herr seines längst verkauften Anwesens.“ Er deutete dabei nach dem Waldrande, wo der Nußbichler im Schatten einer Haselstaude auf seinem Lumpensack lag und seinen Rausch vollends ausschlief.

„Was?“ rief Sixt knirschend und wollte mit geballten Händen vorstürzen. „Sie vergleichen mich mit einem solchen …“ Er konnte nicht vollenden, denn die Osterbrunner Nachbarn hatten augenblicklich einen Ring um ihn gebildet und drängten ihn seitwärts, einem Ausbruche vorzubeugen, der unter allen Umständen nur zum Nachtheile des allgemein beliebten Mannes ausfallen konnte. Der Grubhofer blieb mit Einigen bei dem Amtmann zurück.

„Es wird am End’ so weit nit gefehlt sein,“ sagte der Alte, „wenn der Aicher auch noch nicht bei der Gemeindeverwaltung ist! Es muß ja ohnedem in der nächsten Zeit die neue Wahl sein – und daß kein Anderer Vorsteher wird als er, das ist so viel als wie gedruckt!“

„So?“ fragte der Amtmann, ohne die Gruppe der Anderen einen Moment aus den Augen zu verlieren. „Ist das schon so gewiß? … Nun, das Amt wird seine Pflicht thun und untersuchen, ob er die nöthigen gesetzlichen Eigenschaften zu diesem Posten [626] besitzt … Einstweilen aber werdet Ihr gut thun, liebe Leute, Euch um die Zukunft noch nicht zu kümmern, sondern ruhig Eurer Wege nach Hause zu geh’n. Ihr habt mitunter einen ziemlich weiten Weg zu machen und werdet das Weitere schon zu hören bekommen …“

„Die Bauern sprachen durcheinander, daß es wie Murren klang; besonders die Osterbrunner steckten die Köpfe zusammen. Der Aichbauer hatte sich von ihnen getrennt und war in die Nähe des Wildbachs getreten; eine herniederrieselnde Wasserader fing er in der hohlen Hand auf und benetzte sich die Stirn, das ungestüm anstürmende Blut zurückzutreiben.

„Aber,“ sagte endlich der Grubhofer halblaut, „nun möchten wir doch auch wissen, woran wir sind! Wir möchten doch nicht gern so völlig für nichts und wider nichts hergesprengt sein!“

„Wie ist es denn jetzt mit dem Wald?“ riefen Andere. „Kriegen wir jetzt eine neue Waldgrenze und wer hat denn Recht behalten von den zwei Gemeinden?“

„Still!“ rief der Amtmann mit strenger Würde. „Ich gebiete Ruhe und werde meinem Gebote Gehorsam zu verschaffen wissen. Die Sache ist vom Amte in gehöriger Form eingeleitet und wird ihren gesetzlichen Gang gehen, die Erklärungen und Erinnerungen der Gemeinde Westerbrunn sind zu Papier gebracht und sollen der Gemeinde Osterbrunn zur Gegenerinnerung mitgetheilt werden… Das Amt wird dann die Acten schließen und nach reiflicher Erwägung dessen, was dem Wohle einer jeden Gemeinde am angemessensten ist, die Entscheidung treffen…“

„Dann sind wir in fünfzig Jahren auch noch am alten Fleck!“ riefen die Osterbrunner unwillig durcheinander, auch unter den Westerbrunnern waren Viele, denen der Ausspruch, wenn er auch augenblicklich zu ihren Gunsten war, wegen der darin liegenden Verzögerung beschwerlich erschien. „Wir wollen keine lange Schreiberei!“ hieß es immer lauter. „Wir wollen’s nicht auf die lange Bank schieben lassen! Jetzt sind wir bei einander, jetzt soll’s ausgemacht werden!“

„Oho,“ rief einer unter den Westerbrunnern den gegenüberstehenden Angehörigen der feindlichen Gemeinde zu. „Ihr könnt’s wohl gar nicht erwarten, bis der Spruch kommt? Das kommt davon her, Ihr habt ein schlecht’s Gewissen und eine schlechte Sach’!“

„Und Ihr solltet gleich das Maul nit aufmachen, Ihr Westerbrunner Hungerleider,“ rief der Grubhofer entgegen. „Ihr solltet Euch schämen, daß Ihr die Sach’ so überrumpeln wollt!“

„Wer kann uns das nachreden?“ schallte es wieder von drüben. „Ein schlechter Mann, der so ’was sagt!“

„Ich sag’s, der alte Grubhofer sagt’s! Aber wer mich ein’ schlechten Mann schimpft, der ist selber nicht werth, daß ihn die Sonn’ anscheint!“

Der Amtmann gebot wiederholt Ruhe und Stille, aber sein Ruf besaß weder die Kraft, den wachsenden Lärm zu übertönen, noch hatten seine Worte die Macht, sich wie eine Schranke zwischen die feindlichen Bauern zu legen, welche in immer steigender Erbitterung sich hantirend und schreiend immer näher aneinander drängten, so daß im nächsten Augenblick ein Zusammenstoß und wirkliches Handgemenge zu befürchten war.

Da trat mit einem Male der Aichbauer dazwischen, stieß mit kräftigen Armen die Ungestümsten und Vordersten nach rechts und links zurück und hatte bald eine freie Gasse gebildet, in deren Mitte er stand, dem Amtmann gegenüber, der sich vor dem Gedränge in bescheidene Entfernung zurückgezogen hatte; er war wieder gelassen, wie bei der Ankunft im Waldthal, nur schien aus dem früher glühenden Angesicht das Blut bis auf den letzten Tropfen zurückgewichen zu sein.

„Was soll’s geben, Grubhofer, alter Rebeller?“ rief er. „Wirst nit einmal lernen, ein’ Fried’ geben? Und Dich, Finkenzeller, hätt’ ich auch für gescheidter gehalten für einen so alten Kampel und noch dazu einen Gemeindevorsteher! Was wollt Ihr denn? Ist es Euch noch nicht genug, daß Ihr schon einen Proceß vor der Thür habt, von dem die eine Hälfte das End’ gar nit erlebt und an dem derweil’ die andere Hälfte zu Grund’ gehen kann? Wollt Ihr auch noch eine Untersuchung dazu haben und einander blutige Köpfe schlagen? Wollt Ihr’s beweisen daß die Selbigen Recht haben, die sagen, wir können uns selber nit regieren und vertragen, man müßt’ uns überall einen Vormünder stellen und uns das Recht vorschneiden, wie den Kindern das Fleisch, fein kleinweis, daß sie nit daran ersticken? Ich kann’s nit glauben von Enk, Nachbarn! Sein doch unsere Ahn’ln in den zwei Dörfern alleweil in Frieden miteinander aus’kommen und in der Einigkeit … erst seit die letzten dreißig Jahr’ ist der Unfrieden da und die Feindschaft…“

„Ganz natürlich,“ entgegnete der Finkenzeller, „gerad’ so lang’ ist es, daß Ihr Osterbrunner uns den Staudinger Forst abstreiten wollt!“

„Weil wir ohne die Laubstreu’ nit hausen können,“ sagte Sixt, „und weil der Staudinger Forst unser gehört von Gott’s und Rechts wegen! G’rad’ so gut kann ich sagen, Ihr habt die Feindseligkeit angefangen, weil Ihr die Achazi-Point verlangt und meint, sie g’hör’ Euch!“

„Sie gehört uns auch!“ rief der Finkenzeller wieder, „und sie muß uns gehören, es ist die Weidenschaft, die wir brauchen, wenn wir nit zu Grund’ gehen sollen, und wir können’s auch beweisen, daß sie unser gehört, wir haben alte G’schriften dafür gehabt und Brief’ mit einem großmächtigen Siegel daran, aber wir haben sie vor zwanzig Jahren auf’s Amt hinein getragen…“

„Ja,“ begann der Aichbauer wieder, „so ist’s mit unsern Hausbriefen auch gewesen, aber das Amt ist abgebrannt und all’ die alten Schriften und Urkunden sind mit in Rauch auf’gangen. Kein Mensch kann mehr sagen, wie’s einmal gewesen ist … wollen wir die Narren sein und deswegen unser gut’s Geld verstreiten … wär’s nit g’scheidter, wir thäten nimmer darnach fragen, sondern thäten frischweg ausmachen, wie’s in Zukunft sein soll?“

„Ja, ja,“ riefen viele Stimmen und ein Gemurmel des Beifalls ging durch die beiden feindlichen Parteien; nur der Amtmann zuckte geringschätzig mit den Schultern und lachte.

„Ja, wenn das so leichthin ginge! Auch ist zu Derlei hier nicht der geeignete Ort!“

„Auf den Ort, Herr Baron von Lanzfelt, kommt’s wohl nit an,“ sagte Sixt, „und wenn man nur recht ernstlich will, geht Manches, das oft gar nit den Anschein dazu hat. Kommt einmal da her, Nachbarn und Landsleute, schaut Euch den Plan da an, den ich aufgerissen hab’ … wenn er auch sonst für nichts gut ist, dazu wird er doch taugen, daß Ihr’s seht, wie die Grenzen laufen, wo unsere Gemeindemarkungen aneinander stoßen. Es hat schon dazumal, bei der Landesvermessung, Niemand recht gewußt, wie die Grenz’ lauft, drum hat sich’s der Geometer leicht gemacht, hat das Lineal genommen und schier einen g’raden Strich mitten durchgezogen… Rechts von dem Strich liegt der Rantinger Forst, auf den Ihr spitzt, links weiter unten ist die Achazi-Point, die wir Osterbrunner gern haben möchten… Jetzt schaut einmal her! Das grüne Band da, das sich so curios windet, das ist der Wildbach die Grünach … wie wär’s, wenn wir den Geometer mit sammt seinen Strich ausmerzen thäten und thäten dafür die Grenz’ nehmen, die unser lieber Herrgott selber hinein gezeichnet hat in’s Land? Die Grünach macht da einen Bogen und geht um den Forst herum und da unten weicht sie nach links aus und laßt die Point liegen… Ihr laßt uns von der Point, was über’n Bach herüber fällt, wir geben Euch das Stück Forst, das der Bach abschneidet – so wär’ uns allen Zweien geholfen: Ihr habt Streu, wir Weidenschaft – wir haben eine richtige Grenz’, die keine Abmachung braucht und über die es keinen Streit geben kann in ewigen Zeiten, wir haben keinen Proceß mehr vor der Thür und was das Schönste ist, die Feindschaft ist aus, und die Osterbrunner und Westerbrunner können wieder gute Nachbarn und Freund’ sein, wie alleweil…“

Der Bauer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen; es bedurfte nur ein paar Augenblicke, während deren die Männer den Plan auf dem Felsblocke betrachteten, und Alle waren einig: der Vorschlag war so einleuchtend und klar und dabei nach allen Seiten befriedigend, daß es unbegreiflich erschien, wie man nicht längst schon auf diese Auskunft verfallen war. Der Beifall gab sich in lärmendem Zuruf der allgemeinen Zustimmung kund. Die Bauern drängten sich der Reihe nach heran, Sixt die Hand zu bieten; der Finkenzeller aber, der Vorsteher von Westerbrunn, war ganz gerührt, wie er vor ihn hintrat. „Geh’ her, Sixt,“ sagte er, „Du bist ein ganzer Kerl! Du bist das richtige Konterfei von Dein’ Vater … Gott tröst’ ihn! Geh’ her, ich muß Dir ein’ Schmatz geben!“

Damit faßte er ihn mit beiden Händen am Kopf und drückte [627] ihm ein paar herzhafte Küsse auf Mund und Wangen. „So soll’s sein, wie Du gesagt hast!“ rief er wieder. „Die Grünach soll die Grenz’ sein von heut an! Wem’s nit recht ist, der hat’s mit mir zu thun – der soll’s nur sagen, daß ich’s ihm recht mach’ …“

In der allgemeinen Freude hatte Niemand mehr auf den Amtmann geachtet, der ingrimmig bei Seite getreten und seiner Frau, die längst in voller Entrüstung ihr Skizzenbuch zugeklappt hatte, das Kaffeegeschirr zusammen zu stellen behülflich war. So sehr er innerlich vor Wuth bebte, besaß er doch Weltklugheit und Schliff genug, es zu verbergen; er fühlte, daß er sich eine Blöße gegeben, daß er in Ton und Benehmen etwas einlenken müsse, um die Scharte wieder auszuwetzen, die dem amtlichen Ansehen in empfindlichster Weise geschlagen war. Der Bediente mit der Meldung, daß der Wagen zur Heimfahrt bereit sei, bot eine willkommene Gelegenheit, einzulenken und den unangenehmen Vorfall abzuschließen. „Nun, meine lieben Leute,“ sagte er, an ihnen vorüberschreitend, mit herablassendem Nicken und sauersüßem Lächeln, „mich rufen die Geschäfte, überlegt immerhin den Vorschlag dieses jungen Mannes, es soll mich sehr freuen, wenn er sich zur Basis für eine gütliche Ausgleichung eignet. Das Amt wird seinen Bericht darnach einrichten und eine hohe Kreisbehörde nicht anstehen, einen solchen Vergleich von Curatel wegen zu genehmigen…“

„Gewiß, Herr Baron von Lanzfelt,“ erwiderte Sixt, „und wenn wider Vermuthen sich noch ein Stein’l im Weg finden sollte, giebt’s über der Kreisbehörde noch einen Herrn, bei dem wir sicher nit vergebens anklopfen!“

„Ja wohl, ja wohl,“ murmelte der Amtmann zwischen den Zähnen und fuhr dann, seiner Frau den Arm bietend und zu ihr gewendet, fort: „… es war immerhin eine angenehme unterhaltende Partie – es gab vielerlei Gelegenheit zu Studien über Land und Leute… Nicht wahr, ma mie? Dieser junge Bauer ist ein Stück Volkstribun, ein ländlicher Gracchus oder Rienzi … was sagen Sie dazu, ma mie?“

Die Dame machte mit dem feinen spitzenbesetzten Battisttuch eine abwehrende Bewegung, als wollte sie sich reine Luft zufächeln. … „Fi donc,“ sagte sie, „der Volkstribun duftet nach dem Kuhstalle!“ –

Die Dämmerung brach ein, herbstlich früh und kühl; hinter den Tannen zerfloß blasser goldgelber Abendschein in einen duftig dunklen Himmel, welcher vermuthen ließ, daß der Morgen die Fluren mit dem Vorläufer des Winters, mit weiß schimmerndem Reife bedeckt finden werde. Es war nicht mehr gut möglich, im Freien zu hausen; von außen war es daher sehr still und einsam um das Wirthshaus an der Kreuzstraße, aber die hell erleuchteten Fenster des Erdgeschosses sandten ihren rothen Schein weit hin in das Dunkel und verkündeten, daß ziemlich viele von den Bauern der Einladung des Wirths Folge geleistet und noch einen kleinen Halt an dem gastlichen Hause gemacht hatten; galt es doch, das große Ereigniß des Tages, den unerwarteten Friedensschluß der zwei Gemeinden, noch hinterm Bierkruge gehörig zu verarbeiten und auf sein Bestehen mit den Westerbrunnern anzustoßen, von denen einige in der ersten Freude der Aussöhnung den Umweg nicht gescheut hatten und mit den wieder gewonnenen Nachbarn der Schenke zugewandert waren.

In dem dunklen Giebel des Hauses war ein einzelnes kleineres Fenster von schwachem Lichtschimmer erhellt; es kam aus dem Stübchen, in welches Franzi die kranke Susi geleitet und wo sie sich mit ihr eingeschlossen hatte. Vergeblich war der Wirth mehrmals an die Thür gekommen, hatte ihr gerufen und sie aufgefordert, die Gäste zu bedienen; Franzi öffnete nicht und rief nur heraus, der Wirth solle für heute nur einmal zusehen, wie er allein zurecht komme, sie könne die Kranke nicht mehr allein lassen, weil sie dringend ihrer Pflege bedürfe. Wüthend stolperte der Wirth wieder die Stiege hinab, aber er wagte nicht, auf seinem Rechte zu bestehen und zu befehlen, des Gastes wegen, der unten eine tüchtige Rechnung anwachsen ließ; da die Kranke dessen Schwester war, mußte er wohl ein Auge zudrücken.

