Die Gartenlaube (1873)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[707]

No. 44.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Ende vom Liede.
Eine Berliner Geschichte von Albert Moedinger (Max Alt).
(Fortsetzung.)


„Ich hielt Ihren Vetter stets für einen guten Menschen,“ sagte ich, während der Schöngeist immer noch nachdenklich sein Haupt wiegte.

„Ich halte ihn heute noch dafür“, fuhr dieser nach einem kurzen Schweigen fort. „Gut, aber schwach! Die gute Hälfte der Männer mit halber Bildung ist so wie er. Wissen Sie, wie seine Antwort innerlich gelautet haben mag? Man antwortet in solch einem Fall immer, wenn man auch stumm wie ein Fisch bleibt: ‚Sie haben klug reden, alter Herr‘, ich wette, daß er innerlich so zu ihm sagte, ‚Sie haben klug reden. Man sieht, daß Sie keine Mutter haben, die Kriegsräthin ist!‘“

Wir saßen Beide einen Augenblick schweigend da, dann fragte ich, um einen Zweifel aufzuklären, der mich beherrschte: „Und Sie glauben wirklich, daß Ihre Tante niemals die Einwilligung zu dieser Verbindung gegeben haben würde?“

Der Schöngeist schüttelte langsam den Kopf und sagte dann: „Ich muß meine Tante falsch geschildert haben; Sie verkennen sie. Sie ist trotz alledem eine Frau von seltener Herzensgüte. Es würde Kämpfe gekostet haben, ganz gewiß, aber die Liebe zu ihrem Sohne würde in ihr gesiegt haben. Es ist einfach eine Entschuldigung, die mein schöner Vetter sich selbst machte.“

„Das ist entsetzlich,“ antwortete ich leise.

„Warum?“ sagte der Schöngeist achselzuckend; „es ist Eitelkeit, nichts als Eitelkeit, und wer ist heut zu Tage nicht eitel? Eduard würde gestorben sein, wenn seine kleine Frau in Gesellschaft hin und wieder ‚mir‘ statt ‚mich‘ gesagt hätte, und er würde sie dahin gebracht haben, mit seinen großen, unermüdlich auf ihr ruhenden Augen; er würde ihr den Fehler abgeängstigt haben, glauben Sie mir, und wenn sie den kleinen Heyse vorwärts und rückwärts auswendig gewußt hätte.“

„Seltsamer Charakter!“ sagte ich kopfschüttelnd.

„Wir wollen ihn nicht verdammen,“ fuhr der Erzähler fort; „wir können eben Alle nicht aus unserer Haut heraus. Er war nun einmal so schwach. Er fürchtete Alles, was irgendwo und irgendwann einmal eintreten konnte. Ich glaube nicht, daß er recht klar wußte, wovor er sich fürchtete. Vielleicht hielt er es für möglich, daß der alte Mauerpolier wieder aufstehen möchte, um betrunken zur Trauung in die Kirche zu kommen. Wer kann es wissen?“

„Hatte ihn jener tragische Schritt des jungen Mädchens nicht gerührt?“

„Gerührt? das möchte ich nicht behaupten; erfreut und stolz gemacht, so wird man es ungefähr nennen können! Wenigstens war er hinterher eine kurze Zeit auffallend glücklich in ihrer Gegenwart, und ich glaube, wenn sie selbstsüchtiger gewesen wäre, würde sie ihn damals vielleicht dahin gebracht haben, die Hochzeitskutsche zu bestellen. Aber wie sollte das kleine Ding zu selbstsüchtigen Ideen kommen!? Uebrigens glaube ich, daß sie nachher anfing, ihn zu durchschauen. Sie war ruhiger geworden und zitterte nicht mehr in dem Maße wie früher, wenn dem hohen Herrn etwas nicht recht war.

Ein halbes Jahr darauf lernte Eduard seine jetzige Braut kennen, und seine Lage wurde dadurch noch bedauernswerther. Er fürchtete sich nun erst recht. Was konnte das Mädchen, wenn es sich um eine Andere verlassen glaubte, für dumme Geschichten machen … Er war wirklich zu beklagen, und ich hatte ein gewisses Gefühl für ihn, das sich aus Mitleid und aus noch manchen anderen Empfindungen zusammensetzte. Ich nahm den Auftrag, die Sache zu arrangiren, an, weil ich das junge Mädchen gern hatte und sie achtete. Er wollte für sie sorgen, ihr ein Geschäft einrichten, sie solle nur vernünftig sein und keine Scenen herbeiführen. Ich wünschte, Sie hätten die Tochter des alten Mauerpoliers bei dieser Gelegenheit sehen können, wie sie mich ruhig anhörte und nur ihre kleine Hand langsam aber fest auf’s Herz legte! Ich war auf einen Anfall von Weinkrampf oder etwas dergleichen gefaßt gewesen und ich hatte mich mit Eau de Cologne und englischem Salz versehen. Es war unnütz, und daß sie mich ruhig und ernst anhörte und meine Vermuthungen in keiner Art zutrafen, brachte mich wirklich in keine geringe Verlegenheit. Sie werden lachen, aber ich kam mir wirklich einen Augenblick wie der umgekehrte Polier vor und war dicht daran, selbst zu meinem Riechfläschchen meine Zuflucht nehmen zu müssen. Nachdem ich mich des Wesentlichsten meines Auftrags ungeschickt entledigt hatte, sah sie mich mit einem wehmüthigen Lächeln an und antwortete mit der lieblichen klangvollen Stimme, die mir in’s Herz schnitt: ‚Sagen Sie ihm, daß er von mir nichts zu fürchten hat; wenn er mich nicht mehr liebt, so soll er gehen! Es war mir seit längerer Zeit immer, als wenn er schon fort wäre, und ich duldete seine Besuche nur noch, weil man nie wissen kann, was in einem Menschenherzen Alles vorgeht, es ist ein so schnurrig Ding – Sie kennen das kleine Lied – sein’s … ist es wohl nie gewesen; er soll ruhig gehen – er hat von mir nichts zu fürchten.‘

[708] ‚Aber Sie, mein gutes Kind,‘ sagte ich ebenso gerührt wie besorgt zu ihr, ‚wollen Sie mir versprechen, daß Sie … nicht wieder … thun Sie’s nicht! Es ist nicht das Richtige und ist nicht christlich. Thun Sie’s nicht, ich bitte Sie darum.‘

Sie sah mich mit ihren großen dunklen Augen fest an und verstand mich augenblicklich. Dann sagte sie, ihre rechte Hand leicht und doch so bedeutungsvoll erhebend: ‚Ich werde es nicht thun. Ich schwöre es Ihnen. Es steht anders heut; damals glaubte ich noch an seine Liebe, und ich mochte nicht leben, weil ich die Möglichkeit vor Augen sah, sie zu verlieren. Jetzt habe ich mich langsam an diesen Gedanken gewöhnt; ja, noch mehr, ich fühle, daß ich seine Liebe nie besessen habe. Ich werde tragen, was ich mir selbst auferlegte.‘

Als ich dann zu dem delicaten Punkt meines Auftrags kam, fiel sie mir sogleich in’s Wort. ‚Ersparen Sie mir das!‘ sagte sie, ‚ich fühle, daß es Ihnen schwer wird, diese Worte herauszubringen. Ich danke Ihnen dafür. Sie waren immer gut zu mir. Er hat ein Paar Mal ganz ruhig davon zu mir gesprochen; er kennt meine Antwort. Ich lasse ihm danken.‘

Das junge Mädchen that mir in ihrer ruhigen Ergebenheit so leid, daß ich mich für verpflichtet hielt, ihr noch irgend etwas Tröstliches zu sagen, und es mag Ihnen einen Begriff von meinem damaligen Gemüthszustand geben, daß ich sie bat, ihn nicht zu hart zu beurtheilen, und daß ich Alles hervorsuchte, was etwa zu seinen Gunsten sprechen konnte und ihn vielleicht weniger lieblos erscheinen ließ. Das arme Kind dankte mir noch dafür. ‚Er ist nicht schlecht; ich weiß es,‘ sagte sie; ‚ich würde ihn sonst auch nie geliebt haben; er ist nur schwach und ist nur das, wozu ihn seine Mutter erzog, kalt und hochmüthig. Ich wünsche ihm alles Glück, aber ich glaube, er wird es nie kennen lernen. Das Glück wenigstens nicht, das mir als das wahre erscheint und das darin besteht, Anderen Opfer zu bringen.‘“ …

„Ich war an jenem Abend in sehr gehobener Stimmung, als ich meinen Schlaftrunk einnahm,“ fuhr der Schöngeist fort, nachdem wir eine kurze Weile schweigend dagesessen. „Ich hatte eine schöne Menschenseele kennen gelernt und dachte lange über die hübsche Parabel von den Perlen und den Säuen nach.“

„Und das junge Mädchen hielt Wort?“ fragte ich, nach der Uhr sehend.

