Die Gartenlaube (1870)/Heft 4

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


Es waltete ein böser Geist über diesem jungen Haupte und über dem Hause, das seine Heimath war – der böse, Jahrhunderte alte Geist des Familienstolzes, der Erzeuger der Erstgeburtsrechte, der Majorate, der Mannslehen und wie sie alle heißen, die grausamen Einrichtungen, welche Kinder desselben Blutes, Kinder, die unter demselben Herzen geruht, ausschließen von den Rechten an dem Besitz der Väter, damit dieser, nur von zwei auf zwei Augen vererbt, ungeschmälert den Glanz der Familie erhalte. Man könnte ihn den Zweiaugengeist nennen, diesen finstern Dämon, der immer mächtiger wird, je weniger Augen desselben Namens und Stammes ihn bannen, und am mächtigsten, wo ein Geschlecht bis auf zwei Augen eingeschrumpft ist. Da entfaltet er seine ganze Macht, da würfelt er blindlings alternde Männer und junge Frauen zusammen, damit noch in der elften Stunde eine Nachkommenschaft erzielt werde. Da vergiftet er die erste keimende Hoffnung im Mutterschoße mit der Befürchtung, daß es kein Stammhalter sei. Da sitzt er als erstickendes Angstgespenst am Bette des ersehnten Sprossen und ein greiser Vater beweint in dem sterbenden Sohne den Untergang eines erlauchten Geschlechtes, der für ihn gleichbedeutend ist mit dem Untergang eines Weltgestirns – und eine Schaar dürftig apanagirter Schwestern, Tanten, Cousinen sieht mit seinem Ende dem langsamen standesgemäßen Verhungern unter der Hofschleppe entgegen! Wer beschreibt alle die Gestalten in denen dieser boshafte Kobold seine Opfer ängstigt, peinigt, um alles Menschenglück betrügt? Und das Haus, das stille friedliche, das der liebliche Zürichersee umspülte, das früh und Abends angehaucht war vom Widerschein sonnengeküßter Firnen – es barg solch eine Familie, die dem Zweiaugengeist verfallen war.

Name und Güter der stolzen norddeutschen Freiherren von Salten-Hermersdorf standen nur noch auf den zwei thränenden, lichtscheuen Augen des kleinen Alfred! Aus jedem ätzenden Tropfen, der über die bleiche Wange des Kindes rann, aus jedem ungleichen Athemzug seiner schmalen Brust, jedem Hüsteln, jedem fiebernden Pulsschlag hatte der Zweiaugengeist ein Marterwerkzeug für die Umgebung des Knaben geschaffen, wie es grausamer kein Teufel ersinnen kann und alle die Hände von Mutter, Vater und Tanten, sie hatten auf der Welt nichts mehr zu thun, als sich schützend um das flackernde Lebenslicht in der gebrechlichen Hülle zu breiten. Die Erhaltung von Alfred’s stets bedrohtem Leben war die fixe Idee der ganzen Familie, die Achse geworden, um die sich deren Thun und Denken drehte. Um seiner Gesundheit willen hatte man die Heimath verlassen und den rauhen Norden mit der milden Seeluft Zürichs vertauscht. Um seinetwillen hatte man das theure Landhaus gemiethet, um seinetwillen jede gesellige Beziehung zur Heimath abgebrochen, damit man nur ihm allein leben konnte!

Seinen Tanten war der Erbe der Salten’schen Güter, was dem Kaufmann das schwanke Schiff ist, das seinen ganzen Wohlstand trägt, denn wenn Alfred starb, so fiel das Majorat nach dem Tode des Freiherrn an eine Seitenlinie von der die vermögenslosen Tanten keine Unterstützung zu hoffen hatten. Seine Mutter endlich suchte in ihm den Ersatz für jedes an der Seite des aufgezwungenen Gatten geopferte Jugendglück. Und ach, das Schiff schien leck zu sein, und der Ersatz für die Entsagungen seiner Mutter mußte mit immer neuen Opfern an Lebenskraft und Muth, an Nachtruhe und Tageszerstreuung erkauft werden.

Und das Kind, was mußte aus diesem werden bei solch einer Erziehung? Daran dachte, das wußte nur Einer! Nur Einer fühlte, daß noch etwas Höheres in dem Knaben zu hüten sei als das Leben, daß da ein Schatz an Geist und Seelenadel verborgen liege, den nicht die eigene Mutter zu würdigen verstünde und den zu heben ihm eine göttlich schöne Aufgabe dünkte – dieser Eine war der Candidat. Aber weil doch er allein es war, der das, was in Alfred lag, verstand, so wollte er auch, daß es ihm allein gehöre, er wollte es entwickeln, wollte der Welt ein Geschenk damit machen nach seinem Sinne, und er mußte dabei vorsichtig und heimlich zu Werke gehen, wie der Schatzgräber auf fremdem Boden, der weiß, daß ihm sein Fund entrissen würde, sobald er ihn gehoben. Er war sich ja bewußt, daß er den Schatz besser und segensreicher verwenden würde, als die, welche ihm denselben streitig machen könnten. Das war es auch, was die kluge Tante Wika instinctmäßig gegen den verschlossenen Mann mit den zusammengewachsenen Augenbrauen einnahm. „Der Mensch ist ein Demagog,“ pflegte sie zu ihrem Bruder warnend zu sagen – und sie hatte nicht so unrecht! Er war der Einzige von Allen, der nicht unter dem Banne des Zweiaugengeistes stand, obgleich auch er völlig zu einem Opfer desselben erkoren gewesen wäre, denn er war gleichfalls ein „Letzter seines Stammes“ – eine hochadelige Familie erlosch mit ihm, wenn er kinderlos starb. Sein Vater, ein Herr von Feldheim, war im Kriege gefallen, ehe der Candidat das Licht der Welt erblickt, seine Mutter, eine mittellose Wittwe, erzog ihn zum Prediger. Die Macht des Zweiaugengeistes hatte er mit Ablegung eines einzigen Wörtchens abgeschüttelt, des [50] Wörtchens „von“, und mit ihm alle Vorurtheile, alle hemmenden Standesrücksichten. Er hörte auf Freiherr zu sein, um ein freier Herr zu werden, der sich nicht mühsam auf den dürren Pfaden einer Familientradition weiter schleppte, sondern sich seinen Weg selbst bahnte und sein Geschick selbst schuf aus dem vollen Leben der Gegenwart heraus.

Dieser Schritt jedoch hatte ihm anfangs das Vertrauen des Hauses Salten erworben, denn man hielt es für einen edeln Stolz, daß er den glorreichen Namen seiner Ahnen nicht als Hauslehrer compromittiren wollte, daß er einen Adel ablegte, den er nicht mehr mit dem erforderlichen Glanze zur Schau tragen konnte. Etwa in dem Sinne, wie ein Prinz incognito reist, wenn ihm die Mittel fehlen, seinen hohen Stand zu repräsentiren. Nur Tante Bella, die zartfühlende Seele, that es nicht anders, sie gab ihm fort und fort die Ehre, auf die er so selbstlosen Verzicht geleistet, sie nannte ihn unverdrossen Herr von Feldheim, und war überzeugt, daß sie ihm damit das Demüthigende seiner Stellung wesentlich erleichterte. Sie hüllte ihn in sein „von“ ein wie in ein moralisches wollenes Leibchen. Sie durfte ihm ja kein wirkliches stricken, der verwegene junge Mann war noch nicht reif genug, um einzusehen, wie dringend der Mensch der Wolle bedürfe, und das war es auch, was selbst Tante Bella nach und nach von ihm entfernte! Dennoch hielt sie immer noch einen rücksichtsvollen Ton gegen ihn ein, sie war es auch, die nach dem ersten Schreck auf den Einfall kam, den „Herrn von Feldheim“ zu fragen, für welche Art schweißtreibenden Thees er sich entscheide, worauf die schneidende barbarische Antwort erfolgte: „Für gar keine!“

„Das hättest Du Dir denken können,“ meinte Wika höhnisch, „der Herr Candidat ist immer anderer Meinung als wir.“

„Ich bin der Meinung, daß wir dem Knaben mit dem Thee das Mittagsessen verderben,“ erwiderte er ruhig, aber er wußte wohl, daß er tauben Ohren predigte.

Tante Lilly ward geschickt, für Lindenblüthenthee zu sorgen, und das Geklirr einiger zerschlagener Töpfe und Kannen verkündete alsbald, mit welchem Eifer sie sich der Sache annahm.

„Lieber Himmel, was stellt Lilly wieder an!“ riefen die Schwestern und eilten hinaus, um das unbedachte Kind zu schelten. Die Drei im Zimmer schwiegen, ein seltsamer Blick des Candidaten traf die junge Frau, ein Blick, der fragen zu wollen schien: „Wie lange hältst Du das noch aus?“

Da sie die befremdliche Eigenheit hatte, zu erröthen, wenn Jemand und besonders der Candidat sie scharf ansah, senkte sie auch jetzt wieder die langen goldenen Wimpern zur Erde. Alfred wurde müde vor Langeweile, er zog die Hand des Candidaten zu sich herab und lehnte seine Wange daran. Seine Mutter eilte herzu: „Willst Du Dich ein wenig auf meinen Schooß setzen, Alfred?“

„Nein,“ sagte er bestimmt.

„Wie, Alfred, Du weisest Deine Mutter zurück?“

Er faßte, ohne den Candidaten loszulassen, nach seiner Mutter Hand, sie kniete bei ihm nieder, er legte den Kopf auf ihre Schulter und seine Lippen küßten leise ihren weißen Schwanenhals, „Du süße Mutter,“ flüsterte er, „ich bin Dir doch gut, wenn ich mich auch nicht mehr auf Deinen Schooß setze.“

„Seltsames Kind, was fällt Dir nun auf einmal ein?“ sagte die junge Frau befremdet.

Da erscholl auf dem Hausflur die Stimme von Alfred’s Vater: „Wo ist meine Frau?“ Die Genannte erhob sich und ging langsam hinaus.

„Alfred,“ sagte der Candidat, „Du hast Deiner Mutter weh gethan.“

„Das thut mir leid, aber ich kann nicht anders, Herr Candidat.“

„Und weshalb nicht?“

Alfred schwieg eine Weile, dann flüsterte er leise und unter allmählich hervorquellenden Thränen: „Sehen Sie, Herr Feldheim, als neulich einmal meine Mutter weinte, wie sie so oft thut, da wollte der gute Vater sie trösten und auf seinen Schooß nehmen. Aber die Mutter fuhr auf und stieß den Vater zurück, als wäre das etwas Schreckliches gewesen – und sehen Sie, Herr Feldheim, ich weiß nicht, wie das ist, aber seitdem kann ich mich nicht mehr auf meiner Mutter Schooß setzen!“

Der Candidat war tief betroffen. Was sollte er dem Kinde sagen, welcher Finger war zart genug, um in dies verstimmte kostbare Saitenspiel wohlthätig einzugreifen? Er hatte einen neuen schmerzlichen Blick in des Knaben Seelenleben gethan, er war noch unfähig, etwas zu erwidern.

Alfred schaute unter seinem grünen Schirm voll und flehentlich zu dem Erzieher auf: „Herr Feldheim, können Sie mir nicht sagen, warum die Mutter den Vater nicht leiden kann? Sie ist gegen uns alle so gut und nur gegen den Vater nicht!“

„Mein Kind,“ sprach Feldheim und seine Stimme war bewegt, „frage das Deine Mutter selbst, sie allein hat das Recht, Dir darauf zu antworten.“

„O Herr Candidat, dazu hätte ich nicht den Muth, nein, gewiß nicht.“

„Und dennoch wäre es eines Engels Stimme, die aus Dir spräche, wenn Du es thätest,“ sagte der junge Mann mit gepreßter Brust. Alfred schaute ihn mit jenem unausweichlichen Forscherblick an, der denkenden Kindern eigen ist. Da legte der Candidat seine Hand auf des Knaben Haupt und fragte: „Mein Kind, seit wann trägst Du denn solche schwere Gedanken mit Dir herum? Das ist mir ganz neu an Dir!“

„Ich weiß es nicht, seit wann, es ist nur auf einmal so über mich gekommen, und ich wagte nie etwas davon zu sagen. Ich möchte immer weinen, wenn ich den Vater ansehe – –“ er schlang die Arme um die stämmigen Hüften des Candidaten und überließ sich seinen ausbrechenden Thränen.

„O Gott, mein Gott,“ dachte Feldheim, „wann wirst Du endlich den Himmel dieser geängstigten Seele entwölken?“ Und er bückte sich nieder in überströmendem Mitleid, hob die ganze schmächtige Gestalt des Knaben mit starken Armen empor und drückte sie an seine breite Brust. „Armes liebes Kind, dürfte ich Dich so hindurchtragen durch Dein ganzes gequältes Leben! Aber ich darf es nur eine Strecke weit, mögest Du Dir dann selbst weiter helfen können, denn das Beste, was wir sein können, werden wir doch nur aus eigener Kraft! Das ist mein Gebet für Dich!“

Der Knabe schmiegte sich innig an den starken Mann, der ihn so leicht emporhielt, als könne er ihn zu den Sternen hinaufheben. Solange er sich auf diesem mächtigen Arme wiegte, fühlte er sich so geborgen wie bei Gott.

„Ach, wenn ich einst solch ein Mann werden könnte wie Sie!“ seufzte er; „aber das kann ich nicht, dazu bin ich zu schwach und elend!“

„Mein Kind, nicht die Muskel – der Geist macht den Mann! Wir leben in einer Welt, wo eine andere Kraft herrscht als die des Leibes, wo auch der Krüppel sich seinen Platz unter Heroen erobern kann. Das Menschengeschlecht strebt immer mehr nach Vergeistigung, das Ewige in uns macht sein Recht geltend gegenüber dem Vergänglichen, es drängt dasselbe mehr und mehr zurück. Der Geist will sich immer unabhängiger vom Stoff zu machen suchen, er will nicht mit ihm untergehen. Blicke zurück, mein Kind, in die früheren Zeiten, wo rohe Gewalt der Hebel war, der Alles in Bewegung setzte, und Du wirst mit Staunen den Fortschritt erkennen, den das menschliche Geschlecht schon gemacht.“

„Und doch sagte Tante Bella, die Welt würde immer schlechter!“ meinte Alfred schüchtern.

„Das sagen alle alten Leute, welche sich in den beständigen Wechsel der Ideen nicht mehr finden können. Ein Mensch, der den Siebzigen nahe rückt, kann seine Zeit bereits überlebt haben und schon ein neues Lustrum kann ihm fremd und unverständlich sein! Wärst Du ein paar Jahrhunderte früher geboren, Du hättest bestenfalls Dein Loos in der Spinnstube zwischen Weibern und Mägden oder vielleicht in der Mönchskutte zu suchen gehabt. Irgend ein neidischer Nachbar oder Anverwandter hätte Dir, dem Schwächling, mit dem Schwert in der Hand Deinen Besitz entrissen, Du wärst, ein ohnmächtiges verachtetes Geschöpf, umhergeschleudert worden zwischen den räuberischen Fäusten Deiner ritterlichen Vetterschaft. Und jetzt, jetzt darfst Du Deines schwachen Körpers spotten, denn Du kannst Dich durch die Kraft Deines Geistes, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Industrie oder in der Politik, zu einer Macht erheben. Ist diese Welt, in welcher der Gedanke eine solche Herrschaft über die Materie ausübt, eine schlechtere geworden?“

„Nein, sicher nicht!“ rief Alfred und ein Strahl brach aus seinen Augen, als habe er eine göttliche Verkündigung empfangen. Er umschlang den Lehrer mit dankbarer Inbrunst. Der erstickende herzbeklemmende Einfluß des Zweiaugengeistes war gebrochen, so lange diese Beiden einander in den Armen hielten.

[51] Da kam aber Tante Bella mit dem Thee herein und jetzt umkreiste er wieder das müde Köpfchen seines Opfers, daß es war, als höre man seinen eulenartigen schweren Flügelschlag.

Der Candidat ging Bella entgegen und nahm mit einer an ihm ganz ungewohnten Dienstbeflissenheit die Tasse in Empfang. Ja, es war sogar, als spiele ein Lächeln um seine Lippen, als er sie zum Munde führte, um zu prüfen, „ob der Thee auch nicht zu heiß sei?“

Tante Bella war zu blind um zu sehen, daß er das widerliche, für Alfred so schädliche Gebräu mit einem Zuge austrank und dem Knaben nur noch wenige Tropfen überbrachte. Alfred selbst hatte es nicht gewahrt. Sein Lehrer wollte das Kind nicht zum Mitschuldigen des kleinen wohlgemeinten Betruges machen, durch den er es schon oft vor den schädlichen Einflüssen der Hausapotheke seiner Tanten bewahrt hatte. So schonte er zugleich den Magen und das Wahrheitsgefühl seines Zöglings.

„Aber Tante,“ sagte Alfred, „warum bekomme ich nur immer das Bischen Thee in der großen Bouillonschale?“

Der Candidat erschrak. Aber Tante Bella war entzückt, daß die Masse Thee dem lieben Kinde noch zu wenig dünkte. „Sehen Sie, Herr von Feldheim,“ rief sie, „der Knabe weiß, was ihm gut thut!“




3. Der Kastengeist.

Als Tante Bella eine Stunde später dem Vater seinen neugeretteten Sohn zuführte, fand sie den alten Herrn in tiefer Verstimmung und durchaus nicht zugänglich für die Geschichte ihres ausgezeichneten Heilverfahrens.