Waldhauser und Meister Staudinger hatten den ganzen Nachmittag über getafelt und gebechert, dazwischen auch so viel vertraulich und eifrig geplaudert, hatten sich so oft treuherzig die Hände geschüttelt und mit den Gläsern angeklungen, daß es offenbar war, da hatte sich ein ebenbürtiges Paar von seltener Gleichheit der Gesinnung zusammengefunden. Der dicke Metzger war ungemein redselig geworden und ermüdete nicht, wenn auch mit immer schwererer Zunge, von den Ränken und Pfiffen zu erzählen, durch die es ihm gelungen, manchen vortheilhaften Kauf, manches gewinnreiche Geschäft abzuschließen. „Siehst Du, Brüderl,“ lallte er, „so muß man’s machen, wenn man auf ein’ grünen Zweig kommen will! … stoß’ an mit mir! Pfiffig muß man sein!“

„Freilich, freilich,“ lachte Waldhauser mit seinem Glase anklingend, „steht es denn nicht sogar in der heiligen Schrift, daß man fromm sein soll, wie die Tauben, aber auch klug wie die Schlangen? Ich bin mit dem ganzen Plan vollkommen einverstanden – noch schaut immer etwas heraus bei dem Handel mit Holz und Vieh – aber Zwei müssen zusammen stehen, ohne daß ein Mensch eine Ahnung davon hat; dann geht es und Einer jagt dem Andern die Gimpel in’s Garn! Aber jetzt muß ich doch hinauf, muß nach meiner Schwester umseh’n – nach dem zimperlichen Ding…“

Der Metzger sah ihn mit lauerndem Seitenblick listig an. „Ist ja recht krank, das arme Geschöpf,“ sagte er mit erkünsteltem hämischem Gelächter, „da kann man sich wohl denken, warum Sie sich seiner annehmen – die treibt es wohl nimmer lang und wer sich um sie angenommen, dem wird wohl auch die reiche Erbschaft nicht auskommen! Das ist ein schönes Bröcklein und wenn erst noch das von der Base dazu kommt – die soll ein schönes Körnd’l beisammen haben…“

„Pfui,“ unterbrach ihn Walthauser mit scheinheiliger Miene, „was denken Sie von mir! Wer wird bei einer leiblichen Schwester so unchristliche Gedanken haben … da müßt’ ich mich ja schwerer Sünden fürchten!“

„Na, das versteht sich,“ sagte der Metzger wieder; „aber wer könnt’ sich denn dagegen auflehnen, wenn es halt einmal so des Himmels Wille wäre…”

„Das wäre freilich etwas Anderes,“ erwiderte Waldhauser, die Hände faltend, „freilich, in den müßte man sich ergeben als ein guter Christ – aber ich kann mich wirklich nicht mehr länger aufhalten, ich muß hinauf und zur Abfahrt drängen – ich will mit meinem Bruder, der wohl kommen wird, nicht mehr zusammen treffen – er ist mir zu ernsthaft…“

„Und mir zu vornehm, obwohl er nur ein Bauer ist,“ sagte Meister Staudinger vor sich hin, während Waldhauser eilig das Zimmer verließ. Dann griff der Metzger nach seinem Glase, leerte es auf einen Zug und faltete, gedankenlos vor sich hinstarrend, die Hände über dem stattlichen Bauche. Nach wenig Augenblicken fielen ihm die schweren Augen zu, und mit vorgebeugtem Haupte versank er in tiefen schnarchenden Schlaf. Er hörte nicht, daß draußen der Amtmann angefahren kam und sich in das für ihn bereitete Zimmer auf der andern Seite der Hausflur begab, das bestellte Abendmahl einzunehmen, er gewahrte nicht einmal das Eintreten des Wirths, welcher die beiden Leuchter mit Stearinkerzen vom Tische nahm, um sie gegen ein schlechtes Unschlittlicht zu vertauschen. Die Zecherei war vorbei, darum war es auch mit der Achtung zu Ende, der alte Gast war über dem neuen, der geringere über dem ansehnlicheren vergessen.

Inzwischen war Waldhauser in dem dunklen Gange des obern Stockwerks angekommen, in welches nur von der Treppe her ein schwacher Lichtschimmer drang – ein heller Streifen am Boden, der durch die übel schließende Thür drang, verrieth die Kammer, in welcher die Mädchen sich eingeschlossen hatten. Mit leisen Katzentritten schlich er näher, an der Wand sich fort tastend, bis er das Thürgerüst gefunden hatte. Dann beuge er sich horchend zu dem Schlüsselloche nieder; durch die Lücke eines ausgesprungenen Astes konnte er, wenn er sich etwas streckte, bequem das ganze, von einem Oellämpchen nur trübe beleuchtete Gemach übersehen. Susi saß auf dem ärmlichen Bett und hatte sich über die vor ihr knieende Franzi gebeugt, ihr Kopf ruhte auf deren Schulter, das Gesicht war in den aufgelösten Strähnen des reichen schwarzen Haares verborgen. Beide waren regungslos; Susi schien eingeschlummert und Franzi verharrte in der unbequemen Stellung, die Leidende nicht zu wecken, welche von der kurzen Ruhe schon so sehr erquickt zu sein schien.

„Was sie nur mit einander haben, die empfindsamen Narren!“ dachte der Lauscher, während sein Blick zugleich gierig an Franzi’s von der Lampe voll beschienenem Angesicht oder an dem blüthenweißen Nacken hing, der durch die gebeugte knieende Stellung aus dem verschobenen Tuche hervortrat.

[628] Nach einer kleinen Weile erhob sich Susi, fuhr sich wie besinnend über die Stirn und blickte dann Franzi mit einem Lächeln voll unendlicher Liebe und innigen Zutrauens in’s Angesicht, sie öffnete schon den Mund, als Waldhauser in seinem gierigen Streben, ja kein Wort des Gespräches zu verlieren, an die Schwelle tappte und ein Geräusch verursachte, das, so leise es war, Franzi’s feinen Sinnen nicht entging. Im Nu erhob sie sich, trat zur Thür und hatte sie geöffnet, eher Waldhauser Zeit gefunden hatte, sich zu entfernen. Betroffen stand er vor ihr und antwortete auf die Frage nach seinem Begehren nur stotternd, es sei hohe Zeit wieder aufzubrechen; er habe bei der Schwester nachsehen wollen, ob sie noch nicht bereit sei.

„Ich komme,“ sagte Susi, die Haarflechten zurecht steckend, „geh’ nur voran, Bruder – in einigen Minuten bin ich reisefertig …“

Er schien noch zögern zu wollen, vielleicht in der Absicht noch etwas von den Anliegen der beiden Mädchen zu erfahren; aber Franzi wich nicht von der Schwelle und rief, nach der Treppe deutend: „Auf was warten Sie noch, Herr Aicher? Was wir Ihnen sagen wollen, werden Sie schon noch erfahren und zu horchen giebt es nichts!“

Zornig, ohne Erwiderung rannte er fort, Susi aber zog die Freundin an sich und sank an ihre Brust. „Ich muß fort von Dir,“ flüsterte sie, „aber mein Herz bleibt bei Dir zurück! Wie froh bin ich, wie glücklich, daß mich unser Herrgott daher geführt hat zu Dir … nicht wahr, Franzi, Du wirst mich nicht verlassen?“

„Niemals – so lang’ ich ein offnes Aug’ hab!“

„Und was wir geredet haben, das bleibt ein Geheimniß zwischen mir und Dir?“

„Bis ich in der Gruben lieg’ – und was ich Dir versprochen hab’, das halt’ ich auch – darauf kannst leben und sterben!“

„O Franzi – wenn Du das möglich machen könntest, dann wär’ Alles gut, dann wollt’ ich glückselig sein, wie ein Engel im Himmel!“

„Verlaß Dich darauf, Susi! Schau, ich hab’ mein Mutter früh verloren, wie ich noch ein ganz kleines Dirnl war – so früh, daß ich mir gar nimmer recht einbilden kann, wie sie ausgeschaut hat; nur manchmal im Schlaf, im Traum, da seh’ ich sie vor mir, als thät sich ein liebes gutes bekanntes Gesicht auf mich herunterneigen … und doch ist mir meine Mutter das Heiligste, das Liebste auf der Welt! Ich kann Dir’s drum nit heiliger versprechen, – aber so gewiß als ich mein’ liebe gute Mutter gern hab’, so gewiß halt’ ich auch und führ’s aus, was ich Dir versprochen hab! … Nimm Dich zusammen,“ fuhr sie fort, da Susi in Thränen ausbrechend ihr wieder die Arme um den Nacken schlang, „ich hör’ schon den Wagen vorfahren; Niemand darf sehen, daß Du geweint hast, Du mußt Dich couragirt zeigen, sonst machen wir uns die Sach’ nur selber schwer.…“

Sicher, ruhig und fest faßte sie der Freundin Hand und geleitete sie hinunter an den schon bereitstehenden Wagen; kein Wort ward mehr zwischen ihnen gewechselt; sie sahen einander nochmals in die Augen, reichten sich die Hände, und das Gespann sauste hinweg, um in wenigen Augenblicken in der Nacht zu verschwinden. Eine Weile noch blieb Franzi stehen, horchte dem Verhallen des Wagengerassels und sah in die Mondsichel empor, die silbern über den Tannenwipfeln herauf stieg und diese mit noch tieferem Dunkel übergoß. Die Begebnisse des Tages zogen an ihrer Seele vorüber, bis ein Rauschen in den Büschen sie aufschreckte: im ungewissen Mondlicht glaubte sie eine Gestalt aus denselben hinweghuschen zu sehen. „Ist wer da?“ rief sie entschlossen hinzutretend, aber Alles blieb still und reglos, nur ein paar Zweige schwankten noch gegen einander. … „Es wird ein Nachtvogel gewesen sein, den ich aufgeschreckt habe,“ sagte sie und schritt dem Hause zu, „vor solchem Gezücht fürchten wir uns nit!“

Im Flur kam ihr der Wirth entgegen und schnurrte sie zornig an. „Ist das auch eine Aufführung für einen Dienstboten, für eine Kellnerin? Die Frau kann keinen Schritt aus der Kuchel fort, alle Stuben sind voll von Leuten, und Du läßt mich allein wirthschaften und setzest Dich in den oberen Stock hinauf, in den Heimgarten und auf den Ratschmarkt?“

Franzi nahm dem Scheltenden Geschirr und Krüge ab, die er eben trug, und sagte gelassen: „Ich kann dem Wirth nit Unrecht geben – aber es geht halt nit anders und so wird’s wohl das Gescheidteste sein, wir gehen auseinander … in vierzehn Tag’ hat der Wirth eine bessere Kellnerin und ich geh’ meiner Weg’.…“

Verblüfft sah ihr der Wirth nach, als sie auf der Kellertreppe verschwand. Dieser Ausgang war ihm unerwartet und auch unerwünscht, denn trotz alles Scheltens mußte er sich doch selbst gestehen, daß er zu suchen haben werde, bis er einen Ersatz von gleicher Verlässigkeit und Redlichkeit gefunden habe. „Was ist das jetzt wieder?“ brummte er. „Wie man ein Wort sagt, hat man den Strohsack vor der Thür – der Kuckuk kennt sich aus in der verruckten Person!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein treuer Freund des Volkes.


Am sogenannten „Verbrechertisch“ einer Leipziger, den freisinnigen Gästen der alten Meßstadt wohlbekannten Restauration konnte man bis in die Mitte unserer sechsziger Jahre häufig in den Abendstunden im bunten und oft freundlich gemischten Kranze der Gesellschaft einen Mann sehen, der schon durch seinen Kopf allein Jedem auf den ersten Blick auffallen mußte. Weiß umrahmt von Haar und Vollbart traten die stark ausgeprägten Züge des Gesichts mit der hohen Denkerstirn und mit den scharfblickenden Augen hinter der Brille sichtlich gemüthsbelebt hervor; edler Humor und Wohlwollen, aber auch selbstbewußte Ueberlegenheit und Entschiedenheit sprachen aus ihm, schon ehe der beredte Mund von alledem Zeugniß abgelegt. Auch das war auf den ersten Blick zu erkennen, daß der Mann mit dem Altersschmuck des Hauptes nicht blos deßhalb von Allen ausgezeichnet wurde, sondern daß er als der geistige Führer des Worts an dem seltsamen „Tische“ erschien. Die „Verbrecher“, welche demselben den verdächtigen Namen geben, waren nämlich keine Erfindung irgendwelchen Wirthshausscherzes, sondern an diesem Tische fanden sich wirklich zuweilen viele von den Männern zusammen, welche ihre Theilnahme an den politischen Bewegungen der Erhebungsjahre 1848 und 1849 in deutschen Gefängnissen gebüßt und zum Theil nach schweren Kämpfen ihre bürgerliche Stellung als Gelehrte oder Schriftsteller, Geschäftsleute oder Handwerker erst neu wieder begründet hatten. Ungebeugten Muthes hielten solche Leidensgenossen an der alten Ueberzeugung fest, und die gleiche Gesinnung führte Andere und Jüngere ihrem Kreise zu, die eben an diesem „Verbrechertisch“, wie der gute deutsche Volkswitz ihn benannt, ihre Abendrast mit geistig erfrischenden, den Kopf oben und das Herz jung erhaltenden Gesprächen würzten. Eben darum statteten sie ihr „Kneiplocal“ mit allerlei Denksprüchen aus. Da las man (und liest noch) gerade über dem Verbrechertisch den Denkspruch:

„Hinab mit dem Trunk, wenn er klar ist,
„Heraus mit dem Wort, wenn es wahr ist“;

von demselben Manne, dem diese Erinnerungen gewidmet sind, stammt der den Kern seines ganzen Wirkens und Strebens kennzeichnende Spruch:

„Wer das Kind nicht ehrt und den Menschen, der in ihm steckt,
Und den Lehrer nicht, der den Menschen weckt –
Wer die Schule nicht vor ihren Drängern vertheidigt,
Der hat den Genius der Menschheit beleidigt“ –;

und an diesem Tische war es, wo derselbe Emil Adolph Roßmäßler, dessen merkwürdig ähnliches Portrait unsere Mittheilungen begleitet, einst in tiefer Erregung sprach: „Wollt Ihr einen alten Mann sehen, der nur noch Eine Idee in seinem grauen Kopf hat, so seht mich an; jene eine Idee ist aber die Schule, die Volksschule und deren Besserung.“

Wenn wir das Verdienst eines Menschen nur nach den Erfolgen seines Strebens bemessen dürften, so würden wir einen schweren Stand haben, Roßmäßler auf die entsprechende Ehrenstufe

[629]

zu stellen, denn er gehörte nicht zu den vom Glück des Erfolgs Begünstigten. Von allen seinen Zielen hat er keins ganz erreicht, wie rastlos und unentmuthigt er auch immer darauf los arbeitete. Seine Würdigung muß eine andere sein, als die vieler laut gepriesener Zeitgenossen: er war ein Bahnbrecher für die Zukunft, und wenn einst erreicht ist, wonach er mit seinen reichen geistigen Mitteln vergeblich gerungen, so wird, während von den Männern mit den Erfolgen des Tags wohl schon viele vergessen sind, sein Andenken eine Auferstehung feiern, und eine glücklichere und darum dankbarere Nachwelt wird es kaum begreiflich finden, wie der von ihm so offen und klar dargelegte, einfache und einzig richtige Weg zum wahren Volksheil von den damaligen Wortführern des Volks so unbeachtet gelassen werden konnte.

Wir, die wir seinem Streben nahe standen, begreifen leicht die Ursachen seiner Mißerfolge und wissen, daß dieselben nicht in der Art seines Wirkens als Schriftsteller, Redner und Lehrer zu suchen sind, sondern darin, daß er in den Kreisen, in denen und für die er wirken wollte, mehr Empfänglichkeit und Einsicht, mehr Muth und Ausdauer voraussetzte, als dermalen dort zu finden sein konnte. Sein Herz täuschte ihn in der Hast seiner Wünsche [630] für das Volkswohl, und die besten Erzeugnisse seines scharfen Verstandes und bedeutenden Wissens hatten unter der falschen Berechnung seines Vertrauens auf Volk oder Partei zu leiden.

Wie dies die Würdigung seines Verdienstes in unseren Augen nicht beeinträchtigen kann, ebenso müssen wir dem Vorwurf entgegentreten, daß sein Streben oft zu weit über die Grenzen seines Berufs hinausgegangen sei. Das gewöhnliche Urtheil hängt zu ängstlich am äußeren Beruf, dessen Grenzen der persönliche Vortheil zieht; der innere Beruf, den Roßmäßler sich selbst erwählt, hatte so weite Grenzen, daß Vieles, was innerhalb derselben auf seiner berechtigten Stätte stand, Uneingeweihten als Zeugniß einer zersplitterten Thätigkeit erscheinen konnte. Gerade deshalb ist ein Grenzgang um Roßmäßler’s inneres Berufsgebiet eine Aufgabe, die wir dem Manne und dem Freunde, dem Schriftsteller und Patrioten, dem Gelehrten und dem Volkslehrer, dem Bürger und Familienvater – all’ deren Pflichten für ihn auf einem Blatte standen – schuldig sind.