„Auf das Treuste!“ antwortete Robert Fürst. „Sie hat ihm nichts in den Weg gelegt, nicht das Geringste. Anfangs war mein Vetter noch ziemlich unruhig, wenn er mit seiner jungen Braut ausging oder ausfuhr und wenn er Abends zu ihr kam. Er fürchtete doch immer noch, ein anonymes Briefchen würde den Reigen eröffnen, und malte sich mit seiner Phantasie aus, was für Situationen sich daraus entwickeln würden. Als aber gar nichts geschah, wurde er ruhiger und gab sich ganz seinem Glück hin. Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß sich gleichzeitig ein adeliger Hauptmann von der Artillerie um Marie Mannstein bewarb und daß er über diesen den Sieg davon getragen, nachdem der Kampf lange hin und her geschwankt. Eduard war sehr stolz darauf, und sein Glück bestand jedenfalls zum guten Theil aus dem süßen Gefühl befriedigter Eitelkeit. In den letzten Tagen stiegen die Gespenster, die ihn eine Zeitlang in Ruhe gelassen hatten, von Neuem aus ihrer Gruft heraus, und er bat mich, bei der Trauung ein wachsames Auge zu haben. ‚Ich weiß wohl, sie ist vernünftig,‘ sagte er, seinen glänzenden schwarzen Bart streichend, ‚viel vernünftiger, als man eigentlich von ihr erwarten konnte,‘ und ich versichere Ihnen, daß ein ganz leiser Ton des Vorwurfs in diesen Worten lag; ‚aber … sie läßt sich vielleicht von ihrer Wirthin oder sonst einem alten Weibe überreden und kommt in die Kirche und fängt an zu schreien; ich könnte es wirklich nicht ertragen, Robert; ich müßte in die Erde sinken. Darum bitte ich Dich, wenn Du sie siehst, suche sie zu bestimmen, daß sie die Kirche verläßt; sie ist doch nur ein kleines, schwaches Mädchen, und beim besten Willen könnte sie vielleicht … bitte sie in meinem Namen, bei meiner Liebe zu ihr, daß sie die Kirche verläßt!‘

Sie glauben es vielleicht nicht, aber er hat es gesagt, er hat es bei Gott gesagt und er hat sicher keinen Augenblick daran gedacht, welch ein bodenloser Egoismus in diesen Worten lag.“

„Aber seine Befürchtungen waren natürlich unnütz; sie war nicht in der Kirche, nicht wahr?“ fragte ich.

„Das wäre denn doch von einer kleinen Näherin zu viel verlangt gewesen,“ antwortete der Erzähler; „aber wie war sie da, in welcher zarten Art!? Meines schönen Vetters Augen irrten sehr unruhig umher, als er in die Kirche trat, und ich glaube sogar, auch die Kriegsräthin ließ die ihren ziemlich forschend über die zahlreich versammelte weibliche Gemeinde laufen; doch Beide vermochten sie nicht zu entdecken. Sie war auf der ersten Galerie, hinter einem Pfeiler, von dem sie Alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Sie sah natürlich bleich aus, war aber sonst ruhig. Sie hätten sie sehen sollen, als der Prediger das Gebet sprach, wie sie die kleinen Hände auf das Gesangbuch legte und den Kopf darauf. Ich war in dem Augenblick überzeugt, daß in der ganzen Kirche keine treuere Bitte zu Gott emporstieg für das Wohl des großen schwarzen Mannes da unten, als aus dem Herzen des jungen, bleichen Mädchens, dem er Alles, Alles genommen!“ –

Es war spät geworden, und wir waren fast die letzten Gäste, als wir uns erhoben, um zu gehen. Als wir auf der Straße ankamen, wo unsere Wege bald auseinanderführten, reichte mir Robert Fürst die Hand. „Sie kennen nun die kleine einfache Geschichte. Jetzt, bitte, rufen Sie sich die unbarmherzigen Worte des trunkenen Knaben in’s Gedächtniß und überlegen Sie dieselben! Fühlen Sie nicht etwas von dem geheimnißvollen Grauen des antiken Fatums? Die Stufen des Tempels, zu dem mein schöner Vetter emporschritt, um das Glück zu finden, waren mit Rosen bestreut, und glücklich hoffend lächelte seine Lippe. Da, in dem Augenblicke, wo er den Vorhang von dem verschleierten Bilde heben will, springt mit jähem Satz die Schlange aus ihrem duftigen Versteck und hängt fest, fest an seinem Herzen! ha! ha! ha! ‚Das Ende vom Liede!‘ Der unmündige Knabe hat mich beleidigt, tödtlich beleidigt. Ich glaubte das Leben zu kennen und ich war einfältig genug zu denken, die Geschichte sei aus, als wir aus der Kirche kamen, das glückliche Paar in den Wagen stieg und der Kutscher mit dem Strauß an der Brust die Pferde antrieb, deren weiße Atlasschleifen so lustig flatterten! Unsinn! Als ob in diesem Leben überhaupt jemals etwas aus sein könnte! Der Knabe hat Recht, es war der Anfang vom Liede, und Gott allein weiß, wie einst das Ende klingen wird. Adieu! auf Wiedersehen!“




2.

Die späte Jahreszeit hatte es dem glücklichen Paare nicht ermöglicht, eine Hochzeitsreise anzutreten. Sie feierten ihre Flitterwochen daheim und öffneten gleich bei Beginn des Winters ihr Haus allen Freunden zu kleinen und großen Festlichkeiten. Ich hatte Einladungen zu diesen erhalten und traf, ihnen folgend, jedesmal mit dem Schöngeiste zusammen. Wir beobachteten, Jeder in seiner Art, und Keiner konnte etwas entdecken. Ich lachte oft im Stillen, wenn ich den Vetter Eduard Sandow’s mit seinen grübelnden kleinen Augen unermüdlich über die Brille hinwegsehen sah, wie er jedes Winkelchen durchstöberte und den Kopf schüttelte und nicht begreifen konnte, wo um Alles in der Welt die Schlange sich verkrochen haben möge. Ich lachte ihm eines Abends laut in’s Gesicht und sagte ihm meine Meinung: „Es nützt Alles nichts, Verehrter! Sie ist nicht da, und wir haben alle Beide Gespenster gesehen. Der Wein war sehr schwer. Sie ist nicht da.“

Er sah mich eine Weile sinnend an, dann sagte er in seiner entschiedenen Art und Weise: „Ich will mir allenfalls gefallen lassen, daß der Junge ein boshafter Schlingel ist, der nur einen Scherz machen wollte. Aber weshalb antwortete die Braut so furchtbar boshaft? Wollen Sie mir das gefälligst erklären? Sie können es nicht; kein Mensch würde es können. Deshalb sage ich Ihnen, sie ist doch da; nur nützt es nichts, sie zu suchen. Darin haben Sie Recht. Sie wird ganz von selbst zum Vorschein kommen, und ich möchte mit Ihnen wetten, daß Sie zuerst ihre Schwanzspitze zu sehen bekommen.“

„Weshalb ich?“ fragte ich lachend.

„Weil Ihnen weniger daran gelegen ist als mir,“ antwortete er und trat an den Spieltisch, wo die Kriegsräthin beim l’Hombre saß, und in den Pausen sehr übermüthige Geschichten erzählte und sehr lustig lachte.

[709] Eduard Sandow war augenscheinlich sehr glücklich. Seine Frau sah wirklich mit ihren zarten Farben und der üppigen Fülle ihres aschblonden Haars, das sie sehr geschickt auf ihrem kleinen Kopf balancirte, außerordentlich hübsch aus. Sie hatte eine Fantasie von Thalberg leidlich zu Ende gebracht, ein hübsches Liedchen gesungen, und man war jetzt dabei, das Album zu bewundern, das ganz mit Zeichnungen von ihrer eigenen Hand gefüllt war. Man konnte auch nicht leugnen, daß ihr sehr ruhiges Wesen eines gewissen vornehmen Anstrichs nicht entbehrte. Sie lachte sehr selten laut, sondern lächelte nur; sie sprang nicht fortwährend auf, sondern blieb ganz ruhig sitzen, selbst in Fällen, wo es ihr als Wirthin vielleicht nicht an Veranlassung gefehlt hätte, aufzuspringen. Auch würde das feinste Ohr sich umsonst gemüht haben, den kleinsten Verstoß gegen den kleinen Heyse bei ihr zu entdecken; sie plapperte ganz geläufig Französisch mit dem alten Küchenmeister von der Colonie, und dem glücklichen Gatten tönte das wie Musik in die Ohren, vielleicht weil er so wenig davon verstand. –

Eines Tages kam Robert Fürst, den ich seit drei Wochen nicht gesehen hatte, zu mir in’s Atelier, wo er sich nach einer kurzen Begrüßung auf das Sopha warf, den Kopf schüttelte und leise vor sich hin lachte.

„Nun, haben Sie sie endlich entdeckt?“ fragte ich, meinen Stuhl zu ihm umwendend.

