Die Gartenlaube (1873)/Heft 14

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 14.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Darauf war ich in der That nicht gefaßt!“ sagte der Baron endlich langsam. „Er selbst? Das hatte ich nicht erwartet!“

„Gleichviel!“ rief Curt in aufflammender Zärtlichkeit, „wenn er Dich uns nur zurückgiebt, Eugenie! Noch hat Keiner von uns sich des Erbtheils, des Besitzes freuen können, weil wir Dich unglücklich wußten um unsertwillen. Erst wenn Du zu uns zurückkehrst, wird der Vater, werden wir Alle aufathmen können in dem neuen Leben; Du hast uns überall darin gefehlt!“

Er schlang den Arm um die Schwester, und diese verbarg einige Secunden lang das Gesicht an seiner Schulter, aber das schöne Antlitz war so todtenbleich und todtenkalt, wie er es einst am Altar gesehen hatte, und doch sollte sie jetzt in das Vaterhaus zurückkehren, dem sie damals entrissen wurde.

Der Baron blickte mit einiger Befremdung auf seine Tochter, die sich jetzt emporrichtete und mit dem Taschentuche über die Stirn fuhr.

„Verzeihe, Papa, wenn ich Dir heute seltsam erscheine. Ich bin nicht ganz wohl, wenigstens nicht wohl genug zu einem Gespräche über diesen Gegenstand. Du mußt mir erlauben, mich zurückzuziehen, ich –“

„Du hast zu viel gelitten in der letzten Zeit,“ ergänzte der Vater weich; „ich sehe es, mein Kind, auch wenn Du es mir nicht eingestehst. Geh’ und überlass’ Alles meiner Sorge! Ich werde Dich schonen, so viel es nur möglich ist –“

„Das ist doch eigenthümlich, Papa!“ meinte der junge Baron, als die Thür sich hinter seiner Schwester geschlossen hatte. „Begreifst Du diesen Berkow? Ich nicht!“

Windeg machte mit gerunzelter Stirn einen Gang durch das Zimmer. Für ihn mischte sich in das Befremdende dieser Eröffnung noch etwas Beleidigendes. Der stolze Aristokrat hatte es im Grunde ganz erklärlich gefunden, daß ein Emporkömmling, der über Millionen gebot, weder Intriguen noch Opfer scheute und Alles daran setzte, um eine Verwandtschaft mit ihm zu erzwingen, wenn er diesen Zwang auch nur mit Haß und Verachtung lohnte, aber er hatte es seinem bürgerlichen Schwiegersohne nie verziehen, daß dieser die Hand einer Baroneß Windeg mit einer Gleichgültigkeit empfing, als handle es sich um eine ganz gewöhnliche Heirath, daß er sich auch späterhin ebenso unempfindlich gegen diese Ehre zeigte, als sein Vater empfänglich dafür. Und jetzt trat er, trat Arthur Berkow von dieser Verbindung zurück, noch ehe man ihn dazu veranlaßt hatte. Das war zu viel für den Hochmuth eines Windeg, der bereit gewesen war, sich seine Tochter zurückzuerkämpfen, der es aber nicht ertragen konnte, sie von der Großmuth oder der Gleichgültigkeit ihres Gatten zurückzuempfangen.

„Ich werde mit Berkow sprechen,“ sagte er endlich, „und wenn er wirklich einverstanden ist, woran ich trotz Eugeniens Erklärung noch immer zweifle, so muß die Sache unverzüglich in’s Werk gesetzt werden!“

„Unverzüglich?“ fragte Curt. „Sie sind seit kaum drei Monaten vermählt, und ich glaube, sie haben Recht, einen allzu frühen und allzu plötzlichen Bruch zu vermeiden.“

„Gewiß haben sie das, und ich würde ihnen unbedingt beistimmen, hätte ich nicht meinerseits dringende Gründe, die Angelegenheit zu beeilen. Es steht hier auf den Werken nicht Alles, wie es sollte, ich habe von befreundeter Hand einen Wink erhalten, daß die jetzt ausgebrochene Bewegung unter den Arbeitern dem so unermeßlich geglaubten Berkow’schen Vermögen eine tödtliche Wunde versetzen könnte. Bricht es wirklich zusammen, so kann seine Gattin ihn gerade in dem Momente nicht verlassen, der Welt gegenüber kann sie es nicht. Wenn wir auch wahrhaftig ernstere und tiefere Gründe zur Trennung haben, man würde jenen Grund annehmen, und das darf nicht sein! Besser, wir nehmen das Auffallende eines so frühen Bruches auf uns, als daß wir uns die Hände binden, wenn die gefürchtete Katastrophe wirklich eintritt. Ein solches Unternehmen, wie dies hier, fällt nicht in wenig Wochen, dazu gehört ein Jahr mindestens, und in der Hälfte dieser Zeit kann die Scheidung durchgesetzt werden, wenn er uns keine Schwierigkeiten macht. Eugenie muß in unser Haus zurückgekehrt, muß frei sein, ehe man in der Residenz ahnt, wie hier die Verhältnisse liegen.“

„Ich dachte, die Schwester würde unseren Plan weit lebhafter und freudiger erfassen,“ meinte Curt gedankenvoll. „Freilich, wenn sie schon vorher das Gleiche beschlossen hatte, so war ihr die Idee nicht neu, aber trotzdem ist sie so kalt und stumm, als läge ihr das Alles unendlich fern, als handle es sich dabei gar nicht um ihre eigene Freiheit.“

Der Baron zuckte die Achseln. „Sie leidet bei dem Gedanken an das unvermeidliche Aufsehen, an die Weitläufigkeiten und Unannehmlichkeiten des Processes, die ihr nicht erspart werden können! Es ist immer ein bitterer Schritt für eine Frau, solch eine Scheidung, und dennoch muß er gethan werden. Wenigstens haben wir in diesem Falle die ganze Residenz auf unserer Seite! [220] Es war leider kein Geheimniß, weshalb diese Heirath geschlossen wurde; man wird es begreiflich finden, daß wir uns jetzt beeilen, sie zu lösen.“

„Da kommt Berkow!“ sagte Curt halblaut, als die Thür des Nebenzimmers geöffnet wurde. „Du willst mit ihm sprechen, Papa. Soll ich Euch allein lassen?“

Windeg machte eine verneinende Bewegung. „Du bist der älteste Sohn unseres Hauses, und bei solchen Unterredungen pflegt die Gegenwart eines Dritten heilsamen Zwang aufzuerlegen. Du bleibst, Curt!“

Während diese Worte rasch und leise gewechselt wurden, hatte Arthur das Nebenzimmer durchschritten und trat jetzt ein. Die Begrüßung war artig und eisig wie gewöhnlich, und die Unterhaltung begann mit den üblichen Floskeln. Die Gäste bedauerten, so selten der Gesellschaft ihres Wirthes theilhaftig zu werden, und dieser schützte eine Anhäufung von Geschäften vor, die ihn des Vergnügens beraubten – beiderseitige Höflichkeiten, die natürlich beiderseitig nicht geglaubt wurden und hinter die man sich verschanzte, um doch wenigstens etwas zu sagen.

„Ich hoffe, Eugeniens stete Gegenwart entschädigt Sie hinreichend für meine gezwungene Abwesenheit!“ fuhr Arthur fort, indem er durch den Salon einen Blick gleiten ließ, der die junge Frau zu suchen schien.

„Eugenie hat sich eines leichten Unwohlseins wegen zurückgezogen,“ erklärte der Baron, „und ich möchte das benutzen, um Ihnen, Herr Berkow, einen Wunsch vorzutragen, dessen Erfüllung hauptsächlich von Ihnen abhängt.“

„Wenn die Erfüllung von mir abhängt, so befehlen Sie, Herr Baron!“ Der junge Mann nahm seinem Schwiegervater gegenüber Platz, während Curt, der da wußte, was jetzt eingeleitet werden sollte, sich wie zufällig in eine Fensternische zurückzog und scheinbar aufmerksam auf die Terrasse hinausblickte. Windeg’s Haltung zeigte die vollste Gemessenheit und die vollste aristokratische Würde, die ihm zu Gebote stand; er fand es wohl nöthig, dem bürgerlichen Gemahl seiner Tochter damit zu imponiren und jeden etwaigen Widerstand von vornherein zu brechen, denn er hielt die angebotene Trennung von Seiten Arthur’s höchstens für eine Aufwallung nach irgend einer heftigen Scene, ernstlich glaubte er nicht daran.

„Man scheint der Bewegung hier auf Ihren Besitzungen eine größere Tragweite beizulegen, als sie vielleicht in Wirklichkeit hat,“ begann er. „Als ich gestern die Stadt berührte und dabei dem Commandanten der dortigen Garnison, einem Jugendfreunde, einen Besuch abstattete, wurde mir die Stimmung unter Ihren Arbeitern als eine äußerst bedrohliche und der Ausbruch von Unruhen als sehr wahrscheinlich geschildert.“

„Man scheint sich in der Stadt mehr mit meinen Werken und meinen Leuten zu beschäftigen, als ich voraussetzte,“ sagte Arthur kalt. „Jedenfalls habe ich den Herrn Oberst nicht um eventuelle Hülfe ersucht.“

Der Baron verstand die Abweisung. „Ich meinerseits habe natürlich kein Urtheil darüber!“ entgegnete er rasch. „Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß es nicht passend wäre, Eugenie etwaigen Scenen und Auftritten hier auszusetzen. Ich wünschte sehr, meine Tochter mit mir nach der Residenz zu nehmen, nur auf einige Zeit, bis die Verhältnisse hier sich geklärt haben.“

Eine leichte Bewegung zeigte sich in dem Gesichte des jungen Mannes; er warf einen schnellen Blick hinüber nach der Thür, die zu den Zimmern seiner Gattin führte, als wollte er errathen, ob der Wunsch von dort ausgegangen sei; aber seine Erwiderung klang völlig unbewegt:

„Eugenie ist durchaus Herrin ihres Willens. Wenn sie die Entfernung für nöthig hält – ich lasse ihr vollkommene Freiheit!“

Windeg neigte sehr befriedigt das Haupt. „So begleitet sie uns also morgen! Was die Dauer ihrer Abwesenheit betrifft – wir kommen da auf einen Punkt, den zu berühren uns Beiden wohl gleich peinlich ist; aber ich ziehe es dennoch vor, ihn mündlich zur Sprache zu bringen, um so mehr, als ich weiß, daß in der Hauptsache sich unsere Wünsche begegnen.“

Arthur schien von dem Sessel auffahren zu wollen; aber er bezwang sich und behielt seinen Platz.

„Ah so! Eugenie hat Ihnen bereits Mittheilungen gemacht!“

„Ja! Befremdet Sie das? Dem Vater konnte und mußte sie sich wohl zunächst anvertrauen.“

Die Lippen des jungen Mannes zuckten. „Ich setzte voraus, daß die Sache ein Geheimniß zwischen uns Beiden bliebe, bis die Zeit zum Handeln da wäre. Ich habe mich geirrt, wie ich sehe!“

„Weshalb einen einmal gefaßten Beschluß aufschieben?“ fragte der Baron ruhig. „Die Zeit zur Ausführung ist gerade jetzt günstig. Die augenblicklichen Verhältnisse auf Ihren Gütern geben den besten und unverfänglichsten Vorwand zur Entfernung meiner Tochter. Daß diese Entfernung eine dauernde ist, braucht die Welt ja für’s Erste noch nicht zu erfahren. Jetzt im Sommer, wo Alles die Residenz verläßt, können die vorbereitenden Schritte am unbemerktesten geschehen. Wo sich das Aufsehen nun einmal nicht vermeiden läßt, ist es immer vorzuziehen, der Gesellschaft eine Thatsache gegenüberzustellen; daran pflegt die Klatschsucht sich noch am ehesten zu brechen.“

Es entstand eine kurze Pause; Arthur heftete den Blick wieder, diesmal mit einem räthselhaften Ausdrucke, auf die Thür zu den Zimmern seiner Frau; dann wandte er ihn langsam auf deren Vater.

„Ging der Wunsch nach einer Beschleunigung dieser Angelegenheit von Eugenien selbst aus?“

Der Baron hielt es für passend, diesmal die Wahrheit zu verschweigen; das führte jedenfalls schneller zum Ziele, und jedenfalls war ihm Eugenie dankbar dafür.

„Ich spreche im Namen meiner Tochter!“ erklärte er gemessen.

Arthur erhob sich plötzlich und so heftig, daß der Sessel zurückflog. „Ich willige in Alles, Herr Baron! in Alles! Ich glaubte Ihrer Frau Tochter meine Gründe für einen Aufschub mitgetheilt zu haben; sie wurden zumeist von der Rücksicht auf sie dictirt; ich kam dabei nicht in Betracht. Wenn sie dessenungeachtet doch eine Beschleunigung wünscht – es sei!“

Der Ton dieser Worte war so eigenthümlich, daß Curt, der, obwohl er keine Silbe des Gesprächs verlor, doch immer noch die Terrasse zu beobachten schien, sich auf einmal umwandte und seinen Schwager verwundert ansah. Auch Windeg schien etwas betroffen zu sein; es war doch hier wahrlich kein Grund zur Gereiztheit vorhanden, wo man einen beiden Theilen lästigen Zwang etwas früher aufheben wollte.

„Sie sind also mit der Trennung unbedingt einverstanden?“ fragte er ein wenig unsicher.

„Durchaus!“

Der Baron athmete auf. Also hatte Eugenie doch Recht, als sie die sofortige Einwilligung ihres Gatten voraussetzte. Was nun noch zu erledigen war, bot nach seiner Meinung kaum noch eine Schwierigkeit.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Entgegenkommen,“ sagte er artig; „es wird beiden Theilen den peinlichen Schritt erleichtern. Jetzt bleibt nur noch Eins, das freilich hierauf keinen Bezug hat, aber doch geordnet werden muß. Ihr Herr Vater,“ die Stirn des nunmehrigen Majoratsherrn überflog eine dunkle Röthe bei der Erinnerung, „Ihr Herr Vater hatte die Güte für mich einzutreten, Verpflichtungen gegenüber, denen ich damals nicht gerecht werden konnte. Jetzt bin ich in der Lage, dies zu thun, und ich möchte mich beeilen –“

Er hielt inne, denn Arthur schlug das Auge voll und finster auf, und der Blick verbot die Fortsetzung.

„Sollten wir diesen Punkt nicht besser ruhen lassen? Ich meinerseits bitte darum.“

„Er konnte ruhen, so lange unsere gegenseitigen Beziehungen bestanden,“ erklärte Windeg ernst, „nicht wenn sie sich lösen. Sie werden mich nicht zwingen wollen, Ihr Schuldner zu bleiben!“

„Von einer Schuld im gewöhnlichen Sinne war wohl hier nicht die Rede. Meine Vater vertrat schließlich nur seine eigenen Forderungen, und die betreffenden Documente wurden, so viel ich weiß, vernichtet, als –“ hier brach die furchtbare Gereiztheit des jungen Mannes für einen Augenblick doch durch die erzwungene Ruhe, „als Sie den Preis dafür zahlten!“

Der Baron erhob sich verletzt. „Damals wurde die Verbindung geschlossen,“ erwiderte er kalt, „allerdings auf Wunsch des Herrn Berkow; jetzt soll sie gelöst werden, zumeist auf unseren Wunsch. Die Verhältnisse liegen nunmehr umgekehrt –“

[221] „Ist es durchaus nothwendig, daß wir auch bei der Scheidung den Geschäftsstandpunkt eines Kaufvertrages festhalten?“ unterbrach ihn Arthur mit schneidender Bitterkeit. „Ich hoffe, man wird mich und meine Frau nicht zum zweiten Male zum Gegenstand eines Handels machen wollen. Es war genug an dem ersten!“

Der Baron mißverstand die Worte völlig, wie er die Regung mißverstand, welche sie dictirte; er nahm seine vornehmste Miene an. „Erinnern Sie sich gefälligst, Herr Berkow, daß der Ausdruck ‚Handel‘, den Sie zu brauchen belieben, nur auf eine der beiden Parteien Bezug hat – uns trifft er nicht.“

Arthur trat einen Schritt zurück, aber seine Haltung war so stolz und unnahbar, wie sie der Majoratsherr ihm gegenüber kaum jemals zu zeigen wußte.

„Ich weiß jetzt, wie diese Heirath zu Stande kam, und ich weiß auch, wie diese Verpflichtungen entstanden, die Sie zur Einwilligung zwangen. Sie werden es danach wohl begreifen, wenn ich verlange, daß jene Schuld mit keiner Silbe mehr berührt wird. Ich fordere von Ihnen, Herr Baron, daß Sie einen Sohn nicht zwingen, über das Andenken seines Vaters zu erröthen!“

Windeg war schon einmal seinem Schwiegersohn gegenüber aus der Fassung gekommen, als dieser sich beikommen ließ, das Adelsdiplom auszuschlagen, aber das war doch immer noch in der ruhigen, halb nachlässigen Weise, noch immer in der Art des früheren Arthur Berkow geschehen – dieses Auftreten und diese Haltung versteinerten den Baron förmlich; er sah unwillkürlich zu seinem Sohne hinüber, der aus der Fensternische hervorgetreten war, und dessen jugendliches Gesicht ein grenzenloses Erstaunen ausdrückte, das er sich gar keine Mühe gab, zu verbergen.