„Da lies diesen Brief und dann suche Adelheid zu finden; Gott weiß, wo sie wieder ist, wir wollen uns berathen, was etwa zu thun wäre.“

Er zog Alfred zu sich hin, während Tante Bella den Brief las, und streichelte mit seiner knochigen Hand des Kleinen Backe. Er war ein alter Herr, dem man noch jetzt die Spuren einstiger Schönheit ansah. Der weiße spärliche Backenbart deckte jedoch kaum die tiefen Höhlen, die sich rechts und links des Mundes gebildet hatten. Unter den dünnen weißen Augenbrauen blickten verblichene lebensmüde Augen hervor und die eingesunkenen Schläfe waren kaum von wenigen silbernen Locken bedeckt. – Es war ein Anblick, wie wenn in einer Winterlandschaft der Schnee die todte kahle Erde nicht ganz überzieht und einzelne Stellen offen läßt, deren trostlose Abgestorbenheit erst recht den Winter zeigt. Es giebt weiße Haare auf jugendfrischen Köpfen, die den Eindruck machen, als sei verfrühter Schnee auf eine noch herbstlich grüne Flur gefallen. Solch’ kräftigem Manneshaupte, meint man, müßten über kurz oder lang wieder dunkle Haare entsprießen, die Farbe sei nur auf einen Augenblick ausgeblieben. Aber dies gebeugte bleiche Haupt war das Bild versiechter Kraft, erloschenen Lebensfeuers; man konnte nichts Traurigeres sehen, als diesen Vater und diesen Sohn, von denen der Eine aussah, als sollte er eben in das Grab steigen, der Andere, als sei er demselben kaum entstiegen. Ein erlöschendes Licht und eines, das sich nicht recht entzünden kann, nebeneinander, geben eine trübselige Beleuchtung.

Tante Bella hatte sich mittlerweile auf einen der wurmstichigen eichenen Stühle gesetzt, welche vor mehr denn hundert Jahren in der Schloßcapelle der Salten gestanden und von dem Freihern, der sich die Zeit gern mit Holzsägerei vertrieb und dabei niemals, wo er nur konnte, sein Wappen anzubringen vergaß, ganz im Geiste ihrer Zeit gestickt worden waren. Sie versuchte den Brief, welcher ihren Bruder so verstimmt hatte, zu entziffern, aber es ging nicht, und sie mußte bitten, ihr denselben vorzulesen. Er lautete kurz und bündig:

 „Hochgeehrter Herr!“

„Nicht einmal ‚Ew. Hochwohlgeboren‘ schreiben diese Leute,“ bemerkte Bella.

„Ihre geehrte Frau Gemahlin hat diesen Morgen meine kleine Tochter in einer wenig freundlichen Weise nach Hause geschickt, und wir besorgen daher ernstlich, daß das wilde Kind sich irgend welche Ungehörigkeit habe zu Schulden kommen lassen. Meine Frau sowohl als ich bitten Sie dringend, uns dieselbe nicht zu verschweigen, damit wir in Stand gesetzt werden, sie zu rügen oder zu bestrafen, wie es sich gehört.

Mit aller Hochachtung zeichnet
 Hans Hösli-Pallender, Cantonsrath.“

Das war zu viel für die christliche Demuth der Tante Bella. Sie faltete die Hände: „Guter Gott, was muß man sich gefallen lassen in diesem republikanischen Lande! Das kommt davon, wenn man seine von Gott überlieferte Scholle verläßt und sich in ein neues Erdreich verpflanzt. Es ist schrecklich! Ich sah es gleich, diese Leute haben gar keine Ahnung, wer und was wir sind!“

Die Thür ging auf und Wika erschien auf der Schwelle: „Die Suppe ist angerichtet.“

„O liebe Schwester, wer kann jetzt essen!“ klagte Bella. „Lies diesen Brief und überzeuge Dich, wie Recht ich hatte, als ich Euch alle Arten von Unannehmlichkeiten im Verkehr mit Leuten, die so tief unter uns stehen, weissagte!“

Wika las, und ihre dicken Backen blähten sich auf vor Zorn, daß ihr kleines Näschen völlig dahinter verschwand. „Diese Seidenspinner, diese Seidenwürmer! Die haben’s nöthig, so unverschämt zu sein. Wenn man sich einmal erlaubt, ihren ungezogenen Balg, der trotz seiner zwei Gouvernanten keine Lebensart lernt, nach Hause zu schicken, da machen sie gleich ein Geschrei, als habe man eine Majestätsbeleidigung begangen!“

„Adelheid muß aber doch sehr scharf gegen die Kleine gewesen sein“ meinte der alte Herr kopfschüttelnd.

„Gegen wen soll ich scharf gewesen sein?“ fragte die Genannte eintretend.

„Gegen die kleine Hösli, der Vater beschwert sich deshalb.“

Frau Adelheid schüttelte ihr üppiges rothes Haar zurück, daß sich das blaue Band verschob, das hindurch gewunden war, und der Greis bewundernd auf sie niedersah wie auf eine schöne Jugenderinnerung. Sie zerknitterte das Billet, nachdem sie es gelesen, und lächelte. „Wie könnt Ihr Euch so aufregen um eine solche Bagatelle. Wer sind – was sind diese Leute, daß sie uns beleidigen können?“

„Beleidigen kann uns Jeder, der uns an Zurechnungsfähigkeit gleich steht,“ sprach der alte Herr verweisend. „Ich finde überdies nicht, daß sie uns beleidigen wollen, sondern daß sie von uns beleidigt sind. Was hast Du mit der Kleinen gehabt, Adelheid?“

„Nicht das Geringste. Ich habe ihr verwehrt, mit in das Haus zu kommen, weil ich Alfred ausruhen lassen wollte.“

„So wirst Du wohl so freundlich sein und nach Tisch hinübergehen, um Dich zu entschuldigen,“ sagte der Freiherr.

Nun erhob sich ein Sturm von Unwillen unter den Tanten, daß man dem Seidenraupengezücht auch noch nachlaufen solle. Aber der alte Mann erwiderte ruhig und bestimmt: „Ich werde nie dulden, daß Jemand, der meinen Namen trägt, sich irgend welcher Unhöflichkeit zeihen lasse. Sind wir vornehmer als Andere, so sollen wir auch Niemandem an Noblesse der Gesinnung nachstehen, und es ist ignoble, sich seines Ranges Anderen gegenüber zu überheben.“

„Ich wäre jedenfalls dafür, daß man bei dieser Gelegenheit den Umgang mit diesen Leuten gänzlich abbräche,“ lispelte Tante Bella mit ihrer frommen Stimme. „Was hat Alfred von solchem Verkehre? Er kann dabei nur verbauern; denn wie groß auch der Luxus ist, mit dem sie sich überfirnissen – die innere Rohheit bricht doch immer heraus.“

Alfred hatte bis jetzt bescheiden und still wie immer an dem Tische mit dem Schnitzgeräthe gestanden, Niemand hatte ihn beachtet. Jetzt plötzlich trat er vor Bella hin. Seine Brust arbeitete heftig, er zitterte am ganzen Leibe. „Tante, ich bitte Dich – Aennchen ist nicht plump und roh und ihre Eltern sind es auch nicht. – Ich – ich dulde das nicht! Wenn Du so von Hösli’s sprichst, kommst Du mir so böse vor, daß ich meine, ich könnte Dich nicht mehr leiden!“

„Alfred!“ sagte der Freiherr verwarnend. Dieser eine strenge Blick des Vaters brachte den Knaben zur Besinnung.

Er warf sich ihm an die Brust: „Vater, verzeih’ mir! Ach, ich kann es nicht begreifen und werde es nie begreifen, daß ein guter Mensch weniger werth sein soll als der andere, daß wir nicht Alle, die gleich liebenswerth sind, mit der gleichen Liebe umfassen sollen! Sieh, Vater, das dünkt mich so hart, daß ich es nicht ertragen kann. – Ich möchte alle Menschen, gegen die Ihr so hart seid, für Euch um Verzeihung bitten; mir ist, als müsse ich die Liebe an ihnen hereinbringen, die Ihr ihnen verweigert.“

Er barg das Haupt an seines Vaters Brust und schluchzte leise. Der alte Herr legte stolz die Hand auf seinen Kopf, – ein schöner Strahl der Freude brach aus seinen müden Augen: [52] „Das ist die echte Natur des Edelmanns, die sich des scheinbar oder wirklich Unterdrückten annimmt! Ich kann jetzt noch kein Verständniß von Dir fordern für die ewige unerbittliche Nothwendigkeit der Standesunterschiede, mein Sohn. Aber Du bist edel, auch wo Du unverständig bist, das ist mir die Hauptsache.“ Er trocknete Alfred die Augen und die schweißbedeckte Stirn und dieser küßte seinem Vater leidenschaftlich die Hand. Man ging in unbehaglicher Stimmung zu Tische.

Tante Wika ließ ihren Zorn während des Essens an dem Candidaten aus. Da sie aber merkte, daß ihre kleinen Pfeile an seiner ehernen Brust abprallten, machte sie sich über ihren weniger gerüsteten Bruder her. Der alte Herr konnte ihr nicht entschlüpfen, denn er war der zwingenden Gewohnheit unterworfen, nach dem Essen eine Partie Piquet zu spielen. So alt er war, hatte er doch bis jetzt männlich der Schwäche widerstanden, nach Tische zu schlafen. Seit dem Tode seiner ersten Frau, also seit ungefähr zwanzig Jahren, spielte er mit Tante Wika jeden Nachmittag Piquet. Sie war die einzige von ihren Schwestern, die sich um diese Stunde aus Angst vor einem „Schlagfluß“ wach erhielt, während Lilly schnarchte und Bella, das Strickzeug in der Hand kerzengerade auf einem steifen Sessel sitzend, nickte und außer sich gerieth, wenn man ihr nachsagte, sie habe geschlafen.

Diese stille Stunde, die Adelheid meist mit dem Lehrer und Alfred im Garten verträumte, benützte Wika, um ihren Bruder zu tyrannisiren. Sie wußte wohl, welch unzerreißbares Band solch ein gewohntes gemeinsames Spielchen ist, und sie profitirte davon. Beim Piquet wurde der Bruder gezaust, beim Piquet wurde auf seine Umgebung geschimpft, gegen die er stets zu nachsichtig war, beim Piquet mußte er alle kleinen Schulden der Schwestern bezahlen. Dieser regelmäßige allnachmittägliche Aerger war dem alten Herrn so zur andern Natur geworden, daß er ihn vermißt hätte, wäre er ihm einmal ausgeblieben.

Adelheid kleidete sich und Alfred zu dem Nachbarsbesuche an. Wika rüstete den Spieltisch und ein eigenthümliches Wackeln ihres zweiten Unterkinns d. h. ihres Kröpfchens zeigte schon an, daß sie, wie sie zu sagen pflegte, „geladen“ sei.

„Du verdirbst den Jungen in Grund und Boden, liebster Kunibert,“ fing sie an und gab Karten aus, wobei sie ihm wohlbedacht die besten in die Hand spielte, sie wickelte ihre bitteren Pillen in gute Karten ein und er bekam der letzteren heute ungewöhnlich viele, denn sie hatte ihm auch ungewöhnlich viele von den ersteren zugedacht. „Du kannst es glauben, das führt zu nichts. Der Bursche meint jetzt schon, es müsse alles nach seinem Kopfe gehen. Er weiß, daß eine Thräne von ihm das ganze Haus unter Wasser setzt; kein Wunder, daß er sich zuletzt einfach auf’s Heulen legt, wenn er was will.“

„Es ist das erstemal seit langer Zeit, daß ich Alfred weinen sah,“ erwiderte Salten „Alfred ist eine zu noble Natur, um die Schonung, die uns sein körperliches Leiden abzwingt, irgend wie zu seinem Vortheil auszubeuten. Eines so gemeinen Raffinements weiß ich Gottlob mein Blut unfähig.“

Dein Blut, ja“ – brummte Wika und klappte die abgehobenen Karten zusammen – „aber auch das Deiner Frau Gemahlin? Ist Alfred nicht eben so gut der Sohn seiner Mutter, wie der Deine?“

Der alte Herr spielte ein Blatt aus, so heftig, daß er die Knöchel seiner Hand dabei auf den Tisch schlug: „Laß meine Frau aus dem Spiel!“

„Ja, so sagst Du immer, wenn Du was nicht gerne hörst,“ beharrte Wika. „Und doch kann es nicht so fortgehen. Kannst, darfst Du Deinen Sohn, den Letzten unseres Hauses, bis in sein vierzehntes Jahr hinein so ohne alle Kenntniß unserer Rechte und Pflichten aufwachsen lassen?“

„Mein Gott,“ rief der Freiherr ungeduldig, „dazu ist es ja immer noch Zeit, wenn Alfred größer und kräftiger ist. Soll ich jetzt, wo wir noch alle Hände über das zarte Kind halten müssen, Auftritte herbeiführen, die möglicherweise Krankheit und Tod unseres Einzigen zur Folge haben könnten?“

„Schlimm genug, daß es jetzt schon der Auftritte bedarf, um den Jungen zu unserer Meinung zu bekehren! Das eben ist es, wovon ich rede, da liegt der Hase! Wodurch kommt der dreizehnjährige Bursche zu so bestimmten Ansichten? Durch Niemand anderen als den sauberen Herrn Candidaten. Aber Du bist rein blind, – Du siehst und merkst es nicht, wie Dir diese schwarzäugige Schlange den Sohn verführt und abwendig macht.“

Der Greis lächelte: „Sieh, Wika, Du bist sehr gescheidt und kannst viel! Aber mich irre machen an meines Kindes Herzen, das ich täglich, stündlich mit all seiner Inbrunst an dem meinen schlagen fühle – das kannst Du noch nicht! Gott sei Dank, meines Kindes bin ich sicher, und solange ich das weiß und fühle, solange mögt Ihr mir gegen seinen Erzieher sagen, was Ihr wollt, es wird Euch nichts nützen. Er ist ein wenig überspannt, aber er lehrt Alfred vor allem seine Eltern ehren und lieben, und das ist doch die Hauptsache.“

„Ei,“ höhnte Wika, „es ist wirklich anerkennungswerth, daß er den Jungen nicht gleich anhält, seine Eltern von Haus und Hof zu jagen, wie Schiller’s Lear.“

„Liebe Schwester, Lear ist von Shakespeare, – Du entschuldigst –“

„Schiller oder Shakespeare, diese Demokraten sind mir alle gleich!“ sagte Wika, gereizt über die Blöße, die sie sich gegeben.

„Aber, Wika – weder Schiller noch Shakespeare waren Demokraten, der letztere war ja von der Königin Elisabeth begünstigt und Schiller wurde sogar geadelt, sein Sarg steht mit dem Goethe’s in der großherzoglichen Gruft in Weimar!“

„Was kümmert mich das! er war doch ein Demokrat und es war eine erbärmliche Schwäche von Karl August, einen Menschen, der die Räuber geschrieben hat, in den Adelstand zu erheben. Diese Herren erliegen doch alle der Eitelkeit, sich populär zu machen. Mit hergelaufenen Poeten Verse machen, mit windigen Musikanten musiciren und den lieben Plebs dazu Beifall klatschen lassen, das sind so die neumodischen Beschäftigungen unserer Landesväter! Wer soll noch den Unterschied der Geburt aufrecht erhalten? Wir! wir allein haben es in der Hand, dem Chaos zu wehren, wir müßten eine undurchdringliche Phalanx bilden. Wir müßten uns der Hofämter und besonders des persönlichen Dienstes bei den höchsten Herrschaften bemächtigen, damit solche Kerle, solche Künstler und Freigeister gar nicht mehr herankommen könnten.“

„Das könnten wir, meine liebe Wika, wenn es uns gelänge, alle Gebiete des Wissens und Denkens allein zu beherrschen; doch dies kann nie geschehen, denn diese Gebiete sind vogelfrei. Die Zeiten, wo der Adel das Monopol der Bildung hatte, sind um; Schulen und Universitäten machen dieselbe zum Gemeingut. Es ist hart, auf altgeheiligte Vorrechte verzichten zu müssen; aber wir müssen nun einmal, so thun wir es wenigstens mit Würde und ohne Neid. Was wir haben, können wir verlieren, aber doch niemals, was wir sind!“

„Nein,“ schrie Wika, „wir müssen nicht; wer sagt denn, daß wir müssen? Ein solches Treiben heißt ja der Revolution Thür und Thor öffnen, die Anarchie bei sich zu Tische bitten,“ fuhr sie immer hitziger und kurzathmiger fort. „Jetzt ist der Augenblick da, wo der Adel den bergabrollenden Wagen aufhalten oder sich von ihm trennen muß. Wachsam und eifersüchtig haben wir unsere Stellung zu hüten und unsere Aufgabe zu wahren. Dem vergossenen Heldenblut unserer Ahnen sind wir es schuldig, daß wir nicht kampflos und flau eine Stellung hingeben, die sie uns mit den schwersten Opfern erkauft. Und wenn Du nicht ein alter stumpfer Mann wärst, so müßte Deinem Sohne das Alles schon längst in Fleisch und Blut gedrungen sein, er müßte toben wie ein junger Löwe gegen das Gezücht, das sich zu uns empordrängt, statt zu heulen, daß wir es nicht mit offenen Armen aufnehmen!“

„Der Knabe ist krank, Wika; seine vielen Leiden haben in ihm den männlichen Trotz gebrochen und sein Herz weich gemacht. Da ist nichts zu erzwingen.“

„Ja wohl, und wenn Du diese Herzerweichung so fortmachen lässest, so trinkt er Dir in zehn Jahren Bruderschaft mit Deinen Stallknechten und heirathet aus lauter Humanität ein Fabrikmädchen.“

„Mein Gott, was soll ich denn thun?“ rief der Freiherr, dem bei dieser Rede Wika’s der Angstschweiß ausbrach.