„Noch nicht, noch nicht,“ antwortete er; „aber es ist festgestellt, daß sie da ist; man hört sie zuweilen rascheln. Meine Schwester hat sie rascheln hören, und von ihr habe ich die kleine Nachricht, die ich bringe. Sie wissen, daß mein schöner Vetter ein ungemein eigener Mann ist. Er ist wie ein Spiegel; nicht ein Stäubchen will er auf sich haben, und in Allem, was zu seiner Toilette gehört, war er von Jugend auf schwer zu befriedigen. Die junge Frau hatte meine Schwester ersucht, ihr beim Einkaufe eines ihr fehlenden seidenen Kleides behülflich zu sein, und hatte sie nach vollbrachter That mit zu sich geschleppt. Da trafen sie den glücklichen Gatten vor seinem Wäschspinde knieend und wie in einem Neste reiner, aber vollständig auseinandergerissener und zerknitterter Wäsche begraben. Er war sehr schlechter Laune und behauptete, kein Oberhemd zu haben, das er anziehen könne. Das eine war zu blau, das andere zu gelb, und die übrigen waren alle furchtbar grau und so schlecht geplättet, wie er es nicht gewohnt sei. Er war durchaus nicht guter und liebenswürdiger Laune und hat sich schließlich aus seinem weißen Neste mit den Worten erhoben: ‚Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll, Marie.‘

Marie hatte ihm aber sehr ruhig zugehört und in dem tröstenden Tone, den man einem unzufriedenen Kinde gegenüber anschlagen würde, ebenso ruhig geantwortet: ‚Es thut mir wirklich leid, lieber Eduard. Aber Du wirst Dich schon einmal so behelfen müssen; es soll nicht wieder vorkommen; ich werde es dem Mädchen sagen.‘

‚Dem Mädchen sagen?‘ soll er gerufen haben; ‚dem Mädchen sagen? Es würde mir eine viel bessere Garantie sein, mein Kind, wenn Du Dich selbst etwas darum bekümmertest, statt den ganzen Tag still zu sitzen.‘

Da soll sie ihn mit einer ganz sonderbaren Miene angesehen und nach einem Augenblick des größten Erstaunens kurz und kalt erwidert haben: ‚Wenn Du den Wunsch hattest, Eduard, eine Frau zu bekommen, die ihr Glück darin findet, den ganzen Tag am Waschfaß zu stehen, so hättest Du es sagen sollen. Ich würde Dir dann einfach geantwortet haben, daß ich dazu keinen Beruf in mir fühle.‘

Und da soll er etwas roth geworden sein, dann das Zimmer verlassen und die Thür hinter sich so zugemacht haben, wie sie artige Kinder nicht zumachen dürfen.

Sie ist liederlich, lieber Freund, und die Katastrophe wird sich wahrscheinlich unromantischer entwickeln, als wir hofften,“ sagte der Schöngeist sich erhebend. „Meine brave Mama und ihre weibliche Nachkommenschaft haben es schon vor vier Monaten herausgehabt, aber ich wollte ihnen nicht glauben, weil ich es im Allgemeinen nicht für rathsam halte, großes Gewicht auf das zu legen, was Frauen von einander sagen. In diesem Falle haben sie Recht, und ich kam eigentlich, um Sie zu bitten, Ihre Augen nach dieser Richtung hin ein Bischen aufzumachen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und ich glaube, es wird sich da sehr viel hübsches Detail entwickeln, welches ich nicht gern entbehren möchte – auf Wiedersehen!“ –

Eduard Sandow war von den glänzenden Eigenschaften seiner jungen Frau so eingenommen, daß sie nach dieser Seite hin sehr leichtes Spiel mit ihm hatte. Sie wünschte Unterricht im Oelmalen zu nehmen, bei mir zu nehmen, und ich konnte ihre Bitte nicht gut abschlagen, da ihr Mann sie sehr warm darin unterstützte. Es war anfangs sehr lustig, die junge Frau in dem Costüm zu sehen, das sie sich für das „Atelier“ hergerichtet hatte. Ein rothes Jäckchen, blousenähnlich, wie es bei Malern Mode ist, stand ihr sehr gut, und der gleichfarbige Fez wippte übermüthig auf dem Berg aschblonder Haare hin und her, obgleich er mit einer unsichtbaren Gummischnur wie ein Cereviskäppchen befestigt war. Palette und Malstock in der linken, ein Bündel Pinsel in der rechten Hand, so fuhr sie in dem größten und besten Zimmer, das nach ihrer Meinung zum „Atelier“ gut genug war, hin und her, als ob sie im Begriff wäre auf die Maskerade zu gehen und nur noch auf den Wagen warte. Wie keck sie dann den Pinsel handhabte und zu Beginn der Arbeit mit voller Energie auf die Sache losging! Sie hatte wirklich ein ganz hübsches Talent, dem es nur an stetiger Arbeit fehlte, um sich zu entwickeln und auszudehnen. Aber Marie Sandow und Ausdauer waren zwei Dinge, so weit entfernt von einander wie Nord und Süd. Wenn es nach einer halben Stunde noch nichts wurde, oder lieber gar schon war, dann kam der Unmuth über sie, und sie fing an, mit der Farbe und dem sonstigen Material zu „wirthschaften“, als wenn es sich nur darum handle, recht viel davon zu verbrauchen, um eine große Künstlerin zu sein. Dann flogen das Kremserweiß, der Laque écarlate und andere Farbenblasen bei dem Malkasten vorbei an die Erde und platzten; dann stieß sie mit dem untern Ende des Malstocks die Flasche mit dem Siccatif de Harlem um, die ihren öligen Inhalt fröhlich auf dem Fußboden ausströmte; dann bückte sie sich darnach und warf die ganze Staffelei mit dem Bilde um, das, noch ganz frisch, auf das Gesicht fiel, und es war wirklich sehr amüsant mit anzusehen, wie das glänzende Parquet an der Stelle, wo wir saßen, sich regelmäßig in einen aus lauter kleinen farbigen Steinen zusammengesetzten Mosaikboden verwandelte, auf welchen man nur zu treten brauchte, um ihn weitergehend in einer Art von Naturselbstdruck über das ganze Zimmer zu verbreiten.

Zuweilen kam der sehr peinliche Eduard in dem Augenblicke hinzu, wo die Katastrophe hereinbrach, und er konnte sich dann dem komischen Eindrucke natürlich nicht entziehen, den solche Vorfälle auf den Unbetheiligten immer hervorrufen. Zuweilen kam er aber auch erst später und sah die traurigen Folgen der Katastrophe allein; das machte sich dann viel weniger komisch, und ich erhielt auf diese Weise Gelegenheit, zu bemerken, daß er nicht immer lächelte. – –

Es mag zu jener Zeit gewesen sein, daß ich von dem Schöngeiste den Auftrag erhielt, die Augen nach dieser Richtung hin ein Bischen aufzumachen. Ich that es und kam sehr bald zu der Ueberzeugung, daß die junge Frau wirklich nicht zu den „eigensten“ zu gehören schien. Das rothe Jäckchen bekam auch schon ein recht mosaikähnliches Ansehen; aber das wäre noch das Wenigste gewesen. Es waren noch andere Sachen da, die, wenn sie auch beim Malen und derartigen Hantierungen regelmäßig schmutzig wurden, sich doch sehr leicht wieder reinigen ließen und die augenscheinlich seltener und oberflächlicher diesem Processe unterzogen wurden, als es sonst in guter Gesellschaft Sitte ist. Ich machte noch ähnliche Bemerkungen anderer Art, die ich nicht unerwähnt lassen will.

Es war zu jener Zeit eine Ausstellung vor der Thür, auf welcher die zeichnenden und malenden Damen der Residenz einmal „unter sich“ sein wollten. Die Idee war sehr glücklich, wurde von einer Prinzessin und anderen sehr hochgestellten Damen unterstützt und rief in allen Damen-Ateliers den unzähmbarsten Eifer hervor. Die junge Frau lebte und dachte wochenlang nur „in Oel“, und es war eine ziemlich schwierige Periode für mich, ehe wir mit den zwei Bildern, welche sie angemeldet hatte, fertig waren. Wir waren glücklich bei den letzten Retouchen angelangt, und es handelte sich darum, sie so gut wie möglich anzubringen. Meine Schülerin war Feuer und Flamme; es galt ja, den geliebten Mitschwestern einen Theil des geträumten [710] Triumphes zu entziehen. Ich saß neben ihr und gab ihr die Farben an, welche sie für die Lasur ihres Vordergrundes brauchte. Ihre Wangen glühten; unruhig rückte sie auf ihrem Stuhle hin und her, und nach vorn gebeugt, den Fuß auf die untere Leiste der Staffelei gesetzt, machte sie die Probe mit dem Pinsel auf dem trockenen Bilde.

„O, vortrefflich! … Wie es leuchtet! … Diese Kraft! Ach, wenn ich eine Medaille bekäme, ich wäre die glücklichste der Frauen!“

Aber was war das für ein Geräusch, das in ihre Worte hineintönte? War es ein Rascheln? Nein, es war der kleine Pantoffel von russischem Juchten, der ihr vom Fuße glitt; er fiel zu Boden. Aber nein, es raschelt doch! und – Gott steh’ mir bei! … da ist sie, die Schlange, da sieht sie hervor mit der Schwanzspitze! Wo? Da, unter dem Saume des grauseidenen Kleides, an der Stelle, wo die Schnur des Besatzes abgerissen und weit nachschleppend herunterhängt. Wahrhaftig! Da ist sie!