Dieser Roßmäßler’sche „Beruf“ hat seine eigene Geschichte, die seinen Lebensgang vor dem vieler anderer Gelehrten seines Fachs auszeichnet. Bis zu seinem dreiundvierzigsten Jahre (1849) erscheint uns heute sein ganzes Dasein als Vorbereitung für die folgenden achtzehn Jahre seiner wahren Berufserfüllung. Bis dahin war er vor Allem fachgelehrter Lehrer, Schriftsteller und Forscher; seine Verbindung mit dem Bürgerthum fand rein auf politischem Wege statt, indem der noch junge Professor in Tharandt, der berühmten sächsischen forst- und landwirthschaftlichen Akademie, wohin derselbe in dem allgemeinen Bewegungsjahr 1830 gekommen war, von ein paar ebenfalls jungen Rechtsgelehrten für die damals sehr rührige sächsische Opposition gewonnen und sogar zu deren erstem Constitutionsfestredner erwählt worden war. Vorher, um dies hier kurz zu erwähnen, hatte Roßmäßler, nach Beendigung seiner Leipziger theologischen Studien, dritthalb Jahre als Lehrer an einer Privatschule im weimarischen Städtchen Weida zugebracht und sich dann ausschließlich und rein autodidaktisch dem damals noch sehr mangelhaften Ausbau seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse ergeben. Mochte auch der junge Naturforscher in Weida den Unterricht in der Naturkunde mit Vorliebe betreiben, so lag ihm doch da wie später in Tharandt der Gedanke noch fern, die Naturkunde zu einem Haupttheil des allgemeinen Volksunterricht zu erheben. Dagegen stand er auf politischem Boden schon damals fest auf der Linken und bewies den Entschluß, nichts Halbes in seinem Leben und Streben zu dulden, auch auf dem Gebiete des Glaubens, indem er im Jahre 1846 mit seiner Familie sich der deutsch-katholischen Religionsgesellschaft anschloß, weil er „einer Kirche, von der er innerlich längst abgefallen war, auch äußerlich nicht mehr angehören wollte“.

Seine schriftstellerischen Leistungen hielten sich noch streng an seine Fachgebiete und seinen akademischen Beruf. Seine „Systematische Uebersicht des Thierreichs“ und sein Werkchen über die „Forstinsecten“ sind Lehrbücher; seine „Ikonographie der europäischen Land- und Süßwasser-Mollusken“ ist ein gelehrtes Forscherwerk, das ihn zu einer Autorität in der Zunft stempelte; selbst Werke, die für den Dienst praktischer Benutzung bestimmt waren, wie seine Schrift über den „Fichtenrüsselkäfer“ und „Das Wichtigste vom innern Bau und Leben der Gewächse, für den praktischen Landwirth faßlich dargestellt“, trugen noch nicht den Charakter der Volksthümlichkeit.

Da kamen die Tage der Krisis: das Jahr 1848 mit dem Frankfurter Reichstag. Roßmäßler betrat als Vertreter des zweiundzwanzigsten sächsischen Wahlbezirks die Paulskirche. Errang er sich auch unter den Rednern des Parlaments keine hervorragende Bedeutung, so wurde seine Thätigkeit in den Ausschüssen um so mehr in Anspruch genommen und zwar hauptsächlich in der Abtheilung für die Volksschule.

Mehr als die Sitzungen des Parlaments waren die dieser Ausschüsse für ihn selbst zur Schule eines neuen Strebens geworden. Während in der Paulskirche der täglich verbittertere Parteikampf der Reaction in die Hände arbeitete, hatte Roßmäßler einen Zustand der Volksschule im Allgemeinen kennen gelernt, der ihm, als mit der gewaltsamen Aufhebung des Rumpfparlaments in Stuttgart (18. Juni 1849) der Sieg der Reaction vollendet war, die Ueberzeugung aufdrängte, daß, um dem Volke die Freiheit zu sichern, ihm erst die Wege der Bildung gesäubert und gesichert werden müßten. Und er stand mit dieser Erfahrung nicht allein. Derselbe geistige Proceß – so erzählt Roßmäßler’s späterer Strebegenosse Otto Ule in „Die Natur“ – vollzog sich an Vielen, die an jenen Kämpfen, wie er, aus reiner Begeisterung für die edelsten und höchsten Ideen Theil genommen. Sie hatten es erfahren, sagt er, daß der Tempel der Freiheit sich nicht in die Luft bauen läßt, daß er einer sicheren Grundlage bedarf, und sie erkannten, daß die Bildung diese Grundlage sei und daß nichts diese Bildung sicherer zu gewähren vermöge, als die Naturwissenschaft. So regte sich gleichzeitig weitverbreitet das Streben, naturwissenschaftliche Aufklärung über das Volk zu verbreiten, freiere, geistigere Weltanschauung zu begründen, und diesem Streben kam unbewußt das Volk mit seinem Verlangen nach naturwissenschaftlicher Belehrung entgegen. Soweit Ule. Wenn aber die Sorge für diese Belehrung Andere nur zu einer Erweiterung ihrer Thätigkeit veranlaßte, so erfüllte sie dagegen unsern Roßmäßler so ganz und gar, daß er mit aller Entschiedenheit seines Wesens sich selbst zum naturwissenschaftlichen Volkslehrer der Deutschen ernannte und diesem selbstgewählten Beruf treu blieb bis an sein Ende.

Aeußere Umstände bestärkten ihn in diesem Entschluß. Weil er, als die sächsische Regierung die Parlamentsmitglieder Sachsens von Frankfurt abberief, nicht diesem Ruf, sondern dem Rumpfparlament nach Stuttgart gefolgt war, verhängte man über ihn einen Proceß, nach dessen für ihn günstigem Ausgang gleichwohl der akademische Lehrstuhl ihm entzogen wurde und nur eine kleine Pension ihm verblieb.

Vollkommen frei und nun Herr seiner vollen Zeit, begann Roßmäßler die neue Laufbahn in dem ihm so lieb und werth gewordenen Schwabenlande, und zwar verband er fortan die beiden Mittheilungsweisen des lebendigen, unmittelbar wirkenden Wortes und der weitertragenden Schrift. In dem gastfreundlichen Ludwigsburg, seinem Asyl nach der Stuttgarter Parlamentssprengung, begann er zunächst die Abfassung des Buches, das in der That als Programm für alle seine späteren populär-naturwissenschaftlichen Werke gelten kann, seines Lieblingswerkes: „Der Mensch im Spiegel der Natur“, welches er von 1849 bis 1852 in fünf Bändchen vollendet hat. Es bietet eine novellistische Einführung in die Elemente der Naturwissenschaft und damit zugleich die Gelegenheit, „über das Treiben der Menschen in Staat und Kirche, in Gemeinde und Werkstatt den Alles durchdringenden Hauch der natürlichen Weltanschauung auszugießen.“ Als „naturwissenschaftlicher Reiseprediger“, wie er sein neues Volksamt selbst bezeichnete, trat Roßmäßler zum ersten Male am 29. December 1849 in Frankfurt auf, wo er „über den Zustand der Naturwissenschaft und die Bedeutung derselben für wahre Menschenbildung“ sprach.

Die öffentlichen Vorlesungen fanden ganz außerordentlichen Anklang. Zum ersten Male erhielt das Volk – wie Brehm dies in „Roßmäßler’s Ehre[1] so schön hingestellt – von einem Naturgelehrten auf seine deutsche Frage keine lateinische Antwort. Ja, dieser ehemalige Professor machte sogar die heiligen Geheimnisse der Naturkunde, namentlich der Geologie, zu einer Art öffentlichen Schaustücks, indem er zur Erleichterung der Auffassung durch Anschauung seinen Vorlesungen mit kolossalen, zum Theil transparenten Wandtafeln zu Hülfe kam. Als Sohn eines namhaften Kupferstechers war er selbst ein geschickter Zeichner und Lithograph, der die Illustrationen zu seinen Werken, namentlich der Ikonographie, selbst ausführte oder so sach- und fachkundig leitete, daß auch die Holzschnitte zu seinen späteren, zum Theil prachtvoll ausgestaltenen Schriften zu den vorzüglichsten ihrer Art gehören.

So argwöhnisch war aber die Reaction geworden und in so scharfem Contrast erschienen die Gesetze der Natur, wie Roßmäßler sie, obwohl jede politische und religiöse Anspielung sorgfältig vermeidend, doch offen und rückhaltslos entwickelte, mit den Einrichtungen und Geboten des Staats und der Kirche, daß beide ihren hemmenden Arm ihm bald genug fühlen ließen. Nachdem er in [631] Frankfurt, Mainz, Stuttgart, Ludwigsburg und Wiesbaden mit Ausnahme der exclusiven Gesellschaft, die wärmste, in nördlicheren Städten, wie Aschersleben, Halberstadt, Magdeburg, schon kühlere und in seiner Vaterstadt Leipzig die kühlste Aufnahme gefunden, wandte er sich wieder dem treubewährten Süden zu, mußte aber in Stuttgart das Verbot öffentlicher Vorträge, in Frankfurt und Mainz sogar Ausweisung erleben und fand somit Goethe’s Wort auch für sich bestätigt: „Am meisten ärgert sie’s, sobald wir vorwärts gehen.“

Diese neue Erfahrung, „daß das politisch damals in Schlummer gewiegte Volk auch durch die Wissenschaft nicht geistig wieder geweckt werden sollte und daß man hinter jedem Aufklärungsversuch nur eine revolutionäre Propaganda witterte“, war ganz geeignet, Roßmäßler zu dem strengen, ja harten Demokraten zu machen, der sich zu der herrschenden Partei in den schroffsten Widerspruch setzte, und ihn erst recht zu bestärken in seinem Volkslehreramt, welchem er nur noch als Schriftsteller dienen konnte, nachdem sein Volkslehrstuhl durch Polizeimaßregeln zertrümmert war.

Ehe Roßmäßler in diese neue Bahn einlenkte, brachte er sein strengwissenschaftliches Hauptwerk der „Ikonographie der Konchylien“ zum Abschluß; er bereiste zu diesem Zweck im Jahr 1853 das südliche Spanien, wo die Natur und der Mensch die Hauptgegenstände seiner Forschung waren, die er in einem sehr lesenswerthen Buche („Reiseerinnerungen etc.“) schilderte. Von den großen und kleinen und besonders zahlreichen zeit- und flugschriftlichen Veröffentlichungen Roßmäßler’s in dieser Periode gilt ein für alle Mal als Gemeinschaftliches, daß Volksbildung ihr Zweck ist, sie mögen aus den weiten Gebieten der Naturwissenschaft, der Politik oder der Pädagogik, aus der Geschichte der Erde und der Völker oder aus der Bewegung der Gegenwart ihre Stoffe gezogen haben. Das Bild des nach Belehrung verlangenden Volks stand stets vor seinen Augen, so oft er die Feder ansetzte zu einem öffentlichen Wort. Von den größeren volksthümlichen Werken sind die bekanntesten: „Die vier Jahreszeiten“, in welchen er dem deutschen Volke die innige Verknüpfung seines Wesens mit der Natur seiner Heimath zum Bewußtsein zu bringen sucht; „Das Wasser“, von dem sein Freund Ule sagt: „In keiner andern seiner Schriften begegnen wir einer solchen Klarheit und Lebendigkeit der Darstellung, einer solchen Innigkeit und Wärme der Empfindung, die sich bisweilen zu poetischem Schwunge erhebt. Von keiner andern gewinnt man so sicher den Eindruck, daß zu den gründlichen wissenschaftlichen Studien des Verfassers sich eine Naturbeobachtung gesellte, bei welcher Herz und Sinn gleich betheiligt waren.“ Und in seinem letzten großen Werke „Der Wald“ will er „diesen Schmuck der deutschen Landschaft, diesen Urquell des deutschen Volkscharakters dem deutschen Volk als sein Eigenthum bewahren und den Wald unter den Schutz des Wissens Aller stellen.“

Ist dem treuen Patrioten für diese seine großen schriftstellerischen Leistungen die Genugthuung öffentlicher Anerkennung reichlich zu Theil geworden, so hat er dagegen fast nur Bitteres, nur das Niederdrückende der Mißerfolge in allen seinen direct auf Besserung der Volksschule, Hebung der Volksbildung gerichteten Bestrebungen und Unternehmungen erfahren. Seine mehrmaligen Anträge in den Versammlungen der deutschen Naturforscher und Aerzte auf Begründung einer Abtheilung für naturwissenschaftlichen Unterricht verhallten so ungehört, wie seine Mahnungen an die Fortschrittspartei, der Volksschule ihre Sorge und ihren Schutz zuzuwenden. Vergebens rief er den Männern der Presse, den Hochmögenden und Parteiführern zu: „Erleichtert unseren Nachkommen den Fortschritt, indem Ihr ihnen ein aufgeklärteres Volk heranbildet!“ – Vergeblich mahnte er das Volk selbst, den armen Lehrern den Kampf für die Schule gegen die Uebermacht der Kirche nicht allein zu überlassen. Er wurde ignorirt, wenn nicht gar belächelt, – und es ist eine traurige Rechtfertigung seiner Sorge, daß der größte Theil des „norddeutschen“ Volkes heute bei seinen directen Wahlen sich vielfach der freien Wahl so unfähig erweist.

Ebenso vergeblich endlich strebte der rastlose Mann darnach, sich eigene Gemeinden zu schaffen, um im innigen Verkehr mit ihnen sein Ziel der naturwissenschaftlichen Volksbildung zu verfolgen, und zwar durch die Begründung einer Wochenschrift „Aus der Heimath“, die das Volk heimisch machen sollte in der Natur, und durch die Stiftung der „Humboldt-Vereine“, welche den festen Stamm bilden sollten für die Volks-Akademieen der Zukunft. Den Untergang der für das Volk, für die große Menge berechneten Zeitschrift mußte er selbst noch erleben, und die Humboldt-Vereine gehen sichtlich ihrer Auflösung entgegen. Wer das vergebliche Ringen des Mannes auf diesem Kampffelde überschauen will, der lese seine 1865 Adolph Diesterweg gewidmete Broschüre „Volksbildung“. Sie ist sein letzter schwerer Seufzer um sein verfehltes Streben gewesen.

Trotz alledem schmälert dies das Verdienst des Mannes um sein Volk nicht: es umhüllt nur einen Theil seines Ehrenkranzes mit dem Flor des Dulders, den wir beklagen und bewundern zugleich. „Wir werden oft uns noch rühmen, ihn gekannt und geachtet zu haben,“ sprach Brehm zur Erinnerungsfeier an den Todten, – und so sicher wir sind, daß, was er erstrebte, das deutsche Volk noch erringen wird, so gewiß wird sein heute noch schmuckloses Grab einst der Granitblock zieren, der keiner anderen Inschrift bedarf als: „Emil Adolph Roßmäßler, geboren am 3. März 1806, gestorben am 9. April 1867.“ – Das Uebrige wird dem Volke treu im Gedächtniß und im Herzen stehen.

F. H.




Eine Locke des Königs von Rom.
Von George Hiltl.


Um die Mitte des Augustmonats des Jahres 1815 waren die officiellen Festlichkeiten, die Soiréen und Bälle der vornehmen Gesellschaft Wiens sehr glänzend und heiter. Der Gefürchtete – der Störer des Friedens und der Behaglichkeit, der Riese von Ajaccio – Napoleon war endlich nach gewaltigem Kampfe unterlegen und über den Ocean hatte ihn das Schiff der Engländer getragen, von dessen Verdeck aus der gestürzte Welterschütterer wehmuthsvoll die Abschiedsworte gerufen hatte: „Adieu, terre des braves! je te salue! Adieu France! Adieu!“

Aengstlich lauschte man auf Nachrichten. Die Kunde von der glücklichen Landung des Northumberland auf St. Helena machte die Aengstlichen noch freier von dem Alp, der auf ihrer Brust gelegen hatte, denn schon fürchtete man, daß unterwegs ein Befreiungsversuch gewagt werde, aber St. Helena schien ein unzugänglicher Kerker – dorthin drang kein kühner Enthusiast, an jenen Basaltfelsen mußten die verwegensten Pläne zur Rettung des Kaisers scheitern.

Dessenungeachtet blieb der gefesselte Napoleon noch immer ein Gegenstand der Furcht, und die Engländer, welche die größte Sorglosigkeit zur Schau trugen, fürchteten ihn am meisten. Jede Vorsichtsmaßregel ward ergriffen. Absperrung des einzigen Landungspunktes, Posten auf jedem Vorsprunge, Kreuzerschiffe und hundert Signalstangen, scharfe Visitation der landenden Schiffe – Alles um einen gefangenen Mann. Außerdem wachte man mit ängstlicher Sorgfalt über die etwaigen Verbindungen, welche Napoleon mit seinen Freunden unterhalten konnte; man ließ auf Sir George Cockburn den Sir Hudson Lowe als Wächter folgen, und zur vollständigen Sicherheit setzte die Convention vom 2. Aug. 1815 noch fest, daß Commissarien der verbündeten Mächte ernannt werden sollten, von denen je einer auf der Insel seinen Wohnsitz zu nehmen habe, um sich zu überzeugen: „daß Napoleon auch wirklich noch vorhanden und nicht etwa von Helena entwichen sei“. Diese Commissarien hatten besonders den gefürchteten Verkehr des Kaisers mit der Heimath zu überwachen, sie sollten Sir Hudson Lowe unterstützen. So glaubte man vollständig sicher zu sein und einen unerschütterlichen Frieden zu genießen, welchen der sorgfältig Bewachte allerdings oft gestört hatte. Oesterreichischer Seits war zu dem Amte eines Commissärs der Baron von Stürmer ausersehen [632] worden, dessen Vater ehemals Internuntius bei der Pforte, dann Regierungscommissär im österreichischen Hauptquartier während des Krieges gewesen war. Herr von Stürmer bereitete sich zu seiner Abreise nach Helena vor.