„Ich wußte nicht, daß Sie die Sache so auffassen,“ sagte Windeg endlich. „Es war keineswegs meine Absicht, Sie zu beleidigen, aber –“

„Ich setze das voraus. Also übergeben wir diesen Punkt der Vergessenheit! Was die Scheidungsangelegenheit betrifft, so werde ich meinen Rechtsanwalt dahin instruiren, jedem Schritte des Ihrigen entgegenzukommen. Wenn irgend eine Anforderung an mich persönlich gestellt werden sollte, so bitte ich, über mich zu verfügen. Ich werde Alles thun, damit die Sache schnell und schonend beendigt wird.“

Er machte den beiden Herren eine Verbeugung und verließ das Zimmer. In der nächsten Minute war Baron Curt bereits an der Seite seines Vaters.

„Was heißt das Alles, Papa? Was, um Himmelswillen, ist in den drei Monaten aus diesem Arthur geworden! Ich fand ihn zwar schon gestern Abend weit ernster, bestimmter als sonst, aber dieses Auftreten hätte ich ihm doch nun und nimmer zugetraut!“

Der Baron hatte sich noch nicht von seinem Erstaunen erholt. Erst der Ausruf seines Sohnes brachte das zuwege. „Er scheint also wirklich die Rolle nicht gekannt zu haben, die sein Vater bei uns spielte! Das ändert allerdings die Sache,“ meinte er betreten. „Wenn er nur nicht die Zumuthung stellte, daß ich sein Schuldner bleiben soll!“

„Er handelt vollkommen richtig,“ rief Curt auflodernd, „wenn er jetzt den Wucher kennt, mit dem Berkow uns in’s Unglück hetzte! Nicht ein Viertheil jener Summe, die uns nachher so riesengroß gegenüberstand, hat er wirklich dargeliehen und für die aufgekauften Forderungen bezahlt, und nicht einen Pfennig davon darf der Sohn wieder annehmen, wenn er sich nicht auch entehren will. Man sah es ja, wie die Scham über die ganze schmachvolle Geschichte in ihm wühlte, aber es ging eigentlich seltsam mit dieser Unterredung. Er spielte doch ohne Frage darin die schlimmste, die beschämendste Rolle, und schließlich brachte er es dahin, daß wir uns beinahe zu schämen hatten mit unserem Anerbieten.“

Windeg schien die letzte Bemerkung ziemlich ungnädig aufzunehmen, vielleicht weil er sie nicht widerlegen konnte.

„Wenn wir ihm Unrecht thaten, so bin ich bereit, ihm jetzt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen,“ sagte er, „ich bin es um so mehr, als wir ihm in der Scheidungsangelegenheit wirklich zum Danke verpflichtet sind. Ich hatte nicht geglaubt, daß sich das so leicht machen werde, trotz der Gleichgültigkeit, die er von jeher gegen diese Heirath zeigte.“

Curt nahm wieder die nachdenkliche Miene an, die ihm sonst gar nicht eigen war. „Ich weiß nicht, Papa, mir kommt die Sache noch gar nicht so ausgemacht vor. Berkow war keineswegs so ruhig, wie er sich den Anschein geben wollte, und Eugenie auch nicht. Die Heftigkeit, mit der er aufzuckte, als Du behauptetest, sie bestehe auf der sofortigen Trennung, hatte nichts von Gleichgültigkeit und das Gesicht, mit dem Eugenie uns verließ, noch weniger. Mir ist dabei eine ganz eigenthümliche Idee aufgestiegen.“

Der Baron lächelte mit großer Ueberlegenheit. „Du bist doch bisweilen ein rechtes Kind, Curt, trotz Deiner zwanzig Jahre und Deiner Epauletten. Meinst Du denn wirklich, der Entschluß, den die Beiden, wie sich jetzt ergiebt, längst gefaßt haben, sei ohne vorhergegangene Scenen und Auftritte entstanden? Eugenie hat jedenfalls schwer darunter gelitten, vielleicht auch Berkow. Was Du so weise bemerkt hast, ist der Nachhall früherer Stürme, weiter nichts. Gott sei Dank, wir sind jetzt beiderseitig im Klaren, und die Stürme haben ein Ende.“

„Oder sie fangen erst an!“ murmelte Curt halblaut, indem er mit dem Vater den Salon verließ.




Es war Abend geworden, und im Hause herrschte eine unruhige Geschäftigkeit. Noch am Nachmittage hatte Baron Windeg eine längere Unterredung mit seiner Tochter gehabt, und unmittelbar darauf erhielt das Kammermädchen die Weisung, die Toilettensachen ihrer Herrin einzupacken. Schon vorher hatte Herr Berkow selbst der Dienerschaft angekündigt, daß seine Gemahlin morgen früh ihren Vater nach der Residenz begleiten und einige Wochen dort verweilen werde, daß also die nöthigen Vorbereitungen zu treffen seien, eine Nachricht, die vom Hause aus natürlich sofort die Runde durch sämmtliche Beamtenwohnungen machte, und dort wie hier weit mehr Besorgniß als Aufsehen erregte. Es war ja sonnenklar, daß der Herr die gnädige Frau nur fortsandte, weil er gleichfalls überzeugt war, daß es nächstens auf den Werken „losgehen“ werde. Er wollte sie in der Residenz in Sicherheit wissen und hatte wahrscheinlich selbst ihren Vater veranlaßt, zu kommen und sie abzuholen.

Windeg hatte Recht, der Vorwand war so wahrscheinlich, daß es Keinem einfiel, daran zu zweifeln. Das eigenthümlich kalte Verhältniß zwischen dem jungen Ehepaar war freilich anfangs in der Colonie viel besprochen und gedeutet worden; jetzt hatte das allmählich aufgehört. Man wußte ja, daß die Heirath nicht aus Neigung geschlossen war, aber da man nie etwas von heftigen Scenen oder bitteren Auftritten hörte, die der Dienerschaft doch wohl nicht entgangen wären, da Berkow immer die Höflichkeit selbst gegen seine Gemahlin und diese die Ruhe selbst ihm gegenüber blieb, so mußten sie sich doch wohl aneinander gewöhnt haben und ganz zufrieden miteinander sein – der gewöhnliche Ausgang solcher aus Berechnung geschlossenen Ehen. Ihre etwas seltsame Art zu leben schien wirklich nur eine Sitte der großen Welt zu sein; man lebte in den vornehmen Kreisen der Residenz wohl meist auf diesem getrennten, höflich kühlen Fuße, und daß Baroneß Windeg und der Sohn des Millionärs Berkow dies auch hier taten, konnte am Ende nicht weiter befremden.

Daß diese Abreise, der ja keine Streitigkeit irgend einer Art vorangegangen war, eine Trennung in sich schloß, das ahnte Niemand, und es fiel auch nicht weiter auf, als die Herrschaften den Abend ganz getrennt zubrachten. Die beiden fremden Herren speisten allein im Eßzimmer, die gnädige Frau hatte sich, da sie nicht wohl war, den Thee in ihr Boudoir bringen lassen, rührte jedoch zur Verwunderung ihres Kammermädchens nichts davon an, und Herr Berkow endlich speiste gar nicht, sondern zog sich „Geschäfte halber“ in sein Arbeitscabinet zurück, nachdem er den Befehl gegeben, ihn unter keiner Bedingung zu stören.

Draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit, und hier drinnen warf die auf dem Schreibtisch brennende Lampe ihr Licht auf den Mann, der seit länger als einer Stunde ruhelos auf- und abwanderte, der jetzt endlich hinter geschlossenen Thüren den so lange getragenen Zwang der Gleichgültigkeit abwarf und den Sturm austoben ließ, der in ihm wühlte. Das war freilich nicht der blasirte junge Erbe mehr mit seiner apathischen Schwäche, aber auch nicht der junge Chef mehr, der mit so plötzlich erwachter Energie und Besonnenheit seinen Untergebenen zu imponiren und seinen Beamten Muth einzuflößen wußte. [222] In diesem Antlitz stürmte die ganze Gewalt einer Leidenschaft, deren Größe er wohl selbst nicht gekannt hatte, bis zu dem Momente, wo es sich um das Verlieren handelte. Der Moment war jetzt gekommen, und jetzt forderte sie ihr Recht. Auf dieser bleichen Stirn, in diesen zuckenden Lippen und brennenden Augen stand es deutlich geschrieben, was ihm die heutige Unterredung gekostet, von der Baron Windeg meinte, er habe nicht geglaubt, daß die Sache sich so leicht machen werde.

Also jetzt war sie da, die so lang gefürchtete Stunde der Trennung, und es war gut, daß es so kam, daß ein fremder Wille hier eingriff, wo der eigene sich machtlos erwies. Wie oft während der letzten vierzehn Tage hatte Arthur daran gedacht, selbst den Vorwand zu gebrauchen, den der Baron ihm jetzt in die Hand gab, und damit die Folter dieses Zusammenlebens abzukürzen, denn diese abgemessene Kälte nach außen, welche die Gluth im Innern jeden Augenblick Lügen strafte, ließ sich nicht mehr ertragen; das ging über Menschenkräfte – und dennoch war nichts geschehen. Freilich ist es eine unbestrittene Wahrheit, daß das Unvermeidliche am besten schnell geschieht, aber nicht Jeder, der den Muth besitzt, mit fester Hand das Messer an eine vergiftete Wunde des Körpers zu setzen, hat ihn auch da, wo es sich darum handelt, eine verzehrende Leidenschaft aus dem Herzen zu reißen; mit ihr kommt unabweisbar die Furcht vor dem Verluste. Sie waren ja längst getrennt, diese Beiden, aber er sah doch wenigstens immer noch das schöne blonde Haupt mit den stolzen, jetzt so ernsten Zügen und den sprechenden dunklen Augen, hörte doch wenigstens noch diese Stimme, und dann kamen auch Momente eines blitzähnlich aufflammenden Glückes, die ganze Tage und Wochen voll Bitterkeit aufwogen, wie vorgestern im Walde, wo sie mit so sichtbarer Angst ihr Pferd an das seinige drängte, wo sie in seinen Armen bebte, als er sie herabhob – mochte es Feigheit sein, aber er hatte nicht freiwillig, nicht eher verzichten können, bis man es forderte, wie es jetzt geschah.

Die Thür wurde leise geöffnet und ein Diener erschien zögernd auf der Schwelle.

„Was giebt’s?“ fuhr Arthur auf. „Habe ich nicht befohlen –“

„Um Vergebung, Herr Berkow!“ sagte der Mann schüchtern. „Ich weiß wohl, daß Sie nicht gestört sein wollen – aber da – da die gnädige Frau selbst –“

„Wer?“

„Die gnädige Frau sind selbst hier und wünschen –“

Der Diener hatte keine Zeit zu vollenden und er war auch etwas überrascht von dem Ungestüm, mit dem sein Herr die Thür aufriß und in’s Vorzimmer eilte, wo er wirklich seine Gattin erblickte, die dort zu warten schien. In der nächsten Minute war er an ihrer Seite.

„Du läßt Dich melden? Welche überflüssige Etiquette!“

„Du wolltest Niemand sehen, wie ich höre, und Franz sagte mir, der Befehl gelte für Alle ohne Ausnahme.“

Arthur wandte sich mit finsterer Miene zu dem Bedienten, der entschuldigend sagte: „Ich wußte wirklich nicht, was ich da thun sollte. Es ist ja das erste Mal, daß die gnädige Frau hierher kommt.“

Die Worte enthielten wirklich nur eine verlegene Entschuldigung, weiter nichts, aber Eugenie wendete sich doch rasch ab und die Zurechtweisung, die ihr Gemahl bereits auf den Lippen hatte, unterblieb. Der Mann hatte im Grunde Recht; für einen so ungewöhnlichen Fall, wie das Erscheinen der gnädigen Frau in der Wohnung des Herrn war, reichten seine Instructionen nicht aus; es war in der That das erste Mal, daß sie diese Wohnung betrat. Man hatte sie bisher immer nur im Salon, im Eßzimmer oder in den Gesellschaftsräumen getroffen; so konnte und mußte denn der heutige Besuch die Dienerschaft wohl befremden.

Arthur gab dem Bedienten einen Wink, sich zu entfernen, und trat mit seiner Frau in das Arbeitszimmer. Sie schien auf der Schwelle zu zögern.

„Ich wünschte Dich zu sprechen!“ sagte sie mit unterdrückter Stimme.

„Ich stehe Dir ganz zu Befehl.“

Er schloß die Thür wieder und schob einen Fauteuil heran, indem er sie mit einer Handbewegung einlud, darauf Platz zu nehmen. Die wenigen Minuten hatten genügt, dem jungen Manne wieder die ganze Fassung zurückzugeben, in der er sich in den letzten Wochen hinreichend geübt; Antwort und Bewegung waren so kühl und abgemessen, als ob er der fremdesten Dame in dem fremdesten Salon eine Höflichkeit erweise.

„Willst Du Dich nicht setzen?“

„Ich danke! Ich werde Dich nicht lange in Anspruch nehmen.“

Es war etwas Scheues, Unsicheres in dem Wesen der jungen Frau, das eigenthümlich mit ihrer sonst so sicheren Haltung contrastirte. Vielleicht fühlte sie sich fremd in diesen Räumen, und vielleicht wurde es ihr auch schwer, den Anfang des Gespräches zu finden. Arthur erleichterte ihr Beides nicht; er sah, wie sie zweimal vergebens nach Worten suchte, ohne sie finden zu können, aber er stand stumm und finster ihr gegenüber am Schreibtische und wartete.

„Mein Vater hat mir sein heutiges Gespräch mit Dir mitgetheilt,“ begann Eugenie endlich, „und auch das Resultat desselben.“

„Das habe ich erwartet, und eben deshalb – verzeih’, Eugenie! – war ich anfangs so überrascht, Dich hier zu sehen. Ich glaubte Dich mit den Vorbereitungen der Abreise beschäftigt.“

Die Worte sollten wohl den Eindruck seiner Bewegung bei ihrem Erscheinen verwischen, und sie schienen es auch zu thun. Es vergingen einige Secunden, ehe die junge Frau antwortete.

„Du hast diese Abreise bereits heute Nachmittag der Dienerschaft angekündigt?“

„Ja! Ich glaubte Deinen Wünschen zuvorzukommen und überdies hielt ich es für besser, wenn der Befehl zu den Vorbereitungen von mir ausging; Du kennst ja den Vorwand, den wir brauchen. Beabsichtigtest Du die Sache anders einzuleiten? Dann bedaure ich, Deine Absichten nicht gekannt zu haben.“

Der Ton war eisig, und es schien auch daraus wie ein Eishauch zu Eugenien herüberzuwehen; sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Ich habe nichts zu erinnern. Es überraschte mich nur, daß der einmal festgesetzte Termin meiner Abreise beschleunigt werden soll. Du hattest doch Deine Gründe, ihn festzuhalten.“

„Ich? Es war Dein Wunsch, Deine Forderung, der ich in diesem Punkte nachkam. Baron Windeg sagte mir wenigstens, daß es so wäre.“

Eugenie fuhr auf. Es schien, als ob mit dem tiefen erleichternden Athemzuge, der jetzt ihre Brust hob, auf einmal alle Scheu und Unsicherheit verschwinde, als ob ihr mit der einen Antwort der ganze Muth zurückgekommen sei.

„Ich ahnte es! Mein Vater ist zu weit gegangen, Arthur; er hat in meinem Namen gesprochen, wo er nur seinen eigenen Wunsch vertrat. Ich bin gekommen, das Mißverständniß zu lösen und Dir zu sagen, daß ich nicht abreisen werde – wenigstens nicht eher, bis ich aus Deinem Munde höre, daß Du es verlangst.“


(Fortsetzung folgt.)




Japanisches Nationalfest mit Theaterlöwen.


Während Gesandtschaften und oberste Größen aus dem japanesischen Inselreiche, dessen Jahrtausende verschlossen gewesene Thore durch die unwiderstehliche Macht des rastlosen europäisch-nordamerikanischen Culturgeistes aus den Angeln gehoben worden sind, im alten Europa vor Allem die neue deutsche Kaiserstadt bewundern, erfreuen wir uns am Anschauen der wunderlichen Sitten, Gebräuche und Feste jenes Landes, an denen wir wenigstens die ungeheuere Dauerhaftigkeit bewundern müssen, denn auch sie sind so alt wie das Reich, das in seinen Zeitrechnungen mit Millionen von Jahren spielend um sich wirft. Die Urreligion der Japanesen ist nämlich mit Mythen der Urgeschichte von Japan verwebt; in diesen stehen die Kami’s als

[223] 

Das Fest des japanischen Kriegsgottes Hat-si-man in Simoda.
Nach der Natur aufgenommen von General W. Heine.