In meinem Schreck hatte ich nicht bemerkt, daß Eduard Sandow leise in das Zimmer getreten war. Da hörte ich plötzlich einen tiefen Seufzer, der fast einem schmerzlichen Stöhnen glich, und als ich meine Augen von dem Ungethüm abwandte, um dahin zu sehen, woher dieser Ton kam, da sah ich, daß seine Blicke entsetzt auf dem Punkt ruhten, den die meinen soeben verlassen hatten. In meiner Verlegenheit gab ich meiner Schülerin einen sehr confusen Rath, den sie im Begriff war zu befolgen, als sie endlich zu bemerken schien, daß ihr Gatte sie fortwährend leise anstieß, wodurch sie schon zweimal mit ihrem Pinsel ein wenig ausgerutscht war. Sie wurde unmuthig und sagte: „Ach, bitte, störe mich jetzt nicht, Eduard! Es ist gerade ein sehr wichtiger Moment.“

„Das ist es allerdings, mein Kind, und deshalb muß ich Dich eben stören!“ antwortete er, und seine Stimme zitterte ein wenig.

„Es wird wieder eine schöne Kinderei sein, Eduard,“ sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, sonst hätte sie bemerken müssen, daß er den Wunsch hatte, ihr pantomimisch etwas klar zu machen. Ich fühlte es deutlich; und doch sah ich ihn ebenfalls nicht an.

„Es ist insofern allerdings eine Kinderei, als ich Dich bitten wollte, doch lieber Deinen Schuh anzuziehen, der … an der Erde liegt.“

Während er diese Worte sagte, in denen seine Stimme noch mehr in ein leises Fiebern fiel, war ich aufgestanden, um mir am andern Ende des Zimmers irgend ein lächerliches Gewerbe zu machen. Ich konnte nicht sehen, ob sie, seinen Pantomimen endlich folgend, ebenso erschrak, wie wir Beide; aber ich glaube es nicht, denn sie antwortete sehr ruhig und ohne sich Mühe zu geben, den Klang ihrer Stimme zu dämpfen: „Nun, das ist wieder ein großes Unglück! Es ist unrecht von Emilie … daß sie nicht achtsamer ist!“

Jetzt schien die Geduld des armen Mannes zu reißen, denn er gab dem Schemel, auf welchem der Malkasten stand, einen so heftigen Stoß, daß er auf dem glatten Parquet bis halb zu mir hingeschlittert kam, wo er sich einen Augenblick besann, ob er umfallen sollte, und es dann wirklich that. Dazu sagte Eduard ziemlich heftig: „Die Entschuldigung sieht Dir ähnlich. Es ist unrecht von Dir, und nicht von dem Mädchen.“

„Ich finde es wirklich nicht hübsch, wenn ein Mann sich nicht zu beherrschen weiß,“ antwortete sie, nun ihre Stimme ebenfalls etwas erhebend.

„Und ich,“ rief er zornig, „finde es noch weniger hübsch, wenn eine Frau, eine junge Frau, sich … in dem Maße vernachlässigt.“ Dann ging er zum Zimmer hinaus, und machte wieder die Thür so hinter sich zu, wie es artigen Kindern verboten ist, sie zuzumachen.

Ich hatte mich unterdeß beschäftigt, den Inhalt des Malkastens wieder aufzulesen, wobei ich halblaut (ich bin Junggeselle) ein Liedchen vor mich hinsummte. Als ich zu meiner Schülerin wieder herantrat, war sie eben so fleißig mit ihrer Lasur beschäftigt wie vorhin. Nicht die geringste Erregung war an ihr zu bemerken. Sie sah ruhig zu mir auf und sagte lächelnd: „Ich glaube, ein wenig mehr Jaune capucine würde die Lasur noch leuchtender machen.“


(Fortsetzung folgt.)




Von der Abstammungslehre.
2. Naturphilosophische Begründer der Schöpfungsgeschichte.


Die Descendenztheorie oder Abstammungslehre (siehe Gartenlaube Jahrgang 1872, S. 42 und 58; 1873 S. 372), nach welcher aus unvollkommenen Organismen nach und nach vollkommenere entstehen, hat zuerst der große deutsche Naturforscher Caspar Friedrich Wolff in ihren wichtigsten Grundzügen festgestellt und zwar schon im Jahre 1759. Es blieb dies aber fast ein halbes Jahrhundert hindurch ganz unbeachtet, und erst durch Oken (1806) und Meckel (1812) wurde Wolff’s Theorie (durch die Uebersetzung derselben aus dem Lateinischen in’s Deutsche) allgemeiner bekannt. Auch Goethe sprach schon mit ziemlicher Bestimmtheit die wichtigsten Grundsätze der Abstammungslehre aus; doch war dieser Ausspruch wohl mehr das Product einer subjectiv-philosophischen Speculation, als realer und rationeller Beobachtungen. – Den ersten Platz in der Geschichte der Abstammungslehre nimmt jedenfalls der Franzose Jean Lamarck ein, da er es ist, der zum ersten Male diese Lehre als selbstständige wissenschaftliche Theorie durchgeführt und sich den unsterblichen Ruhm erworben hat, dieselbe als die naturphilosophische Grundlage der ganzen Lehre vom Leben (Biologie) festgestellt zu haben. Wie nun die Wolff’sche Theorie (1759), so schlummerte auch die 1809 von Lamarck begründete ziemlich ein halbes Jahrhundert und wurde erst 1859 durch den Engländer Darwin zu neuem unsterblichem Leben erweckt, also genau ein Jahrhundert später, nachdem Wolff seine Theoria generationis geschrieben hatte. Neben Darwin, mit welchem gleichzeitig auch der berühmte Reisende Wallace zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen war, hat sodann Häckel das Ganze der natürlichen Schöpfung in ein festes System gebracht und bis in die letzten Consequenzen durchgeführt. Zu den Naturphilosophen, welche den alten Glauben an die mosaische Schöpfung untergruben und an dem Aufbaue der naturgemäßen Schöpfungsgeschichte mithalfen, gehören außer den Obengenannten auch noch Kant, Geoffroy St. Hilaire, Treviranus, Lyell, Owen, Huxley, Hooker, Bär, Pander, Herbert Spencer, Wells, Grant, Naudin, Kayserling, Leopold Trattinick, Oskar Schmidt, Büchner u. A.

Sämmtliche Naturforscher und Naturphilosophen aber, welche vor Darwin als Anhänger der Entwickelungslehre auftraten, gelangten nur zu der Anschauung, daß alle verschiedenen Thier- und Pflanzenarten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die allmählich veränderten und umgebildeten Nachkommen von einer einzigen oder einigen wenigen ursprünglichen, höchst einfachen Stammformen sind, welche letztere einst durch Urzeugung aus unorganischer Materie entstanden. Aber Keiner gelangte dazu, diesen Grundgedanken der Abstammungslehre gehörig ursächlich zu begründen und die Umbildung der organischen Arten durch den wahren Nachweis ihrer mechanischen Ursachen wirklich zu erklären, wie Darwin. Er war es, der die natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein, selbstverständlich[WS 1] stets neben der Vererbung, als die wichtigste Ursache der beständigen Umbildung der organischen Formen erkannte. Die Naturphilosophen, welche sich bis jetzt die größten Verdienste um die Abstammungslehre erworben haben, sind: Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, Darwin und Häckel.

[711]

Jean Lamarck.
Charles Darwin.                    Ernst Heinrich Häckel.
Etienne Geoffroy St. Hilaire.
Die vier Hauptvertreter des Darwinismus.

[712] Jean Lamarck, obschon im Jahre 1744 geboren, veröffentlichte doch erst im Jahre 1801 seine Theorie und gab ihr 1809 ihre jetzige Gestalt und Klarheit durch sein classisches Werk „Philosophie zoologique“ (neu aufgelegt von Charles Martins, Montpellier), welche dem Darwin’schen Werke an die Seite gesetzt werden kann. Seinen hohen Ruf als Naturforscher erwarb er sich durch zahlreiche specielle Arbeiten über die niederen Thierformen (Wirbellose); er ist es auch, der die Thiere zuerst als Wirbelthiere und Wirbellose unterschied und die Krusten- und Spinnenthiere von den Insecten trennte. Seine Zeitgenossen fanden Lamarck’s Forschungen in der Abstammungslehre geradezu lächerlich und schwiegen dieselbe todt. Ja Cuvier wurde sogar der ärgste Feind der Lamarck’schen Theorie, und selbst Goethe, der sich doch so lebhaft für die Naturphilosophie und später für die Abstammungslehre interessirte, gedenkt Lamarck’s nirgends. Uebrigens hat Lamarck auch schon die Entwickelung des Menschen aus einem affenartigen Säugethiere darzuthun versucht, und nach ihm sind alle sogenannten geistigen Vorgänge physische Handlungen, welche aus den Beziehungen hervorgehen, die gewisse Arten von Materie (Hirn- und Nervenmasse) im Zustande der Thätigkeit untereinander haben, und sich in einem besondern Organe (Gehirn) vollziehen, das stufenweise die Fähigkeit erlangt, sie hervorzubringen. Auch bei den höheren Thieren ist nach ihm die geistige Begabung an jenes besondere System von Organen gebunden, dessen besondere Entwickelungsstufe und dessen Unversehrtheit den Grad der geistigen Fähigkeit bedingen und regeln.