An einem schönen Herbsttage erschien in den Gängen des Schönbrunner Hofgartens ein Mann von kräftigem, wenn auch feinem Körperbaue. Das offene Gesicht zeugte von dem außerordentlichen Geiste, der unter der gewölbten Stirn wohnen mußte. Das Haar legte sich in kurzen Locken um den Kopf, die Augen blickten heiter, fast lächelnd umher, als wollten sie sagen: „Wir haben schon so ungeheuer viel Großartiges gesehen und erforscht, daß wir alle Ursache haben, heiter in die Welt zu schauen.“ Dieser Mann war Alexander von Humboldt. Der große Gelehrte hatte damals schon seine Reise nach Amerika gemacht, sein Name war bereits ein gefeierter.

Humboldt ging durch die von herrlichen Bäumen und Pflanzen eingefaßten Wege. Er schien Jemanden zu suchen, denn er warf seine Blicke durch die Gebüsche des Gartens, bis er einen Gehülfen ausfindig machte. „Mein Freund,“ rief er, „wo finde ich den Herrn Welle?“ Der Arbeiter lüftete seine Mütze und geleitete Humboldt durch den Park in den botanischen Garten. Hier stand zwischen Beeten, die durch Glasfenster geschützt waren, zwischen kleinen Bäumchen und zartem Gesträuche ein junger Mann, der von dem Eintretenden gar keine Notiz nahm, bis dieser ihm freundlich guten Tag wünschte.

„Herr von Humboldt!“ rief der Angeredete in freudigem Schrecken aus. „Es ist eine wahre Freude für mich, Sie hier zu sehen. Ich fürchtete schon, Sie würden von Wien abreisen, ohne mir noch ein Mal das Glück bereitet zu haben, Sie sehen zu dürfen.“

Der junge Mann ergriff ehrfurchtsvoll die Hand des Gelehrten.

„Mein lieber Welle,“ entgegnete Humboldt bescheiden, „Sie erfreuen und beschämen mich zugleich. Ein so trefflicher, kenntnißreicher Mann, wie Sie es sind, darf nicht übergangen werden. Sie bleiben mir stets eine angenehme Erinnerung. Aber ich komme nicht blos, um Ihnen Lebewohl zu sagen, ich bringe Ihnen ein Geschenk.“

Welle stutzte.

„Rathen Sie nur – es wird vergebliche Mühe sein. Also hören Sie – lassen Sie Ihre Araucarien da unten einen Augenblick unter des Himmels Obhut und passen Sie hier auf. Nach der zwischen den verbündeten Mächten abgeschlossenen Convention hat man dem Baron von Stürmer die Mittheilung gemacht, daß der Kaiser ihn als Commissarius nach St. Helena zu dem gefangenen Napoleon senden werde. Die meisten der bei der Regierung beschäftigten interessirt nur die politische Seite der Mission – mich die wissenschaftliche. Die Insel St. Helena bringt Pflanzen hervor, deren Reichthum und Spielarten noch lange nicht genügend festgestellt und erforscht sind. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen und dem Kaiser den Rath ertheilt, mit dem Herrn von Stürmer einen Mann zu senden, der uns die Flora der Insel genügend zugänglich und bekannt mache – der Kaiser, selbst ein Freund der Botanik, hat keinen Augenblick gezaudert und nach kurzem Berathen ist die Wahl, nach meinem Vorschlage, auf Sie gefallen. Rüsten Sie sich demnach zur Abreise nach Helena.“

Welle stand mit weitgeöffneten Augen vor dem Gelehrten. Die Freude hatte ihn sprachlos gemacht – eine wissenschaftliche Reise – die Gelegenheit, forschen zu dürfen innerhalb eines Terrains, auf welchem noch Wenige Erfahrungen sammeln konnten – die Aussicht, das ferne Eiland anschauen zu können, welches gerade jetzt eine historische Berühmtheit erlangt hatte – das waren köstliche Perspective. Nachdem er eine Zeit lang sich besonnen, ob er nicht träume, machte sich seine Freude in den überschwänglichsten Dankesworten gegen Humboldt Luft.

„Gemach! gemach!“ sagte lächelnd der Gelehrte. „Ihre Tüchtigkeit hat Ihnen zunächst den Weg gebahnt. Wofür hätte man sich der Wissenschaft hingegeben, wenn man ihre Jünger nicht so viel als möglich unterstutzte und förderte? Aber, mon cher, Sie haben nicht allein Ihren Fähigkeiten diese Wahl zu danken, sondern auch Ihrem ruhigen, nur der Wissenschaft sich hingebenden Lebenswandel, der Sie vollständig unfähig macht, der geringsten politischen Intrigue sich zu nähern.“

„Ich verstehe Sie nicht recht,“ entgegnete Welle, den Gelehrten fragend anblickend.

„Die Erklärung ist einfach. Sie wissen, mit welcher Strenge man auf St. Helena den gefangenen Kaiser und seine Umgebung hütet – bewacht. Jeder noch so unbedeutende Brief muß gelesen werden, bevor der Kaiser ihn erhält, kein Paket würde uneröffnet das Thor von Longwood passiren. Die Begleitung des Barons von Stürmer besteht aus lauter kieselharten Diplomaten und was dazu gehört – dem Gelehrten, dem weichen, für die Schönheit der Natur empfänglichen Gemüthe ist weniger zu trauen, man mußte einen Mann wählen, der so ganz wie Sie von seiner Sache eingenommen ist und seine Hand zu keinem noch so unbedeutenden Dienste für den berühmten Gefangenen leihen würde, denn die Partei Napoleon’s benutzt emsig Jeden, dessen sie habhaft werden kann. Es ist rührend – in der That – wie sie darauf bedacht sind, dem gefangenen Giganten Freude zu bereiten, ihn, wenn auch nur einige Minuten lang, das herbe Loos vergessen zu machen. Andererseits ist es ebenso betrübend, wahrzunehmen, daß die Wächter des Kaisers stets Intriguen hinter solchen Harmlosigkeiten wittern.“

„Ich bin in dieser Hinsicht der beste Mann,“ rief Welle, „ich verstehe mich auf nichts dergleichen. Wie sollte ich auch dazu kommen? Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß die ganze ungeheuerliche Zeit an mir vorüberging wie ein Traumbild. Aus diesem Halbschlummer weckte mich der Kanonendonner, der mich von meinen Herbarien fortscheuchte – freilich – wer sollte den gefallenen Kaiser nicht bewundern? Der Einwirkung, die eine solche Größe auf alle Menschen ausübt, entzieht sich Niemand, er stehe wie und wo er wolle. Habe ich mir doch erzählen lassen, daß König Friedrich Wilhelm von Preußen die Büste seines Erzfeindes auf seinem Schreibtische stehen hat. Trotz der Feindschaft erkennt der König die Größe seines Gegners gerechtermaßen an.“

„Also – keine Intriguen,“ lachte Humboldt, „Sie scheinen mir in der That ein wenig Napoleonist. Kommen Sie zu Herrn Boos. Wir setzen ihn in Kenntniß.“

Herr Boos war der Oberinspector und Director der Schönbrunner Gärten, unter ihm arbeitete Welle als erster Gehülfe. Boos war sehr erfreut über das Glück seines Zöglings und machte einen seltsamen, fast triumphirenden Blick, als er die Kunde vernahm. –

Einige Wochen später sehen wir Welle zur Abreise mit dem Baron Stürmer gerüstet in das Zimmer seines Vorgesetzten treten. Nachdem die letzten Abschiedsworte gefallen sind, hält Boos den jungen Mann zurück.

„Mein Freund,“ sagte er leise, „Sie gehen nach St. Helena. Sie wissen, daß ich Ihrer neuen Stellung förderlich war, daß ich mich keinen Augenblick dem Vorschreiten widersetzte. Ich fordere dafür einen kleinen Gegendienst.“

„Sprechen Sie, welchen? Ich schätze mich glücklich,“ rief Welle, „was soll ich thun?“

Obwohl in seinem eigenen Zimmer stehend, sah Boos sich dennoch vorsichtig um, dann zog er schnell aus seiner Rocktaschen ein kleines Paket.

„Wenn Sie nach St. Helena kommen,“ flüsterte er, „so suchen Sie Herrn Marchand, den Kammerdiener des gefangenen Kaisers Napoleon, auf und überreichen Sie ihm heimlich dieses Päckchen. Es kommt von seiner Mutter, meiner Freundin, die hier bei Marie Louise und dem Sohne des Verbannten, dem Könige von Rom, sich befindet. Marchand soll es dem Kaiser zustellen.“

Welle stand wie vom Donner gerührt. Humboldt’s Worte fielen ihm ein. Er, der Mann, dem man nicht die geringste Intrigue zutraute, der für ein Muster des strengen Gelehrten und Forschers galt, der gerade deshalb erwählt worden war – er stand jetzt vielleicht an der Schwelle eines gefährlichen Unternehmens. O – die Intriguanten hatten ganz geschickt gewählt – Welle war so harmlos, so stockgelehrt, daß ihn kein Verdacht treffen konnte – aber wenn die furchtbaren Späher auf St. Helena doch hinter das Geheimniß kamen? – dann Lebewohl, botanische Forschung – Auszeichnung – vielleicht auch du, süße Freiheit! Herr Boos aber hatte Ansprüche auf die Dankbarkeit Welle’s – es war schwer, ihm die Annahme des Päckchens zu verweigern. Welle stammelte einige Worte von „Hindernissen“, „Gefahr“, „entdeckt werden“. Boos lachte.

[633] „Sie denken wohl, es sind Fluchtpläne in dem Paket? Nichts davon. Was es ist, brauchen Sie gar nicht zu wissen. Sie können, wenn es herauskommen sollte, beschwören nichts gewußt zu haben – ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß es das harmloseste Päckchen auf dem Erdballe ist. Ich werde Ihnen doch nichts Gefährliches aufbürden. Uebrigens wer soll denn die Abgabe merken? Sie verbergen das kleine Ding in der Seitentasche mit Leichtigkeit, und unter dem Gefolge des kaiserlichen Commissärs wird Niemand einen Mann vermuthen, welcher dem Gefangenen gefährliche Papiere zusteckt. Reisen Sie mit Gott!“

Welle schob das Paket mechanisch in die Tasche. Zehn Tage später befand er sich mit Baron Stürmer und dessen Gefolge auf hoher See. „Land!“ wird signalisirt. Aus den Wogen steigt ein schwarzer, ungeheurer Klumpen. Je näher das Schiff kommt, desto schärfer tritt er heran. Basaltfelsen von tiefschwarzer Farbe, die in tausend Splitter geborsten scheinen, tiefe Einschnitte gleich großen Narben – so steht die Insel St. Helena vor den Reisenden. Am Bord des Schiffes ist Alles lebendig. Da liegt das Gefängniß des Kaisers, von Wellen umbrandet; noch ziehen leichte Morgennebel über die Kanten der zackigen Felswände. Die Sonne steigt empor und beleuchtet das Gestein. Jetzt bemerkt man eine Anzahl kleiner, weißer Punkte auf dem Rücken, es sind Schanzen, Wachthäuschen, Bastionen. In allen Wachen und Lärmkanonen, an vielen Punkten Signalstangen – Alles aus Vorsicht und um des gefangenen Kaisers willen. Kaum wird das Schiff bemerkt, als auch schon von den Hafenbatterien her ein Schuß donnert. Es ist keine Begrüßung, es ist eine Warnung. Weiter darf sich die Fregatte der Insel nicht nähern, bevor nicht die Beamten Sir Hudson Lowe’s an Bord gewesen sind. Das Schiff legt bei. Einige Minuten darauf wird es lebhaft im Hafen. Boote fahren durcheinander. Eins – zwei – drei derselben schießen zwischen den Dämmen hervor, sie tragen Bewaffnete und richten ihren Lauf nach der Fregatte. Der Baron von Stürmer versammelt das Personal seiner Gesandtschaft.

„Meine Herren,“ sagte er, „es scheint mir zwar überflüssig, an Sie diese Aufforderung und Warnung zu richten, weil ich überzeugt bin, daß Niemand von Ihnen Verdächtiges bei sich führt, allein Sie haben genug von der Strenge der englischen Behörden vernommen, um meine Warnung zu mißdeuten. Jeden von Ihnen, der das geringste auf Frankreich oder den gefangenen Napoleon Bezügliche bei sich führt – sei es eine Karte, ein Bild oder dergleichen – fordere ich in seinem eigenen Interesse auf, solche Waare über Bord zu werfen oder mir auszuliefern. Die Folgen einer an sich ganz harmlosen Entdeckung möchten schwerer sein, als Sie vielleicht glauben.“

Natürlich meldete sich Niemand. Welle, der mit unter dem Personal gestanden, fühlte sein Blut schneller kreisen. Er kämpfte einige Augenblicke mit sich, ob er das ihm anvertraute Paket dem Baron überliefern sollte; als er die Hand auf seine hochklopfende Brust preßte, fühlte er ein leises Knistern – es war das Couvert, welches den ihm unbekannten Schatz verschloß. Die Beamten erschienen bald an Bord. Daß sie nichts fanden, was Verdacht erwecken konnte, versteht sich von selbst; nur glaubte der schüchterne Welle sich immer ganz besonders beobachtet, und erst als er seinen Fuß auf den Felsboden der Insel setzte, athmete er freier.

Das Wächteramt des Sir Hudson Lowe war thatsächlich ein schreckliches. Nicht nur die schwere Verantwortung, welche auf ihm lastete, machte dem Gouverneur eine fortwährende Pein, er mußte auch den Haß der halben Welt auf seine Schultern nehmen, denn die Einsperrung Napoleon’s auf Helena hatte in ganz entgegengesetzter Weise gewirkt, als seine Feinde ursprünglich beabsichtigten. Der gefangene Kaiser war zum Märtyrer geworden, sein Unglück und die gewaltige Tragödie seines Geschickes ließen Alles vergessen, was er dem Einzelnen zugefügt haben mochte; schon blieb nur der große Mann zurück, dem die Gefangenschaft auf dem einsamen Felsen einen besonderen Nimbus verlieh, welcher ihn ja auch während seines ganzen Lebens umgeben hatte. Da Sir Hudson Lowe der einzige greifbare Gegenstand, als Kerkermeister die unangenehmste Persönlichkeit war, so häufte man auf ihn eine Unzahl von gerechtfertigten und ungerechtfertigten Vorwürfen. Sir Hudson Lowe hatte nicht allein mit der großen Welt, nicht nur mit der Gereiztheit des auf St. Helena gefangenen Kaisers und dessen Begleitung zu kämpfen, er litt auch schwer durch die ihn nie verlassende Unruhe, durch eine Art fixer Idee: daß Napoleon entkommen sei oder entkommen werde. Oft genug sprang Lowe mitten in der Nacht auf von seinem Lager. Er hatte wieder einen Traum gehabt, der ihm vorspiegelte, ein soeben angelangtes Schiff habe den Kaiser befreit, oder ein Luftballon sei niedergelassen worden. Er eilte dann nach Longwood, um sich zu überzeugen, daß der Gefangene noch in Gewahrsam sei, und solche Träume sind die Ursachen der Entstehung der vielen kleinen Schanzen gewesen, welche den Rücken von St. Helena zieren. Plötzlich, unerwartet erschien dann Lowe in Longwood im Salon des Kaisers nach flüchtiger Anmeldung; er wußte alle kleinen Vorgänge, achtete auf jede besondere Bewegung und die Pakete, die Briefe unterlagen seiner strengsten Recherche.