„Den Candidaten sollst Du fortjagen – was hilft alles Curiren, wenn Du die Ursache der Krankheit nicht entfernst!“

„Ich sage Dir aber, ich werde nicht auf ein bloßes Vorurtheil hin meinem Kinde das Herz brechen. Und das würde ich thun, wenn ich ihm den Lehrer nähme, der ihn seit fünf Jahren mit einer Liebe und Aufopferung pflegt, die einzig in ihrer Art ist und die ich dem Manne mit nichts genügend lohnen kann! Sieh, Schwester, ich habe Euch lieb und ich ertrage Eure Sonderbarkeiten und Launen, weil ich eben Euer Bruder bin. Einen Erzieher aber, dem es gelänge, Euch zu gefallen, würde ich sofort zum

[53] 

Winterdiner im Walde. Originalzeichnung von L. Beckmann.

[54] Teufel jagen; solch einem Speichellecker würde ich nie die Erziehung des letzten Salten-Hermersdorff anvertrauen.“

Wika keuchte und pustete vor Zorn; sie hatte alle ihre guten Karten hingegeben, und nun mußte sie auch noch Grobheiten einstecken, statt auszutheilen; nun war sie doppelt abgetrumpft!

Wenn sie sich jetzt nicht Luft machte, so traf sie der Schlag, der Aerger mußte ihr eine Ader sprengen. Und sie hatte auch noch ihr Sonntagskleid an, dessen Taille enger war als alle anderen, während sie doch Sonntags noch ein Gericht mehr als in der Woche essen mußte.

„Ja, das kommt dabei heraus, wenn so alte Männer noch heirathen,“ zischte sie. „Dann kommen solche elende Krüppel auf die Welt, die der altersschwache Herr Papa nicht einmal erziehen kann und die dem Stande nur zur Unehre gereichen.“

„Mein Sohn wird uns keine Schande machen,“ sprach der Freiherr stolz und ein Anflug von Lebenswärme färbte sein welkes Gesicht, „er wird dem Stande nicht zur Unehre gereichen, wenn er auch nicht angethan ist, eine Regeneration des Adels in Deinem Sinne zu vollbringen. Du, Schwester, Du solltest mir meine späte Heirath am wenigsten vorwerfen, denn Du vor Allen hast mich dazu getrieben. Ich führte ein stilles friedliches Wittwerleben, als Ihr mit Bitten und Vorwürfen in mich drängt, mich wieder zu vermählen, damit die Güter nicht an die Salten-Steinegg fielen, die nichts für Euch gethan hätten, wenn Ihr mich überlebtet, und weiß Gott, der Herz und Nieren prüft, ich habe das Glück, in meinen alten Tagen noch ein schönes junges Weib und einen Sohn zu bekommen, theuer erkauft.“ Er hielt inne und preßte die Lippen zusammen, als wolle er die Bitterkeit, die darauf schwebte, noch im Entfliehen festhalten. Wika streifte ihn mit einem seltsamen Blick; sie hatte eine Bresche entdeckt, von deren Vorhandensein sie bisher keine Ahnung gehabt.

„Ich sage ja nicht, daß Du nicht mehr hättest heirathen sollen. Aber es war ein Unglück, daß Du bei der Wahl, die Du trafst, nicht auf uns hörtest; da hat Dir eben doch Dein altes Herz einen Streich gespielt. Du hättest ein bejahrteres reifes Mädchen mit Vermögen nehmen sollen, nicht diese goldlockige Schäferin von sechszehn Jahren, die noch Wunder meint, wie sie sich aufgeopfert.“

„Du kannst gut reden, wie ich es besser machen gesollt! Hatte ich noch viele Zeit mit der Wahl zu verlieren? Mußte ich nicht Gott danken, als er mir ein Wesen zuführte, so liebreizend und strahlend, daß ich hoffte, es werde meinen lichtlosen Abendhimmel noch einmal verklären?“

„Und wußtest doch, daß sie den alternden Mann nur nahm, um versorgt zu sein und ihres Vaters Schulden zu bezahlen. Wie kann man so verblendet sein, von solch einer Zwangsheirath Gutes zu hoffen!“

„Ich hatte kein schäferliches Glück erwartet oder verlangt. Ich hatte nur auf ruhige Freundlichkeit und Achtung seitens dieses sanften Wesens gerechnet. Hätte ich ahnen können, daß sie meinem väterlichen Wohlwollen, meiner bescheidenen Zärtlichkeit solchen Abscheu entgegensetzen würde!“ Er schwieg wiederum und sein Haupt sank tief herab, mechanisch schob er die Karten in der Hand zurecht und die alte Brust hob ein schwerer Seufzer.

Als die Schwester ihn so sitzen sah, den hoffnungs- und zukunftslosen Greis, da erweichte sich ihr Herz für ihn und ihre ganze Wuth warf sich auf die Schwägerin und deren Schützling, den Candidaten.

„Sie ist ein falsches Weib, diese schöne rothhaarige Adelheid, sie wird Dich noch zum Gespött machen.“

Der Freiherr hob den Kopf auf, er hielt den Athem in der Brust und die Karte in der Hand zurück, die er eben ausgeben wollte.

„Hast Du denn gar nichts gemerkt?“ fuhr Wika fort. „Hast Du denn nicht beobachtet, mit welchen Blicken der Candidat unter seinen buschigen Augenbrauen heraus Adelheid anschaut, und wie Adelheid sie sich nicht nur gefallen läßt – sondern erwidert? Kannst Du denn wirklich einen Augenblick im Zweifel sein, daß sich zwischen den zwei jungen leidenschaftlichen Menschen ein Scandal entwickelt, wenn wir sie so fort – –“

Wika blieb vor Schreck das Wort im Halse stecken, als sie ihren Bruder ansah. Er war aufgesprungen und hatte die Karten auf den Tisch geworfen, hoch aufgerichtet stand die zerfallene Gestalt vor ihr und aus den erloschenen Augen sprühte noch einmal der ritterliche Geist des Edelmanns auf sie nieder. „Wika!“ rief er und stemmte die eine seiner zitternden Hände auf den Tisch, die andere auf die Brust. „Wika, ich gebe Dir zu bedenken, daß Du hier Menschenleben auf Deiner Zungenspitze wiegst, denn wenn das wahr wäre, was Du glaubst, so könnte nur Blut den Schandfleck abwaschen. Deshalb hüte Deine Worte. Hast Du Beweise, so bringe sie mir, und ich werde die Ehre meines Hauses zu wahren wissen – aber noch ein Wort eines bloßen Verdachtes gegen mein Weib, das mir, wie es mich auch gequält, theuer ist, gegen den Mann, dem ich vor Allen die Wohlfahrt meines Kindes verdanke – noch ein Wort, Wika, und so wahr ich ein Salten bin, Du verlässest mein Haus für immer!“

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, ging der alte Herr schwachen Schrittes aus dem Zimmer. Ein Augenblick völliger Rathlosigkeit kam über Wika, sie schaute auf die zerstreut hingeworfenen Karten nieder. Die dummen Königs- und Damengesichter stierten sie so schadenfroh an, wie sie dastand in ihrer Verlegenheit. Es war ihr so unerhört, daß sie einmal nicht das letzte Wort gehabt hatte, daß sie geradezu nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, und sie brummte Alles halblaut vor sich hin, was sie dem Bruder noch hätte erwidern können, wenn er sie weiter angehört. Das war doch eine kleine Erleichterung. Sie sparte nicht mit Artigkeiten wie „Altersschwäche“, „Irrenhaus“, „verliebter alter Narr“ und dergleichen mehr, während sie die Karten zusammenraffte, und als Tante Lilly noch gar hereinguckte und verwundert fragte, zu wem sie spräche, fuhr sie mit einem donnerartigen „Laß mich in Ruhe!“ an dem zitternden Nestheckchen vorüber und watschelte nach ihres Bruders Zimmer. Sie wollte öffnen, die Thür war verschlossen; sie rief, keine Antwort, und doch hörte sie ihn drinnen mit schweren Schritten auf und nieder gehen.

„Es hat doch gewirkt,“ sagte sie beruhigt zu sich selbst.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Abend im Asyl für Obdachlose.

Wie jede große Stadt besitzt auch Berlin ein zahlreiches Proletariat, darunter Hunderte und Tausende, welche am Morgen nicht wissen, wo sie Abends ihr müdes Haupt hinlegen und die lange Nacht zubringen werden. Die Menge der Obdachlosen steigt noch bedeutend am Anfang jedes Quartals, wo viele arme Familien von ihren Hauswirthen wegen Zahlungsunfähigkeit exmittirt und auf die Straße getrieben werden. Ganze Karawanen sieht man an den sogenannten Ziehtagen mit ihrem dürftigen Gerümpel oft in strömendem Regen oder erstarrender Kälte von Haus zu Haus irren, um ein Quartier zu finden, und an allen Thüren vergebens anklopfen, da den Unglücklichen nirgends aufgethan wird.

Im Sommer und bei guter Witterung bietet „Mutter Grün“, die freie Natur im „Thiergarten“ oder „Friedrichshain“, den Obdachlosen ein willkommenes Asyl. Von Zeit zu Zeit veranstaltet die Polizei eine großartige Razzia, wobei ganze Schaaren von diesen „wilden Chambregarnisten“, Männer, Frauen, Kinder, zwischen Dieben und Strolchen, liederlichen Dirnen und Gesindel von der schlimmsten Sorte, auch heruntergekommene Handwerker und Arbeiter, verarmte Familienväter, unglückliche Weiber aufgetrieben und zum Verwahrsam gebracht werden.

In der rauhen Jahreszeit gewähren die im Bau begriffenen Häuser, Brücken, Keller, Schuppen und besonders die Viehställe des am Landsberger Thore gelegenen Viehmarkts den erwünschten Schutz. Die besser situirte Minderheit, gewissermaßen die Aristokratie des Elends, welche noch im Besitz eines oder mehrerer Silbergroschen sich befindet, kehrt in einer sogenannten „Penne“ ein und zahlt für eine Schlafstelle obigen Betrag. Diese Hôtels der größten Armuth liegen größtentheils vor dem Hamburger oder [55] Rosenthaler Thor, in dem alten Voigtlande, wo von jeher die Noth zu Hause ist. Die Unternehmer sind gewöhnlich Frauen aus den niedersten Ständen, welche „Pennenmütter“ heißen, während die Gäste „Pennenbrüder“ und „Pennenschwestern“ genannt werden.

Meist werden zu diesem Zwecke die neuen Häuser benutzt, welche auf diese Weise erst trocken gewohnt werden sollen. Je nach dem Preise hat man die Wahl zwischen einer Bank oder der harten Diele. Zuweilen besteht das Lager in einer Hängematte, die des Abends der Sicherheit wegen heraufgezogen und des Morgens heruntergelassen wird. Man kann sich kaum eine Vorstellung von dem hier herrschenden physischen und moralischen Schmutz, von dem wüsten Treiben in diesen wirklichen Cloaken machen, wo Männer und Frauen untereinander in bunter Gemeinschaft die Nacht verleben.

Eine weitere Unterkunft für die Obdachlosen giebt das „Polizeiverwahrsam“, wohin alle nächtlichen Herumtreiber ohne Unterschied des Geschlechts und des Berufs eingebracht werden. Dasselbe liegt im Polizeigebäude am Molkenmarkte und besteht aus einem Verhörzimmer und zwei größeren Sälen. Statt eines Lagers finden die Detinirten nur einen Sitz auf einer Holzbank ohne Rücklehne. Dabei ist gewöhnlich der Raum so beschränkt, daß sich die unfreiwilligen Gäste kaum rühren können. Jeder Ankommende wird genau nach Namen, Stand, Herkunft, Geschäft und sonstigen Verhältnissen inquirirt und erhält ein eigenes Actenstück, worin seine Personalien eingetragen werden. Nicht minder unangenehm berührt die Gemeinschaft von wirklichen Obdachlosen, notorischen Bettlern, Geisteskranken und solchen Leuten, welche wegen Straßenunfug, Trunkenheit, Widersetzlichkeit oder Unsittlichkeit vorläufig verhaftet worden sind. – Natürlich ist die Gesellschaft eine höchst gemischte; neben ehemaligen Officieren und einst wohlhabenden Kaufleuten, Privatdocenten und Studenten erblickt man heruntergekommene Gewerbtreibende, Schneider und Schuhmacher, neben gebildeten Damen, die einst in der Gesellschaft eine Rolle spielten, feile Straßendirnen, neben der Unschuld das verworfene Laster, neben der Bildung oder wenigstens der äußeren Politur die größte Rohheit und Gemeinheit. Die Behandlung ist für Alle ohne Ausnahme und Rücksicht auf ihren Stand und ihre Verhältnisse dieselbe. Die geringste Widersetzlichkeit oder lärmendes Betragen wird sofort mit Einsperrung in eine enge dunkle Zelle oder gar mit Anlegung einer Zwangsjacke bestraft. Am nächsten Morgen erst werden die Detinirten entlassen, die Kranken in die Charité, verdächtige Subjecte in das Arbeitshaus oder zur Untersuchungshaft abgeliefert. Man kann wohl denken, daß eine derartige Nacht im Berliner Polizeiverwahrsam gerade nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens zählt, abgesehen davon, daß die inquisitorischen Maßregeln, die dabei beobachtet werden, stets einen üblen, verletzenden Eindruck hinterlassen.

Auch das „Arbeitshaus“ bietet den Obdachlosen eine Zuflucht und wird besonders beim Quartalwechsel zur Unterbringung der armen Familien benutzt, welche entweder exmittirt worden sind oder kein Unterkommen finden können. In der Regel dient dasselbe als Gefängniß für unverbesserliche Herumtreiber, Gewohnheitsbettler, Landstreicher und liederliche Frauenzimmer. Schon aus diesem Grunde eignet sich das Arbeitshaus nicht für arme Obdachlose, welche ein augenblicklicher und oft nur vorübergehender Nothstand hergeführt hat. Dazu kommt noch der Uebelstand, daß diese unschuldigen Männer und Frauen förmlich als Gefangene angesehen und behandelt werden, indem sie die vorgeschriebene Gefängnißtracht anlegen und sich solchen Arbeiten unterziehen müssen, die weder zu ihren sonstigen Gewohnheiten noch zu ihrer bürgerlichen Stellung passen. Wie groß aber trotz der gerügten Mängel der Andrang der Obdachlosen ist, zeigen die statistischen Zahlen, wonach im Jahre 1868 sich im Polizeiverwahrsam 14029 obdachlose Männer, 1664 Frauen und 64 Kinder befanden, von denen 13743 Männer, 1331 Frauen und sämmtliche Kinder sich selbst gemeldet hatten, während das Arbeitshaus 132 Familien mit 435 Köpfen und außerdem 1098 einzelne Personen in derselben Zeit aufnahm.

Unter diesen Verhältnissen lag wohl der Gedanke nahe, durch Gründung eines auf humanen Principien beruhenden Asyls dieser dringenden Noth abzuhelfen. Den eigentlichen Anstoß gab auch hier die Gartenlaube durch einen ihrer Artikel über das „Londoner Asylwesen“. Eine hochgeachtete und für alles Gute und Edle begeisterte Frau las den Aufsatz mit dem größten Interesse und bewog ihren Gatten, den Kaufmann Neumann, die hochwichtige Angelegenheit in dem „Friedrichs-Werder’schen Bezirksverein“, dem er als Mitglied angehörte, anzuregen und wo möglich eine ähnliche Anstalt in’s Leben zu rufen. Seine warmen Worte fanden allgemeinen Anklang und eine so günstige Aufnahme, daß sofort eine Commission ernannt wurde, welche bereits am 30. November 1868 eine zu diesem Zweck einberufene Bürgerversammlung, wozu auch der königliche Polizeipräsident und die städtische Armendirection geladen war, die nöthigen Vorlagen machte.

In einem schriftlichen Gutachten nannte der Polizeipräsident Herr von Wurmb die Idee eine so außerordentlich humane und zeitgemäße, daß er ihre Realisirung dringend wünschte, obgleich er die großen finanziellen Schwierigkeiten nicht verschwieg. Auch der Stadtrath Zelle als Vorsitzender der Abtheilung für die Berliner Waisenpflege sprach seine innigste Sympathie für das Unternehmen aus, rieth jedoch aus Erfahrung, sich zunächst nur auf ein Asyl für obdachlose Frauen, Mädchen und Kinder zu beschränken. Mit dieser Ansicht erklärte sich die Versammlung einverstanden, worauf sie vorläufig ein provisorisches Comité wählte, in dem Kaufleute, Fabrikanten, Beamte und Gelehrte, Männer wie Virchow, Borsig, Löwe-Calbe, Prediger Lisco, Stadtrath Zelle, Kaufmann Ravené, Stadtverordneten-Vorsteher Kochhann etc. saßen. Der Vorsitz wurde dem um die Sache hochverdienten Herrn Gustav Thölde übertragen, der durch seinen Eifer und seine Hingebung das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigte.