Lamarck war von Geburt ein Junker aus der Picardie, das elfte Kind eines armen Edelmannes (Pierre de Monet-Lamarck). Er trat in seinem sechszehnten Jahre (1760) in die französische Armee in Westfalen, schlug sich gut, wurde krank, zum Soldaten untauglich und pensionirt (mit vierhundert Franken). Nachdem er kurze Zeit Commis bei einem Banquier in Paris gewesen, widmete er sich vorzugsweise der Botanik (veranlaßt durch die Pflanzen, welche ihn in seiner Krankheit umgeben hatten). Als er durch die Revolution seine Pension verlor, machte ihn Lakanal, Organisator am Pflanzengarten, zum Professor der Naturgeschichte für wirbellose Thiere. Unter unsäglicher Arbeitslast für sieben Kinder wurde er alt und arm, und durch das unablässige Arbeiten mit der Loupe blind, so daß er die letzten zehn Jahre seines Lebens, von zwei Töchtern gepflegt, in Armuth und Entbehrung im Zimmer zubringen mußte und im fünfundachtzigsten Lebensjahre (1829) starb.

Etienne Geoffroy St. Hillaire, der Aeltere, das Haupt der französischen Naturphilosophen, hegte schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts (1795) ähnliche Vermuthungen über die Umbildung der Organismen wie Lamarck, wagte sich aber erst im Jahre 1828 (in seinem Werke „Sur les principes de l’unité de la composition organique“) auf Lamarck’s Seite zu stellen und zu dem Grundsatze der Einheit in der organischen Natur offen zu bekennen. Das Hauptverdienst von St. Hilaire ist, dem mächtigen Einflusse Cuvier’s entgegengetreten zu sein und zwar in der Pariser Akademie am 22. Februar und 19. Juli 1830. In diesem Streite blieb Cuvier leider Sieger und die Naturphilosophie wurde dreißig Jahre lang fast ganz unterdrückt, so daß bis heute der Darwinismus in Frankreich noch nicht ordentlich Eingang gefunden hat. Goethe, welcher Lamarck ganz mit Stillschweigen übergeht, nahm dagegen so großes Interesse an dem Hilaire-Cuvier’schen Streite, daß er noch wenige Tage vor seinem Tode (1832) eine besondere Abhandlung (in seinem dreiundachtzigsten Jahre) darüber schrieb. Es ist diese Abhandlung Goethe’s letztes Werk. Während Lamarck als Hauptursache der organischen Veränderung die Gewohnheit, das Bedürfniß, die Uebung, den Gebrauch und Nichtgebrauch, die Lebensweise etc. ansieht, legt St. Hilaire das Hauptgewicht auf die beständige Veränderung der Außenwelt, besonders der Atmosphäre in Bezug auf Wasser, Wärme, Kohlensäure etc.

Charles Darwin, welcher die Lamarck’sche Entwickelungslehre erst fest begründet, vollständig ausgebildet und ihr zur allgemeinen Anerkennung verholfen hat, fand als die wahren wirkenden Ursachen für die unendlich verwickelte Gestaltenwelt in der organischen Natur die natürliche Züchtung (Auswahl) oder die Erhaltung der begünstigten Racen im Kampfe um’s Dasein (bei der Mitbewerbung um die nothwendigsten Existenzmittel). Diese neue von Darwin aufgestellte Theorie, welche uns die natürlichen Ursachen der Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzenarten enthüllt, wird „Züchtungslehre oder Selectionstheorie“ genannt. Darwin’s Gedankengang war folgender: der Züchter erzielt eine neue Race, indem er während längerer Zeit die Thiere oder Pflanzen zur Zucht jedesmal sorgfältig auswählt, dadurch die Veränderungen in einer bestimmten Richtung festhält und durch eine Reihe von Generationen häuft. Auf ähnliche Weise verfährt die Natur; sie trifft eine Zuchtwahl, indem von allen individuellen Abänderungen nur diejenigen zur Fortpflanzung gelangen, welche im Kampfe um das Dasein (und die Ehe?) sich als die stärkeren erweisen, indem die anderen nothwendig zu Grunde gehen. So werden durch die natürliche Züchtung im Verlaufe von zahllosen Generationen die kleinen, unscheinbaren Abänderungen, welche die Kinder von den Eltern unterscheiden, summirt und daraus bei fortdauernder Abänderung nach und nach ganz neue, nur während einer sehr kurzen Zeit ihrer Entwickelung (im Embryonalzustande) ihren Vorfahren noch ähnliche Lebewesen gebildet. – Darwin’s Lehre ist durchaus keine Hypothese, denn sie gründet sich auf längst anerkannte allgemeine Eigenschaften der Organismen (Anpassung und Vererbung) und auf greif- und sichtbare Thatsachen. Man bedenke, daß die Natur mit verhältnißmäßig sehr geringen und unscheinbaren Mitteln Großes leisten kann, aber freilich durch eine langsame und allmähliche Aufeinanderhäufung ihrer Wirkungen innerhalb ungeheurer geologischer Zeiträume.

Darwin wurde den 12. Februar 1809 zu Shrewsbury geboren, bezog im siebenzehnten Lebensjahre (1825) die Universität Edinburgh und dann Christ’s College zu Cambridge, wo er, kaum zweiundzwanzig Jahre alt (1831), den Baccalaureus-Grad erwarb. Er schloß sich jetzt dem Capitain Fitzroy zu einer wissenschaftlichen Expedition an, welche fünf Jahre dauerte und zur Erforschung der Südspitze Süd-Amerikas unternommen wurde. Darwin beschrieb diese Reise, insbesondere in Bezug auf die Korallenriffe. Hier empfing er schon Eindrücke, welche ihn später zur Aufstellung der Selectionstheorie veranlaßten. Durch die Reise kränklich geworden, zog er sich auf sein Gut Down in Kent zurück und widmete sich hier seiner Selectionstheorie und dem Studium der Organismen (der Hausthiere und Gartenpflanzen, besonders der Taubenzüchtung) im Culturzustande (Domestication). Nachdem er einundzwanzig Jahre lang (von 1837–1858) mit bewunderungswürdiger Vorsicht und Selbstverleugnung seine Theorie verborgen hielt, um immer mehr Erfahrungen dafür zu sammeln, wurde er durch Lyell und Hooker, welche Beide Darwin’s Arbeit seit langer Zeit kannten, deshalb veranlaßt dieselbe zu veröffentlichen, weil Alfred Wallace genau zu denselben allgemeinen Anschauungen über die Entstehung der Arten wie Darwin gelangt war und seine Arbeit an Darwin eingesendet hatte. So wurde Darwin’s wie Wallace’s Arbeit im August 1858 in einem englischen Journale veröffentlicht und im November 1859 erschien dann das epochemachende Werk Darwin’s „Ueber die Entstehung der Arten“, in welchem die Selectionstheorie ausführlich begründet ist. Seine späteren Werke sind: „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“, „Die Abstammung des Menschen“, „Die geschlechtliche Zuchtwahl“ und „Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegung bei den Menschen und bei den Thieren“.

Ernst Heinrich Häckel, Professor in Jena und ohne Zweifel der genialste Fortbildner der großen Idee Darwin’s, ist der eifrigste Verfechter und Ausbauer des Darwinismus. Er hat dem durch Darwin fest begründeten Lamarckismus mit Hülfe specieller Anwendung auf die Formveränderungen organischer Wesen ein unerschütterliches Fundament gegeben und mit großem Freimuthe rücksichtslos die letzten Consequenzen derselben ausgesprochen, und zwar theilweise sogar noch vor Darwin. Er hat zuerst die Descendenztheorie auf einem Wege bewiesen (d. i. durch den analytischen Beweis), der bisher noch nicht betreten worden war, nämlich durch umfassende und möglichst vollständige monographische Bearbeitung einer kleineren Organismengruppe, verbunden mit dem speciellen Nachweis des genealogischen Zusammenhangs aller darin enthaltenen unterschiedenen Formen. Hierzu benutzte er die Kalkschwämme und zeigte an diesen durch Tausende und Abertausende von Untersuchungen, Schritt für Schritt, die allmählichen Uebergänge von der einfachsten Schwammform bis zu der [713] vollkommensten. Er hat ganz besonders durch Aufstellung seines sogenannten „biogenetischen Grundgesetzes“ der Entwicklungslehre einen so festen Boden verliehen, wie es die vergleichende Anatomie und Versteinerungslehre für sich nicht gekonnt hätten. Es beruht dieses Grundgesetz aber darauf, daß ein organisches Wesen während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwickelung (während seines Embryolebens) solche verschiedenartige Formenveränderungen durchläuft (Ontogenie), welche die Vorfahren desselben mit Hülfe der Anpassung und Vererbung ganz langsam seit den ältesten Zeiten (von der Wurzel ihres Stammes an) durchlaufen haben (Phylogenie oder paläontologische Entwickelungsgeschichte der Vorfahren).