[224] göttliche Urwesen obenan, von denen keine Generation unter hundert bis zweihundert Millionen Jahre Himmel und Erde zu beherrschen geruhte. Obschon jetzt nicht mehr der herrschende Cultus, ist der Glaube an diese göttlichen Ahnen noch immer vom Staate geschützt, von den Regenten geheiligt und beim Volke beliebt.

In den Sitzen der Kami’s, sowohl denen der Tempel, als den kleinen, oft nur einen Fuß messenden Capellen oder Mias der Privatwohnungen, herrscht eine auffallende Einfachheit. Unter den zehn großen Festen des Kamidienstes ist das des Kriegsgottes Hat-si-man von großer Bedeutung, denn es ist zum Andenken der Manen der im Kriege Erschlagenen eingesetzt. In allen Theilen des Landes sind dem Hat-si-man Tempel und Hallen errichtet, unter denen der zu Usa in der Landschaft Bazen errichtete der vornehmste ist, weil dort der ursprüngliche Sitz des Gottes war. Der in der Abbildung gegebene steht in Simoda, einer der japanesischen Residenz Yeddo zunächst gelegenen Hafenstadt in der Provinz Idzu.

Am Tage des Festes versammelt sich eine zahlreiche Volksmenge, und jede Familie bringt einen Sarg mit, der dem Andenken ihrer in Schlachten gebliebenen Glieder geweiht ist. Nach einigen Gebeten beginnt die Aufstellung des Zuges, den mehrere Polizeibeamte zu Fuß und zu Pferd eröffnen, in deren Mitte zum Andenken an die in Korea geführten Kriege der koreanische Löwe dargestellt ist, indem ein Mann eine Löwenmaske über den Kopf stülpt und seine Füße die Vorderfüße des Löwen darstellen; ein zweiter folgt unter den über das Ungeheuer gedeckten Tüchern in gebückter Stellung, Rücken und Hintertheil darstellend, wie in Europa dies der Theaterliebhaber in der Zauberflöte sehen kann. Diese Theaterlöwen haben jedoch im Vorrecht der Erfindung dem koreanischen Löwen den Vortritt zu gestatten. Ihnen folgen Musiker mit Flöten, Pauken, Becken etc., die einen gewaltigen Lärm erheben, und nach diesen wird der Sarg von den Dienern getragen, umgeben von Priestern, begleitet von den Mitgliedern der Familie, von denen manche in kriegerischer Rüstung sind. In ihrem Gefolge befinden sich Diener, welche alles zu einem Gastmahl Erforderliche mit sich führen, denn ist die Procession beendet, so verfügen sich die verschiedenen Familien nach den Grabstätten ihrer Vorfahren und endigen dort das Fest in fröhlicher Schmauserei, wobei ein für die Todten bestimmter Antheil bei Seite gestellt wird. Nach Sonnenuntergang werden diese Gaben nebst einigen Münzen in kleine, aus Stroh geflochtene Boote gelegt und auf das Wasser gesetzt, um von Wind und Fluthen hinaus auf’s Meer getrieben zu werden.

Vorstehende Schilderung und Abbildung ist einem Werke entnommen, welches General Heine in Dresden in Heften mit photographischen Illustrationen und glänzender Ausstattung veröffentlicht, um seine zahlreichen Schriften über Japan damit rund abzuschließen. Offenbar ist diesem Unternehmen das jetzt so überraschend vor unseren Augen vor sich gehende förmliche Aufbrechen des durch Landes- und Volks-Eigenthümlichkeiten so ausgezeichneten Japanenreichs ganz besonders förderlich, und es freut uns, durch die vorliegende Mittheilung auf dasselbe hindeuten zu können.




Ein „revolutionärer“ Bundestagsgesandter.
Geschichtsbild und Jugend-Erinnerungen.


Alle, welche wenigstens die letzten zehn Jahre, von 1863 bis heute, mit politischem Verständniß durchlebten, müssen erkannt haben, welch ungeheure Aufgabe es war, Deutschland vom Bundestage zu erlösen und von Oesterreich’s Einfluß zu befreien. Daß die Sehnsucht nach dieser Erlösung und Befreiung eine alte, längst tief im Herzen der Nation großgezogene und immer wieder bis zur Hoffnungslosigkeit zurückgedrängte und unterdrückte war, dafür giebt es kein umumstößlicheres Zeugniß, als das, daß der vorher verhaßteste und verhöhnteste Minister in Deutschland mit einem Schlage der populärste und gefeierteste Mann der Nation werden konnte, eben weil es ihm gelang, mit diesem einen Schlage den deutschen Bund zu zertrümmern und Oesterreich aus Deutschland zu scheiden.

Beides aber geschah dem durch seine Schuld bereits ohnmächtigen Bundestag und dem durch unglückliche Kriege bereits geschwächten Oesterreich.

Wird es die gegenwärtige Generation glauben, daß zu der Zeit, wo Oesterreich nach den Befreiungskriegen in der Fülle seiner Macht dastand und wo der Bundestag unter Metternich’s Oberleitung an den drei absolutistischen Großmächten der heiligen Allianz eine unüberwindliche Schutzmauer hatte, dennoch ein Mann mit wenigen gleichgesinnten Genossen es wagte, diesem Oesterreich und diesem Bundestage Trotz zu bieten, und daß er es sogar unternahm, durch das Zusammenfassen aller constitutionellen Staaten Deutschlands einen Keil der Freiheit zwischen die absoluten Großmächte hineinzuschieben?

Dieser kühne Mann war der Freiherr Karl August von Wangenheim. Wer von den Jüngeren kennt heute noch den Namen dieses Staatsmanns, dieses Vorkämpfers deutschen Verfassungslebens, der sein muthvolles Ringen vor mehr als zwei Generationen begann? Wir sind es der Gegenwart schuldig, solche Namen der traurigsten deutschen Vergangenheit nicht vergessen zu lassen, und so wird man es nicht „außer der Zeit“ finden, wenn wir ein Bild seines Lebens und der von ihm geleiteten Geschichte unseren Lesern vorführen.

Der junge „ausstudirte“ Freiherr von Wangenheim, der für seine Existenz auf den Staatsdienst angewiesen war, lebte lange unbeachtet „von oben“ in Coburg. Diese Ungnade mochte noch wegen seiner akademischen Laufbahn auf ihm lasten, denn er war auf der Landesuniversität Jena ein so „forscher Studio“ gewesen, daß man ihn einmal auf die Leuchtenburg gefangen setzte und schließlich relegiren mußte. Er hatte seine Studien in Erlangen vollendet und harrte nun vergeblich in Coburg auf eine Anstellung.

Da machte ein kleines Unglück ihn interessant. In einer damals mit dem Residenzschloß noch zusammenhängenden Straße (Grafengasse) brach Feuer aus. Die Gefahr für das Schloß war nicht gering; die Lohe schlug zum Dach hinaus, und die Spritzen konnten die Höhe des Flammenherdes nicht erreichen. Da drang ein Kopf durch ein in den Dachfirst geschlagenes Loch hervor, ein Körper folgte, lang und immer länger, bis endlich ein hochgestreckter Mann keck da droben stand und die ihm zugereichten Wassereimer in weiten Bogen über das Feuer goß, aller Unbill der Hitze und des Rauches trotzend. Aus den Schloßfenstern sahen die höchsten Herrschaften der kühnen That Wangenheim’s, der war es natürlich, zu, und von Stund’ an verzieh man um dieses Muthes willen dem jungen Mann seine Vergangenheit voll Uebermuth.

Er stieg nun rasch auf der Dienststufenleiter bis zum Vicepräsidenten der Landesregierung und genoß mehrere vom ersten Eheglück verschönte Jahre – da knackte plötzlich die Leiter und brach, und der Sturz drohte vernichtend für Wangenheim zu werden. Er hatte Schwindeleien des damaligen Ministers aufgedeckt und mußte vor dessen Rache und des Herzogs Ungnade sogar schließlich entfliehen. Seine Familie fand in Hildburghausen Zuflucht und er beim alten Ritter Truchseß auf der Bettenburg.

Und abermals erblühte ihm das Glück aus fürstlicher Noth. Am 1. Januar 1806 war der dicke Herzog Friedrich von Württemberg ein Rheinbunds-König geworden. Da brach der Krieg gegen Preußen aus – und nun begab sich das Entsetzliche, daß des neuen Schwabenkönigs jüngster Sohn, Paul, heimlich Stuttgart verließ und nach Preußen ging, um gegen Napoleon zu fechten. Da nun des Herzogs Paul Gemahlin, Charlotte, eine Hildburghäuser Prinzessin war, so hatten um des einen Verbrechens willen zwei deutsche Höfe vor der Rache Napoleon’s zu zittern. Dieses Unheil dem König Friedrich in begütigendster Weise mitzutheilen und den Flüchtling vom Kriegsschauplatz zurückzubringen, das war der Auftrag, mit welchem Wangenheim nach Stuttgart gesandt wurde. Sein entschlossenes Wesen gewann ihm sofort die Zuneigung des Königs, der ihn nun selbst noch mit dem besonderen Auftrag einer Friedensvermittelung [225] mit Preußen betraute. Die Mission mißlang völlig, Wangenheim kam im Hauptquartier zu Weimar erst am Tage vor der Schlacht bei Auerstädt an, kehrte aber trotz alledem hoffnungsvoll nach Stuttgart zurück.

König Friedrich übertrug Wangenheim die Oberleitung des Finanzwesens des neuen Reichs, und sofort begann dieser ein mächtiges Fegen und Ordnen im Staatshaushalt. Aber sehr bald zeigte sich das vetterschaftliche Gemeingefühl des Beamtenthums gegen solche Störungen der heimischen Gemüthlichkeit. Wangenheim war nach allen Seiten unbequem geworden, man suchte ihn aus der schwäbischen Residenz zu entfernen und erhob ihn im September 1811 zum Curator der Universität Tübingen und zum Präsidenten des dortigen Ober-Tribunals.

Eine glücklichere Zeit hat Wangenheim im Dienst und Haus nicht wieder erlebt. Er selbst im Gefühl höchster Manneskraft, ein Achtunddreißiger, mit dem Geist voll hoher Gedanken und dem jugendfrischen und jugendfreudigen Herzen, mitten hineingestellt in das Blüthenleben einer Universität voll strebender Jünglinge und ausgezeichneter Männer, als Aller Schutz und Leiter – dieses Glück und dieser Glückliche hatten nicht besser zusammenkommen können. Das Wangenheim’sche Haus war kein Haus mehr, sondern eine Gast- und Lusthalle aller Leute von Begabung und Namen. Wangenheim selbst saß oft wieder im Hörsaal, er war im Studiren wie im Leben wieder Student im edelsten Sinne und der geehrteste und geliebteste Mann weit und breit, während gegen Hof und Regierung des Volkes Haß immer drohender wuchs. So oft er von jenen Tagen erzählte, konnte er, wie Lortzing’s Waffenschmied, seufzen und jubeln: „Das war eine köstliche Zeit!“ –

Sie dauerte wenig über drei Jahre, da brach der Verfassungskampf gegen den störrigen König aus. Wangenheim trat im Sommer 1815 mit seiner Schrift: „Die Idee der Staatsverfassung in ihrer Anwendung auf Württembergs alte Landesverfassung und den Entwurf zu deren Erneuerung“ hervor und wurde wohl deshalb als Mitglied der zur Berathung der Verfassungsangelegenheiten niedergesetzten Commission berufen.

Allbekannt ist die Hartnäckigkeit, mit welcher die Württemberger ihr sogenanntes „altes Recht“ auch gegen die freisinnigsten Verfassungsvorschläge Wangenheim’s vertheidigten. Selbst Uhland richtete sein berühmtes Lied vom „alten Recht“ gegen ihn. Er verlor seine Popularität fast völlig; es kam sogar zu handgreiflichen Demonstrationen gegen ihn, und ich selbst habe noch den großen Käslaib gesehen, der ihm damals bei einem Volksauflauf durch das Fenster flog und den er als schwäbischen Volksdank sein Lebtage aufbewahrt hat.

Mitten in diesen Kämpfen war der dicke König gestorben, und sein Nachfolger, der einst so gefeierte „Prinz Wilhelm, der edle Ritter“, hatte, des Zanks müde, sich entschlossen, bis auf Weiteres ohne Verfassung zu regieren. Mit den freisinnigsten Verordnungen dieser Zeit hat Wangenheim, den der König sofort zu seinem Cultusminister ernannte, sich bleibendes Verdienst um Württemberg erworben.

Aber nur zu bald wendete sich das Blatt. Der Haß der rein aristokratischen Clique der Beamtenschaft siegte. Der König ward kampfmüde und mißachtete den Rath Wangenheim’s in einer Weise, die „dessen menschliches Gefühl verletzen mußte“. Er forderte deshalb seinen Abschied und gab damit, sagt Heinr. von Treitschke (in seiner Abhandlung über Wangenheim in den „Preußischen Jahrbüchern 1863“, der ich hier öfter folge), als der Erste das von den Staatsmännern des deutschen Bundes (und leider noch heute) selten begriffene Beispiel für das Verhalten constitutioneller Minister.

Am vierten November 1817 hatte Wangenheim das Gesuch um seine Entlassung als Cultusminister eingereicht, und schon am elften empfing er die Bestallung als württembergischer Gesandter am Bundestage.

Jetzt beginnt eine nicht blos für Württemberg, sondern für ganz Deutschland denkwürdige Zeit von Wangenheim’s staatsmännischer Thätigkeit. So wenig nämlich König Wilhelm im Innern seines Landes den liberalen Minister länger neben sich dulden mochte, so sehr schmeichelte es seinem Ehrgeiz, im Kampfe gegen die Uebergriffe der deutschen Großmächte durch eine so erprobte Kraft vertreten zu sein. Für Wangenheim galt es aber jetzt, seine Trias-Idee (Reindeutschland, Oesterreich und Preußen als drei Staatengruppen eines Bundesstaats) in’s Leben zu rufen. Er stand längst mit ihr nicht allein. Wie schon Anselm Feuerbach in den beiden Großmächten „die natürlichen Gegner, nicht gerade Deutschlands, aber der Freiheit und Selbstständigkeit der kleinen deutschen Staaten“ sah und sogar an einen Fürstenbund dachte, der das feindliche Preußen in zwei Hälften zerreißen sollte, so bildeten bereits im Bundestag selbst die Gesandten Gagern, Aretin, Lepel und Harnier eine Oppositionspartei gegen die Buol und Goltz, und als Gagern vom Bundestag ausschied, ward Wangenheim der Führer dieser Opposition. Und er führte sie so schneidig und ließ die Gesandten von Oesterreich und Preußen seine geistige Ueberlegenheit so stark fühlen, daß Metternich im September 1818 sogar Abhülfe dagegen in Stuttgart suchte.

Das Jahr 1819 fing sogleich unheilverkündend für ihn an. Karl Sand hatte in Tübingen Wangenheim’s gastliches Haus mehrmals besucht und den anregenden Worten des Herrn Curators gelauscht. Auch auf seiner verhängnißvollen Reise nach Mannheim suchte er Wangenheim in Frankfurt auf und traf ihn nicht. Als Letzterer dies erfuhr, trieb eine unbestimmte schreckliche Ahnung ihn, dem Wanderer in den Odenwald nachzureiten. Er fand ihn nicht, und die unselige That geschah. Man kennt ihre Folgen. Ludwig Karl Aegidi sagt in seiner tapferen Schrift „Aus dem Jahre 1819“ mit Recht: „Das Deutschland des Jahres 1819 war ein Tollhaus; irregewordene Regierungen legten der Nation, die noch bei Sinnen war, die Zwangsjacke an.“ – „Die Folge des Wiener Congresses war einfach der Mangel eines guten Gewissens auf Seite der Regierungen. Gewissensangst aber verwirrt.“ – „Darin liegt der Schlüssel des Verständnisses für das Räthsel, daß der nationale Gedanke den meisten Schrecken einflößte und gleichsam als der Todfeind der Regierungen galt.“ – „So kam es zu den Verabredungen von Karlsbad. Hier, in dem berühmten Badeort, erreichte in den Hundstagen des Jahres 1819 die gouvernementale Tollheit ihren Höhepunkt.“

Das Product derselben, die Karlsbader Beschlüsse, ist auch von Württemberg mit unterzeichnet. Vergeblich hatte Wangenheim, soweit sein Einfluß reichte, dagegen angekämpft; er suchte sein Gewissen wenigstens dadurch zu beschwichtigen, daß er in der Bundestagssitzung am 20. September seine Einsprüche und Verwahrung gegen die Beschlüsse niederlegte, darin namentlich die Rechte der Einzelstaaten in der Behauptung ihrer angeblichen politischen Verbrecher wahrte und sich der rechtlichen Behandlung der vor die Central-Untersuchungs-Commission Gestellten annahm. Als aber dieses Protokoll ein Geheimniß bleiben mußte, mochte er wohl bitter fühlen, daß ein Vorwurf darüber, daß er damals nicht sofort den Gesandtschaftsposten aufgegeben, ihn mit Recht treffen könne. Die Strafe folgte dieser Unterlassungssünde auf dem Fuß: „Vier Jahre lang arbeitete nun die liberale Minderheit zu Frankfurt an dem undankbaren Versuch, die Wirksamkeit jener Karlsbader und Wiener Beschlüsse zu untergraben, welche durch die Nachgiebigkeit der Minderheit selbst zu Bundesgesetzen erhoben waren.“

Wie sehr dies zu beklagen ist, sehen wir an einigen einzelnen Fällen Wangenheim’scher Kämpfe. Ein in einer sehr bittern Denkschrift ausgeführter Angriff Wangenheim’s richtete sich gegen die Mainzer Central-Untersuchungs-Commission, vulgo die „schwarze Commission“ genannt. Da aber Württemberg sich geweigert hatte, ein Mitglied zu derselben abzuschicken, so verweigerte der österreichische Vorsitzende des Bundes auch seinerseits jede Mittheilung. Die Gesandten der Opposition blieben ohne Kenntniß der Mainzer Acten, bis die häßliche Cloake allgemein ruchbar wurde.