Der gefangene Kaiser und seine treuen Genossen wurden durch solche freilich oft bis zur Lächerlichkeit getriebene Pflichttreue in den größten Zorn versetzt. Beschwerden, Scenen aller Art, sogar Herausforderungen des Gouverneurs waren an der Tagesordnung und Longwood schien ein kleines Reich für sich, welches der gefesselte Titane vertheidigte. Allerdings sah die Reizbarkeit der Franzosen Vieles schwärzer, als es wirklich sein mochte, aber die empörende Tactlosigkeit Sir Hudson Lowe’s war schlimmer, als sein Charakter. Besonders verletzte den Kaiser die vollständige Unterbrechung jeder Verbindung zwischen ihm und seinem Sohne. Höchst selten gelangte ein Briefchen, ein Zeichen kindlicher Aufmerksamkeit des „Königs von Rom“ nach Helena, und dann selbst wurde es den Händen des Kaisers erst nach genauer Prüfung durch Sir Hudson Lowe übergeben, was Napoleon stets als Entweihung betrachtete. Er liebte den fernen Sohn zärtlich. Noch von Elba her besaß er eine Büste desselben, welche der Graf Bausset in Wien hatte anfertigen lassen. Diese Büste stand über dem Bette des Kaisers im Hause auf St. Helena, und Napoleon betrachtete oft das Sculpturwerk halbe Stunden lang schweigend. Kehrte er von einem Spaziergange zurück, dann pflegte er einige Blumen, welche er mitgebracht hatte, an den Sockel der Büste zu lehnen.

Durch die Convention der Mächte schien das Wächteramt Lowe’s erleichtert werden zu sollen, allein es zeigte sich bald, daß die Commissarien ihm eher Verlegenheiten bereiteten. Eines Tages saß man im Salon des Hauses zu Longwood recht vergnügt bei Tische, der gefangene Kaiser hatte den Vormittag über dictirt. Er breitete seine großen Karten, nach denen er die Geschichte seiner Feldzüge arbeitete, auf einem mächtigen Tische aus und folgte mittels eines Stäbchens dem Laufe der Armeen, im Geiste sich noch einmal zurückversetzend in jene Zeiten des Ruhmes und Glanzes, wo die Massen der tapfersten Soldaten einem Worte des Gewaltigen gehorchten. An solchen Tagen war der Kaiser meist heiterer Laune, wenn er einen großen Moment seines Lebens niedergeschrieben hatte. In der ersten Zeit arbeitete er oft Nachts. Er trug dann einen seidenen Schlafrock und leinene Pantalons mit einer Zeichnung bedruckt, die man „Oeil de perdrix“ nannte. Er arbeitete an einem Bureau aus Rosenholz in seinem Fauteuil sitzend. Später dictirte er. Montholon, Gourgaud, Marchand, der Kammerdiener, der junge Las Casas mußten schreiben. Nach der Arbeit ging man zu Tische. Der Kaiser trug Civilkleidung, statt des historischen dreieckigen Hütchens bedeckte er sein Haupt mit einem runden Hute. Gewöhnlich trug er die militärischen Beinkleider, die Weste und Stiefeln, auch den Orden der Ehrenlegion. Bei besonderen Gelegenheiten erschien er in der bekannten Uniform der Chasseurs de la Garde mit dem berühmten Hute. Also – der Kaiser war sehr heiter gestimmt. Bei seiner Ankunft auf Helena hatte er einige Zeit im Hause der Familie Balcombe zugebracht, welche ihm mit größter Liebenswürdigkeit entgegenkam, Alles zu seiner Disposition stellte und dem Kaiser den Eintritt in sein Gefängniß weniger schrecklich machte. Insbesondere waren es die beiden liebenswürdigen Töchter Eliza und Betty Balcombe, deren reizende Unterhaltung der Kaiser gern genoß. Bis zur Vollendung seiner Wohnung in Longwood blieb Napoleon im Hause der Balcombes. Hier nun hatte Miß Betty ihm eines Abends eine höchst seltsame, aber ihrem Herzen Ehre machende Bitte vorgetragen. Auf der Insel befand sich ein alter Sclave, ein Malaie Namens Tobias, den ein englischer Capitain verkauft hatte. Miß Betty interessirte sich für den Alten lebhaft und wünschte, ihn seinen Kindern wiedergegeben zu sehen. Dazu war aber der Loskauf nöthig, und da Miß Betty den gefangenen Kaiser noch immer für mächtig hielt, so trug sie ihm eines Abends den Wunsch vor, [634] Napoleon möge den alten Tobias loskaufen und in seine Heimath senden. Der Kaiser machte gern den Lenker eines Schicksals, auch in den Tagen des Glanzes war er großmüthig und freigebig. Er versprach, sein Möglichstes zu thun, allein die Uebersiedelung nach Longwood zerschlug die Unterhandlungen, welche O’Meara, der englische Arzt auf Longwood, leitete. Einige Monate später wurden sie wieder aufgenommen und der Kaiser erfuhr gerade an jenem Tage zur Mittagszeit, daß der alte Tobias gegen Erlegung der Kaufsumme freigelassen werden solle. Napoleon bezeigte darüber eine lebhafte Freude. In der Gefangenschaft noch Gnaden ertheilen zu können, schien ihm doppelt großartig. Man scherzte über den Gegenstand und war soeben heiter conversirend beim Dessert angelangt, als der wachthabende Officier dem Kaiser meldete, daß Sir Hudson Lowe ihn zu sprechen wünsche. Mit Einem Schlage war Napoleon’s gute Laune gestört, indessen konnte man den unangenehmen Gast nicht zurückweisen.

„Er mag eintreten,“ sagte der Kaiser, sich vom Tische erhebend und in den kleinen Salon gehend. Sir Hudson Lowe trat bald darauf in’s Zimmer. „Sie wünschen, mein Herr?“ fragte der Kaiser kurz und heftig auf- und niedergehend.

„General,“ begann Lowe, der dem Gefangenen niemals den Titel Kaiser gab, „General, ich komme, um Ihnen zu sagen, daß der Malaie Tobias nicht freigelassen werden kann.“

„He? ich werde zahlen!“ fuhr der Kaiser auf.

„Und wenn dies auch geschähe, ich darf die Freilassung nicht dulden.“

„Warum nicht?“

„Es ist nicht die Freilassung, welche der Miß Balcombe zu Gefallen geschehen soll, die Sache hat einen tieferen Grund.“ Der Kaiser sah den Gouverneur fragend an. Er machte nur eine ungeduldige Bewegung, worauf Lowe fortfuhr: „Es ist wohl nicht die Freiheit des alten Malaien, welche Ihnen, General, am Herzen liegt, ich habe Grund, zu vermuthen, daß Sie darauf ausgehen, die Herzen sämmtlicher Neger der Insel für sich zu gewinnen.“

Der Kaiser blieb betroffen stehen, dann ließ er ein bitteres Gelächter hören, endlich sagte er, sich zum Fenster wendend: „Ich glaube, mein Herr, Sie sind verrückt.“

„Halten Sie mich dafür, General, aber ich fürchte, Sie wollen es machen, wie einst mit Domingo.“

„Sie werden schweigen, mein Herr,“ fuhr der Kaiser wüthend auf. Man hatte einst in Journalen und Libells heftig gegen die von ihm beabsichtigte Expedition nach St. Domingo geeifert. „Sie werden schweigen,“ rief er noch einmal. „Ueberhaupt, was wollen Sie hier? Sie hätten sich nicht zu bemühen brauchen.“

„Ich wollte Ihnen die abschlägliche Antwort selbst bringen.“

„Um sich an meinem Aerger zu weiden, he?“

„Sie verkennen mich.“

„Ganz und gar nicht. Ich will überhaupt nichts von Ihnen, als daß Sie mich in Ruhe lassen.“

„Meine Instructionen sind sehr streng, General. Lord Cockburn, mein Vorgänger, hatte es leichter.“

„Zum Henker, mein Herr, welches sind Ihre Instructionen? Haben Sie doch den Muth, offen damit herauszutreten! Soll ich erdolcht oder vergiftet werden?“

„General, ich muß meinerseits jetzt bitten –“

„Schweigen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie Gift anwenden wollen, aber Eisen scheint mir uns bald zu bedrohen. Sie haben erst neulich meine Officiere durch Bajonnete bedroht, als Ihnen die Oeffnung der Hausthür verweigert ward.“

„Wieder meine Instruction. Ich gestatte Ihnen Partieen in das Innere der Insel.“

„Das klingt wie Hohn. Ich werde stets durch einen Officier escortirt. Ich habe nichts gegen den rothen Rock, denn sobald ein Soldat im Feuer gestanden hat, ist er mir ehrwürdig und die Uniform von Freund oder Feind gilt mir gleich, allein ich erkenne in der Begleitung Ihre Absicht, mich als Gefangenen zu behandeln, und deshalb gehe ich gar nicht mehr aus.“

„Ich habe die Verpflichtung übernommen, für Ihre Sicherheit zu sorgen. Europa sieht auf mich.“

„Sie sind absurd, mein Herr. Sie chicaniren aus übler Laune. Vielleicht sind gerade in England die Wenigsten Ihrer Ansicht. Wäre ich nach Rußland gezogen, ich würde von Alexander freundlich aufgenommen worden sein; der König von Preußen ist ein Ehrenmann, er hätte die Rechte geehrt, welche auch der gefangene Feind beanspruchen darf – aber hier – Sie, mein Herr – o, Sie werden noch erleben, wohin das führt, und Ihre Kinder werden erröthen über den Namen, den sie tragen.“

„Ich muß bitten, General, mich anzuhören –“

„Nein, ich höre Sie nicht weiter an. Sie haben mir wieder einen Tag verdorben, verlassen Sie mein Gebiet!“

Damit wendete der Kaiser dem unglücklichen Gouverneur den Rücken. Lowe trat ab und sagte dem im Vorzimmer befindlichen General Gourgaud: „Der General hat sich eingebildete Länder geschaffen: imaginäres Frankreich, Spanien, Polen. Es scheint so, als wenn er sich auch ein imaginäres Helena gründen wollte.“

Die Hausgenossen fanden den Kaiser in großer Erregung. „Nicht einmal den armen Leibeigenen kann ich befreien, für mein gutes Geld kann ich den Alten nicht loskaufen,“ rief er gegen die Möbel schlagend. „Ich muß wahrhaftig an die Mächte oder die Commissarien appelliren.“

„Es ist vielleicht der beste Weg,“ sagte der General Bertrand. „Vorgestern ist ein Schiff gelandet, welches den österreichischen Commissar Baron von Stürmer mit seinem Gefolge an Bord hatte.“

„Stürmer?“ fragte der Kaiser ruhiger werdend. „Der Name ist mir wohl bekannt. Ein Stürmer war Chargé d’Affaires im kaiserlichen Hauptquartier – vielleicht ist mit dem Manne zu reden.“

Obwohl sein Zorn sich gelegt hatte, war der Kaiser doch finster und in sich gekehrt. Die Verweigerung des Loskaufes eines armen Teufels hatte ihn im höchsten Grade verstimmt. Er ging auf sein Zimmer zurück und ließ während des Nachmittags nichts von sich hören. Aehnliche Auftritte störten den Frieden in Longwood oft genug, – aber heute war der Kaiser besonders unglücklich. Er hatte nichts für sich erbeten, nichts zu seiner Bequemlichkeit verlangt und man störte ihm jetzt die Freude, wohlthätig sein zu dürfen. Finster, das Antlitz in ernste Falten gelegt, einem gefesselten Adler gleichend, erschien er Abends an der kleinen Haustafel. Schweigend nahm man das Mahl ein. Niemand wagte die Stille zu unterbrechen und abgerissene Bemerkungen wurden schnell hingeworfen.

Die Nacht begann sich auf Longwood zu senken, schon wollte der Kaiser in sein Schlafgemach gehen, als Marchand schnell und hastig in’s Zimmer trat. Er machte die Thür hinter sich zu und vorsichtig umschauend reichte er dem Kaiser ein weißes Couvert.

Napoleon’s Augen blickten den Diener an. „Was soll das?“ fragte er.

„Aus Wien!“ entgegnete Marchand.

Ein Blitz der Freude – ein Lächeln der Ahnung, des Vorgefühls großer Freude zuckte über das ernste Gesicht des Kaisers; ein leichtes Zittern seiner Hände ließ sich bemerken, als er das Couvert erbrach; dann ließ er sich, in einen Sessel gleitend, nieder und untersuchte den Inhalt. Er brachte einen kleinen Brief hervor, außerdem ein zusammengefaltetes Papier, – Beides öffnete er, und man sah, wie die Augen des Gewaltigen, jene Augen, welche durch einen Wink das Geschick ganzer Länder entschieden, sich leicht mit Thränen füllten. „Montholon,“ sagte der Kaiser nach einer Pause, „welchen Tag haben wir heute? Ich weiß es wohl, ich war schon deshalb von früh Morgens an so guter Laune.“

„Ich auch, Sire, und wir Alle,“ entgegnete Montholon. „Es ist der siebente September.“

„Richtig,“ sagte der Kaiser. „Der Jahrestag der Schlacht an der Moskwa. Gestern vor vier Jahren war ein Tag der Freude. Meine Garden umstanden das Bild meines Sohnes, welches im Feldlager vor meinem Zelte ausgestellt war, die alten braven Leute weinten vor Freuden – heute sind wir hier – hier die Gefangenen.“ Der Kaiser biß heftig die Lippe. „Aber das ist ein seltsam glücklicher Tag, eine Genugthuung, die mir das Schicksal sendet für die Kränkung, welche Sir Hudson Lowe mir zufügte – denn heute am Jahrestage der Schlacht an der Moskwa wird mir Dieses gesendet.“ Er hob die Papiere in die Höhe. „Am sechsten September eintausend achthundert und zwölf konnte ich im Lager bei Borodino das Bildniß meines geliebten Sohnes küssen, heute sendet man mir durch die Hand eines wackeren Mannes einen Brief und diese Haarlocke meines Kindes – eine Locke des Königs von Rom.“

[635] Ein Ausruf der Freude tönte durch den Salon, – die treuen Genossen des Kaisers umringten den Gefeierten. Napoleon entfaltete das Briefchen, er drückte die Schrift an seine Lippen, sie ging von Hand zu Hand, dann zeigte er behutsam das zweite Papier, eine kleine goldig schimmernde Locke lag darin, ein blaues Seidenbändchen hielt sie zusammen. Die Freude aller Anwesenden war eine stille, ernste geworden, die Wehmuth hielt den lauten Ausdruck zurück und mit thränenden Blicken schaute Alles auf das kleine Büschelchen Haare, dem Haupte entnommen, dessen Locken nach dem Willen des gefesselten Riesen auf Helena einst die Krone des mächtigsten Reiches dieser Erde zieren sollte.

„Es ist mir mehr werth als ein Fürstenthum,“ sagte der Kaiser, die Locke sorgfältig in die Papierhülle legend, „der Brief soll heute Nacht unter meinem Kopfkissen ruhen. Seht Ihr – man hat ihm die Hand geführt, meinem Sohne. Marchand – wer ist der Treffliche, dem ich diesen glücklichen Abend verdanke?“

„Es ist ein junger Gelehrter, der mit dem Personale des Barons Stürmer vorgestern hier anlangte,“ sagte Marchand. „Meine Mutter hat ihm das Paket zustellen lassen, aber wenn Sir Hudson Lowe es erfährt – –“

„Genug! es wird verschwiegen bleiben. O, ich habe noch Freunde überall – ich sehe es. Das ist eine Zartheit – ein Gefühl für mich; wenn ich noch Länder verschenken könnte – wenn ich einst wieder Länder verschenken kann,“ setzte er mit funkelnden Augen hinzu, „sollen Deine Mutter und der junge Gelehrte damit belohnt werden. Kann ich ihm persönlich danken?“

„Er fürchtet die Entdeckung. Es genügt ihm, wenn er von Ihnen, Sire, einen erkenntlichen Blick – einen Gruß erhaschen kann. Vorsicht ist nöthig, lassen Sie uns morgen um die zehnte Stunde etwa im kleinen Garten promeniren.“

„Gut also, Adieu – schlaft Alle wohl!“ rief der Kaiser. „Auf morgen denn.“

Er ging mit seinen Schätzen in das Schlafcabinet und lange noch sah man das Fenster erleuchtet; der Kaiser betrachtete das Schreiben seines Sohnes. –

Welle fühlte sich um einige Centner leichter, als er das Paket in Marchand’s Hände geliefert hatte. Er wartete in gewisser Unruhe einige Tage, ob nicht etwa ein Sturm gegen ihn heranziehen werde – Alles blieb still. Unterdessen machte er fleißig Ausflüge in die Gegend, seine botanische Sammlung begann sich zu vermehren. Oft hatte er das Dach von Longwood mit furchtsamer Neugierde betrachtet, welches zwischen den spärlichen Gummibäumen hervorragte. Von einer dieser Wanderungen zurückgekommen fand er den Befehl vor, sich augenblicklich bei Herrn von Stürmer einzufinden, der in Jamestown wohnte. Welle’s Herz pochte gewaltig. Er ahnte eine Scene, er sah sich in Ketten und Banden, – aber er ging mechanisch in des Barons Haus. Bei seinem Eintritte in Stürmer’s Zimmer fand er diesen vor dem Arbeitstische sitzen. Ohne den Gelehrten zu begrüßen, erhob sich der Baron und reichte Welle, ohne zu sprechen, ein Schreiben. Es war in englischer Sprache abgefaßt und enthielt Folgendes:

     „Mein Herr Baron!