Eine große Schwierigkeit bot vor Allen die Beschaffung des geeigneten Locals, da sich so leicht kein Hauswirth bereit finden ließ, das Asyl bei sich aufzunehmen. Nach vielem vergeblichen Suchen wurde die frühere Artillerie-Werkstätte an der Ecke der Dorotheen- und Wilhelmsstraße zu diesem Zwecke gemiethet. Zugleich erließ das Comité einen öffentlichen Aufruf an die Bewohner der Residenz, sich durch Beiträge an dem humanen Werk zu betheiligen. Obgleich die Geldspenden anfänglich nur spärlich flossen und von verschiedenen Seiten keineswegs gerechtfertigte Bedenken gegen das ganze Unternehmen erhoben wurden, ging der Verein mit großer anerkennungswerther Energie an die Verwirklichung seiner Idee, nachdem er seine Statuten entworfen und angenommen hatte. Darnach bezweckte der Verein, in Berlin für obdachlose Personen Asyle zu gründen, um ihnen nach Möglichkeit Gelegenheit zur Arbeit zu geben. Zur Mitgliedschaft berechtigt ein einmaliger Beitrag von fünf Thalern oder ein Jahresbeitrag von mindestens fünfzehn Silbergroschen. Die Verwaltung liegt in den Händen eines aus fünfundzwanzig Mitgliedern bestehenden Verwaltungsraths und eines die Geschäfte leitenden Vorstandes von sieben Personen etc.

Unterdeß waren die nöthigen baulichen Einrichtungen, die Legung von Gas- und Wasserröhren, die Beschaffung des unentbehrlichen, höchst einfachen Mobiliars, besonders der sehr zweckmäßigen eisernen Bettstellen so weit vollendet, daß am 3. Januar 1869 das Asyl eröffnet werden konnte. Die erste und an diesem denkwürdigen Tage einzige Person, welche ein Obdach suchte, war ein verlassenes achtzehnjähriges Dienstmädchen. Seitdem sind im Lauf dieses Jahres mehr als dreizehntausend Frauen, Mädchen und Kinder aufgenommen worden.

Der freundlichen Einladung des Vorsitzenden folgend, begaben wir uns an einem kalten Decemberabende in das Asyl, das sich von außen durch ein schwarzes Schild ankündigt. Außerdem werden durch besondere Placate in sämmtlichen Eisenbahnhöfen die Fremden, welche kein Obdach haben, ausdrücklich dahin gewiesen. Wir treten in das kleine Zimmer, wo sich einer der Herren, der die Aufsicht an diesem Tage führt, aufhält und in ein dazu eingerichtetes Buch seine Bemerkungen einschreibt. Außerdem finden wir hier den angestellten Hausvater, der eine Liste über die Zahl der Obdachlosen führt, die jedoch weder nach ihrem Namen und Stand, noch nach ihren sonstigen Verhältnissen gefragt werden dürfen, so daß jede polizeiliche Recherche gänzlich ausgeschlossen ist.

Der würdige Mann, der gegenwärtig diesen wichtigen Posten bekleidet, heißt Pape und hat selbst die schwere Hand des Schicksals kennen gelernt. In jenem politischen Processe gegen Dr. Ladendorf und Genossen zur Zeit Hinckeldey’s wurde Herr Pape zu einer fünfjährigen Gefängnißstrafe verurtheilt, die er in der Anstalt [56] zu Naugard verbüßte. Der uns begleitende Herr Thölde gab ihm und seiner Frau, der guten Hausmutter, das Zeugniß der reinsten Menschenfreundlichkeit und Humanität. Er selbst führte uns zunächst in die Küche, die sich durch ihre außerordentliche Sauberkeit empfiehlt. Hier wird für sämmtliche Obdachlose Abends eine warme Suppe und Morgens der Kaffee bereitet, damit sie nicht nüchtern die Anstalt verlassen. Auf einer Holzbank stehen mehrere Wasserschüsseln zum Waschen des Gesichts und der Hände, wozu jede Aufgenommene verpflichtet ist. Desgleichen muß sie ihr Schuhwerk ablegen, wogegen ihr Pantillen verabreicht werden, die sie am nächsten Tage gegen ihre alte Fußbekleidung wieder umtauscht. Die größte Reinlichkeit wird nach allen Seiten streng beobachtet; zu diesem Zwecke dient eine vollständige Badeeinrichtung, über deren Gebrauch der Hausvater zu bestimmen hat. Die Kleidung darf nicht abgelegt werden; für durchnäßte Kleider dient ein besonderer Raum zum Trocknen, und wenn sich Spuren von Ungeziefer zeigen, so werden die betreffenden Stücke dem Glühofen ausgesetzt. Bis neun Uhr Abends können sich die Besucherinnen in gesitteter Weise unterhalten. Wer Lust zum Lesen hat, findet eine Bibel und die Volksschriften von Ferdinand Schmidt, wer seine Kleider ausbessern will, Zwirn und Nadel, welche die Hausmutter bereit hält. Das Asyl darf von ein und derselben Person nicht öfter als fünfmal im Laufe eines Monats benutzt werden; doch sind Ausnahmen gestattet, die von dem Ermessen des Vorstandes und dem Gutachten des Hausvaters abhängen. Wenn Hausvater und Hausmutter keine besonders ihnen obliegende Verrichtungen in den eigentlichen Asylräumen haben, so halten sie sich in der ihnen angewiesenen Wohnung auf, damit auch der Schein vermieden werde, als ob die zugelassenen Frauenspersonen der Beaufsichtigung unterworfen sind. Beiden ist in ihren Instructionen Schonung und Humanität empfohlen. Auf Wunsch beschäftigt sich der Hausvater mit der Unterbringung der Obdachlosen, und in vielen Fällen ist es ihm auch geglückt, ihnen einen Dienst oder Arbeit zu verschaffen.

Nach Besichtigung der Küche traten wir in den großen Saal, in welchem sich achtunddreißig eiserne Lagerstätten mit Ober- und Unterdecken befinden. Derselbe wird geheizt und zeigte eine Temperatur von ungefähr sechszehn Grad. Hier fanden wir einige zwanzig Personen, die auf den Bänken saßen und sich unterhielten oder mit Lesen und Nähen beschäftigten. Zunächst fiel uns eine Mutter mit ihrem fünfwöchentlichen Säugling auf, der von ihr mit der Milchflasche genährt wurde. Die Milch liefert die Anstalt zu diesem Zwecke. In ihren bleichen Zügen mit eingesunkenen Augen lag eine traurige Leidensgeschichte. In ihrer Nähe stand ein junges Mädchen, eine fast übergroße Gestalt mit einem angenehmen jugendlichen Gesicht. Auf Befragen erfuhren wir, daß sie aus Petersburg sei und nach Dresden reisen wolle. Unbekannt mit den hiesigen Verhältnissen, hatte sie zu dem Asyl ihre Zuflucht genommen. Besonders zahlreich war die Classe der entlassenen und unbeschäftigten Dienstmädchen vertreten, denen das Asyl eine unschätzbare Wohlthat erweist.

Nicht selten geschieht es, daß solche unerfahrene Mädchen bei ihrer Ankunft in Berlin auf der Eisenbahn von gewissenlosen Frauen aufgefangen und durch das Versprechen eines guten Dienstes verlockt werden, sich und ihr Gepäck ihnen anzuvertrauen. Zu spät erfahren die Armen durch die ihnen gestellten Zumuthungen, in welch unsaubere Hände sie gefallen sind. Ihrer Sachen beraubt, hülflos auf die Straße gestoßen, der Verführung ausgesetzt, bietet ihnen das Asyl Schutz und Hülfe. Ein solcher Mißbrauch hatte auch an diesem Abende zwei junge Mädchen aus der Provinz hergeführt, die mit ihren blühenden Wangen und sauberer Kleidung einen angenehmen Eindruck machten und vortheilhaft unter den vielen verkommenen und elenden Erscheinungen hervorstachen.

Ein anderes Dienstmädchen hatte, wie der Vorsitzende uns berichtet, zwei Nächte auf freiem Felde in der Nähe von Moabit zugebracht, wo sie erstarrt von einigen mitleidigen Herren gefunden und nach dem Asyl gebracht wurde. Es gelang dem Hausvater, ihr einen passenden Dienst zu verschaffen und für ihr Unterkommen zu sorgen. Noch glücklicher gestaltete sich das Schicksal eines andern Mädchens, das, zu ihrer Herrschaft von einem Gange zurückkehrend, diese exmittirt und die Wohnung verschlossen fand, so daß ihr nichts übrig blieb, als in dem Asyl zu übernachten. Ihr Schicksal erregte Theilnahme; eine mitleidige, hochgestellte Dame nahm sich der Verlassenen an und hat dieselbe, da sie selbst kinderlos war, als Tochter adoptirt.

Nicht minder groß ist die Zahl der obdachlosen Frauen, unter denen man zuweilen auch Personen aus den besseren Ständen findet, deren Schicksale oft im höchsten Grade interessiren. So erschien vor einiger Zeit in dem Asyl eine Unglückliche mit zwei schönen Kindern, deren ganze Erscheinung und Benehmen sogleich verrieth, daß sie den besseren Ständen angehörte. Wie man von ihr erfuhr, war sie die Frau eines Beamten beim Obertribunal, der sie treulos verlassen und einer andern Geliebten geopfert hatte; da sie nicht in die von ihm verlangte Scheidung willigen wollte. Die Erzählung ihrer Leiden war ein erschütterndes Trauerspiel aus dem bürgerlichen Leben. Herr Prediger Lisco, Mitglied des Vereins, hielt es für seine Pflicht, den Mann aufzusuchen, und sprach mit solchem Eifer und Erfolg für die verlassene Frau, daß eine vollständige Versöhnung stattfand und der verirrte Gatte sein Unrecht erkannte.

Besonders stark wird das Asyl zur Zeit des Wohnungswechsels von Obdachlosen aufgesucht. Nicht selten bringen die Eltern selbst ihre Kinder, während sie sich vergebens nach einer Wohnung umsehen. Zuweilen kommen auch elternlose Kinder, die jedoch nur ausnahmsweise aufgenommen und gleich am nächsten Morgen dem Waisenamte übergeben werden. Zu der Weihnachtszeit erschien eine arme Mutter mit ihrem sterbenden Kinde. Es war dies der erste Todesfall im Asyl, obgleich es an einzelnen Kranken nicht fehlt, welche vorläufig von zwei menschenfreundlichen Aerzten unentgeltlich behandelt und am nächsten Morgen zur Charité gebracht werden. In dem genannten Falle wurde dem armen Kinde die größte Sorge gewidmet. Mit der ihm von der guten Hausmutter geschenkten Puppe im Arme starb das Kind, indem es lächelnd auf die ungewohnte Gabe hinblickte und mit seinen bleichen Lippen flüsterte: „Meine Puppe!“

Derartige rührende und ergreifende Scenen sind hier keine Seltenheit, und die Menschenliebe findet mehr als Eine Gelegenheit sich zu bethätigen. Im Ganzen ist das Verhalten der Obdachlosen musterhaft zu nennen, obschon es auch hier nicht an Ausnahmen fehlt. Excesse können bei den verschiedenen Bevölkerungsclassen nicht gänzlich ausbleiben, obgleich sie nur selten eintreten. So wurde unter Anderm dem Hausvater eine silberne Uhr gestohlen, die man später bei einer Wöchnerin in der Charité fand, welche im Asyl übernachtet hatte. Zuweilen werden auch die den Obdachlosen gewährten Schlafdecken vermißt. Trotzdem muß man die Ordnung und das sittliche Betragen der Mehrzahl anerkennen und die günstigen Zeugnisse bestätigen, welche von verschiedenen Besuchern der Anstalt mündlich und schriftlich ertheilt werden.

Nach und nach hat sich das Asyl warme Freunde und Beförderer durch seine segensreiche Thätigkeit erworben, so daß ihm von allen Seiten Beiträge, Unterstützungen und Legate zufließen. In der kurzen Zeit eines Jahres hat es bereits eine Summe von zwanzigtausend Thalern erworben, für die ein eigenes Haus in der Grenadierstraße angekauft worden ist. Durch den überaus günstigen Erfolg aufgemuntert, beabsichtigt der Verein zunächst ein zweites Asyl für obdachlose Männer zu gründen und überhaupt seine Wirksamkeit über die verschiedenen Stadttheile der Residenz auszudehnen.

Dieser Erfolg legt in der That ein glänzendes Zeugniß für den wohlthätigen Sinn der Berliner ab. In demselben Maße, wie das sociale Elend zunimmt, regt sich auch die allgemeine Menschenliebe. Was im Mittelalter der fromme Glaube that, um der Armuth zu helfen, die Kranken zu pflegen, die Dürftigen zu unterstützen, das leistet jetzt die selbstbewußte Humanität in noch erhöhtem Maße, indem sie sich nicht nur auf palliative Mittel beschränkt, sondern das Uebel an seinen Wurzeln anzugreifen sucht. Diese Bestrebungen verdienen um so mehr unsere Anerkennung, da sie auf dem Principe der Selbsthülfe beruhen und aus dem Schooße des gebildeten Mittelstandes hervorgegangen sind.

Max Ring.




[57]

Anderthalb Jahre waren bereits seit Adalbert’s Tode hingegangen, und noch immer hatte die Zeit die Spuren der erlittenen Erschütterungen nicht bei Eva zu tilgen vermocht. Ihr Gemüth konnte sich nicht wieder von dem Schlage erholen, und gleichzeitig kränkelte auch ihr Körper, so daß von der früheren frischen Heiterkeit ihrer Mädchenjahre kaum noch etwas übrig geblieben war und Niemand die einst so blühende Eva in der bleichen jungen Frau mit den schwermüthigen Augen wiedererkannt haben würde. Schön war sie aber immer noch, vielleicht schöner als je, und Niemand konnte den Blick ohne Theilnahme der rührenden Gestalt zuwenden, auf der ein so schweres Schicksal lastete. Zwar hatte ihre jetzige Umgebung jene traurigen Ereignisse nicht mit ihr durchgelebt, denn Eva war nicht mehr nach der Hafenstadt zurückgekehrt, sondern nach einem ziemlich entfernten Orte gezogen, in dessen Nähe weitläufige Verwandte von ihr lebten; aber der Ruf hatte jene Vorfälle dorthin getragen, und man wußte allgemein, daß die Trauer, welche die junge Frau kaum abgelegt hatte und die sich noch mehr in ihrem ganzen Wesen verrieth, dem auf entsetzliche Weise herbeigeführten Tode eines geliebten Gatten galt, der sie allein und schutzlos in der Welt zurückgelassen hatte.

Mit den oben erwähten Verwandten war Eva früher wenig bekannt gewesen; doch hatte es sie in ihrer Verlassenheit getrieben, sich ihnen anzuschließen, da sie aller näheren Verwandten beraubt war und sich ihr armes, krankes Herz unsäglich nach Liebe und Theilnahme sehnte. In der That hatte sie auch eine überaus herzliche Theilnahme gefunden, und bald war es ihr ein gar wohlthätiges Gefühl, daß sie mit ihrem Leben nicht mehr allein auf sich selbst angewiesen war. Der Gedanke, es den Wünschen, ja dem Willen Anderer unterordnen zu dürfen, war ihr in mancher trüben Stünde ein Trost und ein Schutz gegen die sich ihr oft zu ihrer Qual aufdrängende Frage: „Wozu überhaupt noch leben?“ Sie zeigte sich darum auch freundlich – nachgiebig bei Allem, was ihre Freunde von ihr verlangten, namentlich bei dem, was sich auf die Stärkung ihrer Gesundheit, die diesen ernstliche Sorge machte, bezog. In diesem Jahre war es die allgemeine Forderung gewesen, der sich auch die des Hausarztes W. anschloß, daß Eva ein Bad besuchen sollte, und es war ihr ein nicht weit entlegenes vorgeschlagen worden. Freilich hatte sie anfangs mit einem halb wehmüthigen Lächeln gesagt: „Wozu denn das Alles? Ich fühle kein körperliches Leid, und für Das, was mir etwa fehlt, giebt’s wohl keinen Gesundbrunnen!“ Aber gefügt hatte sie sich doch, und so war sie jetzt mit dem Beginne des Sommers nach P., jenem gedachten Badeorte, gereist.

Es war am Morgen nach ihrer Ankunft, und sie erwartete in ihrem Zimmer den Besuch des Badearztes, den ihr Doctor W. als einen vorzüglichen Collegen gerühmt hatte, unter der Bemerkung, daß er selbst an ihn schreiben und ihm Eva zu besonders sorgfältiger Behandlung empfehlen wollte. Den Namen hatte dieser ihr zufällig nicht genannt, und auch, als ihr jetzt sein Eintreffen gemeldet ward, hatte sie denselben nicht vernommen; darum fuhr sie erschreckt und verwirrt empor, als er in’s Zimmer trat.

„Reinhard, Sie hier?“ stammelte sie.