Häckel wurde am 16. Februar 1834 zu Potsdam geboren und verlebte seine Jugend bis zum achtzehnten Jahre in Merseburg. Schon von seinem achten Jahre an trieb er unter Anleitung eines Lehrers Botanik, sammelte und bestimmte Pflanzen, legte sich ein Herbarium an und wählte sich zur Lectüre, neben Reisebeschreibungen, Schleiden’s Leben der Pflanze, sowie Humboldt’s Ansichten der Natur. Hierbei weckten in dem jungen Botaniker die schlechten Arten (nach Goethe die charakterlosen oder liederlichen Geschlechter) der Rosen, Disteln, Winden und Brombeeren schon einen Zweifel an der Beständigkeit der Arten. – Er studirte von Ostern 1852 bis Ostern 1857 und zwar zuerst zwei Jahre in Berlin (unter Joh. Müller) und dann drei Jahre in Würzburg, wo er unter Kölliker und Virchow besonders normale und pathologische Anatomie und Physiologie trieb und als Virchow’s Assistent fungirte. Im März 1857 wurde er in Berlin zum Dr. med. promovirt, ging dann auf drei Monate nach Wien und absolvirte das Staatsexamen im Winter 1857 bis 1858 in Berlin, wo er dann seine einjährige Laufbahn als praktischer Arzt (mit Sprechstunde früh von fünf bis sechs Uhr) begann. Da die Praxis weder Anziehendes noch Einnehmendes für Häckel hatte, beschloß er, sich der akademischen Laufbahn zu widmen und als Docent für vergleichende Anatomie zu habilitiren, was er denn auch auf Veranlassung seines Freundes Gegenbauer, welcher der Abstammungslehre in der vergleichenden Anatomie eine der wichtigsten Stützen geschaffen hat, 1861 in Jena that. Vorher unternahm er aber, besonders um die niederen Seethiere kennen zu lernen, mehrere größere Reisen. Schon 1854 war er zu diesem Zwecke mit Joh. Müller in Helgoland und 1856 mit diesem und Kölliker in Nizza. Im Januar 1859 ging er nach Italien und lebte hier in Florenz, Rom, Neapel, Messina. Im Mai 1860 kehrte er über Paris nach Berlin zurück und arbeitete hier sein Prachtwerk über Radiolarien aus.

In Jena wurde Häckel 1862 zum außerordentlichen, 1865 zum ordentlichen Professor der Zoologie und vergleichenden Anatomie ernannt und blieb bis jetzt in Jena, obschon er einen Ruf nach Würzburg (1865), nach Wien (1871) und nach Straßburg (1872) unter sehr günstigen Bedingungen erhalten hat. Als Professor unternahm er naturwissenschaftliche Reisen nach den canarischen Inseln (Winter 1866–1867), Norwegen (1869), nach dem Orient (1873). Die wissenschaftlichen Materialien, die er auf diesen Reisen sammelte, sind in mehreren größeren und kleineren Monographien verarbeitet. Seine Hauptwerke sind: „Die generelle Morphologie der Organismen“ (1860), „Die natürliche Schöpfungsgeschichte“ (4. Aufl. 1873), und neuerlich eine „Monographie über die Kalkschwämme“ (1872). Als das Hauptfeld seiner Thätigkeit, für welches ihm seine speciellen zoologischen Arbeiten nur die Basis liefern sollten, betrachtet Häckel die generelle Zoologie und namentlich die Entwicklungsgeschichte mit Rücksicht auf die von Darwin reformirte Descendenztheorie, wodurch er eben zur Aufstellung des Grundgesetzes der organischen Entwickelung, des sogenannten „biogenetischen Grundgesetzes“ veranlaßt wurde, welches er kurz mit folgenden Worten ausspricht: „Die Ontogenie ist die gedrängte Wiederholung der Phylogenie“ (s. oben). Von Häckel’s natürlicher Schöpfungsgeschichte sagt Darwin: „Wäre dieses Werk erschienen, ehe meine Arbeit, die Abstammung des Menschen, niedergeschrieben war, so würde ich sie wahrscheinlich nie zu Ende geführt haben; fast alle die Folgerungen, zu denen ich gekommen bin, sind durch diesen Forscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen Punkten viel reicher sind als meine.“ Dieser, Häckel wie Darwin gleich ehrende Ausspruch Darwin’s dürfte wohl für die von Häckel mit großem Scharfsinn und vielseitiger Gelehrsamkeit aufgestellten Stammbäume und gegen den Häckel ganz voreilig gemachten Vorwurf, daß er darwinistischer als Darwin selbst sei, zeugen.

Neuerlichst ist auch in Frankreich von den Häckel’schen Arbeiten durch Leon A. Dumont (in „Haeckel et la Theorie de l’Evolution en Allemagne“) Notiz genommen worden.

Bock.     

 Die gewonnene Schlacht.
 Von Ludwig Storch.[1]

Emmerich, der Ungarkönig, und sein Bruder Andreas
Sind in bösen Zwist gerathen. Liebe kehrte sich in Haß.
„Ha! so wagt es dieser Knabe gegen mich sich zu empören,
Wider seinen Herrn und Bruder sich mit Buben zu verschwören!“ –

5
Doch des Prinzen eitle Jugend leiht der Schmeichelei das Ohr,

Und bald schlägt des Aufruhrs Flamme in Pannonien empor.
Bald auch glückt es dem Rebellen kühne Schaaren anzuwerben,
Und sein ungezähmter Hochmuth strebt den König zu verderben.

Emm’rich führt mit Seelenschmerzen gegen ihn die Heeresmacht,

10
Und sie stehn sich gegenüber; bald entscheiden soll die Schlacht.

Plötzlich tritt aus seinem Lager in des Feindes wilde Banden
König Emm’rich ohne Waffen, nur mit seinem Stab zu Handen.

Mit erhobnem Haupte schreitet stolz der Fürst voll Heldenmuth.
„Welcher Krieger wagt’s, zu färben sich mit königlichem Blut?“

15
Starr sind Alle vor Erstaunen; wie gefesselt stehn die Schaaren,

Und des Königs hohe Würde hat fürwahr nichts zu befahren.

Zum Gezelt des jungen Prinzen hat Herr Emm’rich sich gewandt,
Den erschrockenen Rebellen nimmt er freundlich bei der Hand.
„Komm’ im Namen unsrer Mutter! Laß von meiner Hand Dich leiten

20
Dahin, wo es beizulegen ziemt den Bruderzwist uns Beiden.“


Und so führt er ihn hinüber in sein eigenes Gezelt,
Wo er weinend ihn umschlungen an dem Bruderherzen hält.
„Sieh, die Schlacht ist schon gewonnen!“ Es zerstreuen sich die Heere,
Und kein Blut befleckt die Erde und die hohe Fürstenehre.

[714]
Eine literarische Freibeuterei.

Von E. Werner, der Verfasserin der in der Gartenlaube abgedruckten vielgelesenen und belobten Erzählungen „Hermann“, „Ein Held der Feder“, „Am Altar“ und „Glück auf“, erhalten wir behufs Veröffentlichung in unserer Zeitschrift nachstehende Erklärung:

„Es ist zur Kenntniß des Redacteurs der Gartenlaube und zu der meinigen gelangt, daß meine bisher festgehaltene Anonymität in einer ebenso seltsamen als verletzenden Weise ausgebeutet wird, indem eine mir bisher dem Namen und der Person nach völlig Unbekannte sich in den verschiedensten Kreisen für die Verfasserin meiner unter dem Pseudonym E. Werner erschienenen Erzählungen ,Ein Held der Feder‘, ,Am Altar‘ und ,Glück auf‘ ausgegeben hat und noch ausgiebt. Nachdem festgestellt worden, daß es sich hier weder um einen Irrthum noch um ein Mißverständnis handelt, vielmehr eine unzweifelhaft betrügerische Absicht vorliegt, habe ich die Redaction ersucht, die Sache ohne fernere Schonung und mit vollster Namensnennung der Öffentlichkeit zu übergeben, um dadurch einem Betruge ein Ende zu machen, der vielleicht schon einen Theil des Leserkreises der Gartenlaube getäuscht hat, und den ich hiermit sammt seiner Urheberin ohne jeden weiteren Commentar dem allgemeinen Urtheile preisgebe.

Elisabeth Buerstenbinder.

Zur näheren Erläuterung dieser Abwehr hat die unterzeichnete Redaction hinzuzufügen:

Bereits im Frühjahre dieses Jahres empfingen wir aus Schwaz (Tirol) eine briefliche Mittheilung, nach welcher eine in der Zuschrift nicht genannte Dame als Verfasserin der Werner’schen Romane proclamirt wurde. Der Brief lautet:

      Geehrter Herr Redacteur!