Am Montag Abend um eilf und ein halb Uhr hat der Kammerdiener des gefangenen Generals Napoleon demselben ein Paket überreicht, welches einen Brief und noch einen mir unbekannten Gegenstand enthielt. Der Brief, von Wien gekommen, ist ein Schreiben des Sohnes des Generals Napoleon, meines Gefangenen. Das Paket ist durch einen Mann vom Personal Ew. Hochwohlgeboren überreicht worden, und da ich den unter Ihrem Befehl stehenden Leuten gegenüber nicht eigenmächtig verfahren kann, so habe ich mit dem gestern nach London abgegangenen Paketschiffe mir von meiner Regierung Instructionen erbeten, wie ich mich im gegenwärtigen Falle zu verhalten habe, bemerke jedoch, daß ich Befehl ertheilt, Ihr Personal streng zu überwachen, und daß die Posten Ordre haben, jede unberufene Annäherung an das Wohnhaus zu Longwood mit dem Gewehr zurückzuweisen. Indem ich Ihnen, mein Herr Baron, die Verantwortung für den Vorfall vom Montag Abend zuschieben muß, zeichne ich mit Hochachtung
Hudson Lowe.“

Der unglückliche Welle stand wie angewurzelt, seine Augen starrten auf den Brief, seine Lippen bebten, – er vermochte nur mit leisem Stöhnen zu antworten, als Stürmer ihm, heftig aufbrausend, die Frage entgegendonnerte: „Unglücksmensch, was haben Sie gethan?“ Nach einigem Besinnen faßte er sich jedoch. Der Muth, welcher in der Brust eines jeden Forschers und Gelehrten wohnt, der ihn in die unwirthbarsten Steppen, in die Mitte von Cannibalen hinein treibt, erwachte auch in unserem Botaniker und verlieh ihm die Kraft, sich so wirksam, in so ergreifender Weise seine Handlung zu vertheidigen, daß der Commissar ihn gerührt entließ und seinen Schutz versprach. Welle ging in seine Wohnung zurück. Er fühlte sich nicht nur erleichtert, sondern erhoben, und da er seine politische Mission vollendet hatte, hegte er nur noch einen Gedanken, einen Wunsch: den Kaiser zu sehen, für den er immerhin viel gewagt hatte.

Dieser Wunsch sollte ihm am Freitag erfüllt werden, nur schien die Erfüllung einigermaßen erschwert, denn Sir Hudson Lowe ließ die Beamten Stürmer’s sehr streng überwachen, und die Posten hatten, wie wir wissen, scharfe Ordre. Welle hing seine Botanisirtrommel über, ergriff seinen Sonnenschirm und machte sich nach Longwood auf den Weg. Er stieß bald auf die erste Postenlinie und sah, wie einer der im Umkreise gelagerten Schützen sich erhob, um ihm zu folgen. Der Botaniker, an eine heiße Sonne gewöhnt, begann nun den beschwerlichsten Marsch über das kahle Felsgestein, bergauf, bergab führte er seinen Wächter, dabei blieb er öfter stehen, um scheinbar Pflanzen zu suchen. Die Sonne schickte ihre glühenden Strahlen herab, der Felsen brannte, aber Welle ermüdete nicht; endlich schien der Begleiter zu ermatten, er suchte Schutz unter einem großen, nicht häufig an dieser Stelle wachsenden Farrenkraute, und als der Botaniker um eine Felsecke bog, hatte er sich den Blicken seines Verfolgers entzogen. Welle, schon mit dem Terrain bekannt, näherte sich durch eine kleine Schlucht rasch dem Hause von Longwood, welches mit seiner Umgebung ein Plateau bildete; vom Rande dieser Schlucht konnte man in den Garten des Kaisers hinabschauen. Die Posten lagerten träge im Schatten der Felsen, denn ein Herankommen von dieser Seite aus war gar nicht zu bewerkstelligen, ohne daß die Wachen es bemerkt hätten. Welle sah scharf um sich. Noch bemerkte er Niemanden, die Gegend war ganz einsam, die Sonne brannte gewaltig und die Uhr auf dem Alarmhause zeigte ein Viertel vor Zehn. Da plötzlich erschienen unter den Gummibäumen zwei Personen, – das scharfe Auge des Forschers hatte sogleich Marchand erkannt, und der Andere – ja, das mußte der Kaiser sein, es unterlag keinem Zweifel, diese Züge waren Jedem bekannt, das gefürchtete und von Tausenden zugleich verehrte Antlitz schaute zu dem Gelehrten hinüber.

Napoleon trug seinen leichten Ueberrock und den runden Hut. Welle sah, wie Marchand mit der Hand dem Kaiser die Richtung bezeichnete, wo der Botaniker stand, im Nu hatte Napoleon ihn ausfindig gemacht. Es war dem jungen Mann, als fühle er die Blitze der Augen in seiner Brust, er sah, wie der Kaiser den Hut lüftete, dann hob sich seine Hand und winkte zwei, drei Mal einen dankenden Gruß nach dem Felsen hin, ihm entgegen, der dem Gefangenen das köstliche Geschenk gebracht hatte: „die Locke des Königs von Rom“. Welle verneigte sich tief; er sah, wie der Kaiser seine feine Hand auf das Herz legte, noch einmal grüßte und dann hinter dem Hause verschwand. In diesem Augenblicke schlug die Uhr zehn, die Trommel wirbelte, die Posten wurden abgelöst und Welle verließ den Felsen. Er hatte den Kaiser gesehen – seinen Dank entgegengenommen.

Merkwürdigerweise ging das Ungewitter an dem Haupte des Gelehrten glücklich vorüber. Sir Hudson Lowe hat nie wieder des Vorfalls erwähnt, und Welle durfte unangefochten auf der Insel bleiben. Später sah er den Kaiser noch öfter, aber ohne ihm näher zu kommen. Ohne Zweifel hatte man in London selbst den Spectakel lächerlich gefunden, den Lowe wegen Uebersendung einer Locke und eines Briefchens erhoben hatte.



[636]
Warum?


Wo der Karpathen Hochwaldpracht
Gen Süden auf Rebenhügel lacht,
Die das Auge der Puszte beglücken –
Da hinkt durch das prangende Land daher,

5
Das Herz von Sehnen und Bangen schwer,

Ein junger Krüppel auf Krücken.

„Ein Jahr vorbei, und wieder war’s Mai,
Und die blutigen Monde sind wieder vorbei,
Die Todtenmonde von Böhmen[2],

10
Wo der Grabhauch sich in den Lüften ballt

Und nächtlich über die Erde wallt
Als flammender giftiger Schemen.

„Dort traf es auch mich und traf mich hart.
Fast hätten sie mich mit eingescharrt,

15
Zu den Todten Sadowa’s gebettet.

Da kam der Feind, Gott segne ihn!
Er ließ des Gefangenen Geist nicht entflieh’n,
Der Feind hat mich gerettet.

„Im fernen Nord sind die Winter wild,

20
Die Herzen warm und die Hände mild,

Es heilten die schweren Wunden. –
Nun heim zu Dir, o Mütterlein Du!
Hat Frieden Dein Herz im Leben, hat Ruh’
Dein Kummer im Tode gefunden?

25
„Nach langen Wanderns Noth und Qual

Grüß Gott Dich, magyarisches Heimaththal,
Von Mondesglanz umflossen!
Im Dorf ist entschlummert Haus um Haus.
Still zieh’ ich ein, laut zog ich aus;

30
Wo sind die Kriegsgenossen?


„Und da ist dem Gottesacker entlang
Mein alter Schul- und Kirchengang –
Und dort – ein Fenster noch helle!
O Himmel, ihres Lämpchens Schein

35
Beleuchtet mein betendes Mütterlein!“

– Er kann nicht von der Stelle.

Du armer zitternder Krückenmann,
Recht leise, leise schleiche hinan,
Ihr Antlitz anzubeten.

40
So ist seit Jahr und Tag um Dich

In jeder Nacht inbrünstiglich
Ihr Herz vor Gott getreten.

„„Mein Gott, ich frage Dich nicht: Warum?
Ich beuge mich gläubig, ich beuge mich stumm

45
Vor Deiner Allmacht Walten.

Nur das Eine flehe ich Nacht und Tag:
O hemme des Herzens brennenden Schlag!
O kühle es! Laß es erkalten!

„„Mach’s einer Mutter nicht allzuschwer!

50
Hier sieht mein Aug’ ihn nimmermehr,

Er ruht bei Dir in Frieden.
Mein einzig Fleh’n ist Wiederseh’n,
Ihn wiederseh’n so rein und schön,
Wie er von mir geschieden!““

55
Da ruft es „Mutter“ süß und laut.

Wie reißt sie’s empor! – Sie horcht, sie schaut! –
Wie die Sinne ihr treulos werden!
Sie fliegt ihm entgegen, sie sieht nichts, nichts,
Als das selige Lächeln des Angesichts,

60
Ihr Ein und Alles auf Erden.


Doch es tritt, was der Sturm der Wonne verhüllt,
Bald genug an’s Licht und, ach, erfüllt
Ihr Herz mit Schrecken und Jammer.
Ihr Wehruf – sie will ihn ersticken mit Macht –

65
Umsonst – der Schmerz schreit hinaus in die Nacht

Aus der Armen einsamer Kammer.

„„O Herr im Himmel, nun halte mich!
Von Gottes Gnaden nennen sie sich,
Die der Mütter Herzen so schlagen!

70
Ein Krüppel mein Kind! Warum? Warum?

Die Priester und Könige bleiben stumm –
Nun muß ich’s, mein Gott, Dich fragen!““

Friedrich Hofmann.





Volksvehme in Amerika.[3]


Keine Erscheinung im amerikanischen Volksleben hat den an die strict geregelten europäischen Verhältnisse Gewöhnten mehr Stoff zur Anklage gegen amerikanische Zustände und den Freunden der großen Republik in Europa mehr Veranlassung zu aufrichtigem Bedauern und redlichen Besorgnissen für ihre Zukunft gegeben, als das sporadische Auftreten von Vigilanz-Comités, Sicherheitsausschüssen, Moderatoren, Regulatoren und wie alle jene geheimen Verbindungen heißen mögen, die auf dem an geheimen Gesellschaften aller Art so fruchtbaren amerikanischen Boden wie blutige Nordlichter am socialen Horizonte auftauchen. Es scheint heute unnütz das Für und Wider näher in’s Auge zu fassen; jedenfalls gehört es nicht zu unserer Aufgabe. Europäer werden diese Erscheinungen nie als berechtigt zugestehen, wenn sie auch nichts dagegen einzuwenden finden, daß eine ihrer Regierungen über Städte, Districte oder gar Provinzen das Kriegs- oder Standrecht verhängt, oder wenn sogenannte Verbrecher ihrem natürlichen Richter entzogen, die gesetzlichen Garantien, z. B. Schwurgerichte, für ganze Kategorien von Vergehen abgeschafft, Staatsgerichtshöfe eingesetzt, die Vertheidigung auf ein Minimum beschränkt, ja ganze Gerichtshöfe aus anerkannten Gegnern eines Angeklagten oder seiner Sache zusammengesetzt werden, oder gar, wie unter dem beglückenden Scepter des jüngsten Cäsars, Tausende blos auf Befehl der Polizei ihrer Freiheit beraubt oder transportirt werden. Andrerseits wird kein Amerikaner, sei er eingeboren oder adoptirt, der auch nur einige Jahre in den neuen Territorien oder Staaten der Union gelebt hat, unbedingt in das europäische Verdammungsurtheil des Lynchgesetzes einstimmen; er wird dessen Unentbehrlichkeit beklagen, aber das Zeugniß nicht zurückhalten, daß in den allermeisten Fällen sein Arm nur die Schuldigen erreicht hat, daß es fast nie ohne die triftigsten, von einer Anzahl als Geschwornengericht vereinigter Bürger untersuchten Gründe vollzogen wurde und daß seine Wirkung stets eine im Interesse der öffentlichen Moral und Gesetzlichkeit höchst günstige war.

Mein Beruf als Richter in einem der größten deutschen Staaten bis 1849 und mein Aufenthalt seitdem in einem der verrufensten amerikanischen Grenzstaaten gab mir volle Gelegenheiten beide Seiten zu prüfen. Ich habe Jahre lang bewußt unter der Herrschaft von Vigilanzcomités gelebt und mich sicherer gefühlt, als unter dem Schutze der königlichen Polizei- und Staatsbehörden; manche meiner nächsten Bekannten und Freunde, frühere deutsche Professoren, Kaufleute, Justizbeamte etc., waren Mitglieder der Comités und fast täglich oder nächtlich in ihrer traurigen Mission thätig, ohne daß unser Verhältniß dadurch getrübt wurde, ja ich konnte den Männern einen höhern Grad von Achtung nicht versagen, die Alles auf’s Spiel setzten, nur um die Gesellschaft, die Herrschaft des Gesetzes an deren Todfeinden zu bestrafen und zu rächen.

Nachdem in Californien sich Vigilanzcomités gebildet hatten, dasselbe auch in Colorado geschehen war, begann ein Massenauszug aller Diebe und Verbrecher aus diesen Gebieten und aus den Verbrecherhöhlen der großen östlichen Städte nach den neuentdeckten Minen in dem nordöstlich von Oregon gelegenen Montana, namentlich nach den reichen Districten von Beaver Head und Deer Lodge. Hier lauerten Mörder überall, wo sich die geringste Gelegenheit bot, Leben für Geld zu nehmen; hier übertraf die Organisation einer Bande von Desperados, was Vollkommenheit und Vertheilung der Rollen anlangt, Alles, was auf diesem Felde irgendwo geleistet worden ist. Das System war vollkommen, die Pläne wurden mit ausgezeichneter Kunst angelegt und ausgeführt, die Werkzeuge der Bande folgten hart auf den Fußtritten des Bergmanns nach jedem Lager. Mit der zunehmenden Bedeutung von Virginia City verlegte sie ihr Hauptquartier dorthin. Es war kein loser Haufe von unabhängigen Dieben und Halsabschneidern. Da war ein Hauptmann, untergeordnete executive Beamte, Secretäre, Agenten, Diebshehler – und geheime Zeichen; ferner Hieroglyphen, die einen Menschen, einen Wagen oder einen Zug so bezeichneten, daß sie unbewußt auf dem Wege ihr eigenes Verderben einluden. Manche der Führer trugen einen besondern Knoten in ihrem Halstuche, und die Mitglieder konnten bei Tag oder Nacht, ob sichtbar oder in Dunkelheit gehüllt, sich unter einander verständigen und sich gegenseitig unterstützen. Nicht waren sie, wie in Californien und Colorado, die Auswürflinge und

[637]

Wieder in der Heimath.
Nach einer Originalzeichnung von Erwin Oehme in Dresden.

[638] Aufgegebenen der Gesellschaft, in der sie sich bewegten, nein, sie waren die reichsten, einflußreichsten und, wie Manche anfänglich glaubten, die nützlichsten Bürger.

Der Führer der Bande, Heinrich Plummer, war einer der vollendetsten Verbrecher, ein Meister in der Verwendung und Leitung von Menschen, und so schlau in seinen Operationen, daß er zum Sheriff zweier Counties und die zuverlässigsten und gewandtesten seiner Spießgesellen zu seinen Stellvertretern gewählt wurden. Diese Counties hatten keine gesetzliche Existenz; die von den Ansiedlern adoptirten Ordnungen waren die einzige Autorität: „Macht war Recht“.

Es ist nicht zu verwundern, daß Plummer, mit der Macht des Volkes in den zwei reichsten und bevölkertsten Bezirken in seiner Hand, die Geschäfte der Bande zur höchsten Blüthe brachte und jede Entdeckung vereitelte. So vollständig umfaßte die Organisation Alles, was für sie von Interesse war, daß jeder Ort (in bergmännischer Sprache) bewacht, sein Ertrag bis zum Augenblicke der Versendung verfolgt wurde und nur äußerst selten ein Mann mit seinem Gold sicher die Staaten erreichen konnte. Gewöhnlich waren die Leute glücklich, wenn sie blos dies verloren und ihr Leben retteten. Fuhren sie in einer Kutsche oder mit einem Zuge ab, so waren sie selbst oder etwas, das zu ihnen gehörte, mit untrüglichen Zeichen versehen, wodurch die herumziehenden Banden angewiesen wurden, zuzuhauen und den Raub zu sichern; oder wenn, wie oft der Fall war, zugleich Rache genommen werden sollte, dann benachrichtigte der Reisende unbewußt den versteckten Mörder, daß sein Leben diesem gehöre. Hunderttausende von Dollars wurden so Berg- und Geschäftsleuten geraubt, und wenn Verhaftungen vorkamen, so wurden die Verbrecher dem Sheriff Plummer, dem Räuberhauptmann, überliefert, der sie entschlüpfen ließ und ihnen ein anderes Feld der Thätigkeit anwies, wo sie nicht leicht erkannt werden konnten.