Er trat freundlich und unbefangen auf sie zu und sagte: „Ich freue mich des Wiedersehens, Eva; aber Sie, Eva, wußten Sie nicht, daß Sie mich hier als Brunnenarzt finden würden?“

„Nein, ich wußte es nicht!“ sagte sie leise.

Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend, wie sie mit gesenkten Blicken vor ihm stand, und sagte dann:

„Doctor W. hat mir geschrieben – wollen Sie sich meiner Behandlung anvertrauen, Eva?“

Sie schlug die Augen fast lächelnd zu ihm auf, und er vermißte nicht das Wort, das ihn ihres unbegrenzten Vertrauens versichert hätte.

„Aber ich bin nicht krank – nur müde!“ sagte sie.

Wieder sah er sie einige Secunden lang prüfend an und sagte dann ernst:

„Wenn wir gesund sind, Eva, erlaubt uns das Leben auch nicht, müde zu werden! Nehmen Sie darum immerhin ärztlichen Rath an,“ fuhr er in freundlicherem und heitrerem Tone fort, „und der geht vor allen Dingen dahin, daß Sie sich ein wenig mehr in die Strömung des Lebens wagen, damit auch die eigenen Pulse wieder rascher klopfen lernen. Haben Sie Freunde und Bekannte neben sich oder überhaupt am hiesigen Orte?“

Eva schüttelte den Kopf. „Ich bin ganz allein!“ sagte sie.

„Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich selbst sofort eine Bekanntschaft vermittle, die nicht ohne Interesse für Sie sein dürfte, und die vielleicht nur erneuert zu werden braucht; denn die Dame, von der ich spreche, stammt aus Ihrem Geburtsorte. Kennen Sie die Generalin Kerstein?“

Eva zuckte unwillkürlich zusammen: sie wußte, daß der Name von der ehemaligen Emilie Waldow geführt wurde.

„Nur wenig!“ sagte sie gepreßt. „Sie ist einige Jahre älter als ich und zählte bereits zu den Erwachsenen, als ich noch ein Kind war. Später haben wir uns ganz aus den Augen verloren und ich weiß nur, daß sie schwere Schicksale gehabt hat.“

„So haben Sie also auch von jener unglücklichen Ehe gehört, in der sie jahrelang geschmachtet hat? Dieselbe sollte gelöst werden, als der Tod dazwischen trat und sie zur Wittwe machte. Was sie überhaupt bewogen hat, dem alten und als tyrannisch bekannten General ihre Hand zu reichen, weiß ich nicht; jedenfalls aber hat sie den Irrthum schwer gebüßt und wäre eines besseren Schicksals werth gewesen; die Ueberzeugung habe ich gewonnen, seit ich näher mit ihr bekannt geworden bin.“


Michael Bakunin.

[58] Eva vermochte nicht zu antworten – die Erinnerungen lasteten zu schwer auf ihr.

Glücklicher Weise fiel aber dem Doctor ihr Schweigen nicht auf, denn er besann sich, daß ihn diese Stunde eigentlich schon am Brunnen unter seinen Badegästen hätte treffen sollen, und nahm rasch Abschied, aber nicht ohne der jungen Frau das Versprechen abgenommen zu haben, daß auch sie sich in kurzer Frist auf der Promenade einfinden wollte.

Als er sie verlassen hatte, sank Eva auf ihren Sessel zurück und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen, während ihr ganzer Körper vor Erregung zitterte. Das Wiedersehen Reinhard’s hatte sie mehr erschüttert, als sie selbst für möglich gehalten hatte – und nun sollte sie sich auch noch auf eine andere Begegnung gefaßt halten, wovor ihr ganzes Innere zurückbebte, wenn es sie auch wieder mit einer geheimnißvollen Gewalt zu jener schönen Emilie Waldow hinzog, die Adalbert geliebt hatte, deren Name noch auf seinen sterbenden Lippen gewesen war. Jedes Wort, welches Reinhard über sie geäußert hatte, war ihr wie ein Pfeil in’s Herz gedrungen. Sie, sie wußte es, was Emilie vermocht hatte, einem ungeliebten Manne ihre Hand zu reichen: es war die Verzweiflung ihres Herzens gewesen! – und wieder drückte es sie wie eine schwere Schuld, daß um ihrer selbst willen diese Verzweiflung auf sie gewälzt worden war. – Jenes bessere Schicksal, dessen Reinhard die Generalin für würdig erklärt hatte – würde sie es an Adalbert’s Seite gefunden haben, wenn sie nicht gewesen wäre, sie und Adalbert’s Schuld? Ihre Gedanken verwirrten sich bei dem Nachgrübeln und auf’s Neue fühlte sie sich verantwortlich für die That ihres Gatten, verpflichtet, sie zu sühnen – „Zu ihr!“ flüsterte sie und griff nach Hut und Mantel, um sich zum Ausgehen zu rüsten. Als sie schon an der Thür war, fühlte sie sich noch einmal von Scheu und Bangigkeit erfaßt und war im Begriff, umzukehren und die ganze peinliche Begegnung zu vermeiden; aber in der nächsten Secunde lächelte sie sich selbst Muth zu und flüsterte: „Reinhard hat Recht: das Leben erlaubt uns nicht, müde zu werden!“

Reinhard erwartete sie schon an der bezeichneten Stelle auf der Promenade und führte sie dann sofort einer hohen, stolz aussehenden Dame zu, der er sie als Frau von Wallberg vorstellte.

Eva sah sie vor sich, diese blitzenden Augen und schwarzen Locken, von denen Adalbert gesprochen hatte, zugleich aber zog ein eisiges Frösteln über ihr Herz vor dem kalten, fast feindseligen Blick, mit dem die schöne Frau sie ansah.

„Ich kenne von früher her die Frau von Wallberg besser, als Sie meinen, Herr Doctor, besser als sie selbst vielleicht ahnt,“ sagte die Generalin, „und eine Vorstellung wäre deshalb in meinem Sinne kaum nöthig gewesen.“

„Wenn Sie denn,“ entgegnete Eva sanft, „das halbreife, unerfahrene Mädchen – und als solches haben Sie mich ja nur gesehen – Ihrer Beachtung werth fanden, Frau Generalin, so darf vielleicht die Frau eine gewisse Hoffnung auf ein freundliches Entgegenkommen setzen, nachdem auch sie durch die Schule des Lebens gegangen ist!“

Unwillkürlich blickten die Augen der Generalin etwas milder und in ihrer Stimme lag eine gewisse Weichheit, als sie erwiderte:

„Allerdings habe ich nicht ohne Theilnahme gehört, daß auch Sie erfahren haben, wie leben leiden bedeutet! Aber wer von uns wüßte das nicht?“ fügte sie in herberem Tone hinzu.

Reinhard, dem die Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, sichtlich unangenehm war, legte sich jetzt in’s Mittel und suchte es in heitere Bahnen zu lenken, was ihm auch namentlich bei der Generalin gelang, die ihm gegenüber bald ihre volle, freie Haltung wieder gewann und unbefangen und lebhaft mit ihm sprach, während Eva meistens schweigend der Unterhaltung zuhörte und nur dann und wann ein Wort hinein warf, das ihren freundlichen Antheil verrieth. Ihre Weise mußte aber doch einen günstigen Eindruck auf die Generalin gemacht haben, denn es lag weniger Kälte in den Abschiedsworten, welche sie später an Eva richtete, als in ihrer ersten Anrede; ja, sie sprach sogar die Hoffnung eines baldigen Wiedersehens aus.

Mochte Eva diese Hoffnung nun auch im Herzen kaum theilen, mochte ihr die Persönlichkeit der Generalin noch so wenig sympathisch sein, so wagte sie dennoch nicht, sich einer nähern Bekanntschaft zu entziehen, vielmehr gebot ihr das Herz, dieselbe als eine doppelte Pflicht zu suchen, nachdem sie inne geworden war, daß ein offenbares großes Interesse den Doctor an die schöne Frau fesselte, die ihm ihrerseits ein sehr freundliches Entgegenkommen bewies. Eva ward Zeuge ihres lebhaften täglichen Verkehrs, sie sah oft, wie sein Auge aufleuchtete, wenn er mit ihr sprach, wie auch ihre Züge mehr und mehr den kalten, strengen Ausdruck verloren und sanft und weich werden konnten in der Unterhaltung mit ihm – und Gedanken eigener Art stiegen dabei in ihrer Seele auf. Wohl hatte sie Momente, wo ihr Herz hoch und freudig aufwallen konnte bei der Vorstellung, daß dem edeln Manne noch ein schönes Glück beschieden sei, und dann wieder vermochte sie es sich nicht zu denken, daß es ihm die Hand der Generalin sollte gewähren können. „Aber ich will mich zwingen, sie zu lieben, um Reinhard’s willen!“ sagte sie zu sich selbst.

Einmal, als zwischen den beiden jungen Frauen die Rede auf den Doctor kam und Eva unwillkürlich verrieth, wie hoch sie ihn stellte, sagte die Generalin: „Ja, er ist, wie ein Mann sein muß und wie ich es liebe: fest und gerecht, aber auch unnachsichtlich streng gegen sich und gegen Andere. Ich traue ihm zu, daß er ein Unrecht, das ihm geschähe, nie vergeben würde.“

Eva senkte bei diesen Worten schmerzlich getroffen ihr Haupt, senkte es demüthig vor der Frau, die so in dem stolzen Bewußtsein sprechen konnte, daß sie dem Freunde keinerlei Unrecht abzubitten hatte! –

Die von Eva’s Freunden gehoffte wohlthätige Wirkung des Bades wollte immer noch nicht bei ihr hervortreten, wenigstens nicht in Bezug auf ihr Gemüth, das sich von seiner gedrückten Stimmung nicht recht zu erheben vermochte. Reinhard sah täglich nach ihr und für Momente erfrischte sie sich dann wohl an der Heiterkeit, die immer heller aus seinen Zügen strahlte, aber es ward ihr schwer, seiner ärztlichen Verordnung, die sie geselligen Unterhaltungen zuwies, nachzukommen.

Heute hatte er ihr das Versprechen abgenöthigt, am Nachmittage die Eremitage, einen beliebten, auf einer waldigen Anhöhe in der Nähe des Bades gelegenen Vergnügungsort, zu besuchen, wo auch er sich mit der Gesellschaft zum Genuß der schönen Natur und einer heiteren Unterhaltung vereinigen wollte. Sie hatte schon ihre Zusage ertheilt, als er hinzusetzte: „Sie werden auch die Generalin dort treffen, welche sich auf das Zusammensein mit Ihnen freut, wie ich denn zu meiner Befriedigung die wachsende Freundschaft zwischen Ihnen wahrnehme.“

„Ich strebe danach, ihr näher zu kommen!“ sagte Eva schüchtern.

„Und glauben Sie mir, daß sie dies verdient!“ entgegnete der Doctor warm. „Unter anscheinender Kälte verbirgt sich ein edles, großer und tiefer Empfindungen fähiges Herz, und ich hoffe daß auch Sie dies immer mehr erkennen werden. Ich sprach sie heute Morgen einen Augenblick am Brunnen,“ fuhr er heiter fort, „und täuscht mich nicht Alles, so darf ich glauben, daß wir einem Ereigniß nahe sind, durch welches sich mir ein langgehegter, theurer Wunsch erfüllen würde. Doch davon später!“ –

Es war das erste Mal, daß der Doctor so offen auf seine Neigung für die schöne Frau hingedeutet hatte; – Eva sagte sich das, als sie allein war, und suchte sich einzureden, daß sie sich über diesen Beweis seines freundschaftlichen Vertrauens herzlich freue, während sie selbst nicht auf die Thränen achtete, die unaufhaltsam und heiß aus ihren Augen drangen.

Als sie am Nachmittage auf die Eremitage kam, fand sie bereits eine zahlreiche Gesellschaft vor, die sich offenbar in einer gewissen Aufregung befand und mit einem gemeinsamen Thema beschäftigt war.

„Haben Sie denn auch schon die große Neuigkeit des Tages gehört, welche alle Gemüther in Bewegung setzt?“ wurde sie von einer bekannten Dame angeredet, „die Verlobung der Generalin Kerstein?“

Eva zuckte, wenn auch unmerklich, zusammen – so rasch hatte sie die Nachricht nicht erwartet!

„Nun, Sie sind nicht überrascht?“ fuhr die Dame fort; „so sind Sie vielleicht schon in die Sache eingeweiht und können uns den Bräutigam nennen, über den hier die verschiedensten Vermuthungen laut werden!“

„Es ist ein polnischer Graf!“ „Nein, ein russischer Staatsmann!“ tönte es von mehreren Seiten dazwischen.

Ehe Eva sich von ihrem Erstaunen, ihrer Verwirrung erholen konnte, öffnete sich der Kreis, um ein paar Gestalten Platz zu machen, die in der allgemeinen Aufregung unbemerkt herangekommen [59] waren, auf die sich jetzt aber Aller Augen richteten. Es waren die Generalin selbst und ein stattlicher, vornehm aussehender Herr, der sie führte und den sie jetzt der Gesellschaft als den Präsidenten von Hollbach, ihren Verlobten, vorstellte.

Eva war wie betäubt; sie vermochte nicht, gleich den Uebrigen, glückwünschend vor die Generalin heranzutreten, sie hatte nur den einen Gedanken an Reinhard, an den tödtlichen Schlag, der seinem Herzen drohte, und dessen volles Gewicht sie aufhalten mußte, wenn auch nur um eine Minute, damit seine Wunde nicht hier, nicht vor dieser gaffenden Menge offenbar würde; sie wußte, sein stolzer Sinn hätte das nicht ertragen! Unbemerkt entglitt sie aus der Gesellschaft und eilte auf den Weg hinaus, den er kommen mußte.

In wenigen Augenblicken schon kam ihr der Wanderer entgegen, der überrascht war, als Eva’s Gestalt plötzlich vor ihm auftauchte, dann aber besorgt in ihre bleichen Züge blickte, deren Ausdruck ihm nichts Gutes verkündete.

„Ist Ihnen ein Leid widerfahren, Eva?“ fragte er unruhig.

„Mich drückt nur der Kummer um Sie, Reinhard, wenn auch tief und schwer!“ entgegnete sie, indem sie nur mühsam athmete. „Ich gäbe mein Herzblut hin, wenn es Sie von dem Weh retten könnte, das Ihrer wartet!“

Wie in Verzweiflung blickte sie zu ihm auf, so daß er erschrocken ausrief: „Um Gotteswillen, was ist geschehen, Eva?“

Ehe sie antworten konnte, war ein Theil der Gesellschaft lärmend und sprechend herangekommen; der Doctor ward umringt und ihm von allen Seiten die interessante Neuigkeit von der Verlobung mitgetheilt.

Ueber Reinhard’s Züge glitt ein helles, freudiges Lächeln. „Gottlob!“ rief er aus, „daß meine Hoffnung zur Wahrheit geworden ist!“ Dann trat er zu dem in glücklicher Heiterkeit strahlenden Brautpaar.

Es war Eva unmöglich, in die Gesellschaft zurückzukehren, den Blicken Reinhard’s zu begegnen. War ihr auch durch jenen einzigen Ausruf aus seinem Munde die Gewißheit geworden, daß sie sich getäuscht hatte, daß er die Generalin nicht liebte und seinem Herzen somit ein schwerer Schlag erspart blieb, so peinigte sie doch jetzt das Bewußtsein, ihm zu offen gezeigt zu haben, welchen Antheil sie an dem Leben desselben nahm, und sie fürchtete ihn damit verletzt zu haben, daß sie gewagt hatte, seine Gefühle zu deuten. Es war ihr Bedürfniß, die Einsamkeit zu suchen, um ihr bewegtes Herz zur Ruhe zu bringen, und es war ihr lieb, daß sie in der Nähe ein liebliches, aber wenig bekanntes Plätzchen wußte, das sie seiner Abgeschiedenheit wegen schon häufig aufgesucht hatte, und dorthin lenkte sie auch jetzt ihre Schritte.

Sie sollte aber heute ihres Alleinseins nicht länger genießen, denn schon nach wenigen Minuten hörte sie Schritte in ihrer Nähe und als sie aufsah, stand Reinhard vor ihr. Schnell senkten sich ihre Blicke vor den seinigen, und sie vermochte nur halblaut zu stammeln: „Vergeben Sie mir, Reinhard?“

„Was soll ich Ihnen vergeben, Eva?“ versetzte er fast heiter, „daß Sie mich einen Augenblick – und, ich gestehe es, fast tödtlich – erschreckt haben, um mir hernach eine desto schönere Ueberraschung zu bereiten? Ihnen wiederhole ich es, daß ich an der Verlobung den gleichen herzlichen Antheil nehme wie an dem Paare selbst und daß sie lange von mir gewünscht war, da ich die Neigung meines Freundes Hollbach für die Generalin kannte. Er ist heute Mittag hier eingetroffen, sich ihr Jawort zu holen, und war schon in meiner Wohnung, um mir sein Glück zu verkünden; da ich aber auf mehrere Stunden hinaus entfernt war, habe ich die Nachricht erst hier erhalten.“

Eva athmete hoch auf, sagte aber kein Wort. Er nahm an ihrer Seite Platz, faßte ihre Hand und sagte, indem er ihr lächelnd in’s Gesicht schaute: „Verstehen Sie wirklich so wenig in den Herzen zu lesen, Eva, daß Sie glauben konnten, das meinige sei von einer Neigung für die Generalin erfüllt?“

„O Reinhard,“ entgegnete sie in schmerzlicher Verwirrung, „mich leitete ja nur der eine Gedanke, das brennende Verlangen, Sie glücklich zu wissen!“

„Ich weiß es!“ sagte er ernst, „ich habe es in einem einzigen Moment erkannt; dennoch aber hat jenes Verlangen Sie irre geleitet, denn Sie suchten mein Glück auf Wegen, wo es nimmer zu finden gewesen wäre. Soll ich Ihnen sagen, von wannen es mir kommen muß?“

Der Ton, in welchem er sprach, machte, daß sie erbebte und ihre Hand aus der seinigen zu ziehen suchte.