Ich habe seit einigen Jahren das Vergnügen, eine junge Dame zu kennen, die sich mir in letzterer Zeit brieflich als die Autorin der in Ihrer geschätzten Zeitschrift „Die Gartenlaube“ erschienenen Novellen „Ein Held der Feder“, „Am Altar“ etc. nannte. Andererseits aber wurde als Verfasserin dieser Sensation machenden Novellen Fräulein Bürstenbinder aus Berlin genannt. Da mich die Sache nun außerordentlich interessirt, fühlte ich mich verpflichtet, der mir bekannten Dame, die ich nach ihren Mittheilungen für die wahre Verfasserin halten muß, von obengenannter im Publicum verbreiteter Meinung Nachricht zu geben. Aus dem Antwortschreiben der jungen Dame entnehme ich nun folgende Stellen:

„Vor Allem nun will ich zur Aufklärung dieser sonderbaren Pseudonym-Verwechselung schreiten, welcher Sie mit einiger Spannung entgegensehen werden. Die Sache verhält sich in folgender Weise: Ich schrieb vor mehreren Jahren, eben als ich von Innsbruck nach Wien kam, an mehrere Zeitschrifts-Redactionen und schickte ihnen mehrere kleine Novellen zur Aufnahme. Dieselben sandten sie mir zurück mit dem Bedeuten, sie nicht verwenden zu können. Als der deutsch-französische Krieg beendet war, schrieb ich meinen ,Federhelden‘(!) und wußte aber nicht, was damit anfangen, da ich mich nicht abermals Zurückweisungen aussetzen wollte. Der Redacteur der ,Wr. Tagespresse“ sagte mir, daß er mir zur Verwendung behülflich sein wolle. Er schickte meinen ,Hermann‘, ,Federhelden‘, ,Ohne Rast und Ruh’ an verschiedene Redactionen und Schriftsteller, welche sie alle nicht verwenden zu können vorgaben. Endlich gab er mir die Nachricht, daß eine Schriftstellerin in Berlin, welche für die ‚Gartenlaube‘ arbeite und mit deren Verleger befreundet sei, versprochen habe, womöglich die Aufnahme meiner Novellen in der ‚Gartenlaube‘ zu bewirken. Ich hatte dem Tagespressenredacteur keinen bestimmten Pseudonym angegeben und war daher durchaus nicht überrascht, als er mir mittheilte, meine Novellen würden unter dem Namen ,Ernst Werner‘ erscheinen. ,Ohne Rast und Ruh‘ erhielt ich zurück; ,Held der Feder‘ und ,Hermann‘ wurden gedruckt. Auf ,Am Altar‘, welches ich bald darauf wieder dem Tagespressenredacteur übergab, erhielt ich den Bescheid, nicht brauchbar zu sein, erschien jedoch, wie ich später erst hörte, als es schon gedruckt wurde, dennoch in der ,Gartenlaube‘. Sonst wußte ich vor Ihrem Briefe nichts davon, daß eine andere Person auch unter dem Namen Ernst Werner schrieb. Indem ich aber die gütig übersandte Zeitungsannonce lese, kann ich mir die Sache nicht anders erklären, als daß besagtes Fräulein Bürstenbinder meinen Novellen ihren eigenen Pseudonym gegeben und so nun die Leser meine Arbeiten für die Ihrigen halten. Ich habe sogleich nach Erhalt Ihres Briefes an die Redaction der ‚Tagespresse‘ nach Wien geschrieben, um mir von dem Redacteur Rath zu erbitten in der Sache. Fräulein von Blum, welche ich persönlich kenne und welche früher Redactrice der ‚Frauenzeitung‘ war (Beilage der ‚Tagespresse‘), schrieb mir zurück, daß Herr Enke die Redaction niedergelegt und Wien verlassen habe. Mir bleibt also nichts übrig in der Sache, als zu schweigen, wenn ich nicht etwa einen Preßproceß gegen Fräulein Bürstenbinder anstrenge und die Leute, welchen ich besagte drei Novellen noch im Manuscripte mitgetheilt, als Zeugen aufrufen will. Der Proceß würde mir aber zu nichts nütze sein, als Höchstens meinen Namen als Autor bekannt zu machen; denn Fräulein Bürstenbinder kann man daraus keinen Vorwurf machen, daß sie für die Arbeiten eines Anderen den Pseudonym Ernst Werner gewählt, wenn der ihrige auch E. Werner ist, denn es stand ihr ja die Wahl eines Namens für mich frei. Und Herr Keil, der Redacteur der ‚Gartenlaube‘, weiß nichts davon, daß ich der Verfasser dieser paar Novellen bin, er hält vermuthlich Fräulein Bürstenbinder für den Autor. Mich kennt er bis jetzt nur als Verfasser von lyrischen Gedichten, deren er einige unter meinen eigenen Initialien M. T. in seinem Blatte aufgenommen.“

Wie Sie nun aus dem obigen Citate ersehen, Herr Redacteur, scheint das Fräulein nicht geneigt zu sein, ihre Autorschaft zur Geltung zu bringen, und es ist nur ein rein privates Interesse, was mich veranlaßt, Ihnen diese Mittheilung zu machen und Sie, Herr Redacteur, zu bitten, mir womöglich geneigte Auskunft über den wahren Sachverhalt zu geben, wodurch ich in die angenehme Lage käme, die hiesige Gesellschaft, der das Fräulein ebenfalls bekannt ist, von ihren Zweifeln zu befreien. Wollen Sie nun so freundlich sein, meine bescheidene Anfrage nicht im Kleinen Briefkasten der Redaction, sondern durch ein paar Zeilen direct an mich zu beantworten, so würden Sie mich außerordentlich verbinden.

Achtungsvoll
M.

Im Zweifel, ob wir über dieses Gewebe von durchweg frechen Lügen lachen oder uns darüber ärgern sollten, betrachteten wir die Reclamationen der uns unbekannten Usurpatorin schließlich doch als Ausgeburt eines kranken Gehirns oder als eine freche Schwindelei und beantworteten in diesem Sinne das betreffende Schreiben, indem wir zugleich der Verfasserin der eben im Druck befindlichen Erzählung „Glück auf“ die sonderbare Anklage mit einigen scherzenden Worten einsandten. Da auch auf diese Antwort der Name der „jungen Dame“ von Schwaz aus nicht genannt wurde, so war vorläufig eine weitere Verfolgung des Intermezzos unmöglich und unterblieben deshalb alle weiteren Schritte.

Wir bitten indeß unsere Leser, nicht zu übersehen, daß in obiger Zuschrift die „junge Dame“ sich auch die Autorschaft des „Hermann“ anmaßt, während diese in einer späteren Zuschrift kurzweg abgeleugnet wird.

Wenige Monate darauf (Ende Juni) lief von Pest das nachfolgende Schreiben des dortigen Buchhändlers Herrn Aigner an den Redacteur dieses Blattes ein:

Pest, 26. Juni 1873.

      Geehrtester Herr College!

Hierdurch erlaube ich mir, mich in einer heiklen Angelegenheit an Sie zu wenden, die für mich wichtig ist und für Sie nicht ohne Interesse sein kann. Es handelt sich nämlich um eine Mystifikation (wohl auch etwas mehr), deren Lüftung und Klärung für uns Beide zum Mindesten ein interessantes Problem sein muß.

Doch zur Sache.

Ich lernte unlängst ein Fräulein –a von T– kennen, die man mir als Verfasserin der unter dem Pseudonym E. Werner in der Gartenlaube erschienenen Novellen „Ein Held der Feder“ etc. vorstellte. Ich interessirte mich natürlich sofort sehr lebhaft für sie und auf meine Frage über ihr Pseudonym, über ihre Arbeiten etc. theilte sie mir die Geschichte der Gartenlaube-Novellen mit, die, so seltsam sie auch klingen mag, doch so viel psychologische Wahrscheinlichkeit enthält, daß ich mich zur Entwirrung dieses gordischen Knotens um so eher erbot, als ich dabei geschäftlich interessirt bin und in der Sache auf dem Wege des Gesetzes – wenigstens vorläufig – gar nichts zu erreichen und zu erwirken wäre.

Ich wende mich daher zunächst an Sie, den anerkannten Ehrenmann (der, wie ich sicher annehme, die Literatur gleich mir nicht blos als melkende Kuh betrachtet), mit der Bitte, den Verlauf der Historia anzuhören, sich darüber Ihr Urtheil zu bilden und mir dann mit Rath und That in meinem Vorhaben beizustehen.

Die Erzählung des Fräuleins T– lautete folgendermaßen (ich habe sie schriftlich in Händen):

„Ich schrieb im Laufe früherer Jahre, als ich noch zu Hause lebte, sechs Novellen, von welchen zwei noch Fragment, eine andere noch unbetitelt waren, als ich im September 1870 die Heimath verließ und mich nach Wien begab, um dort meine musikalischen Studien zu vollenden. Meinen streng aristokratisch denkenden Verwandten hatte ich zu Hause meine belletristischen Versuche vorgelesen, sie waren aber darüber sehr wenig erbaut, da dieselben – wie sie behaupteten – meiner emancipirten (?) gegen die herkömmliche Weltordnung zu sehr Ausdruck gaben. Sie forderten (auch außerdem stricte von mir, daß ich, wenn ich je etwas in dieser Tendenz Verfaßtes veröffentliche, es nur unter einem Pseudonym, nicht unter meinem Familiennamen thue. Mit der Veröffentlichung hatte es aber noch seine guten Wege, denn sämmtliche Redacteure und Verleger, an welche ich mich wandte, sagten mir, ohne meine Arbeiten auch nur zur Durchsicht zu acceptiren, daß sie von Anfängern nichts publiciren. So ließ ich denn meine Manuscripte in meinem Schreibtische ruhig ihrer Auferstehung entgegenschlummern, arbeitete aber zugleich eines der Fragmente, [715] dessen Inhalt sich mit dem deutsch-französischen Kriege von 1870–1871 beschäftigte, fertig.