Wangenheim’s gediegene Tüchtigkeit kam am schönsten zu Tage, als es galt, die gesetzlichen Befugnisse des Bundes zu vertheidigen und vornehmlich das Recht desselben, auf die Ausführung der im Artikel dreizehn der Bundesacte verheißenen Verfassungen zu dringen. Man lernte von ihm zu Frankfurt, sagt Treitschke, was gründliche und rechtliche Beurtheilung staatsrechtlicher Fragen sei. So bewies er in einem meisterhaften Gutachten die Pflicht des Bundes, in Holstein einzuschreiten. Er entlarvte die sophistische Unredlichkeit, welche dort eine niemals aufgehobene, unzählige Male feierlich bestätigte Verfassung blos deshalb für „nicht in anerkannter Wirksamkeit stehend“ erklärte, [226] weil es dem König von Dänemark gefiel, sie augenblicklich nicht zu halten. Selbst die Ausrede, der König-Herzog sei Willens, den Herzogthümern dereinst eine Verfassung zu geben, ließ Wangenheim nicht gelten, denn es handle sich um bestehendes Recht, und das Versprechen des Königs sei werthlos, wenn der Bund ihm nicht eine feste Frist setze für die Vollführung.

Man sieht daraus, wie muthig und redlich Wangenheim auf sein Ziel losging, den Bund zur Centralbehörde eines Bundesstaats umzugestalten, dessen gleichberechtigte Mitglieder auf dem Wege des Rechts zur freiheitlichen Entwicklung gelangen sollten, allem Absolutismus der heiligen Allianz zum Trotze. In Wien durchschaute man dies und rief schon jetzt Halt! „Seine apostolische Majestät werde niemals dulden, daß den deutschen Souveränen Fristen gesetzt würden zur Ertheilung von Verfassungen“ – so wurde Wangenheim auf Metternich’s Gebot zurechtgewiesen.

Trotz all solcher Unbilden arbeitete Wangenheim für alle Pläne gemeinsamer deutscher Gesetzgebung, welche damals noch am Bunde angeregt wurden, rastlos weiter. Und so kann Treitschke es als die segensreichste Frucht seines Wirkens preisen, daß „durch den entschlossenen Widerspruch der Partei Wangenheim’s einige Jahre es verhindert wurde, daß der Bundestag zu jenem willenlosen Diener des Wiener Hofs herabsank, dessen Fürst Metternich bedurfte“.

Auf irre Bahnen gerieth allerdings der rührige Kämpfer in den Verhandlungen über die Anfänge des preußischen Zollvereins, und ebenso über das Bundesheerwesen, und mit ebenso wenig Glück suchte er Wessenberg’s[1], des Constanzer Bisthumsverwesers, Plan einer deutschen Kirche unter einem Primas und einer Nationalsynode zu fördern. Welcher Schaden für Deutschland aus dem Mißlingen dieses großen Gedankens beider Männer erwuchs, das hat unsere Gegenwart am bittersten zu spüren.

Das Zusammenhalten der Opposition wurde Metternich immer bedenklicher. Da brachen (1820) die Insurrectionen in Spanien und Neapel aus – und die heilige Allianz eilte nach Troppau, um ihr frommes Manifest zu erlassen „wider die tyrannische Macht der Rebellion und des Lasters“! Und als nun Metternich mit dem Plan hervortrat, den „heiligen Bund“ zu einer ähnlichen permanenten österreichischen Polizeibehörde für Europa auszubilden, wie der Bundestag für Deutschland war, verkündete Wangenheim durch Wort und Schrift: „jetzt beginne der Kampf des constitutionellen Systems gegen den Absolutismus.“ Und als dazu noch in den folgenden Jahren die Insurrektionen in Piemont und der griechische, ganz Europa erregende Befreiungskrieg kam, so konnte wohl das Schreckgespenst einer Verbindung der deutschen Opposition der Mittelstaaten mit einer Opposition der europäischen Liberalen in den noch fortdelirirenden Diplomatenköpfen aufsteigen. Es erfolgten die großen Feuerlöschtage der heiligen Allianz zu Laibach und Verona, und als Metternich von letzteren heimgekehrt war, berief er seine Bundestagsgetreuen nach Wien und eröffnete ihnen – die Kriegserklärung des Wiener Hofes gegen Wangenheim’s Partei. „Epuration des Bundestags“ nannte man dies, und der von den „demokratischen Elementen der süddeutschen Regierungen“ gereinigte Bundestag sollte dann auf Anrufen der Einzelstaaten die deutschen Verfassungen so auslegen, „wie es das höchste der Staatsgesetze verschreibt“ – das heißt, die Verfassungsrechte der Deutschen sollten auf das Niveau der österreichischen Freiheit herabgedrückt werden.

Verrath und Abfall unterstützten Metternich’s Plan; Baiern und Baden beugten sich vor den Großmächten, und Wangenheim ward von seinem eigenen König verlassen. So frech waren die Sieger durch ihren Triumph geworden, daß sie ihm nicht einmal vergönnten, um seinen Abschied zu bitten, sondern sich noch seiner Beschimpfung erfreuten, einfach abberufen zu werden. Als Grund der Abberufung galt die furchtbare Behauptung, welche er in seinem Gutachten über die berüchtigte westphälische Domainenangelegenheit gegen die Ansprüche des Kurfürsten von Hessen aufgestellt hatte, „der Staat sei ewig, denn sein wesentlichster Bestandtheil, das Volk, dauere fort und habe das Recht, sich einem anderen Oberhaupte zu unterwerfen, wenn die rechtmäßige Dynastie am Regimente verhindert sei“. Für Diplomaten, in deren Augen der Thron Alles, das Volk Nichts galt, war mit diesem Satze das heilige Princip der Legitimität in seinen Grundvesten angetastet – und dafür war die Strafe des Verbrechers noch eine gelinde. Lepel und Harnier folgten ihm bald nach, und des nun gereinigten Bundestags erster Beschluß war, „daß wissenschaftlichen Lehren in der Gesetzgebung des Bundes fortan keine Autorität zustehe, ja nicht einmal eine Berufung darauf gestattet sei!“ – Mit diesem Beschlusse war die Absperrung des Bundestags von dem geistigen Leben der Nation vollendet, und er ging nun ohne Scham und Scheu die Bahn, die ihn zu dem Jahre 1848 und endlich, 1866, in den „schwarzen Bären“ nach Augsburg führte, wo er mit der von ihm fünfzig Jahre verfolgten schwarz-roth-goldenen Fahne in der Hand verendete.

Mit Wangenheim waren die letzten freisinnigen Elemente aus dem württembergischen Regierungskreise geschieden, und nun erst erkannte das Volk Württembergs, was es an ihm besessen und nun verloren hatte. Und des Volkes Dank vergaß ihn nicht. Im Jahre 1832 wählte ihn ein schwäbischer Kreis zum Landtagsabgeordneten; die Regierung erklärte sich jedoch gegen seine Wahl, angeblich weil ein Verfassungsparagraph bestimme, daß der Gewählte im Königreiche seinen Wohnsitz haben müsse. Vergeblich sprach damals der längst mit Wangenheim ausgesöhnte Ludwig Uhland: „Giebt es nicht auch ein geistiges Heimathsrecht, das nicht ganz von der Scholle abhängt? Ist es nicht auch ein Wohnen im Lande, wenn man im Angedenken seiner Bewohner lebt und durch ihr Vertrauen zur Repräsentation berufen wurde?“ In der Schrift, die er hierüber veröffentlichte, „Die Wahl des Freiherrn von Wangenheim“, finden wir auch die Schilderung seines Lebens. Zum letzten Male trat politisch der Fünfundsiebenzigjährige im Sturmjahre 1848 auf, aber nur augenblicklich und ohne Erfolg. Seine Zeit war vorüber.

Als Wangenheim den Frankfurter Bundestagsstaub von den Füßen geschüttelt hatte, zog er erst nach Dresden und ließ sich dann in Coburg für immer nieder. Er besaß auf dem Glockenberge ein stattliches Haus mit großen Garten- und Parkanlagen. In dieses Haus wurde ich von des Ministers Sohne und Liebling, Paul, als dessen Spielkamerad eingeführt, wann und wie, weiß ich nicht mehr. Nur eine dort erlebte Festlichkeit bildet einen Glanzpunkt meiner Knabenerinnerung. Zum vierundfünfzigsten Geburtstage „des Herrn Ministers“ (am vierzehnten März 1827)[2] wurde eine Kinderkomödie aufgeführt. Da bin auch ich zum ersten und letzten Male in meinem Leben Schauspieler gewesen. Als Aeltester der kleinen Schaar spielte ich den „Papa“ des Stückes. Meine Kinder waren zwei kleine hübsche Gräfinnen von Rotenhan, deren Bruder Max und ein kleiner Baron Ernst von Coburg. Seit jenem Abend habe ich diese meine damaligen Kinder nie wieder gesehen; ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Paul hatte die Rolle eines Hausknechts zu spielen und führte sie so vortrefflich durch, daß er den lauten Jubel seines Vaters erregte; das Talent saß aber tiefer, als damals Jemand ahnen konnte, und hat später dem alten Herrn nicht blos Tage, sondern Jahre voll Sorge und Trauer bereitet. Für mich hatte der Abend nur die eine Folge, daß Wangenheim mich bei jeder heitern Begegnung im späteren Leben standhaft fort „Papa“ titulirte.

Unvergeßlich ist es mir, wie Wangenheim, sich mit uns Kindern abzugeben verstand. Wie oft, wenn wir zusammensaßen im Hause oder im Garten, kam der hohe schlanke Mann im langen braunen Rock, die rundglasige Brille auf der scharf hervortretenden Nase des länglichen edlen Gesichts, setzte sich zu uns, examinirte uns, das that er sehr gern, oder erzählte uns Geschichten, und wie köstlich paßte er sie unserm Verständniß an! – Oder er ordnete selbst Spiele an oder trieb uns zu den Turngeräthen am fernsten Ende des Parks. Kein Wunder, daß wir mit ebenso großer Liebe als Ehrfurcht an ihm hingen. Beides wuchs nur, als wir später auch die bedeutende Vergangenheit des Mannes kennen und verstehen lernten.

Als Paul 1836 auf die Universität ging, siedelte Wangenheim mit der ganzen Familie nach Jena über und bezog das Griesbach’sche Haus, in welchem einst Schiller gewohnt hatte. Hier erneueten sich für ihn die Tage von Tübingen. In kürzester [227] Zeit war er und sein Haus der Mittelpunkt des regsten geistigen Verkehrs; seine persönliche Frische und Liebenswürdigkeit erfreute jeden Kreis, in den er trat.

Leider wurde das Ende der schönen Jahre schwer getrübt. Paul wurde in einem Hiebduell furchtbar im Gesicht verwundet. Sogar ein Nasenflügel war ihm abgehauen und wurde mit unsäglicher Mühe wieder angeheilt. Das bisher so hübsche feine Gesicht Paul’s war nach seiner Genesung kaum wieder zu erkennen. Die Familie zog 1839 nach Coburg zurück, und Paul ging mit.

Ich blieb auch das folgende Jahr noch in Jena, mit literarischen Arbeiten beschäftigt. Da, in einer Nacht, als ich noch spät am Schreibtische saß, pochte es an die Hausthür und kam endlich die Treppe zu mir herauf. Es war Paul – auf der Flucht! Und mit welcher Reiseausrüstung! Als er mir mit raschen Worten erzählt, daß er bei Nacht und Nebel davongegangen sei und in der Eile im finstern Zimmer nur eingesteckt habe, was ihm eben in die Hand gekommen, packte er die verschiedenen Taschen seines Rockes und Ueberziehers aus und zum Vorschein kamen zwei dicke Pakete sorglich umwickelter Briefe, drei kurze Meerschaumpfeifen, ein Gartenmesser und fünf Haarbürsten. Am andern Morgen reiste er wieder ab. Ich hatte nichts aus ihm herausfragen können, als daß er das Actenleben nicht aushalten könne, daß er zur Bühne wolle, daß aber seine ganze Familie dagegen sei. „Jetzt zieht es mich zunächst nach Leipzig; wenn es mir gut geht, schreibe ich Dir.“ Er schrieb nicht.

Im folgenden Jahre zog ich nach Hildburghausen. Von dort kam ich häufiger nach Coburg und sah in Neuseß bei Rückerts zum ersten Male den Minister wieder. Er grüßte mich wohl, aber fremd und kalt, wie Jemanden, der eine unangenehme Erinnerung erweckt. Das that mir weh. Ich erhaschte die erste Gelegenheit, um Rückert’s Gattin nach der Ursache dieses abstoßenden Benehmens zu fragen. „So wissen Sie’s nicht?“ sagte sie zu mir. „Er ist noch immer mit Paul zerfallen. Ihr Anblick hat ihn an den armen Jungen erinnert, der lieber ein schlechter Jurist als ein großer Schauspieler werden soll. Erwähnen sie den Namen Paul’s ja nicht!“

Wie ganz anders im Jahre 1847, dem schönen, blüthen- und hoffnungsreichen Jahre, von dem Niemand ahnte, daß es der Vorgänger eines so furchtbaren Sturmes sein sollte! Durch ganz Deutschland zog das Gefühl einer geistigen Auferstehung. Und da saß ich wieder in Neuseß, im „Garten an der Lauter“, und auch der Minister kam wieder mit seinem halben Dutzend kleiner Hündchen. Aber wie freudig strahlte sein Antlitz! Sein Paul hatte die richtige Bahn gefunden, statt Schauspieler war er Dramendichter geworden; sein Trauerspiel „Lord Strafford“ war in Stuttgart und München mit Glanz über die Bühne gegangen; sein Schauspiel „Die Abtrünnigen“ war im Druck erschienen und von der Kritik ausgezeichnet worden. Jetzt war Alles gut und jetzt war ich auch wieder der „Papa“. Ich habe jenen Nachmittag in der Gartenlaube (1863, S. 88.) schon geschildert und kann nun darüber schweigen.

Da schlug’s an der Schicksalsuhr 1848. Die wilde Zeit brachte auch Wangenheim und Rückert in mächtige Erregung. Leider gingen die früher gemüthlichen Debatten der beiden Männer mehr und mehr in heftigen Meinungsstreit über. Im Juni 1849 zeigte Karl Barth, der Kupferstecher und Dichter und Rückert’s Gevatter, mir einen Brief der Gattin Rückert’s an ihn, der mich tief betrübte. Sie schrieb u. A.: „Mein Mann ist ärgerlich über die Begebenheiten der Welt … und Wangenheim kommt gar nicht mehr heraus und Rückert nicht in die Stadt. Wangenheim soll recht hinfällig sein. Mir thut’s wehe, daß die Freunde gerade jetzt sich nicht mehr verstehen wollen, wo es so sichtbar ist, daß sie sich bald auf – so lange trennen müssen. Da würde ich ja, wenn ich bei ihm wäre, sogar für Oesterreich schwärmen, so zuwider mir’s ist. Aber die Männer! Die haben einen starren, harten Sinn in der Politik.“ …

Schon im nächsten Jahre, am 20. Juni 1850, starb er.

Ob die alten Freunde sich noch ausgesöhnt, weiß ich nicht. Ich gebe einer Strophe in Rückert’s Todtenliedern diese Deutung. Sie lautet:

„Mit Epheu ist mein Garten geschmückt,
Den haben auch sonst die Leute gepflückt
Aus der Stadt, und ich ließ sie pflücken
Und fragte nicht, zu welchem Behuf?
Nun aber hab’ ich zu fragen Beruf,
Auf welches Haupt sie drücken
Den dunkeln Kranz, den sie pflücken.“

Friedrich Hofmann.