„Ich habe einmal vor Jahren geträumt, daß ich ein holdes, junges Geschöpf mein nennen dürfte,“ fuhr er fort, „und hernach mit bitterm Weh erkennen müssen, daß es ein Irrthum war. Damals zog ich mich schwer verletzt zurück und gelobte mir, nie wieder die Hand nach einem solchen Glück auszustrecken, nie mehr an Treue und Beständigkeit eines weiblichen Herzens zu glauben. Dem Gelöbniß bin ich treu geblieben. Eva, treu, als ich Sie später wiedersah, treu bis zu dieser Stunde, obgleich mir bisweilen freundlich schmeichelnde Stimmen zuflüsterten, ich dürfe jetzt wagen, auf’s Neue um Ihre Liebe zu werben. ‚Zu werben vielleicht, nicht aber – an sie zu glauben!‘ sagte ich zu mir selbst, und ich beschloß, zu bleiben, was ich war, nicht mehr, nicht weniger: Ihr Freund! Nun aber ist’s anders geworden, Eva: ein einziger Augenblick hat mir eine Offenbarung gebracht, die ausreichen wird für die ganze Zeit meines Lebens, und so frage ich Sie jetzt zum zweiten Male: Wollen Sie mein, mein Weib sein, Eva?“

Seine Stimme bebte, als er die letztem Worte sprach, noch mehr aber bebte die ihrige, als sie außer sich rief: „So ist’s wahr, es ist möglich, Reinhard, daß Sie mich lieben trotz meines Irrthums, trotz der Sünde, die ich an Ihrem Herzen beging?“

„Ich liebe Sie, Eva, wie ich Sie liebte, als ich vor Jahren um Ihre Hand warb, wie ich Sie liebte durch all’ diese traurigen Jahre hindurch – nur noch tiefer, noch inniger!“

Sie lag an seinem Herzen, von seinen Armen umfaßt. „Gott, mein Gott, kann es denn sein? nach soviel Elend soviel Seligkeit!“ weinte und jubelte sie zugleich. Er aber drückte sie fester an seine Brust und sagte: „Ich vermag jetzt, Gott selbst für jenes Elend zu danken, Eva, allein um dieser Minute willen!“

F. L. Reimar.



Ein paar „Rebeller“ von Anno Neun.
Von Friedrich Hofmann.

Wer zum ersten Male im Leben den Berg Isel und den Innstrom begrüßt, dem tritt vor Allem der große Heldenkampf Tirols vor den Geist. Rings um Innsbruck ist blutgetränkter Boden, auf allen diesen Bergwänden lag der rothe Schein der Brandfackel, und kein Thal öffnet sich hier dem Wanderer, wohin nicht aller Schrecken und Jammer dieses Krieges gedrungen ist. Sechszig Jahre sind darüber hingegangen, von den zwanzigtausend Kämpfern jener Tage leben nur noch wenige als steinalte Greise, kein Herz trägt mehr eine Wunde des großen Leids, es ist Alles begraben, aller Haß der Rache und auch aller Jubel der Thaten. Eines aber bleibt: die Geschichte dieses Krieges ist ein ewiger Kranz um den Namen Tirol.

Von solchen Gedanken erfüllt wandelte ich im vergangenen Spätherbst dem Städtchen Hall am Inn zu. Man ist mit den Menschen übel daran in solcher Stimmung; man trägt einen heiligen Feiertag in sich herum und fühlt sich verletzt, überall auf Alltagsgesichter zu stoßen, die von der heimlichem Feierlichkeit keine Ahnung haben. Unwillkürlich lenkt man die Schritte dem Friedhof zu, um für den Ernst der Erinnerung verwandte Bilder zu suchen. Und hier fand ich mehr, als ich suchte: beim Wandeln um die Kirche stand ich plötzlich vor dem Grabdenkmal des kühnsten und schönsten Helden Tirols, von dem ein Landsmann sagt: „er war im eigentlichen Sinne der Odysseus des Volkskriegs von 1809, unerschöpflich an Rath zum Siege, scharfblickend und kalt in Anlegung seiner Pläne, schnell und listig in der Ausführung, um Mittel zum Zweck nie verlegen, nie ängstlich in der Auswahl derselben, nicht blos im Hoffen und Thun, sondern ganz besonders im Verstande der aushaltigste.“ Erzherzog Johann nannte ihn: der „Mann von Rinn“, sein Name steht in der Geschichte neben dem Hofer’s und Haspinger’s als der größere: Joseph Speckbacher.

[60] Ein Volksheldenleben wie das dieses Tirolers und seines Söhnleins Anderl findet in unseren Tagen seines Gleichen nur noch in dem großen Freistaat jenseits des Oceans, wo urwüchsiger Kraft ein Feld geboten ist, auf dem sie sich entwickeln, wo sie austoben und doch dabei im harten Kampfe Ziele verfolgen kann, die ein großer Gedanke gesteckt hat. Den Nachkommen in milderen Jahrhunderten wird Speckbacher’s Leben erscheinen wie ein Stück wilder, gewaltiger Poesie: er muß neue, noch ungehörte Weisen anschlagen, der Dichter, welcher einst dies Heldenlied singen will. Einstweilen freut es uns, daß die deutsche Kunst den Gegenstand so würdig erfaßt hat. Der beigegebene Holzschnitt, dessen Original von Franz Defregger in München für den Rathhaussaal in Innsbruck gemalt ist, ist sicherlich eine Wohlthat für Auge und Herz unserer deutschgesinnten Freunde.

Wie Hercules in der Wiege, begann Speckbacher schon im Knabenalter den Kampf gegen die Raubthiere des Hochgebirges, gegen Adler und Bären. Der spätere Führer im Gebirgskriege konnte keine praktischere Schule durchmachen. Früh verwaist und von den Verwandten verwahrlost, wuchs er als freier Sohn der Wildniß auf und war bald der gefürchtetste Wildschütz der ganzen Gegend. Die Land- und Gebirgsbevölkerung hielt es mit ihm und sogar die einheimische Obrigkeit sah ihm Vieles nach, eben weil er auch allen Raubthieren den Krieg erklärt hatte. Wochenlang kam er nicht in die Thäler und unter Menschen. Um eine Gemse war keine Gefahr ihm zu ungeheuerlich; die kühnsten Wagnisse gehörten zu seinen besonderer Freuden.

Selbstverständlich kannte bald Niemand das Gebirg bis zu seinen geheimsten Schlupfwinkeln weit umher so genau wie der junge Wilderer, den an Körperkraft, Gewandtheit, Ausdauer, Waffenfertigkeit und Schärfe der Sinne Keiner erreichte. Einst kam er in Hall zufällig zu einem „Hosenlupfen“ oder „Schmeißen“, wo ein vierschrötiger Hausknecht über alle Gegner Sieger geblieben war. Da ließ der „Speckbacher Seppel“ sich die flinke Hand auf den Rücken binden und warf ihn mit der rechten allein zu Boden. Ein andermal überfielen ihn vier bairische Jäger, als er eben am Heerd einer Almhütte sich einen „Schmarn“ (Gebäck aus Mehl und Schmalz) bereitete; er aber schleuderte ihnen das prasselnde Schmalz in die Gesichter, schlug alle Vier mit dem Kolben nieder und war frei.

Dafür mußte er kurz nachher erfahren, wie sein liebster Freund von bairischen Jägern an einen Baum gebunden und niedergeschossen wurde. Dies ging ihm tief zu Herzen, noch tiefer aber gleich darauf die Liebe zu seiner Maria Schmiederer, denn nun trat eine gewissenhafte Mutter gegen sein „heimathloses Wildlingsleben“ auf.

Jetzt zeigte sich aber auch die Kraft seines Willens der seines Körpers ebenbürtig. Er sollte ein Jahr Probe bestehen. Die Büchse blieb fortan am Nagel hängen und war nur dem Kampfe für’s Vaterland gelobt; Speckbacher war von jetzt an der fleißigste Holzarbeiter in der Saline zu Hall, und als das Jahr ihm in aller Bräutigamswonne vergangen war, trat er mit seinem Moaidl, das schönste Paar des Gebirges, vor den Traualtar.

So ward der Wilderer im fünfundzwanzigsten Jahre zum wohlhabenden Bauer, und als so tüchtiger und solider Mann that er sich hervor, daß man ihn schon nach zwei Jahren in den Gemeindeausschuß wählte.

Trotz des häuslichen Glücks behielt der Reiz der Gefahr oder des Außergewöhnlichen für ihn die alte Kraft; die Büchse mußte von der Wand, so oft ein Raubthier sich zeigte, oder die Sturmglocken zu den Schützenfahnen riefen. Daran änderte auch 1798 die Geburt seines ersten Ebenbildes, des Anderl, nichts. Er war mehrmals mit gegen die Franzosen ausgezogen. Als aber zu Anfang 1806 Tirol bairisch geworden war, hielt er sich still daheim, bis das große Jahr für ihn kam.

Der Aufstand in Tirol ist bekanntlich von der Kriegspartei in Wien angeschürt worden. Das Geheimniß des Aufstandes wurde in allen von Wien oder Tirol aus der Post anvertrauten Briefen verdeckt unter einer Liebesgeschichte; eine Braut sehnte sich nach der Hochzeit, und diese Braut war Tirol, der Bräutigam – Erzherzog Johann – Andreas Hofer, Peter Hueber und Franz Anton Nessing waren die drei Männer, welche endlich selbst nach Wien gingen, um dort in nächtlichen Zusammenkünften den Plan des Aufstandes festzustellen. Gleich nach der Heimkunft wählten und sammelten diese dann den Vertrauten, die wiederum weiter warben. So wurden nach und nach sechszigtausend Menschen, und darunter viele Frauen, in das Geheimniß eingeweiht, und sie bewahrten es drei volle Monate. Solche Treue und solcher Gemeinsinn stehen einzig da! –

Speckbacher tritt als Führer im Großen erst um die Mitte Mai in den Vordergrund; bis dahin kämpfte er an der Spitze der Unterinnthaler und hier und da mit Straub rivalisirend, aber jetzt schon mit dem Blick, welchem Niemand den Gehorsam zu verweigern wagte. Die damalige äußere Erscheinung Speckbacher’s giebt unser Bild mit Natur- und geschichtlicher Treue. Der schöne, große schlanke Mann mit der hochgewölbten Brust und den breiten starken Schultern bekleidete sich mit der Landmannstracht des Unterinnthals, die, wie der Biograph Speckbacher’s, Joh. Georg Mayr, („Der Mann von Rinn und die Kriegsereignisse in Tirol 1809“) behauptet, damals noch malerischer war, als jetzt, und hauptsächliche bestand aus dem dunkelbraunen Lodenrock oder der kürzeren Joppe, dem sogenannten Leibstückel mit dem grünen Hosenträger, den schwarzledernen Hosen, Strümpfen und kurzen Schnürstiefeln und endlich der Hauptzierde in doppelter Bedeutung, dem breitkrempigen, grüngefütterten, mit Spielhahnfedern, Rautenkraut oder Nußbaumlaub geschmückten Hut. Als Waffen trug Speckbacher einen tüchtigen Kernstutzen und einen großen Säbel an schwarz lederner Kuppel. Und seine geistige Erscheinung? „In seinem ganzen Wesen,“ sagt Mahr, „war nichts Einnehmendes, nichts Verführendes, wie es wohl sonst im Volkskrieg unerläßlich ist, ja eher etwas Finsteres, Abstoßendes; darum war er auch nie ein Parteihaupt, wohl aber ein durch sein großmüthiges Bezahlen mit der eigenen Person das höchste Zutrauen einflößender Feldhauptmann, jeder Zoll ein wahrhaft inwendiger Krieger, jeder Nerv ein Mann der That.“

Von diesem „Bezahlen mit der eigenen Person“ mögen hier die charakteristischesten Beispiele folgen, sie bringen uns den Mann menschlich näher, als die Aufzählung aller seiner kriegerischen Thaten, so ungern man von der erschütternden Bilderreihe, die mit ihnen vor uns vorüberzieht, sich auch trennt.

Der Tirolerkrieg ist durch die Thatsachen selbst in vier Abtheilungen geschieden. Die erste begreift die Zeit der Vorbereitung bis zum Ausbruch des Aufstandes und die nicht volle vierzehn Tage der Beendigung desselben durch die Vertreibung der Baiern und Franzosen. Speckbacher zeichnete sich dabei durch den Sturm auf Hall aus.

Des Drama’s Zweiter Act beginnt mit der Himmelfahrtskanonade Wrede’s gegen die Tiroler Thermopylen, den Staubpaß, dann folgt die Flucht der österreichischen Generale und Truppen, die furchtbare Rache der Baiern stachelt das Volk zu neuem Aufstande auf, an dessen Spitze nun Speckbacher mitsteht, und durch den Sieg am Berg Isel, am 29. Mai, schlägt Tirol sich zum zweiten Mal frei. Damals trat Anderl zum ersten Mal auf. Speckbacher stand eben an der Innbrücke unweit Bolders im heftigen Kampf, als sein Söhnchen plötzlich neben ihm herlief. Nur Schläge konnten ihn aus der Gefechtslinie zurücktreiben. Sobald er von seinem Vater nicht mehr gesehen wurde, macht er Halt, um mit seinem Taschenmesser die feindlichen Kugeln, die dort in den Boden fuhren, herauszugraben. Am andern Morgen brachte er sein Hütchen voll Kugeln dem Vater; an die Herzensangst der Mutter daheim dachte im Pulverdampf der Sohn seines Vaters nicht. Dieser ließ ihn auf eine ferne Alm abführen und glaubte ihn dort wohlbewahrt, aber er täuschte sich.

Zum dritten Kampf, eine Folge des Waffenstillstandes von Znaym, schickte Napoleon vierzigtausend Franzosen, Baiern und Sachsen unter dem Marschall Lefèbvre in’s Ländel, dessen österreichischer Militärschutz, ohnedies kaum der Rede werth, nun vollends dahin war. Die feindliche Uebermacht und die Nachricht vom Waffenstillstand bewogen endlich auch Speckbacher, von Weib und Kindern, Haus und Hof zu scheiden und Alles Feinden preiszugeben, deren Wuth und Rohheit er kannte, und sich mit den hervorragendsten anderen Führern nach Oesterreich zu retten. Da begegnete ihm Hofer auf dieser Fahrt, und der einzige Seufzer: „Auch Du, Seppel, willst mich im Stich lassen?“ änderte seinen Entschluß und das ganze Bild des Krieges.

Im Kreuzwirthshaus zu Brixen kamen die Männer zusammen, welche den Kampf mit der Uebermacht aufnahmen: Hofer, Martin Schenk, der Kreuzwirth, der alte Wirth Peter Mayr, Haspinger und Speckbacher, – und die Folge dieser Schwurversammlung auf dem Rütli von Tirol war die furchtbare Niederlage der stolzen

[61]

Speckbacher sieht seinen Sohn Anderl als Landesschütz wieder.

[62] Soldaten des französischen Kaiserreichs und des Rheinbundes. Nach dem Siege bezog Hofer als dermaliger Regent von Tirol die Hofburg zu Innsbruck und Speckbacher begann als „Erster Postenobercommandant in Tirol und in dem Salzburger Gebirgslande“ eine neue organisatorische Wirksamkeit, um künftigen Stürmen militärisch vorzubauen, und leitete dabei die Belagerung von Kuffstein, bei welcher er Thaten unerhörten Muthes vollbrachte. Er besuchte unter Anderem verkleidet den Commandanten in der Festung, löschte eine Granate mit dem Hut aus, schlich sich heimlich in die Festung und verdarb die Spritzen, schnitt die unter den Mauern liegenden Schiffe ab etc.