Diese Verbrecherbande erhielt, weil sie sich besonders die Straßen zum Schauplatz erkoren, den Namen „Straßenagenten“, und bis heute werden Straßenräuber im fernen Westen so genannt. Es waren mehr als fünfzig verzweifelte Kerls, vortrefflich bewaffnet und äußerst geschickt im Gebrauche der Waffen, mit wahrscheinlich über hundert Spießgesellen und Gehülfen außerhalb der Verbindung. Durch das ganze Land hatten sie Stationen, wo sie sich sicher aufhalten konnten, da die Besitzer derselben ihre Kuppler waren und einen kleinen Theil der gemeinschaftlichen Beute empfingen. Auf diese Weise hielten die über alle Ansiedelungen und Straßen von Montana verzweigten tausendfältigen Adern des Verbrechens das Gesetz in ihren Krallen und herrschten unumschränkt über das ganze Territorium. Selbst wenn einmal das Gesetz sich geltend machen wollte, dann lieferte oder bestach die Bande die Beamten und es konnte keine Geschwornenbank zusammengebracht werden, in der nicht eine genügende Zahl aus der Bande saßen, um die Entscheidung in der Hand zu haben. Ihre Mitglieder wurden nach und nach so kühn, daß sie nicht mehr blos des Raubes wegen mordeten, sondern bei der geringsten Veranlassung und mit der ruhigsten Ueberlegung in den Straßen der Städte Menschen niederschossen, ohne daß Jemand es wagte, sie deshalb anzuklagen. Ermuthigt durch fortgesetzten Erfolg und sicher, daß keine Macht existirte, stark genug, um sie zu Strafe zu ziehen, verbreiteten diese Strolche zuletzt eine entsetzliche Schreckensherrschaft über Montana, und die Bewohner waren gezwungen, Plummer nachzugeben, seiner Autorität zu gehorchen und schweigend sich seine Schandthaten gefallen zu lassen, blos um ihr Leben zu retten.

Aber die Vergeltung war im Anzuge! Manche der besten Bürger waren ermordet und beraubt worden und die Uebelthaten der Bande auf den nach den Staaten führenden Straßen so häufig, daß Niemand mehr wagte, mit edlen Metallen dorthin zurückzukehren. Jeder gute Bürger fühlte, daß entweder jede ehrliche Beschäftigung aufgegeben oder aber bald ein schreckliches Hülfsmittel angewendet werden müsse. Es ist wunderbar, daß die Ermordung eines der anspruchslosesten Bewohner Montanas, eines einfachen, freundlosen Deutschen, der Tropfen war, welcher die Volksgeduld überlaufen machte, eine Macht in’s Leben rief, die fast hundert Menschen richtete, hunderte von Anderen in selbstgewähltes Exil trieb und Montana Ordnung, Sicherheit und Ruhe verschaffte, ohne einen Flecken von Ungerechtigkeit auf ihrem Rufe, und daß das Hauptwerkzeug in diesem großartig kühnen Unternehmen ebenfalls ein Deutscher war! Der erstere der erwähnten Deutschen befand sich auf dem Wege, einige Maulthiere an den Käufer abzuliefern, deren Preis er bereits erhalten hatte, als er um dieser Thiere willen ermordet wurde. Die Leiche wurde in einem Salbeidickicht versteckt und von den Mördern das Gerücht verbreitet, er habe sich mit dem Gelde und den Maulthieren davongemacht. Eine Zeit lang gab es keinen Anhaltspunkt, um diesem Gerüchte zu widersprechen, bis zuletzt ein Jäger ein Waldhuhn schoß, welches in dasselbe Dickicht fiel, worin die Leiche versteckt lag; eine andere durch die Straßenagenten verübte Schandthat. Der Anblick der nach der Stadt geschafften Leiche des allgemein geschätzten Mannes brachte die öffentliche Indignation zur Fieberhitze. Ein Mann, Namens Black, bei dem der Ermordete früher in Dienst gestanden, gab ihr zuerst Form und Gestalt, und das Unternehmen gegen die Desparados wurde allgemein und rasch unterstützt, daß es, einmal begonnen, jede Schwierigkeit und jedes Mitleid im Sturme niederwarf. Gleichwohl war es ein höchst gefährliches. Ein einziges Mißlingen wäre das Todesurtheil für alle Betheiligten gewesen, denn es war keinem Zweifel unterworfen, daß die Verbrecher in der Mehrzahl waren. Wäre vor ihrer Organisation auch nur der Verdacht aufgetaucht, daß zehn oder selbst fünfzig Männer solch’ eine Absicht hätten, nicht Einer von ihnen würde deren Ausführung erlebt haben. Allein sie waren ebenso klug wie entschlossen, ihre Rache wurde weder gesehen noch gefürchtet, bis sie den Mörder aus seinem Bette holten und die Morgensonne seinen von einem Baumaste hängenden leblosen Körper beschien. Kein warnender Donner ließ den entsetzlichen Blitzschlag ahnen, der erbarmungslos die Verbrecherbande vernichten sollte!

Unter den vielen kühnen Männern, welche die Sache in’s Werk setzten und dann offen unterstützten, kann keinem ausschließlicher Ruhm zuerkannt werden, aber einer unter ihnen nimmt in der Geschichte dieses Vigilanzcomités eine ebenso hervorragende Stelle ein, wie Plummer während der Schreckensherrschaft. Dies war Johann X. Beidler, ein junger Mann aus Pennsylvanien, aus einer der dortigen deutschen Familien. In seiner Jugend verfertigte er Besen, später fungirte er als Koch in der Wirthschaft eines kleinen Badeortes. Seine Genügsamkeit, Freundlichkeit und sein harmloses Wesen, verbunden mit fröhlichem Humor, machten ihn zum Lieblinge Aller, die ihn kannten. Er ist von mittlerer Größe und, was Körperkraft angeht, eher unter dem Durchschnitte von Männern seines Alters. Um sein Glück zu machen, ging er nach dem Westen, und bald nach Plummer’s Ankunft traf auch „X“ – der einzige Name, unter dem er über ganz Montana bekannt ist – dort ein, – Gift und Gegengift zusammen.

Stark in seiner innersten Neigung zur Redlichkeit, jeder Furcht fremd, nicht kräftig, aber rasch wie der Gedanke in seinen Handlungen und so fest in seinen Vorsätzen, wie die ewigen Berge, die ihn umgaben, war es natürlich, daß er sofort und in vollem Ernst auf den Versuch einging, der Gesellschaft Ordnung und Sicherheit zu verschaffen. Es ist nicht überraschend, daß im Anfange die ernsten Reformatoren, denen er sich angeschlossen, nichts Großes von ihm erwarteten; allein bald machten seine unermüdliche Ausdauer, sein nie wankender Muth und seine besondere Geschicklichkeit, die Pläne des gemeinschaftlichen Feindes zu vereiteln, ihn zur Hauptstütze der Organisation und zum unaussprechlichen Schrecken jedes Verbrechers. Dieses kleine Männchen, ohne Familie und Eigenthum, die er zu vertheidigen gehabt hätte, verhaftete allein Dutzende der riesigsten Verbrecher und richtete am hellen Tage ebensoviele hin unter Anleitung jener wunderbaren Vehme der Vergeltung, die ungesehen um das hastig errichtete Schaffot Wache hielt.

So gewandt ist er mit einem treuen Revolver, daß die geübtesten Hallunken öfters vergeblich versuchten, ihm einen Moment zuvorzukommen. Schnell wie der Blitz ist der Revolver gezogen, während des Ziehens gespannt und dem verlorenen Manne mit der starren Aufforderung vorgehalten: „Hände in die Höhe!“ und die Arbeit ist gethan. Einmal verhaftete er ganz allein sechs der gefährlichsten Räuber auf einem Haufen, alle wohlbewaffnet, und machte sie vor sich her in’s Gefängniß marschiren. „Hände in die Höhe, meine Herren!“ diese Worte waren für sie die erste Andeutung, daß er etwas mit ihnen abzumachen hatte, und Unterwerfung war ihre einzige Rettung. Hätte Einer von ihnen nur die [639] geringste Bewegung nach seinem Gürtel gemacht, er wäre ein stiller Mann gewesen im selben Moment. Bürger waren ihm ganz nahe und er wußte, wie viele unter ihnen geschworen hatten, ihn zu schützen und zu unterstützen, allein die Gefangenen wußten es nicht. Es scheint, daß diese ungreifbare, unsichtbare, nicht zu bemessende Macht selbst die verwegensten Diebe und Mörder entnervte, sobald ihr plötzlicher und verhängnisvoller Griff sie erfaßte. Bei irgend einem gewöhnlichen Versuche, sie zu verhaften, vertheidigten sie ihr Leben gegen Dutzende von Angreifern, aber wenn die Bürger „im Namen der öffentlichen Sicherheit“ ihnen gegenüberstanden, waren sie entmannt. Man kannte keine Formalitäten, keine Acten mit Gerichtssiegeln wurden verlesen. Niemand konnte ahnen, wann oder wo die entsetzliche Aufforderung des großen, unsichtbaren Gerichtshofes kommen würde. Der Schlafcamerad des Geächteten in einer weit abgelegenen Hütte trank und frühstückte mit ihm und machte ihn dann erstarren durch die Mittheilung: „Man verlangt nach Ihnen – Geschäfte in Virginia.“ In keinem einzigen Falle hat einer dieser vom Vigilanzcomité verhafteten Verbrecher auch nur einen Schuß abgefeuert, obwohl sie wußten, daß ihr Tod unvermeidlich war. Es ist wahr, in den meisten Fällen wurde ihnen nicht Zeit dazu gelassen, allein unter allen gewöhnlichen Verhältnissen wird auch die geringste Gelegenheit zum Entwischen benutzt. Dem „X“ entkam nie Einer! Der bloße Versuch wäre nur beschleunigter Tod gewesen. Und wie diese Galgenvögel ihn fürchteten, so achteten sie ihn auch so sehr, daß die meisten von ihnen, wenn um Tode von seiner Hand verurtheilt, ihm ihre letzten Wünsche mittheilten, die er als Heiligthum bewahrte.

Jetzt sind Ordnung und öffentliche Sicherheit hergestellt, aber „X“ ist doch noch in seiner Lieblingsbeschäftigung thätig. Er ist das Haupt der Entdeckungspolizei im Territorium. Er kommt und geht, und nur er weiß, in welcher Angelegenheit. „Was giebt’s, X?“ ist eine Frage, die gewöhnlich mit „Auf’s Spüren“ beantwortet wird, so wie alle Fragen nach seinem Wege oder der Zeit seines Wegganges mit „Ich weiß nicht!“ Allein hat er jeden Weg und jede Ansiedelung Montanas durchstreift, manche noch ganz unbekannte Gegenden durchforscht und ist immer bereit, ohne Begleitung oder Hülfe einen Verbrecher zu verfolgen, wohin immer dieser sich geflüchtet habe. Sein Lebenslauf ist in der That höchst merkwürdig gewesen und es grenzt an’s Wunderbare, daß er in seinem unzähligen Zusammentreffen mit dem Abschaum der Menschheit stets unverletzt davongekommen ist. Jüngst wurde er zum Zolleinnehmer in Helena ernannt, allein so lange in Montanta noch ein Dieb, ein durchgegangener Kassenbeamter, ein Mörder oder ein Indianer existirt, der den öffentlichen Frieden stört, wird er stets der thätigste Bote der Gerechtigkeit in den Goldregionen sein. Sein langer Dienst als Repräsentant unbarmherziger Vergeltung an den Geächteten hat ihn nicht seines freundlichen und gemüthlichen Wesens beraubt, und wohin er immer seine Schritte wendet, da ist er jedem Freunde der Ordnung und gesetzlicher Zustände ein willkommener Gast. Wenn er auf dem Kriegspfade ist, dann schreckt ihn nichts zurück und der Verbrecher kann sich nur durch zeitigen Rückzug retten. Reichlich dreitausend vollkommen organisirte Männer stehen hinter ihm. Sie haben Compagnien, Officiere und Auserwählte und Boten in jeder Ansiedelung, so daß er im Augenblick Dutzende oder Hunderte von tüchtigen Männern an seiner Seite haben kann.

Die erste Execution war die von einem gewissen Georg Ives, und er wurde von einem Volksgerichte verurtheilt. Es war der Wendepunkt zwischen Anarchie und Ordnung! Die Verbrecher waren in der Mehrzahl und die Befreiung des Gefangenen das wahrscheinliche Ergebniß; allein kühne Männer waren kühner als je, und der Verbrecherhaufe, der das Gericht umzingelt hielt, um das Urtheil zu controliren oder den Gefangenen mit Hülfe neuer Mordthaten zu retten, zerstob vor der starren Rechtschaffenheit und dem nicht zuckenden Muthe der Männer der Ordnung. Oberst Sanders, ein junger Advocat, klein von Gestalt, aber groß von Seele und Mannhaftigkeit, fungirte als Staatsanwalt, und zum ersten Male prallte die stets wachsende Woge der Verbrecher zurück, als das Urtheil ertönte: „Daß Georg Ives sofort am Halse aufgehangen werden solle, bis er todt sei.“ Achtundfünfzig Minuten nachher und nur zehn Schritte von dem Orte, wo er vor Gericht gesessen, fiel die Versenkung, und die Gerechtigkeit hatte in Montana wieder Fuß gefaßt. Dies geschah am 21. December 1863.

Bald nachher wurde Sheriff Plummer mit zweien seiner Spießgesellen zusammen in Bannock gerichtet. Er baumelte an einem Galgen, den er selbst zum Aufhängen eines Anderen aufgerichtet hatte, und behauptete seine wunderbare Selbstbeherrschung bis zum letzten Augenblicke. Seine letzte Handlung war eine sorgfältige Untersuchung des Strickes und der Versenkung, um gewiß zu sein, daß der Fall ihm das Genick brechen würde. Fünf seiner Gefährten ruhen auf dem Hügel nahe bei Virginia, und dann ergoß sich der Wildbach der Vergeltung, bis zuletzt ein von einem Baume herabhängender lebloser Körper die Inschrift trug: „Wil. Hunter, der Letzte von Heinrich Plummer’s Bande.“

Mehrere der zuerst Ergriffenen und Hingerichteten bekannten am Galgen und offenbarten die Namen der ganzen Bande, und mit dieser Kenntniß wurde nicht geruht, bis auch nicht einer der eigentlichen Gefährten Plummer’s mehr am Leben war. Nicht Einer ist aus jener allmächtigen Organisation geblieben, ihre blutige und verhängnißvolle Geschichte zu erzählen. Nach Hinrichtung der Führer – drei in Bannock und fünf in Virginia – wurden die zersprengten und flüchtenden Verbrecher gejagt wie Wild und schnell abgefertigt. Tausende von Dollars wurden daran gewendet, um Diejenigen zu verfolgen, welche Hunderte von Meilen geflohen waren, um dem nicht zu erweichenden Rächer zu entkommen, – Alles vergeblich! – Wenn sie in ihren einsamen Zufluchtstätten sich sicher glaubten, dann erfaßte sie plötzlich der eisige Griff der Vigilanten, und sie fanden ein unbeschriebenes und unbetrauertes Grab, wo immer die geheimnißvollen Diener der beleidigten Gerechtigkeit mit ihnen zusammentrafen. Einige hatten sich in die engen Felsenschluchten der höchsten Gebirge von Idaho und Oregon, Andere nach Californien geflüchtet, ja selbst Südamerika wurde als Zufluchtsstätte gegen den entsetzlichen Strom der Rache aufgesucht. Indeß Alles, Alles war umsonst. Das feierliche Urtheil der geheimnißvollen Vehme mußte vollzogen werden und wenn die Grenzen der Erde nach dem Opfer zu durchsuchen gewesen wären. Die Gerechtigkeit nicht allein, sondern ebenso sehr die allgemeine Sicherheit erforderte es, daß kein einmal Verurtheilter entkommen durfte. Sie möchten später die Tausende von Meilen zwischen Montana und den Staaten sich hinstreckenden Ebenen und Gebirgspässe beunruhigen, welche die Gerichtsbeamten manchmal durchstreifen mußten, und Niemand würde sein, um auf’s Neue Rache an dem Verbrecher zu nehmen. Sich selbst und die öffentliche Ordnung stellten die Vigilanten sicher durch nicht endigende Verfolgung.