Im deutschen und im fremden Wald.


Wie ist der deutsche Wald so schön,
Der Buchenhain an Bergeshöhn,
Der starken Eiche Stolz und Macht,
Der schlanken Birke Wipfelpracht,

5
Wie rauscht es in den Kronen stolz,

Wie flüstert’s hold im Unterholz,
     Wie rinnt so hell
     Der muntre Quell,
     Und hüpft aus Waldesdunkel

10
     Mit Murmeln und Gefunkel!


Wie traurig ist der fremde Wald,
Wie öde, still und ungestalt
Das starre Laub am fremden Holz,
Das ist zum Flüstern viel zu stolz,

15
Das hat nicht Worte, heimisch traut,

Das knarrt und klappt in fremdem Laut.
     Und schwarz und schwach
     Schleicht dort der Bach,
     Umstrüppt von Reis und Dorne

20
     Aus schlammgefülltem Borne.


Wie bist du deutscher Wald so schön,
Du heil’ger Wald im Frühlingswehn,
Wenn es in allen Wipfeln schallt
Von Liebeslust und Lenzgewalt,

25
Von Finkenruf und Amselschlag,

Von Stimmen all im Blätterdach!
     O Wiederhall
     Im Waldessaal,
     O grüne Wipfellieder

30
     Wie traut tönt ihr hernieder!

 

Dr. H. Behr (Ati Kambang) in San Francisco.




Pigmentfäule und blutende Hostien.


Auf dem Schlachtfelde von Sedan liegt ein kleines Dorf, Vrigne-aux-Bois, welches sich am 2. September 1870 mit Verwundeten überfüllte, und in welchem mancher Kriegsheld den Folgen des Blutverlustes erlegen sein mag. Doch nicht jenes teure Blut, sondern ein anderes, welches ebendort geflossen ist, soll uns heute beschäftigen, das sogenannte Wunderblut. Dort nämlich hat sich, soweit uns bekannt, zum letzten Male in unserer aufgeklärten Zeit, das Wunder ereignet, daß geweihete Hostien zum Beweise der wirklich vor sich gegangenen Transsubstantiation (Verwandlung des Brodes und Weines beim [228] Abendmahl in den Leib und das Blut Christi) Blut geschwitzt haben. Das Wunder geschah am 15. Mai 1859 – die Jahreszahl ist kein Druckfehler! – und wenn nicht gerade damals Kirche und Regierung im Streite lagen, hätte sich aus der Sache vielleicht mehr Capital schlagen lassen, und eine großartige Wallfahrt-Organisation, wie sie Jahrhunderte hindurch wegen eines entsprechenden Vorganges nach Heiligenblut in Oesterreich oder nach Wilsnack in der Altmark stattgefunden hat. Vielleicht hatte der Erzbischof von Reims Kenntniß von den mannigfachen wissenschaftlichen Untersuchungen, die bereits damals über das Hostienblut angestellt worden waren; er erklärte zwar das Wunder nicht für nichtig und verbot auch die Wallfahrt nicht, ordnete aber doch an, daß die Geistlichen die mit rothen Flecken (insgesammt von der Größe eines Sechspfennigstückes) gezierte Oblate nicht öffentlich ausstellen sollten, aber dieselbe im Geheimen anbeten könnten, soviel sie wollten. Ob man das Versäumte nicht noch nachholen wird, steht dahin; haben doch viel leichter erklärliche Vorgänge während der letzten Jahre großartige Wallfahrten in Frankreich hervorgerufen.

Wir haben nur diesen neueren Fall erwähnen wollen, zum Beweise, daß der Glaube an Blutwunder im Volke noch nicht ausgestorben ist; auf die unzähligen ähnlichen Vorkommnisse dieser Art in der Kirchen- und Profan-Geschichte näher einzugehen, ist nicht unsere Absicht. Seit sich im Jahre 332 v. Chr. bei der Belagerung von Tyrus durch Alexander den Großen der älteste aufgezeichnete Fall von blutendem Brod gezeigt, hat sich dieses Bedecken verschiedener Nahrungsmittel mit rothen, blutartigen Flecken unendlich oft, und besonders häufig in unserem Jahrhundert, wiederholt und selten verfehlt, ein mit Grausen gemischtes Aufsehen zu erregen, besonders wenn es sich in Zeiten herrschender Seuchen zeigte. Am größten war freilich aus naheliegenden Gründen jedesmal der Schrecken, wenn es sich auf Hostien zeigte, namentlich auf solchen, die zu abergläubischen Zwecken von der Abendmahlsfeier zurückbehalten worden waren, sei es, um dieselben auf dem Acker, im Stall oder unter Geschäftsräumen zu vergraben, zum Gedeihen der Saat, des Viehstandes oder Gewerbes, sei es zu anderen ebenso blödsinnigen Zwecken. Als Beispiel sei nur kurz an die unter einem Braukessel gefundene blutende Hostie von Zehdenick erinnert.

Am verhängnißvollsten wurde der an diese Wunderzeichen sich knüpfende Aberglaube für die Juden, diese Sündenböcke des Mittelalters, welche man gern für alles Ungemach, welches die Christenheit traf, verantwortlich machte. Herrschte die Pest verheerend im Lande, so hatten die Juden die Brunnen vergiftet; gab es Hungersnoth, so hatten sie alles Getreide an sich gekauft; war ein Kind verschwunden, so hatte sich die Judengemeinde seiner bemächtigt, um es beim künftigen Passahfest zu schlachten; fand man irgendwo blutige Hostien, so waren sie von Juden gebrannt, gestochen oder gepeinigt worden, bis Blut gekommen, nachher aber von selbst wieder in die Monstranz zurückgeflüchtet. Eine große Judenhetze, bei welcher vielleicht viele Tausende dieser Unschuldigen umkamen, war die unausbleibliche Folge jeder derartigen Beschuldigung. Um von den vielen Beispielen, die wir hierzu geben könnten, nur eines anzuführen, bei welchem man sich auf wenige Opfer beschränkte, sei folgende Stelle einer 1593 in Wittenberg gedruckten Chronik der Mark Brandenburg angeführt: „Am 10. Juli 1510 wurden zu Berlin achtunddreißig Juden verbrannt, und zween getaufte Juden mit dem Schwerte hingerichtet, darumb daß sie etliche consecrirte Hostien mit Messern und Pfriemen durchstochen, und wollen sehen, ob denn der Christengott Blut hätte, wie denn das Blut haufenweis soll daraus geflossen sein etc.“

Man verdankt solchen Anlässen außer zahlreichen Kirchenbauten zwei berühmte Gemälde, welche zugleich die beiden nachdenklichsten Seiten des Wunders zur Anschauung bringen. Das eine, Raphael’s Messe von Bolsena im Vatican, stellt einen jungen Geistlichen dar, der im Jahre 1264, im Begriffe, zweifelnden Herzens das Hochamt zu feiern, die Hostie bereits in der Monstranz theilweise in Blut verwandelt findet. Das andere ist das in den letzten Zeiten so viel genannte Bild Kaulbach’s, von welchem die Gartenlaube im vergangenen Jahre eine Abbildung gebracht hat, den Ketzerrichter Peter Arbuez darstellend, welches, wie in Nr. 11 jenes Jahrganges berichtet wurde, gerade solche wegen des Hostien-Wunders verurtheilte Unschuldige darstellt.

Wie man leicht denken kann, haben unparteiische Zuschauer in den Blutwundern vielfach einen frommen Betrug gewittert, um das mit Spott und Ernst bekämpfte Dogma Innocenz des Dritten (1198–1215) von der Verwandlung des Weizengebäcks in den wirklichen Leib Christi zu stärken; man hat darauf hingewiesen, daß es ja nur eines Nadelstichs in den Finger bedurft habe, um das zu dem Wunder erforderliche Blut zu liefern. Der evangelische Pastor Hellefeld zu Wilsnack, welcher am 28. Mai 1555 die drei blutigen Hostien jener berühmten Wallfahrtskirche verbrannte und deshalb vom Kurfürst Joachim dem Zweiten des Landes verwiesen wurde, handelte in dieser Ueberzeugung. Allein, wenn wir uns auch nicht der Ansicht des Abbé Jules Morel in seinem Buche über die blutende Hostie von Vrigne-aux-Bois, daß keinem Priester ein derartiger Kirchenfrevel zuzutrauen sei, anschließen können, so müssen wir doch hervorheben, daß sich dasselbe Wunder vor den Augen zahlreicher Naturforscher wiederholt hat, wenn nicht auf Hostien, so doch auf weizenem Gebäck und auf Nahrungsmitteln verschiedener Art. Man konnte sogar in der Beschreibung jener Hostien mit „frei daran schwebenden Tröpfchen“ den Beweis finden, daß es sich hier nicht um wirkliches Blut, welches sogleich eingesogen werden würde, sondern um jene blutrothe Kügelchen bildende Gallertmasse, von welcher wir nun sprechen wollen, gehandelt haben müsse. Untersuchungen der letzten Jahre, namentlich diejenigen von O. Erdmann in Berlin (1866) und die erst im vergangenen Jahre veröffentlichten von J. Schröter in Breslau (1868–70), haben gezeigt, daß wir es hier mit einem hochinteressanten, durch die kleinsten aller bekannten Lebensformen erzeugten Fäulnißproceß, dessen Producte unter Umständen die täuschendste Aehnlichkeit mit halbgeronnenem Blute zeigen, zu thun haben.

Der erste Fall, bei welchem das Wunderblut in die Hände eines Naturverständigen gelangte, war zugleich durch eine so außergewöhnliche Entwickelung des Phänomens ausgezeichnet, daß wir etwas ausführlicher dabei verweilen wollen. Am 2. August 1819 erschienen im Hause des Bauer Pittarello zu Laguaro bei Padua auf einer Schüssel Polenta (Maisbrei), die in einem Tischkasten aufgehoben worden war, blutrothe Flecken. Er warf dieselbe weg, aber seitdem kehrte auf allen gekochten Speisen, die in dem Hause aufbewahrt wurden, dieselbe Erscheinung wieder, anfänglich jedesmal in Gestalt winziger rother Tröpfchen, die sich dann zusehends vergrößerten und endlich zu einer reichlichen blutrothen Gallert zusammenflossen. Man holte den Ortspfarrer, um den Spuk mit geweihtem Wasser zu bannen, aber die Beschwörung des Geistlichen schien dem Dinge zum Segen zu gereichen, denn bald zeigten sich die unheimlichen Wunderzeichen in mehr als hundert Häusern der Ortschaft, ja sie traten auch in den Nachbarorten auf. Es entstand eine lebhafte, durch das Gebahren der Geistlichkeit genährte Erregung des Volks, die für den armen Pittarello vielleicht einen schlimmen Ausgang genommen hätte, wenn sich die Regierung nicht sogleich in’s Mittel gelegt, denn schon bezeichnete man denselben als einen vom Himmel Gebrandmarkten, der im Theuerungsjahre 1817 sein Getreide zurückgehalten habe etc. Die Regierung beauftragte eine wissenschaftliche Commission mit der Untersuchung des Thatbestandes, welche sich bald überzeugte, daß es sich hier um eine, wie man glaubte, pilzartige Erscheinung handle, die sich durch directe Uebertragung des Blutstoffes oder durch bloße Annäherung auf allen möglichen gekochten Fleisch-, Eier- und Mehlspeisen hervorrufen ließ. Der Medico-Chirurg Sette, welcher die kleine Bosheit nicht lassen konnte, auch die Speisekammer des beschwörungslustigen Pfarrers mit der Strafe des Himmels zu inficiren, glaubte einen rothen Pilz, den er entsprechend taufte, als den Urheber des Schreckens bezeichnen zu können, allein es ist wahrscheinlich, daß er in seinem Mikroskope nur die von der Flüssigkeit gefärbten Fäden eines gewöhnlichen Schimmelpilzes vor sich gehabt hat. Schon damals erkannte man das starke Färbevermögen des Wunderblutes, und der Chemiker der Commission fand, daß man Seide mit demselben prächtig und dauerhaft roth färben könnte. Weniger erfolgreich war die Untersuchung eines mit ähnlicher Lebhaftigkeit erfolgenden Auftretens des Blutwunders in der Gerhardsmühle zu Enkirch an der Mosel (August 1822), welche ebenfalls regierungsseitig verfügt worden war, da die Bewohner des behexten Hauses vor Schrecken die Flucht ergriffen hatten. Es mag hier beiläufig daran erinnert [229] werden, daß eine derartige, bei manchen Speisen leichter eintretende, scheinbare Verwandlung in Blut vielleicht die Veranlassung des bei den Pythagoräern und anderen philosophischen oder religiösen Secten des Alterthums bestehenden seltsamen Verbots, keine Bohnen zu essen, weil sie lebendig seien, gegeben hat. Wenigstens führt Lucian, der im zweiten Jahrhundert lebte, als Ursache des Verbotes die Beobachtung an, daß sich Bohnenbrei, eine gewisse Anzahl von Nächten hindurch dem Mondschein ausgesetzt, in Blut verwandle.

Erst im Jahre 1848, als sich dieselbe Erscheinung während der Cholerazeit in Berlin zeigte und Proben davon in die Hände Ehrenberg’s gelangten, wurde ein bedeutender Schritt zur Aufklärung der Sache vorwärts gethan. Der größte Kenner des kleinsten Lebens entdeckte bei achthundert- bis tausendfacher Vergrößerung kleine, rundliche, sich durch Selbsttheilung vermehrende Wesen von ein Dreitausendstel bis ein Achttausendstel Linie Durchmesser in der mit Wasser verdünnten Blutflüssigkeit, die er für Thiere ansah und unter dem Namen Wunderzeichen-Monade (Monas prodigiosa) in die Wissenschaft einführte. Noch ergiebiger war eine Untersuchung, welche Dr. O. Erdmann in Berlin im Vereine mit dem Lehrer Müller im August 1866 begann, als ihnen ein roth gewordener Kalbsbraten gleichsam den Samen lieferte, um das Blutwunder im größten Umfange weiter zu züchten. Sie konnten dasselbe leicht durch Impfung auf feuchtes Gebäck, Kartoffelschnitte, Hühnereiweiß, Fleisch etc. übertragen, wobei sich nach zwanzig bis vierundzwanzig Stunden die Röthung von der Impfstelle im Kreise weiter verbreitete, einen Gipfelpunkt üppigster Entwickelung nach einigen Tagen erreichte und dann unter starker Schimmelbildung und rapider Fäulniß, wobei sich ein ananasartiger Geruch verbreitete, verschwand. Sie rechneten die kleinen Wesen, welche die Erscheinung stets begleiteten, zu den Vibrionen und sahen die Entwickelung derselben in entsprechender Weise als die Urheber des die rothe Färbung erzeugenden Zersetzungsprocesses an, wie der Hefenpilz die Gährung zuckerhaltiger Flüssigkeiten veranlaßt und dabei gewisse chemische Producte, wie Alkohol, Essigsäure etc. abscheidet. Besonders wichtig war ihre unter dem Mikroskope gemachte Beobachtung, daß das Pigment nur einzelne Theile in der Masse einer Semmel färbte, andere dagegen ungefärbt ließ, und bei genauerem Zusehen ergab sich, daß erstere die stickstoffreichen Kleberstoffe, letztere die stickstofffreien Theile, z. B. die Stärkekörner waren. Dieser Umstand, zusammengehalten mit der schon früher bekannten Eigenschaft des durch Alkohol leicht ausziehbaren Farbstoffes, auf stickstoffreicher Faser, wie Wolle, Seide, menschlicher Haut etc., ebenso leicht zu haften, wie die bekannten Anilinfarben, führte auf die Vermuthung, daß das Wunderblut gar den letzteren verwandt sein möge. In der That ergab die chemische Untersuchung, daß der rothe Farbstoff in seinem ganzen Verhalten der prachtvoll rothen Farbe, welche man unter dem Namen Fuchsin aus dem Steinkohlentheer gewinnt, außerordentlich ähnlich ist und jedenfalls zu der Gruppe der Anilinfarben gehört, eine Ansicht, die durch die spectroskopische Analyse in neuerer Zeit noch zu größerer Sicherheit erhoben worden ist.

Bestätigung und weitere Ausbildung haben diese Ansichten in den Versuchen gefunden, welche im Laufe der letzten Jahre in dem unter der Leitung des Professors F. Cohn stehenden physiologischen Laboratorium der Universität Breslau angestellt wurden. Es ergab sich hier bis zur Evidenz, daß das Blutwunder nur eine besondere Art der Fäulniß ist, jener Processe also, welche in entsprechender Weise die Zersetzung stickstoffhaltiger organischer Substanzen vollbringen, wie die Gährung die Zersetzung stickstofffreier Körper vollendet. Ja, es wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Male klar gestellt, was Fäulniß eigentlich sei. Wir fürchten nicht, den Leser zu langweilen, wenn wir in aller Kürze die Hauptergebnisse dieser Untersuchungen hier mittheilen.