Am zehnten September saß Speckbacher im Bärenwirthshaus zu St. Johann mit seinen Adjutanten zur Berathung neuer Entwürfe zusammen, als er von ferne, von der Ellmauer Straße her, den tirolischen Schützenmarsch hörte. Er trat an’s Fenster und sah auf der Straße frische unterinnthalische Schützencompagnieen jauchzend und schnalzend anrücken; hinter dem Trommler und dem Schwegler (Querpfeifer) flatterte eine große tirolische Fahne, und gleich hinter ihr sah er einen bewaffneten Buben einherziehen. Fast ärgerlich brummte er in den Bart: „Nu wird mir der Sandwirth bald gar noch Kinder nachschicken!“ Da kam der Knabe ehrerbietig auf ihn los und küßte ihm die Hand, und Speckbacher erkannte nun seinen Anderl. Schüchtern gestand dieser: er hab’s auf der Alm nimmer ausgehalten, weil er so viel Schießen oben gehört; und so sich den Landvertheidigern „zum Soldatenschießen“ zugesellt und war schon einen Monat mit ihnen herumgezogen. Die Schützen hatten den barfüßigen und ganz abgerissenen Jungen wie einen Ihresgleichen ausstaffirt und ihm auch einen leichten Stutzen gegeben. So hungrig er war, er hatte in vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, so gestand er dies doch nicht, sondern heftete seine Blicke unverwandt auf ein schön eingelegtes Gewehr, welches an der Wand hing. Der Wirth nahm es herunter und schenkte es ihm. Aber es hatte ein Radschloß, und Anderl versuchte vergeblich, es aufzuziehen. Sein Vater lächelte. Darüber wurde er blutroth, sagte aber kein Wort. Kurz darauf ging er heimlich zu einem Waffenschmied und gab diesem eine Vorrichtung mit einem Handgriffe an, der ihm das Spannen des Hahns erleichterte. Voll Freude zeigte er nun das veränderte Gewehr dem Vater, der die Verbesserung so zweckmäßig fand, daß sie sofort an vielen anderen Stutzen nachgeahmt wurde. Von da an blieb Anderl immer, wie ein Großer bewaffnet, an der Seite seines Vaters, selbst bei den hitzigsten Gefechten. Aber bald ging die Sonne Tirols unter.

Speckbacher stand am 16. Oktober auf seinem Posten in Meleck, als die Baiern einen klug vorbereiteten Ueberfall ausführten, der vollkommen gelang. Das Gefecht dauerte nur eine Stunde, kostete jedoch viel Blut. Speckbacher selbst schlug sich mit fast übermenschlicher Anstrengung durch, sein Sohn aber ward gefangen. Als der Vater, blutend, krank und zerschlagen, nach der halsbrechenden Flucht auf’s Gebirg den Sohn vermißte, stieß er einen herzzerreißenden Schrei aus, wie ein verwundeter Löwe. Mit Gewalt hielten die Seinen ihn zurück, sich für die Befreiung seines Kindes zu opfern. Um dieselbe Zeit führten die Baiern den Anderl auf dem Schlachtfelde umher, damit er ihnen die Leiche seines Vaters heraus suche. Wirklich fand er dessen Säbel und Kleiderfetzen und weinte bitterlich. Man behauptet aber, daß der kluge Junge absichtlich einen langen todten Tiroler mit sehr zerhacktem Gesicht für seinen Vater ausgegeben, um die Flucht desselben dadurch um so mehr zu sichern. Anderl wurde nach München gebracht, wo König Max sich des kecken, bildschönen Knaben annahm und ihn einem Seminar übergab.

Schon zwei Tage nach dieser Niederlage schrieb Speckbacher von Oberau aus an Hofer um Hülfstruppen, und zur selben Zeit kam die Kunde vom abgeschlossenen Frieden, in welchem Tirol abermals vergessen war, und nun drangen die Napoleon’schen Schaaren der Rache und der Strafe für die Rebellen ins Land. Noch einmal erhob sich das Volk zum Widerstand, aber nach den drei großen Siegen am Berg Isel erfolgte eine ebenso große Niederlage, und darauf begann das Plündern, Erschießen und Hängen „zu Jedermann’s abschreckender Beschauung“.

Wie Speckbacher im Kampf das Äeußerste gethan, so sollte er nun auch bei der Verfolgung das Aeußerste leiden. Um den „Feuerteufel“, wie die Baiern ihn nannten, zu fangen, durchsuchten sie schaarenweise das Gebirg. Sie wollten „Riemen aus seiner Haut schneiden, wenn sie ihn fingen.“ Steckbriefe wurden von den Kanzeln verlesen, man vertheilte sein Conterfei, in Holz geschnitten, an die Soldaten und setzte einen Preis von 500 Gulden auf seinen Kopf. Vergeblich versuchte er, auf den schon verschneiten Pfaden der Hochgebirge nach Oesterreich zu entkommen. Er kam nur bis Dux. Ein Verräther führte die Baiern in das Haus, wo er verborgen war, und nur durch einen Sprung vom Dach herab konnte er sich retten, verletzte sich aber schwer dabei. Nun irrte er siebenundzwanzig Tage in leichter Kleidung und in der schrecklichsten Kälte in den verschneiten Wäldern umher, einmal vier Tage lang ohne jede Nahrung. Vom fürchterlichsten Hunger gepeinigt wagte er sich etwas weiter in’s Thal. Da erblickte er auf einem Schneefelde mühsam heraufklimmende Gestalten, sie kamen näher, es war ein Weib mit drei Kindern, – es war sein eignes Weib auf der Flucht, die nichts mehr als trocknes Brod für ihre Kleinen hatte. Der Seelenschmerz, der da über ihn kam, ließ ihn das eigne Leid und die Gefahr vergessen. Er führte sie in eine hochgelegene Hütte zu Bolderberg, wo sie bis Lichtmeß versteckt blieben. Ihr größter Schatz im Unglück war jetzt ihr treuer Knecht Georg Zoppel, der daheim das Haus verwaltete und Herrn und Frau die Nahrung in ihre Schlupfwinkel zutrug.

Kaum hatte Speckbacher hier ein wenig Ruhe gefunden, so späheten die Baiern auch da nach ihm. Sieben Mann kamen auf die Hütte los. Da ergreift Speckbacher mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart einen Holzschlitten, wirft ihn auf die Schultern und geht ihnen, als wäre er der Knecht des Hauses, gerade entgegen. Diese List rettete ihn. Nun flüchtete er in eine Höhl auf dem Gemshaken, einer der steilsten und wildesten Klippen, wo er den Winter gar zubrachte. Aber in den ersten Tagen des Frühjahrs riß ihn, beim Holzsuchen, eine Schneelawine eine halbe Stunde weit mit fort in’s Thal. Zwar arbeitete er sich aus dem Schnee heraus, aber er hatte das Hüftbein verrenkt und war nicht im Stande, in seine Höhle zurückzuklimmen. Unter unsäglichen Schmerzen kroch er, sieben Stunden lang, auf allen Vieren nach Voldersberg, und von dort trugen zwei Vertraute, oft durch tiefen Schnee, den wunden Mann nächtlicherweile nach Rinn, wohin seine Familie zurückgekehrt war, und legten ihn in den vom Wohnhaus ziemlich entfernten Stall nieder. Hier fand ihn früh sein Knecht Zoppel, und obwohl bairische Einquartierung im Hause lag, wußte er doch Rath für seine Sicherheit. Er grub unter dem Stand der Kühe ein Loch, lang und breit genug, um den Mann völlig aufzunehmen, bedeckte ihn mit Stroh und Mist und ließ ihm nur eine Oeffnung zum Athmen und um Nahrung zu sich zu nehmen, die er ihm allnächtlich brachte. In dieser Lage hielt Speckbacher sieben Wochen aus; Niemand wußte darum; selbst die Frau nicht. Als er seine Wunden geheilt fühlte, entstieg er, am 2. Mai 1810, diesem Grabe, nahm Abschied von Weib und Kindern und entkam nun glücklich, aber noch manche Gefahr durch List überwindend, nach Wien.

Hier ward auch ihm der berühmte „Dank vom Hause Oesterreich“ zu Theil. Die Söhne der Berge sollten in den ungarischen Ebenen angesiedelt werden. Speckbacher zog es vor, sich bei Wien aus eigenen Mitteln ein Gütchen zu kaufen, mußte es aber, weil sein Geld nicht hinreichte, wieder aufgeben und gerieth in tiefe Noth, ja, er hätte betteln müssen, wäre ihm nicht von Hofer’s Sohn, dem der Kaiser ein schönes Gut geschenkt hatte, die Verwaltung desselben übergeben worden.

Speckbacher’s Gattin versuchte es einmal, bei und in Wien zu leben, aber bald trieb das Heimweh sie in ihre Berge zurück, wobei Baiern sich noch die große Genugthuung verschaffte, die arme Frau in Salzburg zu verhaften und dreizehn Wochen in dem finstern Taschenthurm in München einzusperren.

Trotz der bitteren Erfahrungen vom Jahre Neun ließ im Jahre Dreizehn Speckbacher sich abermals verlocken, in österreichischem Interesse Tirol von Neuem gegen Baiern und Franzosen in die Waffen zu hetzen; die plötzliche Versöhnung der Kronen ersparte aber dem Volke das Blutvergießen, Speckbacher wurde wieder friedlicher Bauer auf seinem Eigen und erhielt 1816 endlich den Charakter eines Schützenmajors mit der dazu gehörigen Pension. Er genoß es nicht lange; die Leiden hatten diesen Riesenkörper aufgelöst, der Mann von Rinn starb, kaum dreiundfünfzig Jahre alt, Ende März 1820 zu Hall; Kaiser Franz Joseph ließ [63] ihm neben dem des Sandwirths und des Capuziners in der Innsbrucker Hofkirche ein Grab weihen und ein Denkmal setzen.

Anderl kehrte 1816 in die Heimath zurück und ward ein ausgezeichneter Berg- und Hüttenbeamter, starb aber ebenfalls schon 1834 zu Hall; die Speckbacherin aber, die als Gattin und Mutter von Freud und Leid mehr als tausend andere Frauen erfahren, überlebte die beiden „Rebeller“ und starb erst, hochbetagt, im Jahre 1843.




Vermißte Landsleute jenseits des Oceans.

Daß es sich zwei Male so glücklich gefügt, sorgenvollen Müttern mit Hülfe der „Gartenlaube“ Kunde von ihren verschollenen Söhnen zu verschaffen, hat in unserem Leserkreise für diese neue Wirksamkeit unseres Blattes ein gewiß allzugroßes Vertrauen erregt. Dies ersehen wir aus den zahlreichen ähnlichen Anliegen von Anverwandten Vermißter, die seitdem bei der Redaction eingegangen sind und die uns einen Einblick gestatten in so viel stillen, geheimen Familienkummer, wie ihn die riesigen und rastlosen Verkehrsmittel unserer Tage kaum ahnen lassen.

Müssen wir nun auch im Voraus daran zweifeln, daß den in dieser Hinsicht so plötzlich gesteigerten Ansprüchen unserer Leser so oft, als sie und wir wünschen, entsprochen werde, weil schon die lange Reihe der Vermißten, deren signalisirendste Schicksale wir in möglichster Gedrängtheit wiedergeben wollen, die theilnehmende Aufmerksamkeit für den Einzelnen beeinträchtigt, so soll dennoch von Seiten der Redaction der Gartenlaube Alles geschehen, was irgend dazu beitragen kann, die Nachforschung nach vermißten Deutschen jenseits des Oceans zu erleichtern.

Dagegen dürfen wir wohl auch erwarten, daß unser Publicum seine Ansprüche und Wünsche in dieser Beziehung auf das Maß des Nothwendigsten beschränke, nicht Fälle, wo der Einzelne durch die Benutzung der öffentlichen Verkehrseinrichtungen und der Thätigkeit der Behörden sich selbst helfen kann, der „Gartenlaube“ zur Ermittelung zuschiebe. Das wahre Unglück ist so reich, daß es dieser hiermit eröffneten neuen Rubrik leider niemals an Stoff fehlen wird; liegen uns doch jetzt schon Zuschriften von Behörden vor, welche, nachdem sie die gesetzlich gebotenen Aufrufe nach Verschollenen erlassen, in unsrem Blatte das letzte Mittel sehen, vielleicht dennoch die für die Hinterbliebenen oft so unentbehrliche Kunde über sie zu erlangen. So möge denn unsere Liste „vermißter Landsleute jenseits des Oceans“ hiermit beginnen.

1) Albert Schröder, aus Mühlberg an der Elbe, geboren im März 1835, Landwirth, wanderte im September 1854 im besten Einvernehmen mit seiner sehr wohlhabenden Familie und besonders mit seiner Mutter, nach Nordamerika aus. Gelder zum Erwerb von Grundbesitz sollten an ihn durch einen Herrn Augustus Staude in Okaw Postoffice, County of Washington, Illinois, besorgt werden, dem er empfohlen war. Er zog es jedoch vor, schon in Newyork eine Gärtnerstelle anzunehmen; von da begab er sich Anfang August 1856 nach Indianopolis in Indiana, wo er in eine Brauerei eintrat. Hier schrieb er die einzigen Zeilen, welche seitdem Nachricht über ihn brachten: einen Brief an Herrn Staude, in welchem er sich bitterlich darüber beklagt, daß er auf keinen seiner Briefe in die Heimath Antwort erhalten habe: „Sie, der Sie selbst die große Reise von hier nach unserm Vaterlande und von da zurückmachten, um Ihre Mutter wiederzusehen, werden es sich am besten vorstellen können, wie unglücklich ich mich fühle.“ So schreibt der Sohn, der seitdem dieser Mutter so gut wie verloren ist. Es gilt hier mehr als ein Geheimniß zu ergründen: wohin sind die von ihm erwähnten Briefe gekommen? Wohin hat er sich von Indianopolis gewendet? Die beklagenswerthe Mutter scheut keine Kosten, wenn ihr nur eine Gewißheit gebracht werden kann.

2) Karl Schmidtgen, aus Löbau in Sachsen, wird von seiner einzigen Schwester gesucht. Er war Bootsmann auf dem amerikanischen Schiffe „Emily Farnum“, schrieb zuletzt am 10. April 1867 aus Rangoon, als sein Schiff zur Fahrt nach Liverpool bereit stand. Der Capitän hieß Sims; er und seine Mannschaft sind wie von der Erde verschwunden, ohne daß das Schiff selbst untergegangen wäre, denn im December 1867 war dasselbe in England und Holland, aber mit vollständig neuer Bemannung, und weder Capitän noch Schiffspapiere wissen etwas von Sims und den Seinen. Nur ein Mann kann vielleicht Nachricht geben, wenn dieses Blatt zu ihm gelangt: der Bruder des Capitäns Sims war der Commandant des seiner Zeit vielgenannten südstaatlichen Caperschiffes „Alabama“, und soll jetzt Professor an einer Universität der Südstaaten sein. Er allein weiß vielleicht, was aus seinem Bruder und dessen Leuten geworden ist.

3) Karl Schinck, Kaufmann, einziger Sohn der fünfundsechszigjährigen Wittwe Amalie Schinck in Barmen, ging vor sechszehn Jahren nach Amerika, schrieb zuletzt vor zwölf Jahren aus Franklin in Texas.

4) Friedrich Gottlieb Ilse, aus Hannover, jetzt vierundvierzig Jahre alt, dringend gesucht von seinem Schwager, dem Eisenbahn-Zugführer Rojann in Geestemünde; letzte Nachricht aus St. Louis.

5) August Albert Leszinsky, seit siebenzehn Jahren in Australien, Süd- und Nordamerika, der Gegenstand der Sehnsucht seines alten Vaters und seiner Schwester Marie in Pleschen; sein letzter Brief kam aus St. Francisco in Californien.

6) Dr. med. Otto Krakow, aus Krakehmen bei Tilsit in Ostpreußen, segelte Ende October 1867 von London auf dem Segelschiffe „Robert Peel“ nach Newyork, scheint auf der Passagierliste fälschlich als „Otto Kasko“ eingetragen zu sein und ist trotz aller Consularnachforschungen und obwohl das genannte Schiff weder unterging, noch ihn als Todten anzeigt, seitdem für Gattin, Töchterchen und Schwiegervater in der Heimath verschollen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Das Singemäuschen. Der Zweifel, den noch Viele in die Existenz einer Singemaus setzen, veranlaßt mich, folgendes Erlebniß zu veröffentlichen:

Als ich eines Abends an meiner Holzkammer vorüber ging, welche sich im Souterrain neben dem Kellergewölbe befindet, hörte ich ganz eigenthümliche Töne von Thieren, die im kleingemachten aufgestellten Holze herum kletterten. Ich blieb, die brennende Lampe in der Hand, vor dem Holze stehen; da wurden diese seltsamen Töne, die von zwei bis drei verschiedenen Stimmen herzurühren schienen, noch lauter und ich wunderte mich nicht wenig, daß die Thiere vor dem hellen Scheine der Lampe nicht flüchteten, sondern unter dem Holze noch näher kamen, ohne daß ich jedoch eines derselben erblicken konnte. Eiligst rief ich meine Hausgenossen zusammen, die ziemlich geräuschvoll einer nach dem andern herzu kamen, ohne daß die Thierchen sich stören ließen. Immer dichter trat ich an das Holz heran und leuchtete hinein. Da zogen die Thiere schnurrend durch das Holz hindurch und plötzlich waren sie im Kellergewölbe, wo nun das Concert auf’s Neue, lauter denn vorher, anfing, bis sie wieder schnurrten und sich verloren hatten – ich wußte nicht wohin.

Von nun an stand ich alle Abende stundenlang mit meiner Lampe vor dem Holze, in welchem diese räthselhaften Concerte gratis gegeben wurden, ohne daß es mir jedoch gelang, die Musikanten selbst zu entdecken. Endlich brachte mich ein Bekannter unseres Hauses auf die Idee, daß die eigenthümlichen Töne von Singemäusen herrühren könnten, und nun stellte ich Fallen auf, worin sich die Thiere ohne Schaden zu leiden fangen konnten; meine Hoffnung erfüllte sich: noch in derselben Nacht waren zwei Mäuschen gefangen, die sofort durch Glucksen ihre musikalische Fähigkeit verriethen. Wer war glücklicher wie ich! Die Thierchen waren so zahm, als hätten sie stets in der Falle gesessen, sie nahmen mir die dargereichte Semmel aus der Hand, setzten sich aufrecht und verzehrten das Brod vor meinen Augen in der Stellung eines Aeffchens. Dann hielt ich ihnen kleine Papierstreifen entgegen, die sie mir hastig entrissen und in eine Ecke trugen, um gleich darauf wieder dazustehen und die Fortsetzung zu erwarten, wobei sie wohl glucksten, aber nicht sangen, was ich ihrer Gefangenschaft zuschrieb.