Und doch ist ihre Aufgabe noch nicht völlig gelöst. Obwohl unsichtbar und ungekannt, bewacht ihr schlafloses Auge den fernen Westen mit nie ermüdender Aufmerksamkeit. Kein Desperado kann den Missourifluß aufwärts gehen, ohne daß sein Name, seine Beschreibung und Vergangenheit ihm vorhereilt oder ihn begleitet, und jede Ansiedlung hat ihre treue Schildwache, ihn bei der Ankunft anzurufen. Viele der Strolche wähnen, daß der Verband der Vigilanten aufgelöst ist, und wagen sich wieder nach Montana, bis das Lebewohl, welches ihnen ein unbekannter Freund mit dem Bemerken zuraunt, daß sie sofort abreisen müssen, ihnen sagt, daß für sie nichts mehr zu hoffen bleibt. Keine weitere Erklärung wird gegeben, – es ist keine nöthig, und Montana verliert einen Bürger, den es besser entbehren als behalten kann.

Dies ist eine kurze und natürlich unvollständige Geschichte des Triumphes der Gerechtigkeit in Montana. Die Gerichtsbehörden sind jetzt in vollständiger Thätigkeit, allein ohne die Macht der Vigilanten würde das Verbrechen bald wieder die Oberhand gewinnen. Der Verband wird aufrecht erhalten, als ein Gehülfe der Gerichte und um den Arm der Gerechtigkeit auszustrecken, wohin die bürgerlichen Behörden ohnmächtig sind zu reichen. Sollte das Gesetz sich in irgend einem Falle zu schwach erweisen zur Aufrechthaltung der Ordnung, dann wird das „Fiat“ von dreitausend entschlossenen Männern im Interesse der öffentlichen Sicherheit ertönen. So unbeugsam waren sie, daß kein Mittel, keine Verbindungen, keine Verhältnisse den Schuldigen zu schützen vermochten. Man fand aus, daß einer jener Verbrecher im Kreise der Vigilanten selbst Schutz gesucht hatte vor der gerechten Strafe; er wurde aus der Mitte von fünfzehn heraus genommen und hingerichtet. In einem anderen Falle erboten sich die Freunde des Verurtheilten, das gestohlene Eigenthum zu ersetzen, wenn das Urtheil von Tod in Verbannung umgewandelt würde, allein der Verbrecher war ein Mitglied der Räuberbande, [640] und die Vigilanten selbst machten den Ersatz und sandten den Räuber in’s Grab.

Die Verbindung wird weder von Freund noch Feind beschuldigt, daß sie während ihrer dreijährigen Thätigkeit, die nahezu hundert Todesvollstreckungen umfaßte, auch nur in einem Falle parteiisch, mit Voreingenommenheit gehandelt oder ein ungerechtes Urtheil ausgesprochen habe. Unbeugsam, geduldig, unermüdlich hat sie ihre unwillkommene Aufgabe verrichtet, und ihre Geschichte ist einzig die der Inthronisation der Tugend, Ordnung und Gerechtigkeit in Montana.

C. R.




Blätter und Blüthen.


Auf dem Friedhofe zu Langensalza. Zu den freundlichsten Friedhöfen des nördlichen Deutschlands gehört der von Langensalza in Thüringen; er hat aber neuerdings auch durch die in ihm bestatteten Opfer der unglückseligen Schlacht von Langensalza weit und breit eine traurige Berühmtheit erlangt, so daß uns der Leser gewiß gern auf einem Gange über diesen Gottesacker zu den Gräbern der im Bruderkriege Gefallenen folgen wird. – Zwei breite Promenadenwege durchlaufen in paralleler Richtung die neue Abtheilung des Friedhofs, von einem dritten in der Mitte durchkreuzt, wodurch er in sechs ziemlich gleichmäßige Felder getheilt wird. Das eine Feld enthält die Kindergräber, drei nebenliegende haben die Erwachsenen aufgenommen. Zu einem von diesen führte mich mein Begleiter und wies auf neun lange Reihen mit üppig-wucherndem, wohlgepflegtem Rasen bedeckter Massengräber. Viele derselben zeigten ovale Einschnitte im Rasen und diese waren mit lieblichen Blumengruppen bepflanzt, nicht wenige trugen Denkmäler. Numerirte Holzpflöcke bezeichneten die Zahl der stillen Bewohner dieser Stätte, es waren die in der blutigen Schlacht von Langensalza Gebliebenen.

Drei große, tiefe Gruben wurden am Schlachttage und am folgenden Morgen schon mit Todten angefüllt, ohne Frage nach Namen und Charge, Heimath und Familie, mit allem Schmutz und Blut der grausigen Schlächterei an den zerschossenen und zerhauenen Gliedern, in den bleichen Gesichtern. Die eine dieser Grüfte enthielt dreiundvierzig, die zweite dreiundzwanzig und die dritte siebenzehn Leichen, eingeschichtet Mann an Mann und dann bedeckt mit Kalk und Erde. Die später Begrabenen ruhen in Särgen, welche gefühlvolle Herzen so reich und schön schmückten, als ob es theuern Verwandten und Freunden geschähe; ja man findet heute noch, nach Jahresfrist, eine Menge frischer Blumenkränze auf den Gräbern der Gefallenen, welche ihnen die Liebe, das innigste Mitleid treuer Pfleger und Freunde spendet. Am reichsten und lieblichsten waren die Gräber bei der Jahresfeier der Schlacht von Langensalza, am 27. Juni, mit Blumenkränzen, Bouquets und Guirlanden decorirt. Halb Langensalza hatte sich am Abend des Vortages der Feier mit seinen Blumenschätzen aufgemacht, um die lieben, unvergeßnen Todten zu ehren und erwarteten Angehörigen den brennenden Schmerz zu mildern. Zahllose Thränen flossen da, aber ungetröstet ging Niemand von dannen.

Unter den Todten, deren Monumente bereits hier aufgestellt sind, befindet sich der Rittmeister William von Einem, der tapfere Führer einer Escadron Cambridge-Dragoner, gefallen im siegreichen Kampfe mit zwei preußischen Geschützen; daneben ruht ein tapfrer preußischer Landwehrmann, mit Namen Rudolph Bechstädt, der Sohn eines Bürgers von Langensalza. Ferner lesen wir den Namen: Lieutenant Kriegk. Aus dem Cadettenhause entlassen, in das Regiment getreten, in den Tod gegangen – also endete die kurze Pilgerfahrt des noch nicht achtzehnjährigen Jünglings. „Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen, morgen in das kühle Grab.

Ein anderes Denkmal trug die Aufschrift: Lieutenant von Marschalck; er war einer der Tapfern vom hannoverschen Regiment Garde du Corps, „der Tapferste der Tapfern“, wie ihn seine Cameraden selbst nannten. Er fiel an der Spitze seiner Schwadron, welcher er im Ansprengen gegen den Feind muthig zurief: „Cameraden, seit Waterloo hat die Garde nicht mehr gefochten. Zeigen wir heute, daß wir die tapfern Söhne jener tapfern Väter sind.“ Der Todesmuthige fiel nach wenigen Augenblicken, durchbohrt von sieben Kugeln. Der wohlverdiente Lorbeer ziert seinen Stein. Aber er war wohl auch ein guter Sohn und Bruder, denn sein Denkmal trägt auf der Rückseite das einfach schöne Wort: „Jahrelang warst Du die Freude Deiner Eltern und Geschwister, und nur durch Deinen Tod hast Du sie betrübt.“

Ein Eisenkreuz, nebenan nennt den Namen Ernst von Hedemann, des Sohnes eines in traurigster Weise in Hannover bekannt gewordenen Mannes; ein zweites Kreuz, von Marmor, gehört dem Premier-Lieutenant und Regiments-Adjutanten Pasch vom ersten Rheinischen Infanterie-Regiment Nummer fünfundzwanzig; ein anderes dem Lieutenant Hans von Ebertz vom zweiten schlesischen Grenadier-Regiment Nummer elf. Ferner sieht man ein hohes Marmorkreuz mit dem Namen Ernst Adam Egid Freiherr von Knigge und der Inschrift: „Sit tibi terra levis“; ein liegendes, welches Rittmeister Bodo von Schnehen nennt. Außer diesen Namen und Monumenten haben noch Platz und Aufnahme gefunden: Ernst Otto Kunze, Hauptmann im hannoverschen Infanterie-Regiment; Carl Johann Alfred v. Diebitsch, königlich hannoverscher Hauptmann und Brigade-Adjutant; Ludwig Robert Gau, Premier-Lieutenant im ersten Bataillon königlich hannoverschen vierten Infanterie-Regiments; Ulrich v. Stoltzenberg, Premier-Lieutenant im königlich hannoverschen Regiment Cambridge-Dragoner; Herman v. Reden, Premier-Lieutenant vom königlich hannoverschen Garde-Regiment; Georg Bernhard August Wilh. Chappuzeau, Seconde-Lieutenant im ersten Bataillon königlich hannoverschen vierten Infanterie-Regiments; Alexander Wilhelm Augustin v. Borstell, Hauptmann im ersten Bataillon des königlich hannoverschen vierten Infanterie-Regiments; Adolph Lüderitz, Haupt- und Compagnie-Chef im sechsten königlich hannoverschen Infanterie-Regiment; Sidney Hans v. Lösecke, Oberstlieutenant im königlich hannoverschen siebenten Infanterie-Regiment; Gustav Heinrich Wilhelm Braun, Major im königlich hannoverschen Garde-Husaren-Regiment; Louis Alfred v. Landesberg-Wormsthal, Premier-Lieutenant im ersten Bataillon königlich hannoverschen Garde-Regiments; Severin Schroeder, Hauptmann und Compagnie-Chef im königlich hannoverschen fünften Infanterie-Regiment; Max Friedrich Reinhold Tzschirner, Premier-Lieutenant und Adjutant im zweiten schlesischen Grenadier-Regiment Nummer elf. Sein Eisenkreuz trägt auf der einen Seite die Worte: „Seinen frühen Heimgang beweinen seine Gattin, zwei kleine Knaben und seine Eltern.“ Auf der anderen ist zu lesen: „Die gepflanzet sind in dem Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen.“ (Psalm 92, 14.) Ueberhaupt findet man an den meisten Denkmälern solche biblische Gedenkverse, aber nicht selten übel gewählt und wenig harmonirend mit Leben und Todeskatastrophe des Verewigten. Welch’ greller Widerspruch: ein blutiger, grausiger Tod, ein unerwartetes, unvorbereitetes Ende und das Schriftwort: „Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben“ etc., oder: „Selig sind die Friedfertigen“! etc.

Das stattlichste und kostbarste Denkmal ziert das Grab des königlich preußischen Oberstlieutenants August von Westernhagen. Es ist ein Kreuz aus grauem Marmor auf geschmackvollem Sandstein-Postament. An seinem Fuße lehnt eine schwarze Marmortafel mit der Inschrift in Goldlettern: „Dem Andenken unseres tapferen Cameraden. Er starb den Heldentod eines braven Soldaten, der sein Leben mit Freudigkeit hingiebt für den König und die Ehre seines Standes. Friede seiner Asche, Ehre seinem Andenken. Das Officier-Corps des herzoglich sachsen-coburg-gothaischen Infanterie-Regiments.“

Außer vorstehend angeführten Namen und Monumenten von Officieren sind auch noch Denkmäler von Mannschaften und Unterofficieren der preußischen und hannoverschen Armee vorhanden; zwei derselben haben die betreffenden Officier-Corps errichten lassen, zwei andere die Gesammtheit der Compagnieen. Das imposanteste aber, nicht minder stattlich als das Grabmonument des Oberstlieutenants von Westernhagen, ist das Denkmal, welches den beiden gefallenen hannoverschen Soldaten mosaischen Glaubens, Jacob Driels aus Emden und Hermann Herzfeld aus Mühlenhausen, vor Kurzem von ihren Glaubensgenossen hier auf dem Langensalzaer Friedhofe errichtet worden ist. Mit einer deutschen und einer hebräischen Inschrift geschmückt, ist dies Monument unbedingt eine der schönsten Zierden des Gottesackers, und nicht blos in rein äußerlicher Beziehung. Viele der stillen Bewohner in diesen endlosen Massengräbern deckt jedoch nur der grüne Rasen, im besten Falle ein Blumenstrauß und Kranz; wenige sind bekannt und noch genannt, außer von denen „daheim“, deren Augen und Herzen thränen und beben, die ihre Lieben hier – fern von der Heimath – nimmer vergessen.

In der Mitte ist ein Feld leer gelassen, angeblich für ein Denkmal zu Ehren und Gedächtniß aller Gefallenen und Nachgestorbenen der Schlacht von Langensalza. Langensalza’s Friedhof ist so zu einer historischen Merkwürdigkeit, ein Andenken an eine schwere, aber bedeutungsvolle und folgenreiche Periode unserer Geschichte geworden, und die Tausende seiner Besucher aus Nähe und Ferne bekunden dies täglich. Dank darum allen Denen, welche ihn mit Liebe und Pietät pflegen und die Stätte des Todes zu einem Friedensasyl umwandelten.




Ein neuer Heiliger. Die vielbesuchte Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen im bairischen Oberfranken ist mit einem Franciskanerkloster von etwa sechs Mönchen verbunden. Sie versehen den Gottesdienst und leben, wie alle Franciskaner, in freiwilliger Armuth. Man stelle sich darunter nicht vor, daß die armen Mönche etwa Hunger und Noth leiden. Schon die Erscheinung der wohlgenährten Gestalten bezeugt, daß sie besser für die Küche, als für die Bibliothek Sorge tragen. Ihren leiblichen Bedarf erwerben sie sich durch „Terminiren“, d. h. die Mönche wandern jährlich so und so oft von Ort zu Ort und Haus zu Haus und sammeln Fleisch, Schinken, Wurst, Speck, Eier, Geflügel, Mehl und Getreide, Butter und Käse, Kartoffeln und Flachs gegen ein „Vergelt’s Gott!“ und kleine Heiligenbilder für die Kinder; auch Hopfen und Gerste heimsen die armen Mönche ein und wissen daraus ein fein lieblich Tränklein zu bereiten, genannt „Bock“, das gar trefflich mundet. Einen erheblichen Theil der Einnahmen zur Unterstützung der freiwilligen Armuth schaffen dem Kloster die Opferstöcke, die Meßgelder, das Verleihen von Opferwachs und der Verkauf von geweihten Rosenkränzen und Medaillen. Mit diesen Medaillen nun spielte die Zufallstücke den ehrwürdigen Vätern des Klosters unlängst einen komischen Streich. Bei der behördlichen Revision des Inventars entdeckte man zur nicht geringen Ueberraschung in einer Rolle noch einen Rest Medaillen mit dem leibhaftigen Bildniß des Königs Victor Emanuel mit dem großen Schnauzbart und der italienischen Ueberschrift: Vittore Emanuele auf der einen Seite und Italia unita auf der andern. Diese Medaillen waren in der Fabrik in Augsburg oder Nürnberg verwechselt und statt den italienischen Patrioten den bairischen Franciskanervätern, welche Medaillen mit Heiligenbildern bestellt hatten, geschickt worden, und so wurde Victor Emanuel, damals mit dem Kirchenbanne belegt, von den ehrwürdigen bairischen Franciskanern als geweihter Heiliger, wer weiß in wie vielen Medaillen, verkauft.



Inhalt: Der Habermeister. Eine Geschichte aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Ein treuer Freund des Volkes. Mit Portrait. – Eine Locke des Königs von Rom. Von George Hiltl. – Warum? Von Friedrich Hofmann. Mit Illustration. – Volksvehme in Amerika. – Blätter und Blüthen: Auf dem Friedhofe zu Langensalza. – Ein neuer Heiliger.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Die schon in Nr. 32 der Gartenlaube von uns empfohlene, mit dem Bildniß Roßmäßler’s illustrirte Gedächtnißschrift (Leipzig, Robert Friese). Da für Naturforscher und Volksschriftsteller keine „Schillerstiftung“ besteht, um für deren Hinterbliebene zu sorgen, so hat sich ein „Roßmäßler-Comité“ in Leipzig gebildet, welches durch diese Schrift die Verehrer und Freunde unseres Todten an ihre Dankespflicht mahnen und ihnen Gelegenheit geben will, durch Ankauf des Werkchens eine Unterstützungssumme für Roßmäßler’s Hinterbliebene aufzubringen, ohne daß auch an den Namen dieses Mannes sich der Klagelaut einer öffentlichen Bitte hängen müsse. Wir legen unseren Lesern dieses Unternehmen noch einmal ans Herz.
    D. R.
  2. WS: Die Schlacht bei Königgrätz.
  3. Wir freuen uns, unsern Lesern diesen interessanten Originalbericht eines Deutschen mittheilen zu können, dessen Verdienste die Gartenlaube bereits früher (Nr. 38, 1866) hervorgehoben hat und der auch vom Präsidenten Lincoln durch den Gesandtschaftsposten in Costa Rica ausgezeichnet worden ist, wie ihm allen Voraussetzungen nach jedenfalls noch eine bedeutende politische Laufbahn bevorsteht.
    D. Red.