Professor Cohn wies zunächst nach, daß sämmtliche Fäulnißprocesse der Natur angeregt werden und abhängig sind von der Gegenwart und Entwickelung der kleinsten bis jetzt beobachteten lebenden Wesen, der Bacterien. Die verschiedenen Arten derselben erlauben bei ihrer ausnehmenden Kleinheit nichts weiter, als die äußere Gestalt zu erkennen, und diese ist entweder rundlich und eiförmig (Kugel-Bacterien) oder stäbchen- und fadenförmig, in diesem Falle bisweilen pfropfenzieherförmig gedreht (Stäbchen-Bacterien). Sie erscheinen in der fauligen Flüssigkeit entweder lebhaft, mückenschwarmartig bewegt, oder ruhend. Man sieht sie wachsen und sich, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben, in der Mitte wie eine 8 einschnüren und in zwei Individuen theilen, ein Vorgang, der sich bei lebhafter Fäulniß beständig wiederholt. Fäulniß ist also nichts Anderes als ein energischer Lebensproceß von Milliarden lebender Wesen, die den stickstoffhaltigen Körper gleichsam zernagen und zu ihrer Nahrung verwenden, deren Ausscheidungen und Mahlzeitsreste aber in den gewöhnlichen Fällen die bekannten stinkenden Gase sind. Ebenso wie das Eintreten der Gährung von der Gegenwart der Hefepilzzellen abhängig ist, kann mithin die Fäulniß erst beginnen, wenn sich Bacterienkeime in der Masse einfinden, und alle Mittel, die letzteren abzuhalten, also Abschließung der Luft nach vorausgegangenem Kochen[3], wie die Gegenwart solcher Stoffe, welche die kleinen Wesen tödten (Weingeist, Rauch, Carbolsäure), werden die Fäulniß für immer unmöglich machen, ebenso das Vorhandensein der Bedingungen, welche die Bacterien zurückhalten, niedere Temperatur oder Mangel an Wasser. Die Keime der Bacterien sind an sich beinahe in allem Wasser und verbreiten sich, wenn auch weniger leicht, wie die Hefezellen durch die Luft. Dagegen sind die Schimmelpilze, welche sich gern auf allen faulenden Stoffen einfinden, nur Schmarotzer, die dem eigentlichen Wesen der Erscheinung fremd, ja mitunter hinderlich sind. Trotz der lebhaften und scheinbar willkürlichen Bewegung der meisten dieser von früheren Forschern als Monaden oder Vibrionen bezeichneten kleinen Wesen rechnet Professor Cohn dieselben zu den Pflanzen, obwohl in diesen niedrigsten Regionen eigentlich kaum ein rechter Unterschied zwischen Thier und Pflanze gemacht werden kann. Sind die Lebensbedingungen günstig, d. h. reichlich stickstoffhaltige Materie, Feuchtigkeit und der geeignetste Wärmegrad vorhanden, so kann die außerordentliche Vermehrungsfähigkeit dieser Wesen ungeheure Resultate hervorbringen. Cohn hat berechnet, daß bei Entfernung aller hindernden Umstände, wie sie glücklicher Weise in der Natur niemals stattfindet, eine einzige Bacterie, deren Gewicht er auf 0,0000000015 Milligramm berechnet, im Verlauf von achtundvierzig Stunden fast ein Pfund, von drei Tagen aber sieben und eine halbe Million Kilogramm Nachkommen haben könnte. Daß solche Berechnungen nicht außer dem Bereiche einer Verwirklichung liegen, beweisen unsere Preßhefefabriken, in denen täglich gegen hundert Centner Preßhefe erzeugt werden, die möglicher Weise aus einer einzigen, dem bloßen Auge unsichtbaren Zelle hervorgegangen sein könnten.

Genau wie bei der gewöhnlichen Fäulniß Ammoniak und andere stark riechende Gase oder Flüssigkeiten die Erzeugnisse der Lebensthätigkeit gewöhnlicher Fäulniß-Bacterien sind, so giebt es nun eine gewisse Sippschaft dieser kleinen Wesen, welche statt derselben prächtig gefärbte stickstoffhaltige Verbindungen, deren Zusammensetzung übrigens an das Ammoniak erinnert, aus der Nahrungsmasse abscheiden. Aehnlich wie in den Gährungsprocessen eine bestimmte Art des Hefepilzes Weingeist, eine andere Essig, eine dritte Buttersäure, eine vierte und fünfte Gallussäure, Bernsteinsäure und andere chemische Verbindungen durch ihre Lebensthätigkeit fabriciren, so fanden Cohn und Schröter, daß, während die gewöhnliche Fäulniß in der Regel von den lebhaft bewegten Stäbchen- oder Cylinder-Bacterien unterhalten wird, die Pigmentfäule nur eintritt, wenn gewisse Kugelbacterien, die ohne Bewegung sind und daher nach ihrer Selbsttheilung in rosenkranzförmigen Schnüren vereinigt bleiben, zugegen sind. Sie haben zum Unterschiede von den eigentlichen Bacterien die letzteren Bacteridien genannt und den kleinen Erzeuger des rothen Wunders Micrococcus prodigiosus getauft. Sie fanden ferner, daß das kleine Ding so civilisirt ist, gekochte Nahrungsmittel den rohen vorzuziehen, daß es, selbst farblos, seine chemische Farbenfabrication im Dunklen wie im Lichte mit gleichem Erfolge betreibt, daß seine größten Feinde Schimmelpilze und Stäbchen-Bacterien sind, welche gewöhnlich, wenn die Production nach vier bis fünf Tagen in größter Blüthe steht, durch Erzeugung alkalischer Fäulnißproducte das Geschäft stören und das schöne Purpur in schmutziges Gelb verwandeln. Wir können beinahe bei allen das Wunderblut betreffenden Ueberlieferungen nachweisen, daß die Bedingungen zur Entwickelung dieser kleinen Wesen, bestehend in längerer Aufbewahrung gekochter [230] oder gebackener stickstoffhaltiger Nahrungsmittel an feuchten Orten in wärmerer Jahreszeit, wirklich vorhanden waren. Ein besonders günstiger Ort scheinen die dumpfigen Sacristeien zu sein, in denen die Oblaten freilich auch jahrelang der betreffenden Keime harren. Bei dem Wunderblut von Zehdenick wurde die Oblate im feuchten Keller, zu Wilsnack im beregneten Brandschutt der Kirche gefunden. Sonst zeigte sich das Wunderblut in Zeiten der Belagerung, Hungersnoth und Seuche, wo man eben weniger Nahrungsmittel genießt und daher unter Umständen länger aufhebt.

Schröter und frühere Forscher studirten neben dem blutrothen auch orangerothe, gelbe, grüne, blaue, violette und braune Farbestoffe, die ebenfalls und unter ähnlichen Bedingungen von Bacteridien erzeugt wurden. Wir begnügen uns hier an die behexten Milchkeller zu erinnern, in denen sämmtliche Milch mit prachtvoll himmelblauen Flecken bespritzt erscheint. Schon ältere Untersuchungen hatten auch hier die Gegenwart mikroskopischer kleiner Wesen nachgewiesen, ebenso wie die Identität des nur die stickstoffhaltigen Theile der Milch (den Käsestoff) färbenden Pigments mit Anilinblau, oder wie die Chemiker sagen: Triphenylrosanilin. Ja, es gelang den Breslauer Beobachtern sogar, die Farbenfäule in bloßen stickstoffhaltigen Salzlösungen hervorzurufen, wodurch die Fähigkeiten der kleinen Chemiker in ein noch glänzenderes Licht gesetzt werden. Die farblose Auflösung von essig- oder weinsaurem Ammoniak, mit einem Tropfen Bacteridien-Wasser versetzt, färbte sich nach und nach grünlich, grünblau und zuletzt intensiv himmelblau. Ein wenig Säure verwandelte diese Farbe sofort in roth; Alkali stellte die ursprüngliche Färbung wieder her, gerade wie bei dem bekannten, eben dieser Eigenschaft wegen zur Prüfung auf das saure oder alkalische Verhalten anderer Dinge benutzten Lackmus, den man bekanntlich durch Fäulniß von Meeresküstenflechten unter Zusatz ammoniakalischer Flüssigkeiten erzeugt. Vielleicht sind so die Bacteridien als Fabrikanten eines vielgebrauchten Farbestoffes an den Küsten des mittelländischen und atlantischen Meeres seit Jahrhunderten gezüchtet worden, und vielleicht fällt noch einmal ein speculativer Kopf darauf, auch das Blutwunder, welches so viel Schrecken in der Welt erzeugt hat, industriell auszubeuten, das kleine Wunderwesen sorgsam zu züchten. Wir würden uns dann ausbitten müssen, daß er ebenso wie die anderen Anilinfarben-Fabriken etwas abseits von unseren Wohnungen bliebe, da es jedenfalls nicht angenehm wäre, seine aufgesparten Leckerbissen mit solchen rothen Tröpfchen verziert zu finden, wenn man auch weiß, daß es sich dabei um nichts weniger als wirkliches Blut handelt. So hat die Wissenschaft wieder einmal ein altes Wunder, wenn auch nicht seines Interesses, so doch seiner Unheimlichkeit entkleidet.

Carus Sterne.




Aus den Zeiten der schweren Noth.
Die Kyritzer Opfer.


Wir saßen, es war nach Beendigung des letzten Feldzugs, Abends um eine Bowle versammelt. Die meisten von uns waren als Landwehrleute erst vor kurzer Zeit aus Frankreich zurückgekehrt, und so drehte sich das Gespräch um die Erlebnisse des Krieges. Ein älterer Forstmann theilte uns seine Abenteuer bei Gelegenheit eines Ueberfalls durch Franctireurs mit, und wie er, dem combinirten Jägerbataillon zugetheilt, bei der Besetzung von Rheims wiederholt zur Vollstreckung von Executionen befehligt gewesen.

„Es ist ein eigenthümliches Gefühl,“ sagte er, „die Büchse auf den wehrlosen Feind zu richten, obschon diese Kerle den Tod wohl verdient haben mochten. Der letzte der Erschossenen, ein Fleischer, der einen harmlos bei ihm eintretenden deutschen Soldaten in Folge kurzen Wortwechsels mit dem Schlächtermesser erstochen, starb mit einem Mannesmuthe, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Als wir schon im Anschlage lagen, riß er sich die Binde von den Augen und sprudelte uns eine Menge der verächtlichsten Schimpfworte in französischer Sprache entgegen, die erst in dem Krachen unserer Büchsen verstummten.“

Unter uns saß ein alter Veteran, der die Kämpfe unter dem ersten Napoleon mitgekämpft, und jetzt stillschweigend unseren Erzählungen gelauscht hatte.

„Ja,“ unterbrach er den letzten Sprecher, „wohl ist es eine schlimme Sache um derartige Executionen, und um so schlimmer, wenn unschuldiges Blut fließen muß, wenn ein Beispiel statuirt werden soll, wie es unter dem ersten Napoleon so vielfach geschehen ist. Von einem solchen will ich sogleich erzählen.“

Wir füllten ihm sein Glas, und als er getrunken, begann er:

„In jener traurigen Periode nach den Tagen von Jena und Auerstedt, als die französischen Heere auch den Norden Preußens überflutheten – während der tapfere Schill in Colberg dem zehnfach überlegenen Feinde bewies, was ein entschlossenes, von energischen Officieren geführtes Häuflein vermag – erschien an einem Vormittage zu Ende März in dem Hause des Kaufmanns Kersten in der kleinen märkischen Stadt Kyritz ein französischer Commissionär, welchem der junge Kaufmann durch eine Strohlieferung, die er früher für ein in Berlin errichtetes Verpflegungscomptoir der Armee geleistet, bekannt geworden war. Der erstere stellte an Diesen das Ersuchen, in seinem Hause eine Summe Geldes deponiren zu dürfen, welche zum Ankauf von allerhand Armeebedürfnissen dienen sollte. Kersten ging nur ungern auf dieses Verlangen ein und machte den Ueberbringer des Geldes auf die Unsicherheit und Gefahr aufmerksam, die bei derzeitigen Verhältnissen ihm und seinem Gelde drohe. Denn war auch das Städtchen bisher von den Drangsalen des Kampfes selbst verschont geblieben, so waren doch Parteigänger aller Art um so häufigere Gäste, und wie leicht konnte eine Abtheilung der die Gegend durchstreifenden Schill’schen Soldaten Wind davon bekommen. Der Commissionär schien wenig um sein Geld bekümmert, denn es war ja nicht sein Eigenthum, sondern das des französischen Comptoirs in Berlin, und da er die Stadt durch französische Gensdarmen hinlänglich geschützt glaubte, entfernte er sich, nachdem er die Beutel in Fässern und Kisten, so gut es gehen wollte, verborgen hatte. Frau Kersten machte nach Entfernung desselben ihrem Manne Vorwürfe über seine Gutwilligkeit; sie hatte ein Gefühl, als schwebe irgend ein unbekanntes Unglück über ihrem Hause, so lange das fremde Geld unter ihrem Dache sich befinde. Sie beruhigte sich erst, als ihr Gatte ihr das Versprechen gegeben, sobald als möglich für die Entfernung der Geldbeutel besorgt zu sein.

In den Mittagsstunden des darauffolgenden Tages brachten Bürger der Stadt, welche von Wusterhausen kamen, die Nachricht, daß ein Streifcorps von dorther in Anmarsch sei, und ehe noch die wenigen französischen Gensdarmen zu irgend einem Entschlusse kamen, sahen sie sich schon von den hereinbrechenden Parteigängern überrumpelt und entwaffnet. Eigenthümlich genug war der Anblick dieser Soldaten, die sich für Schill’sche ausgaben. Nur ihr Führer trug die Schill’sche Husarenuniform mit den Abzeichen eines Wachtmeisters; der Trupp selbst zeigte Montur und Waffen der verschiedensten Art in buntem Durcheinander. Nachdem die Leute verpflegt und eine Partie vorhandener Montirungsstücke requirirt war, zogen sie vor das Kersten’sche Haus. Das Vorhandensein französischer Gelder war ihnen schnell verrathen worden. Als die freiwillige Auslieferung derselben verweigert worden, ging es an die Durchsuchung aller Räume des Hauses, und alsbald wurden die Beutel gefunden und jubelnd aus demselben fortgeschleppt, während der Besitzer selbst abwesend war.

Nachdem die Schaar abgezogen, beeilte sich der Magistrat des Ortes, um jeden Verdacht eines schuldigen Einverständnisses mit derselben im Voraus zu beseitigen, einen Bericht an die französische Commandantur in Berlin abgehen zu lassen, während dem damaligen Gouverneur der Provinz, Clarke, schon durch einen der entkommenen Gendarmen über Wegnahme jener Gelder durch preußische Parteigänger Bericht erstattet worden war. Der an sich unbedeutende Vorfall sollte in Folge eines geheimen Befehls des Kaisers (die preußischen Provinzen durch

[231] 

Auch nicht im Schooße des Propheten.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[232] äußerste Strenge in Furcht zu erhalten) genau untersucht, die Schuldigen ermittelt und bestraft werden.

Als nächste Folge des geschilderten Vorgangs zeigte sich das Eintreffen einer Executivmannschaft; am gleichen Tage fuhren die Mitglieder eines zu bildenden Kriegsgerichts in Kyritz ein und nahmen vom Rathhause Besitz. Die schuldig gehaltenen Bürger wurden verhaftet, zunächst der fünfundzwanzigjährige Kaufmann Kersten, ferner der Kämmerer Schulz, der Director Schrader und Bürgermeister Krüger. Die beiden Zuletztgenannten wurden während der Verhandlung wieder entlassen.

Während alle Thore der Stadt gesperrt wurden, fanden die der Verpflegung wegen auf dem Rathhause sich einfindenden Angehörigen der Verhafteten dieselben einzeln eingeschlossen und jeden von einem Posten mit scharf geladenem Gewehre bewacht. Sie waren davon überrascht, aber weit entfernt, eine Gefahr zu vermuthen, da ja Alle sich nicht des geringsten Unrechts bewußt waren. Man hatte ihnen bei erfolgter Verhaftung nur angedeutet, daß der von den preußischen Parteigängern verübte Raub Ursache derselben sei. Es gereichte Allen um so mehr zur Beruhigung, als sie vernahmen, daß die Stadt zur Entschädigung des französischen Lieferanten mehrere tausend Thaler zu zahlen habe; sie glaubten daher, daß man ihnen ebenfalls nur empfindliche Geldstrafen auferlegen werde. Aber es sollte dies bittere Täuschung sein! Am zweiten Tage ihrer Haft fanden die ersten Verhöre statt; es wurde eine Ordre des General Clarke verlesen, ausgestellt am 4. April 1807 und dahin lautend, ‚daß die schuldigen Magistratspersonen, sofern sie nämlich die Beraubung des französischen Commissionärs nicht pflichtmäßig erhindert, und der Kaufmann Kersten, wenn er den Raub begünstigt habe, mit dem Tode bestraft werden sollten‘.