Auf diese und ähnliche Weise beschäftigte und vergnügte ich mich oft mit den kleinen hübschen Mäuschen, die sich so geduldig in ihr hartes Schicksal fanden; doch blieb ich insofern unbefriedigt, als diese gefangenen Mäuse nicht sangen und sich im Holze auch keine mehr vernehmen ließ. Da ich aber deutlich drei Stimmen gehört und unterschieden hatte, so mußte mir die dritte Maus noch fehlen, weshalb ich abermals die beiden Fallen aufstellte, die eine in den Holzstall, die andere in das Kellergewölbe. Jedoch – sie waren jeden Morgen leer.

Trotzdem stellte ich mich wieder alle Abende lauschend vor das Holz. Und siehe da – eines Abends hörte ich dieselbe dreistimmige Musik wieder, wie ich sie bei der ersten Entdeckung vernommen hatte. Hocherfreut legte ich einen Stein auf eine breite Steinfuge im Keller, die ich als den Eingang in die Erdhöhle der Mäuse erkannt hatte, stellte die eine der Fallen davor, entfernte mich geräuschlos und konnte kaum den andern Morgen erwarten, um nach dem Fang in der Falle zu sehen.

Der Morgen brach an und was hatte sich in der Falle gefangen? – Aus dem kleinen Käfig tönten mir die drei Stimmen entgegen, die durch das Holz hindurch geklungen hatten, und doch war nur eine Maus in der Falle – die Singemaus! Entzückt nahm ich diese in die Höhe, und wie eine aufgezogene Spieldose sang das Mäuschen weiter, während ich mit ihm die Treppe hinanstieg und in mein Zimmer eilte. Doch Ehre, wem Ehre gebührt! Ich konnte das interessante Thierchen unmöglich in der kleinen schlechten Falle lassen, und nahm deshalb einen zurückgestellten Messerkorb von Draht, paßte diesen auf ein eben so großes Kästchen, richtete, so gut es in der Eile ging, kleine Gänge, Nester und Höhlen darin ein, brachte eine kleine Fallthüre an der Seite an, nagelte den Messerkorb darauf und setzte die Maus hinein. Gleich fing sie wieder an zu singen, und als ich ihr Läppchen und Papier als Material zu einem weichen Sitz gebracht hatte, trug sie dieses sofort zu dem Neste zusammen, das sich jede Maus bereitet, ob sie Junge hat oder nicht.

In diesem Bauer und von dem erwähnten Lager aus sang die Maus jeden Abend, wenn ich sie unweit des Theetisches setzte, obgleich viel gesprochen wurde und eine helle Lampe im Zimmer brannte. Hörte sie auf zu singen, so nahm ich den Käfig auf meinen Arm und trug die Maus so lange in der Stube herum, bis sie wieder sang. Um die drei Mäuse beisammen zu haben, kaufte ich nach kurzer Zeit eine große Kiste und machte diese in der Art zurecht, daß ich sie an der Rückwand voll kleingemachtes Holz packte, in welchem die Thiere einen Versteck finden konnten, ließ eine Drahtthür davor machen und setzte nun die drei gefangenen Mäuse, in der Hoffnung, daß sie sich gegenseitig, zum Singen anregen würden, [64] zusammen. Doch darin hatte ich mich getäuscht. Alle drei verschwanden sogleich im Holze und die Singemaus, die fortan nur mehr des Nachts sang, entwickelte einen höchst egoistischen herrischen Charakter, ließ keine andere Maus an die Freßnäpfchen und trat sehr gebieterisch gegen die anderen Mäuse auf, die oft gegen ihren Willen handeln mochten, da sich in ihrem Singen Aerger und Zorn häufig genug erkennen ließen.

Weil mir nun das Zusammenbringen der Mäuse nicht nach Wunsch geglückt war, so ließ ich einen allerliebsten kleineren Bauer mit Gängen, Treppchen und Nestern fertigen und that das Singemäuschen allein hinein, wo es sich vor meiner Beobachtung nicht so verbergen konnte, als in der großen Kiste mit dem Holze. Sodann riß ich aus einem alten Kalender mehrere ganz weiche Druckseiten, schnitt diese in Stückchen und legte das Papier in den Bauer, ohne daß die Maus jedoch den Tag über Notiz davon nahm; sie setzte sich vielmehr ruhig auf das oberste Bänkchen, nur ab und zu ganz leise singend, während ich im unteren Geschoß ihrer neuen Wohnung noch verschiedene Einrichtungen traf.

Den anderen Morgen sah ich sogleich nach meinem Mäuschen und mußte laut lachen über die Bude, die es sich in der Nacht gebaut, zugleich aber bewunderte ich die große Geschicklichkeit, mit welcher sie die weichsten Papierstreifen kerzengerade zu einer Wand nebeneinander gestellt und sich einen höchst kunstvollen Ausgang gebaut hatte.

Was nun den sogenannten Gesang meines Mäuschens betrifft, so wird es mir schwer werden diesen zu beschreiben; ich vermag ihn um so weniger mit einem Vogelgesang zu vergleichen, als das Thierchen einmal so, einmal so singt, und immer wieder neue Erfindungen hören läßt, von so wunderbarer Art und so ganz eigenthümlich, daß ich zur vollen Bewunderung hingerissen wurde. Nun hat doch auch jeder Vogel seine bestimmte und eigenthümliche Art zu singen, und singt alles, was er singt, einstimmig. Das Mäuschen hingegen singt zweistimmig, das ist das Merkwürdigste. Es beginnt mit dem Triller des Canarienvogels, schlägt dann wie eine Wachtel, gluckst wie ein Huhn, singt zuletzt in den weichsten Tönen die Scala zweistimmig, und durch alles dies hindurch hört man Baßtöne und hohle Laute, wie von einer Unke. Bei Tage und des Abends singt sie weniger kräftig, weniger hübsch; sie gluckst viel oder singt auch lange hintereinander immer denselben Ton, kurz abgestoßen. Am schönsten und besten singt sie Nachts oder nach einer gehabten Aufregung, so einmal, als mir eine von den zuerst gefangenen Mäusen entkommen war. Diese vor dem Einbruch der Nacht wieder zu fangen, setzte ich die Singemaus mit ihrem Bauer an die Erde, als Lockvogel, und die Falle oben auf. Da umkletterte der Flüchtling den Bauer der Singemaus, welche in sichtbarer Unruhe hin und her lief und dabei (man mag die Ueberschwenglichkeit meiner Worte belächeln, aber man muß dieses Thierchen eben gehört haben) so wundervoll und so staunenswerth in der Vielseitigkeit der Abwechslung mehrstimmig sang, wie ich es noch nie vernommen.

Ein ander Mal, als ich sie von den anderen Mäusen entfernt und wieder allein gesetzt hatte, sang sie nichts als Klagetöne.

Unterhaltend ist es, wenn sie namentlich Nachts etwas am Tage Gehörtes einüben will; sie trifft das zum Bewundern und es ist darum meine Absicht, mir einen recht guten Schläger anzuschaffen, der der Maus vorsingt und, wie ich nicht zweifle, eine sehr gelehrige Schülerin an ihr haben wird.

Soll sie sich hören lassen und sucht man sie künstlich durch Klopfen an den Bauer und dergleichen mehr anzuregen, so bringt man sie zu keinem ordentlichen Vortrag; sie gluckst, singt höchstens ein Trillerchen und ist fertig. Freilich sind gerade bei solchem Anlaß meist fremde Leute im Zimmer, die sie hören wollen und deren Stimmen sie beunruhigen mögen. Denn sie singt sonst zu jeder Zeit, wenn ich mit den Meinigen spreche, und scheint meine Stimme vollkommen zu kennen.

Was die Persönlichkeit der Singemaus anlangt, so gehört sie zu den kleinen grauen Hausmäuschen, welche die Katzen, wie man sagt, am liebsten verzehren. Das Singemäuschen ist sehr klein, ganz grau, hat große hochstehende Ohren, sehr schwarze glänzende Augen wie Perlen und einen Höcker auf der Nase. Die zwei anderen Mäuschen sind ihr ganz gleich und von derselben Gattung. Ich meine manchmal, daß sie vielleicht später auch noch zu singen anfangen werden, denn sie scheinen noch jung zu sein.

Rudolstadt, im December 1869.
Henriette v. Byern.

Consonanzen und Dissonanzen. Unter diesem Titel hat vor kurzem unser langjähriger und sehr geschätzter Mitarbeiter, Herr Professor Lobe, der literarisch vielfach verdiente Kunst-Veteran aus Weimar’s goldenen Tagen (Leipzig, Baumgärtner’s Buchhandlung), eine Sammlung seiner Aufsätze aus älterer und neuerer Zeit erscheinen lassen, von denen manche ihre erste Veröffentlichung in der Gartenlaube gefunden hatten. Im Interesse des Publicums freuen wir uns aufrichtig, daß Lobe diese so mannigfaltige, in den verschiedensten Journalen, zum Theil wohl in musikalischen Fachzeitschriften umhergestreueten Arbeiten der Mit- und Nachwelt nicht verloren gehen ließ. Denn in ihrem gegenwärtigen Nebeneinander erscheinen sie nicht als flüchtige Tagesproducte, sondern als innerlich zusammenhängender Ausdruck der feinen, klaren und edlen Gesichtspunkte, von denen aus eine gereifte und besonnene Individualität, ein denkender, gemüthreicher, welt- und kunsterfahrener Mann, die künstlerischen Uebungen seiner Zeit, namentlich in der musikalischen Sphäre, mit klug und scharf blickendem Auge beobachtet hat. Lobe bewahrt der lebendigen Strömung der Gegenwart jene warme Theilnahme, die ihr der Zeitgenosse schuldig ist. Als alter Weimaraner wurzelt er mit seiner Bildung und seinen Erinnerungen in der Schule jener classischen Zeit, die von dem Kunstwerke vor Allem noch durchsichtige Reinheit der Formen, deutliche und bestimmte Ausprägung des Inhalts verlangte. Unklar und unfertig gährende Richtungen und Elemente unserer Tage finden daher an ihm keinen Bewunderer und er kämpft um so lebhafter gegen dieselben, je mehr sie mit Anmaßung auftreten, neue Bahnen gebrochen und alles Große und Vollendete der Vergangenheit übertroffen und in den Schatten gestellt zu haben. Lobe ist nicht blos ein Feind der hohlen und aufgeblasenen Phrase, mit besonderem Geschick weiß er ihr auch die blendenden Hüllen abzustreifen und unter ihnen das leere Nichts oder den baaren Unsinn zu zeigen. Die sogenannte Zukunftsmusik, soweit sie eine Herrschaft aufstrebt und unberechtigte Ansprüche macht, hat bis jetzt keinen gefährlicheren Gegner gehabt, als unseren musikalischen Publicisten. Doch ist es nicht allein dieser charaktervolle Ernst der Ueberzeugung, diese auf den innersten Kern der Erscheinung dringende Schärfe, was seinen Artikeln einen auszeichnenden Werth verleiht. Sie berühren den Leser auch wohlthuend durch die frische Munterkeit und heitere Naivetät des Anschauens, durch anziehende Lebendigkeit der Darstellung und besonders durch jenen Zug bescheidenen und anmuthigen Wohlwollens, den man früher als liebenswürdige Urbanität bezeichnete, ein Begriff, welcher der heutigen Gesellschaft mit dem Gebrauche des Wortes abhanden gekommen ist. So viel über die kritische Seite des Buches, in welchem das gebildete Publicum auch eine hübsche Auswahl von unterhaltenden Partieen finden wird. Sie bestehen in bedeutsamen Lebenserinnerungen des Autors, in Gesprächen zum Beispiel, die er mit Karl Maria von Weber und Felix Mendelssohn geführt, in einem Potrait Karl August’s, der Schilderung eines Quartetts bei Goethe etc.

Ein alter Agitator. Mit Portrait. In den Zeitungen taucht neuerdings wieder ein Name auf, der, fast verschollen, in den Bewegungsjahren überall genannt wurde, wo von Revolutionen und gewaltsamen Umstürzungen die Rede war. Michael Bakunin, heißt es, der fanatische Slavist, der Führer der Dresdener Revolution, soll in der letzten Zeit von Genf aus jene Proclamationen in das russische Reich geschleudert haben, über deren Inhalt und Bedeutung die Nachrichten zwar sehr verschieden lauten, die aber doch eine Anzahl Studenten in Petersburg und Moskau verführt und in Folge dessen in Untersuchungshaft gebracht haben. Selbstverständlich ist die Richtigkeit dieser Zeitungsmittheilungen noch abzuwarten, jedenfalls aber dürfte unseren Lesern das Portrait einen Mannes willkommen sein, der, wie man auch über ihn denken mag, stets eine fabelhafte Energie und Kühnheit entwickelt und nur neuerdings durch seine überspannten und rohen communistischen Ideen in den Augen seiner früheren Parteigenossen sehr an Bedeutung eingebüßt hat. Das Portrait, eine Photographie, ist kurz nach seiner Flucht aus Sibirien in Amerika aufgenommen und uns von einem Freunde verehrt worden.

Wenige seiner Gesinnungsgenossen, die im Jahre 1849 beim alten Werner im „Hahn“ zu Leipzig mit ihm zusammen den russischen „Kochenstaufen“ brauten, werden in der gebeugten müden Gestalt den hochgebauten aristokratischen Hünen von früher wieder erkennen. Damals war Bakunin eine durch seine Liebenswürdigkeit, wie durch seine überwältigende und hinreißende Beredtsamkeit mächtig wirkende Persönlichkeit – jetzt ist er fast ein gebrochener Greis, dessen matt gewordener Witz – wenn die Zeitungen wahr berichten – sich in wahnsinnigen Proclamationen und verwerflichen und lächerlichen Angriffen auf das Eigenthum gefällt. Daß in seinem Gemüth eine tiefe Verbitterung Platz gegriffen hat, dürfte freilich nach all’ den Leiden, die er in den letzten zwanzig Jahren durchgekämpft, kaum noch Verwunderung erregen, trotz alledem ist es bei dem scharfen Verstande des Mannes unbegreiflich, sein Streben auf Bahnen verirrt zu sehen, auf die ihm nur die Beschränktheit oder das Verbrechen zu folgen vermögen.

Bakunin war schon in vormärzlichen Zeiten wegen seiner Bestrebungen zur Flucht aus Rußland und Frankreich genöthigt. Er ging damals auf nichts Geringeres aus, als auf Entzündung eines Brandes aller europäischen Staaten, um dann aus deren Trümmern das slavische Weltreich hervorgehen zu lassen. Mit erstaunlicher Beweglichkeit war er damals überall, wo etwas los war, schrieb, sprach und kämpfte rastlos, Alles für seinen großen slavischen Plan, und entwickelte namentlich beim Kampf in Dresden die rücksichtsloseste Energie. Der Niederlage folgte die Flucht, dieser ein gesunder Schlaf und die Gefangennahme in Chemnitz. Man schaffte den vielbegehrten Mann – denn Rußland und Oesterreich verlangten seine Auslieferung – auf den Königstein.

In der Nacht des 13. Juni 1850 nahmen an der sächsischen Grenze österreichische Kürassiere den Gefangenen in Empfang und führten ihn erst nach Prag und dann nach Olmütz. Nachdem er auch hier, wie vorher in Sachsen, zum Tode verurtheilt und zu lebenslänglichem schweren Kerker begnadigt worden war, geschah seine Auslieferung an Rußland. Sein nächstes Ziel war Sibirien.

Wie Bakunin selbst dort seine Fesseln sprengte, wie treue Liebe ihm Schutz und Mittel zur Flucht gewährte, wie der Einsame durch die Einöden und Gebirge Sibiriens sich nach China durchschlug, die Küste des Stillen Oceans erreichte und über diesen nach Nordamerika, von da aber nach Europa fuhr – das gleicht einer Odyssee und verdient noch erzählt zu werden. – Nach längerem Aufenthalt in Dänemark zog Bakunin, nunmehr mit seiner Retterin aus Sibirien vermählt, sich nach Genf, seitdem seinem ständigen Aufenthalt, zurück. Von dort aus setzt er auch seine Agitationen fort.


Inhalt: Aus eigener Kraft . Von W. v. Hillern geb. Birch. (Fortsetzung) – Winterdiner im Walde. Originalzeichnung von L. Beckmann. – Ein Abend im Asyl für Obdachlose. Von Max Ring. – Doctor Reinhard. Von F. L. Reimar. (Schluß) – Ein Paar „Rebeller“ von Anno Neun. Von Friedrich Hofmann. Mit Abbildung. – Vermißte Landsleute jenseits des Oceans. – Blätter und Blüthen: Das Singemäuschen. Von Henriette v. Byern. – Consonanzen und Dissonanzen. – Ein alter Agitator. Mit Porträt.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.