Dieser General beobachtete also ein gleiches Verfahren, wie später sein Kaiser; wer gedenkt nicht der im gleichen Sinne gehaltenen Noten und Befehle, welche dieser vor Hinrichtung des Herzogs von Enghien und des Buchhändlers Palm erließ? Auch hier war das Urtheil gesprochen, bevor noch eine Untersuchung stattgefunden.

Doch auch nach diesem Verhöre fanden die Angehörigen der Verhafteten diese bei ihren Besuchen guten Muthes; in ihrem Unschuldsbewußtsein war die Zuversicht auf einen günstigen Ausgang nicht erschüttert. Dennoch durchliefen schon an diesem Tage böse Gerüchte die Stadt, und Soldaten des eingerückten deutschen Regiments hatten sich bedauernd über das den Angeklagten bevorstehende Schicksal gegen ihre Quartiergeber geäußert. Zwei angesehene Bürger der Stadt begaben sich zu dem Vorsitzenden der Commission, dem General Le Preux, um für ihre gefangenen Mitbürger um Gnade zu bitten. Dieser wies sie mit kalten Worten zurück, bemerkend, daß jeder sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und für seine Handlungen einzustehen habe; über die Schuld oder Unschuld Jener habe das Kriegsgericht zu entscheiden. Während die Gefangenen, jetzt in einer Zelle vereinigt, mit anwesenden Freunden plauderten, war das Urtheil über sie gesprochen; sie ahnten nicht, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne durch die Fenster das kleinen Gemaches blitzten, daß die ersten der aufgehenden am kommenden Morgen schon auf ihr Grab fallen würden. Das blutige Drama eilte rasch seinem Ende entgegen! Das Urtheil, ‚auf Befehl und im Namen des Kaisers und Königs Napoleon‘ abgefaßt durch die laut der kaiserlichen Decrete errichtete Special-Militär-Commission, beschuldigte Kersten und Schulz ‚des Einverständnisses mit den eingedrungenen Räubern, und insbesondere Schulz daß er in seiner Stellung als Vicebürgermeister nicht diejenigen Maßregeln ergriffen habe, welche dieselbe ihm in solchen Fällen zur Pflicht gemacht.‘

Demgemäß wurden Beide zum Tode durch Erschießen verurtheilt. Die Gefangenen hatten von besuchenden Freunden erfahren, daß für den kommenden Morgen Wagen und Pferde, vermuthlich zu ihrer Abführung nach Perleberg, bestellt seien; sie waren daher auch nicht überrascht, als man ihnen kurz nach Mitternacht einige Erfrischungen in ihre Zelle sandte. Unter heiteren Gesprächen genossen sie davon. Die junge Ehefrau des Kersten war am späten Abend erst vom Rathhause nach ihrer Wohnung gegangen, und obwohl sie ihren Gatten heiteren Sinnes verlassen hatte, hielt doch eine innere Unruhe und Sorge Schlaf und Müdigkeit fern. Erst lange nach Mitternacht warf sie sich angekleidet auf ihr einsames Lager. Jeden Augenblick wurde sie emporgeschreckt von dem Geräusch eines leisen Trittes. Immer wieder eilte sie an das Fenster in der Hoffnung, daß es der Erwartete sei oder Botschaft von ihm. Aus unruhigem Schlummer weckte sie gegen Morgen ein dumpfer Schall – es war die Gewehrsalve, unter welcher ihr Gatte verblutete. Kehren wir zu diesem zurück.

Als die Thurmuhr die vierte Morgenstunde verkündete, erschien vor dem Rathhause eine Abtheilung Infanterie, welcher Dragoner folgten. In den Straßen der Stadt vertheilten sich Patrouillen, welche Jeden zurücktrieben, der sein Haus zu verlassen sich anschickte, den Stillstehenden und in Gruppen Vereinigten aber auseinander zu gehen befahlen. Die Gefangenen hörten in ihrem Zimmer den tactmäßigen Schritt der Soldaten, das Geräusch der Waffen. Gleichzeitig erschien ein Sergeant, um sie herauszuführen. Fesseln hatte man ihnen auf ihre Bitte nicht angelegt. Als ihnen draußen die kühle Morgenluft entgegenwehte, faßten sie neuen Muth und unwillkürlich belebte sie Hoffnung auf baldige Befreiung; zugleich fiel ihr Blick auf die vor der Thür aufgestellte Militär-Commission. Einer der französischen Officiere las das gefällte Urtheil in französischer Sprache vor. Beide verstanden dieselbe nicht, und bestiegen, noch immer in Ungewißheit über ihr Schicksal, den inzwischen vorgefahrenen, mit vier Pferden bespannten Wagen. Vier Mann Infanterie wurden beordert, sich zu ihnen auf den Wagen zu setzen, Dragoner folgten; zu beiden Seiten und vorn marschieren die übrigen Infanteristen.

Als der Wagen den Mark passirte, erschien die Mutter des Kämmerer Schulz, um ihrem Sohne einen Mantel für die nächtliche Fahrt zu bringen. Als sie sich an den Wagen drängte, um den Mantel hinaufzureichen, verhinderte dies einer der escortirenden Dragoner mit den Worten:

‚Das ist überflüssig; sie werden ohnedies bald nicht mehr frieren.‘

Die alte Frau trat erschrocken zur Seite, und während der Wagen weiter fuhr, eilte sie bestürzt zu dem in der Nähe wohnenden Director Schrader, der ihr mit thränenerstickter Stimme zurief:

‚Ach ja, es ist wahr; sie sollen erschossen werden! Eilen Sie nach und bitten Sie für sie!‘

Obwohl ihr von Schrecken und Schmerz die Füße wie gelähmt waren, eilte Frau Schulz dem Thore zu, die nach Perleberg führende Straße einschlagend. Das Herz der armen Mutter erbebte; die Lippen bewegten sich in wortlosen Gebeten; die Kniee drohten unter ihr zusammenzubrechen; doch vorwärts um Gotteswillen, vielleicht daß die Bitte der Mutter für den Sohn die Herzen Derer erweichte, die den Schuldlosen morden wollten. Nur vorwärts! Doch halt, was war das? Zur Rechten, in ihrem Rücken, da blitzten Bajonnete in den Strahlen der aufgehenden Sonne, und jetzt eine Rauchwolke und das Knallen von Schüssen! Es war zu spät! – Der Zug hatte sich mittlerweile zum Hamburger Thore hinausbewegt und einen Büchsenschuß von diesem entfernt rechts einen Nebenweg zwischen Scheunen hindurch eingeschlagen, wo er nach kurzer Zeit hielt. Dort stand ein Peloton Infanterie, Gewehr bei Fuß. Es waren – traurig genug – Soldaten eines deutschen (!) Regiments, welche hier die Schergen machten.

Wohl mochte ein tödtlicher Schrecken die armen Verurtheilten erfassen, als von dem commandirenden Officier das Urtheil in deutscher Sprache verlesen wurde; aber sie blieben äußerlich ruhig und sahen mit echtem Mannesmuthe ihrem Schicksal entgegen. Der Führer des Wagens, ein junger Mann aus der Stadt, warf sich dem Commandanten zu Füßen und bat um Gnade für die Unschuldigen. Es war vergebens. Kersten überreichte dem jungen Manne seinen Trauring für seine Gemahlin, dann trat er zu seinem bereitstehenden Gefährten dem Peloton gegenüber. Man verband ihnen die Augen und hieß sie niederknien. Als im Osten die aufgehende Sonne den Himmel röthete, erdröhnte die Salve. Kersten, von den Kugeln in den Kopf getroffen, blieb auf der Stelle todt (man fand später auf dem Richtplatze noch einzelne Theile der zerschmetterten Hirnschale), während sein Gefährte, mit den Armen schlagend, sich stöhnend über ihm wälzte. Auf ein Zeichen des Officiers sprang ein Soldat herzu und schoß ihn durch das Herz. Beide wurden an [233] Ort und Stelle, Rücken an Rücken, in die bereits gegrabene Grube gebettet. So weit ging französische Willkür und Vergewaltigung, daß den Hinterbliebenen sogar das Tragen von Trauerkeidung untersagt wurde; wie denn die französische Justiz ängstlich bemüht war, die That der der Welt zu verbergen. Erst später wurde den Opfern dieser traurigen Periode ein schönes Denkmal errichtet; neben demselben steht heute ein zweites Denkmal zur Erinnerung der im letzten Kriege Gefallenen. Die Sage geht, daß der Vorsitzende des Kriegsgerichts, Le Preux, kurze Zeit darauf erkrankte und, von den Furien des Gewissens gequält, im Wahnsinn verschied. ‚Alle Schuld rächt sich auf Erden!‘“ –




Blätter und Blüthen.

Asyl für stellenlose Erzieherinnen. In Karlsruhe soll unter Mitwirkung des Frauenvereins, der unter dem Protectorate der Großherzogin Louise von Baden steht, durch Fräulein Fanny Trier ein Asyl für stellenlose Lehrerinnen und Erzieherinnen gegründet werden. Wer da weiß, was es heißt, ohne Zufluchtsort zu sein und dabei die Sorge für die Zukunft im Herzen zu haben, der wird den Segen einer solchen Anstalt leicht erkennen. Vielleicht braucht dieser Plan nur bekannt zu werden, um den Wohlthätigkeitssinn Vieler anzuregen, vor Allem aber alle Erzieherinnen zu veranlassen, das Ihrige dazu beizutragen, daß Fräulein Trier’s Ideen verwirklicht werden. Dieses Asyl würde die erste derartige Anstalt in Deutschland sein. Engländer und Russen sind uns darin längst zuvorgekommen.

Fräulein Trier, in deren Hause in Paris ich vor zehn Jahren, als ich selbst noch Lehrerin war, mehrere Monate zugebracht habe, hat dort schon lange Jahre für dieselbe Sache gearbeitet, der sie jetzt alle ihre Kräfte widmen will. Sie nahm damals gegen geringes Kostgeld, oft sogar ganz ohne dasselbe (ihre eigenen Mittel waren durchaus nicht bedeutend), so viele junge Mädchen in ihrem Hause auf, als sie irgend konnte. Und wahrlich, es war eine Wohlthat, bei ihr aufgenommen zu werden; denn wir Alle fanden an ihr eine mütterliche verständige Freundin. Sie sorgte dafür, daß die Zeit des Wartens auf eine neue Stelle, eine sonst so schwere Zeit, durch nützliche zweckmäßige Thätigkeit ausgefüllt wurde und die Muthlosigkeit nicht aufkommen konnte.

Der Krieg hat Fräulein Trier in ihr Vaterland zurückgeführt; das soll nun die Früchte ihrer vielen Erfahrungen ernten. – Seit dem 1. Januar dieses Jahres besteht, durch sie gegründet und unter ihrer Leitung, in Karlsruhe eine Central-Nachweiseanstalt, die den Zweck hat, „Erzieherinnen auf eine der hohen Bedeutung ihrer Stellung würdige Weise den Familien zuzuführen und Eltern und Erzieherinnen der unangenehmen Nothwendigkeit zu entheben, sich einander ohne Gewährleistung zu begegnen.“ Die Nachweiseanstalt übernimmt die Vermittelung zwischen den Familien oder Erziehungsanstalten und den Erzieherinnen unentgeltlich.

Die Familien oder Erziehungsanstalten, welche sich an die Anstalt wenden wollen, werden ersucht, die Verhältnisse der von ihnen angebotenen Stellen so genau als möglich anzugeben, ebensowohl was von den Erzieherinnen gefordert wird, wie die Vortheile, die geboten werden, Gehaltsangabe etc.

Die Erzieherinnen haben einzuschicken:

1) einen kurzen Lebenslauf (mit Angabe des Geburtsortes, des Alters, der Religion, der Stellung der Familie etc.);
2) ein beglaubigtes Zeugniß des Vorstandes der von ihnen besuchten Schule oder der betreffenden Schulbehörde;
3) ein beglaubigtes Zeugniß der Familien oder Anstalten, in denen sie bereits gewirkt haben;
4) beglaubigte Abschriften der Zeugnisse über etwa bestandene Prüfungen.

Zuschriften werden franco erbeten, mit Einlage von Marken, wenn man frankirt Antwort zu erhalten wünscht, unter der Adresse: Centralanstalt für Erzieherinnen, in Karlsruhe.

Fräulein Trier schreibt mir darüber:

„Unsere Nachweiseanstalt ist seit dem 1. Januar eröffnet; der erste Monat hat ein unerwartet gutes Ergebniß geliefert; viele Familien habe sich an uns gewandt, und schon sind viele günstige Engagements geschlossen worden; die Sache bedarf nur des Bekanntwerdens, um segensreich zu wirken, und das ist auch Alles, was ich will. Die Nachweiseanstalt ist nur die Introduction zu einer größern Institution, von der ich mir den größten Einfluß verspreche, die aber nur dann gegründet werden kann, wenn ich die nöthigen Fonds gesammelt haben werde. Deshalb habe ich zu dieser Gründung die Hülfe meiner Freunde und aller guten Menschen nöthig, die an gemeinnützigen Bestrebungen Theil nehmen. Ich will nämlich ein Asyl für stellenlose Erzieherinnen gründen, wo diese für eine sehr mäßige Pension anständiges Unterkommen finden, bis die Nachweiseanstalt für sie gesorgt hat. Mit dieser Anstalt aber soll eine Fortbildungsschule eröffnet werden, in welcher Mädchen, die mangelhaft für den Beruf der Erzieherin vorbereitet sind, den nöthigen Unterricht finden, damit sie wenigstens den Elementarunterricht nach den Ansprüchen der Gegenwart ertheilen können. Der Krieg hat solch arme, zu nichts Rechtem vorbereitete Mädchen in Menge geschaffen, die von Stelle zu Stelle gehen, überall unzulänglich gefunden werden, am Ende die Achtung Anderer und die ihrer selbst verlieren und traurig zu Grunde gehen.“

So weit der Brief. Man sieht aus ihm, welch hohe Ziele sich Fräulein Trier gesteckt hat; möchte es ihr vergönnt sein, dieselben zum Wohle so Vieler zu erreichen!

Gruschewka, den 5. März alt. St. 1873.

Anna Schumacher, geb. von Stwolinska.

Ein bestrafter Turco. (Mit Abbildung, S. 231.) „Unvergeßliche Tage reichster Eindrücke waren es,“ schreibt uns der Maler des Bildes, Herr Professor W. Camphausen in Düsseldorf, „als ich im denkwürdigen Kriegsjahre 1870 in den sonnigen Octobertagen meine öfteren Ausflüge in die benachbarten Feldlager der französischen Kriegsgefangenen unternahm, um dort Studien für meine Mappe zu machen. Und wahrlich, die Wahner Haide bei Köln, wie das Rheinwerth vor Wesel boten hierzu die ausgedehnteste Gelegenheit. Von der frühen Morgenstunde nach kurzer Rast in einem der dortigen Strohzelte, das mir einer der dienstthuenden Officiere bereitwilligst angeboten hatte, bis tief in die Nacht hinein durchzog ich die langen Reihen der Zeltgassen, und begreiflicher Weise fesselten mich namentlich die braunen Söhne Afrikas, von denen weit über tausend dort campiren mußten. Von ihnen ist denn auch eine ganze Sammlung in mein Skizzenbuch gewandert, und so auch die nebenstehende kleine Gruppe, die wenigstens den Vorzug hat, direct nach der Natur entstanden zu sein. Oft genug kam es nämlich vor, daß irgend einer der braunen Gesellen ‚etwas ausgefressen‘ hatte, so namentlich kleine Diebstähle, mit denen Einer den Andern bedachte. Da gab es denn ein grimmiges Gestreite und Zähnefletschen unter ihnen, dem erst ein Ende gemacht wurde, wenn der herbeigerufene Officier du jour den ertappten Missethäter zum nächsten Wachtposten entführen ließ, wo er dann während einiger Stunden, abseits der wortreichen und lauten Gruppen, im Innern des Lagers Muße zu beschaulichen Betrachtungen über die Situation fand.

Ein solcher Moment ist der dargestellte, bei dem sich der Contrast zwischen dem finster blickenden schwarzen Burschen und dem ehrlichen rothbärtigen Schwaben vom hohenzollernschen Füsilierbataillon Nr. 40 der Reserve zu einem so prägnanten gestaltete, daß ich nicht unterlassen konnte, mir die Scene rasch zu skizziren, obgleich das Original so ungefragt nicht ohne Mißtrauen dazu dreinschaute. Dabei das malerisch improvisirte Schilderhaus mit den darangeklebten neuesten Siegesdepeschen, dahinter die langen weißen Zeltreihen und am fernen Horizonte der mächtige Kölner Dom, das ehrwürdige Wahrzeichen, das mich dort oft genug daran mahnte, wirklich und wahrhaftig am freien deutschen Rheine und nicht in der afrikanischen Wüste zu sein, besonders auch in stiller Mondnacht, wenn aus den Zelten wilde Wüstenlieder wie Schakalgeheul über die friedliche Haide der Heimat ertönten. Das waren denn die edlen Vertreter und Genossen der übermüthigen grande nation, das die Erfüllung ihres uralten Begehrens der natürlichen Grenzen, nur freilich etwas anders, als die lärmenden Politiker und Gamins der Pariser Boulevards wenige Monden zuvor, als sie ihr à Berlin durch die welsche Babel gebrüllt, sich gedacht hatten.“


Ein Dorf-Sydow. Was der Berliner Oberkirchenrath dem Berliner Pfarrer Sydow angethan, hat Entrüstung und Theilnahme in den weitesten Kreisen erregt, und dem verfolgten Manne ist Beides zu Gute gekommen. Darf wohl ein armer Dorf-Pastor, welcher derselben kirchenräthlichen Ungnade zum Opfer gefallen, auf ähnliche Berücksichtigung Anspruch erheben? Pastor Collmann zu Uedem bei Cleve ist, nach einem langen Conflict mit den Behörden unter dem Ministerium Mühler, in welchem er die Rechte der Kirche und der Gemeinden gegen Bureaukratie und Ultramontanismus vertheidigt – allerdings nicht immer mit Sanftmuth, sondern oft mit allen Waffen der Verbitterung –, in diesen Tagen vom Oberkirchenrathe definitiv ohne Pension seines Amtes entsetzt. Sein Hauptverbrechen war sein Beitritt zu dem Protestantenvereine gleich bei der Gründung desselben und sein Kampf in der Presse seit 1863, wo er die Redaction der „Evangelischen Gemeindeblätter“ (Elberfeld, Bädeker) leitete. Collmann hatte endlich ihm lange vorenthaltene Actenstücke beigebracht, die sein Recht klar erwiesen haben würden, und die neuen Gesetzesvorlagen würden zugleich ihn vollends geschützt haben – da kam dem Allen der Oberkirchenrath zuvor und wies den längst Mißliebigen mit Weib und sieben Kindern aus der Pfarre hinaus in – wie man in der guten alten Zeit zu sagen pflegte – in das Elend.

Herr Collmann (Herausgeber des verbreiteten „Theologischen Universal-Lexikons“, Elberfeld, bei Friedrichs) besitzt kein anderes Vermögen als sein Wissen und seine Arbeitstüchtigkeit in den Jahren der höchsten Manneskraft. Es gilt nun, daß ihm Gelegenheit geboten werde, dieses Capital zu verwerthen. Der tüchtige, feder- und wortgewandte Gelehrte würde ebenso bei einer Redaction wie auf einem Lehrstuhle an seiner Stelle sein. Wir vermitteln gern Anträge an den bedrängten Mann.


Bock’s Briefkasten.

Für die Dummen, damit sie nicht alle werden, aber auch nichts Schwaches, Schlechtes und Schlimmes mit sich herumtragen, sorgt Herr Bierey, der Besitzer der Schulbuchhandlung, mit der größten Aufopferung – für seinen Geldbeutel. Und zwar nicht etwa blos durch das von uns früher besprochene teuflische Schundbuch „Die Selbstbewahrung“ von Retau – wobei sich Herr Bierey selbst vor Strafe dadurch zu bewahren weiß, daß er sich schlauer Weise vor der Welt mit Doctor und Apotheker innig gesellt, – sondern auch noch durch eine Menge wunderbar und einzig wirkender, aber nur in der Schulbuchhandlung echt zu habender Geheimmittel. Beim Brauen und Verkaufen dieser Mittel fehlt nun aber der Dritte im Bunde, nämlich der sanctionirende Schulbuchhandlungsdoctor, und es sollte deshalb diese Bierey’sche Handlungsweise dem Staatsanwalte und Gerichtsarzte verfallen. – Die Geheimmittel braut Herr Bierey entweder selbst (wie zum Beispiel die Stanley’sche Kraftessenz) oder er läßt [234] sich dabei von der hiesigen königlichen Hofapotheke zum weißen Adler hülfreiche Hand leisten. Daß aber eine Art medicamentös-siamesischen Verhältnisses zwischen diesen beiden Arzneiern existirt, läßt die Erklärung des Herrn Bierey in dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ (Nr. 45, 1873) ahnen, wo letzterer sagt: „meine Verbindung mit der hiesigen königlichen Hofapotheke beruht auf der Vereinbarung des Commissionsdebites“. Und damit hierbei das Gelaufe nicht immer ist, bereitet die Hofapotheke der Schulbuchhandlung gleich große Töpfe voll von Medicin, aus denen letztere dann kleine Fläschchen füllt. So verfertigt zum Beispiel (und zwar nach der Aussage des betheiligten Apothekers vor Gericht) die Hofapotheke eine Champagnerflasche von schwedischer Lebensessenz für sieben Thaler und Herr Bierey macht für einhundertzwanzig Thaler Fläschchen daraus. Diese Lebensessenz verfertigt aber die Hofapotheke blos nach einer Anweisung der Schulbuchhandlung, trotzdem daß die Ingredienzen dazu (und zwar nach dem gerichtlichen Ausspruche des Apothekers) sehr starke und kräftige sind. Ja in den Bierey’schen Gichttropfen, welche von der Schulbuchhandlung zu beziehen sind, giebt die Schulbuchapotheke dieser Apotheke gegen Recht und Pflicht eine gifthaltige Arznei zum Verkauf in die Hände. Beleuchten wir nun einige wenige der vielen von der Schulbuchhandlung verlegten Schriften mit ihren arzneilichen Anhängseln etwas genauer.

1) Mit der Schrift „Sichere Hülfe für Männer“ verkauft Herr Bierey ein untrügliches Mittel zur Erreichung voller Manneskraft, welches er „Stanley’sche Kraftessenz“ getauft hat und welches (die ganze Flasche für elf Thaler, die halbe für sechs Thaler) einzig und allein von der Schulbuchhandlung bezogen werden kann. Dieses Geheimmittel, welches Herr Bierey selbst zu brauen scheint, ist nur wenige Groschen werth und besteht aus einer Anzahl sehr erregender Gewürze. Es wird, trotz seiner stark erregenden Wirkung, sogar bei Keuchhusten, Wassersuchten, Ruhr und Lähmungen nach Schlagfluß als überaus günstig wirkend empfohlen. – Wo diese Kraftessenz doch noch nicht so kräftig wirken sollte, als es gewünscht wird, da hilft die Schulbuchhandlung durch eine elektrische Bandage (Suspensor) nach, welche aus Pelzwerk besteht und an ihrer innern Fläche mit einem Geheimpulver bestreut ist. Sie kostet nur einen Ducaten, wirkt aber so kräftig, daß sie nicht stets, sondern nur am Tage, oder nur einige Stunden oder wöchentlich nur einige Mal getragen werden darf.

2) Der „Zuverlässige Gichtarzt“ heißt ein Schriftchen, welches die Schulbuchhandlung nur zur Warnung vor schwindelhaften und schädlichen Medicamenten gegen Gicht herausgegeben hat, nebenbei aber dem Leser, welcher an Gicht oder Rheumatismus leidet, ihr einzig sicheres, leicht und schnell heilendes Verfahren, mit Hülfe zweier vortrefflicher Präparate, anräth. Diese Präparate, welche angeblich die vollständigste Sicherheit eines guten Erfolges geben, sind Gicht- und Rheumatismus-Tropfen, à Flacon zwanzig Groschen und Spiritus, à Flacon einen Thaler. Es bestehen diese Tropfen aus Sherrywein mit der giftigen Herbstzeitlose und werden, und zwar ohne ärztliches Recept, in der Hofapotheke bereitet, und wie Herr Bierey sagt, mit der höchsten Sorgfalt. Daß diese Tropfen gefährliche Magenentzündungen etc. veranlassen können, kümmert weder die Schulbuchhandlung, noch die Hofapotheke.

3) Die „echte spanische Klosteressenz“, und die „schwedische Lebensessenz“, welche echt lediglich in der Schulbuchhandlung zu haben sind, sollen von einem Alchymisten Werner in Upsala zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts stammen, und Herr Bierey will neuerdings mit Freuden die Gelegenheit ergriffen haben, das echte Recept zu diesen Essenzen erwerben zu können, zumal da er den hohen Werth derselben aus eigener Erfahrung kennen gelernt hat. – Die Klosteressenz besteht aus verschiedenen ätherischen Oelen in starkem Alcohol, kostet einen Thaler die Flasche und heilt angeblich nicht nur alle Nervenleiden, sondern auch Katzenjammer, Ohrenzwang, Durchfall, Leber- und Milzanschwellung etc. – Die Lebensessenz soll nicht nur im Stande sein, jede Krankheit (sogar Läusesucht) zu heilen, sondern auch jeden gesunden Menschen gesund und sein Leben bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit zu erhalten. Werner soll durch den Gebrauch derselben ein Alter von hunderteinundvierzig Jahren erreicht haben und wäre noch lange nicht gestorben, wenn er sich nicht durch einen Sturz vom Pferde den Tod geholt hätte. Der Vater Werner’s, welcher erst in seinem sechzigsten Lebensjahre anfing sich der Essenz zu ergeben, wurde hundertvier, die Mutter hundertsieben, der Schwiegersohn hundertsechszehn, der Enkel hundertzehn Jahre alt. Diese Lebensessenz, von welcher das Fläschchen einen Thaler kostet und nur den Werth von einigen Groschen hat (siehe oben), ist ein Purgirschnaps aus Aloe, Rhabarber und Lärchenschwamm und durchaus nicht so unschädlich, wie sie von Herrn Bierey gemacht wird.

4) Die Heilung der körperlichen Schwäche kann nach einem Schriftchen der Schulbuchhandlung nur durch Dr. Ardant’s Extrait de chair composé erreicht werden, nicht aber durch das Liebig’sche Fleischextract, da dieses wohl zu nähren, aber nicht zu heilen vermag. Das herrliche Präparat der Schulbuchhandlung, aus dem kräftigsten Fleische mit der höchsten Sorgfalt bereitet (von Wem? ist nicht gesagt), ist ebenso bei schwächlichen Kindern, wie bei matten Greisen und greisenhaften Jünglingen von der wunderbarsten Wirkung. In leichten Fällen reicht eine halbe Flasche für drei Thaler zehn Groschen, in schweren eine ganze für sechs Thaler zur vollständigen Kräftigung aus.

5) Gegen Bleichsucht und Blutarmuth, wogegen nach Bierey in der Regel so undienliche, oft sogar widersinnige Mittel angewendet werden, daß man sich nicht wundern darf, wenn diese Krankheiten häufig so übel verlaufen, besitzt und verkauft (für einen Thaler die Schachtel) nur die Schulbuchhandlung frisch und echt „Dr. Fremont’s Ariston“, ein aus kostbaren und höchst dienlichen Stoffen zusammengesetztes Pulver. Es enthält Eisen und ist nur einige Pfennige werth; wo es bereitet wird, erfährt man nicht.

6) Wer Falten und Runzeln aus der Haut des Gesichts und der Hände verjagen will, dem bietet die Schulbuchhandlung ein unfehlbares Mittel im „Esprit d’Espagne“ von Dr. Laurent. Es reinigt gleichzeitig auch die Haut von allen Flecken. Aber man hüte sich ja vor betrügerischen Nachahmungen und wende sich nur an die Schulbuchhandlung, da es dieser erst in neuerer Zeit nach langem Nachdenken und vielen Versuchen gelungen ist, diese Composition zu entdecken.

7) „Keine Furcht vor der Cholera“ braucht man nach dem Ausspruche der Schulbuchhandlung mehr zu haben, denn diese besitzt Mittel, welche nicht nur Schutz gegen Ansteckung, sondern auch rasche und sichere Hülfe bei ausgebrochener Cholera gewähren. Diese ganz vortrefflichen Präparate, deren heilsame Kräfte unumstößlich festgestellt sein sollen, gehören nicht zu den Speculationsproducten; es sind: Dr. Stern’s Präservativ-Elixir (à Flacon fünfzehn Groschen) und asiatische Cholera-Tropfen (à Flacon zehn Groschen).

Wie meine Herren Collegen, die Mitglieder des ärztlichen Bezirksvereins der Stadt Leipzig, über das Bierey’sche Gebahren urtheilen, geht aus der Zuschrift hervor, mit welcher mich dieselben erfreuten und welche lautet: „Nachdem durch die stattgehabte öffentliche Verhandlung in dem Processe des Professors Bock gegen die Bierey’sche Buchhandlung Thatsachen bekannt geworden sind, welche über das verwerfliche und schimpfliche Treiben jener Buchhandlung ebensowenig Zweifel mehr aufkommen lassen, wie über die Art der Geschäftsthätigkeit der ihm assistirenden Aerzte, hält es der ärztliche Bezirksverein für seine Ehrenpflicht, öffentlich ebensowohl Herrn Professor Bock seinen Dank dafür auszusprechen, daß er jenen tadelnswerthen Geschäftsbetrieb aufgedeckt und für immer gebrandmarkt hat, als auch seine volle Zu- und Uebereinstimmung zu erklären mit den von den Herren Professoren Wagner und Sonnenkalb und Dr. Kühn als Sachverständigen abgegebenen Gutachten.“
Bock.

Kleiner Briefkasten.

M. F. in Basel. Wenden Sie sich an die Herren Daube & Co. Sollen wir zum zehnten Male erklären, daß die „Anzeigen zur Gartenlaube“ nicht ein Unternehmen der Verlagshandlung unseres Blattes sind und daß weder unsere Redaction noch die Verlagshandlung irgend welche Verantwortlichkeit für den Inhalt derselben übernehmen kann? Es fehlte nur noch, daß unsere Redaction auch die Heirathsofferten vermittelte. Die Anzeigen erscheinen bei Daube & Co. in Frankfurt und Leipzig.

Robert a. C. in Philadelphia. Die erwähnte Schriftstellerin, in Süddeutschland lebend, ist keine „liederliche Dirne“, sondern eine durchaus anständige und liebenswürdige Frau, die bejahrte Gattin eines höheren Beamten. Man hat Ihnen einen bösen Bären aufgebunden.

E. J. H. in N. Y. Weder unter den in Leipzigs Nachbarschaft gelegenen „wüsten Marken“, das heißt vormaligen Dorfstätten, noch unter den noch heute vorhandenen Ortschaften befindet sich der Name „Richtig“. Entfernte Aehnlichkeit mit demselben haben Rittmitz, in Urkunden Richnitz genannt, bei Leisnig (circa neun Stunden von Leipzig entfernt) und Regis, urkundlich Rigis genannt, bei Borna (circa sechs Stunden von Leipzig entfernt).

An Karl S. und Julius B., zwei Vermißte! Denkt Ihr Beide, wenn Ihr auch Alles vergessen, wenigstens an den Schmerz und die Sorge Eurer armen Mütter und gebt nur ein Lebenszeichen der Tante Mariechen in B. Kehrt Ihr zurück, so wird mit keinem Wort an das Vorausgegangene erinnert werden.

A. H. in London. Der in der Gartenlaube vor zwei Jahren angekündigte, aber nicht abgedruckte Roman von H. Schmid „Die Türken in München“ ist in Buchform in Leipzig bei Günther erschienen und durch jede Londoner Buchhandlung zu beziehen.

A. H. in Gr. Können Ihnen nur die in Berlin erscheinende „Volkszeitung“ empfehlen.

A. E. in Moskau. Die Erlaubniß, die von Ihnen genannte Erzählung in’s Russische zu übersetzen, steht gegen Honorarzahlung von hundert Thalern zu Diensten.

Aus Rheinhessen. Will sich der „junge Bauer aus Rheinhessen“, der uns das hübsche Neujahrsgedicht einsandte, nicht nennen?


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

Wilhelmine von Hillern,
geb. Birch,
3 Bände. Elegant broschirt. Preis 3 Thlr.

Die Verfasserin hat sich auf dem belletristischen Felde schon durch ihren „Arzt der Seele“ rasch und allgemein Bahn gebrochen. Die Buch-Ausgabe des obigen, früher in der Gartenlaube abgedruckten Romans, die noch vielfach umgearbeitet wurde, wird der talentvollen Verfasserin viele neue Freunde zuführen. Die Kölnische Zeitung, Nr. 68, bezeichnet „Aus eigener Kraft“ als eine der bedeutendsten Erzählungen des letzten Winters.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vgl. Gartenlaube, 1863, Seite 37 f.
  2. Es war demnach am 14. März 1873 Wangenheim’s hundertster Geburtstag zu feiern.
  3. WS: Im Original Kochem