Im Februar 1871 hatte ich genannte Novelle, welche sich ,Ein Held der Feder‘ betitelte, beendet und las daraus einige Capitel in einem kleinen Kreise im Hause der Baronin von R– vor. Unter meinen Hörern befand sich auch ein Herr, der mir als Wilhelm Enke, Mitarbeiter der ,Tagespresse‘, vorgestellt wurde. Dieser behauptete, nach dem Wenigen zu urtheilen, was ich aus meiner Novelle gelesen, sei dieselbe vollkommen würdig, gedruckt zu werden, und wenn ich sie ihm anvertrauen wolle, so werde er einen Verleger dafür suchen. Ich war über dies Anerbieten natürlich sehr erfreut, und als er am nächsten Tage zu mir kam, um meine anderen Arbeiten auch durchzusehen, gab ich ihm vier fertige Novellen.

Nach einigen Wochen kam Herr Enke zu mir und sagte, daß er alle vier Novellen an eine ihm persönlich bekannte Schriftstellerin, welche mit Herrn Keil in Verkehr stehe, geschickt habe, deren Verwendung zufolge zwei von den Novellen in der ‚Gartenlaube‘ erscheinen würden unter einem beliebigen Pseudonym, da ich sie unter meinem Namen nicht veröffentlichen wolle. Für diese beiden Arbeiten habe er für mich das Honorar von achtzig Gulden erhalten, welche er mir auch sofort ausfolgte. Bezüglich der beiden anderen Novellen wolle sich Herr Keil später entscheiden, jedenfalls müsse die namenlose Novelle umgearbeitet werden.

Im Herbste mußte ich Wien verlassen und nach Hause zurückkehren. Von dort reiste ich nach Ungarn, wo ich eine Stelle als Erzieherin antrat. Auf meiner Durchreise traf ich Herrn Enke nicht in Wien, hinterließ ihm jedoch meine Adresse, damit er mir meine Manuskripte nachsende. Es vergingen Wochen, ich erhielt von Enke kein Lebenszeichen. Wohl aber schrieb mir mein Bruder, daß eine Novelle ‚Am Altar‘ von E. Werner in der ‚Gartenlaube‘ erscheine. Da ich eine so benannte Novelle nicht kannte, pränumerirte ich auf das Blatt und überzeugte mich, daß dies meine unbetitelte Geschichte sei. Ich schrieb an Enke, erhielt jedoch den Brief als unbestellbar zurück. Nun schrieb ich an die ‚Tagespresse‘, die aber von einem Mitarbeiter Enke nichts wissen wollte. Auch meine Bekannten wußten nicht, wohin er gerathen. Kurz, er war und blieb verschollen. Nach vielen Wochen schrieb mir eine Bekannte, daß in der Grazer Zeitung stehe, hinter dem Pseudonym E. Werner, Verfasser von ‚Held der Feder‘ etc. verberge sich ein Fräulein Bürstenbinder in Berlin. Das war mir nun vollkommen unerklärlich. Ich schrieb an Herrn Keil, erhielt aber keine Antwort.

Von allen Seiten ohne Nachricht gelassen, beschloß ich endlich, vorläufig keine weiteren Schritte zu thun, bis ich Herrn Enke nicht habhaft geworden wäre. Da lernte ich Sie kennen, und da Sie versprachen, sich meiner anzunehmen, so will ich auch die Recherchen auf’s Neue mit Eifer betreiben, um meine Autorschaft zur Anerkennung zu bringen. Nachträglich habe ich zu bemerken, daß die Novelle ,Hermann‘ mit der meinen nichts gemein hat als den Namen, während der Inhalt ein ganz anderer ist. Die drei anderen Novellen (,Held der Feder‘, ,Am Altar‘, ,Glück auf‘) dagegen sind meine Produkte.“

So steht die Sache und – in meinen Augen wenigstens – ist es ganz unzweifelhaft, daß da eine Mystifikation, ein geistiger Diebstahl stattfand; wer jedoch der eigentliche Missethäter sei, Fräulein Bürstenbinder oder Herr Wilhelm Enke, oder aber Beide, das wäre vor allem Anderen zu ermitteln. Es könnte nun (objektiv gesprochen) noch ein Fall angenommen werden, der nämlich, daß Fräulein von T– selbst mystificire. Doch dagegen sprechen zu viel innere Gründe. Fräulein von T– macht (etwas Exaltation abgerechnet) durchaus den Eindruck einer einfachen, aufrichtigen und ehrlichen Dame, welcher man die Erfindung eines solchen Lügengespinnstes nicht zutrauen kann, noch weniger aber die bodenlose Frechheit, die dazu gehören würde, mit einem solchen Selbstbewußtsein aufzutreten und sogar an Sie zu schreiben.

Es kann Ihnen gewiß nicht einerlei sein, ob Sie das Honorar der Gartenlaube – auf Kosten des geistigen Eigenthümers – einem frechen Betrüger zahlen, oder ob Sie damit der deutschen Literatur eine junge, talentvolle Kraft erhalten, die schon nahe daran war, derselben für immer Valet zu sagen. Haben Sie daher die Güte, mir gefälligst mitzutheilen:

1) Empfingen Sie von Fräulein von T– einen, oder vielleicht auch zwei Briefe, und welchen Inhalts? Ließen sich dieselben noch produciren?

2) Empfingen Sie die Manuskripte von „Held der Feder“ etc. von Fräulein Bürstenbinder[WS 2] oder von Herrn Enke?

3) In welchen Verhältnissen lebt der betreffende Einsender und von welcher Seite kennen Sie denselben? Ganz besonders aber: wie lauten seine (sämmtlichen) Briefe?

Im Interesse eines hintergangenen, hülflosen Mädchens, das hier in dürftigen Verhältnissen (von Musik- und Sprachstunden) lebt, ersuche ich Sie freundlichst und dringendst, die Sache nicht zu leicht zu nehmen und mir baldgefälligst Mittheilung zu machen.

Hochachtungsvoll
Ludwig Aigner.

P. S. Fräulein T– hat einige neue Novellen fertig, wollten Sie nicht eine oder die andere für die Gartenlaube acquiriren? Tendenz und Stil ist mit den früheren ganz gleich!

Selbstverständlich ward auch dieser Brief Fräulein Buerstenbinder vorgelegt und nach seiner Rücksendung von dem unterzeichneten Redakteur dieses Blattes wie folgt beantwortet:

     Geehrter Herr College!

Auf Ihre Zuschrift vom 26. Juni heute nur wenige Worte. Fräulein –a von T–, die sich Ihnen als Verfasserin der Werner’schen Romane vorgestellt hat, ist entweder eine gemeine Betrügerin oder sie leidet – wie das neuerdings leider oft vorkommt – an Größenwahnsinn. Die ganze Ihnen vorlamentirte Räubergeschichte ist durchweg eine Schwindelei, auf die weder Werner, dessen wahren Namen ich vorläufig noch verschweige, noch meine Wenigkeit irgend ein Wort erwidern mögen. Da mir aber bereits von anderer Seite die lügenhaften Renommagen dieser Dame mitgetheilt wurden und die saubere Schriftstellerin unter der Fahne Werner möglicher Weise noch mehrere Schwindeleien begehen dürfte, so nehme ich nunmehr Ihre offerirte Hülfe in Anspruch und bitte Sie, mir – wenn nöthig mit gerichtlicher Hülfe – bei der Entlarvung dieser Betrügerin collegialisch zur Seite zu stehen.

Ich erkläre also:

1) Fräulein von T– ist nicht die Verfasserin der Werner’schen Erzählungen und hat weder selbst noch durch den mysteriösen Enke mit Werner in Verbindung gestanden.

2) Es ist eine Lüge, daß ich an Enke oder Fräulein von T– ein Honorar von achtzig Gulden gezahlt.

3) Es ist eine Lüge, daß genannte Dame an mich wegen Werner’s geschrieben. Ich habe nur einen Brief von ihr und zwar den beifolgenden erhalten, den Sie mir zurücksenden wollen. Gedichtbriefe werden nicht aufgehoben.

4) Erkläre ich schließlich auf das Bestimmteste, daß, wenn binnen heute und zwölf Tagen nicht die schriftliche, von –a von T– unterzeichnete Bestätigung in meinen Händen ist, daß die Ihnen brieflich mitgetheilte Erzählung ihrer Autorschaft Werner’scher Novellen eine Erfindung sei, ich sofort mit Nennung des Namens der Fälscherin die Thatsache und zwar nach den Mittheilungen Ihrer Zuschrift in der Gartenlaube veröffentlichen werde.

Ich bedaure sehr, dieses energische Mittel in Anwendung bringen zu müssen, aber die Entrüstung Werner’s ist eine so große, daß alle sonst üblichen Rücksichten gegen Damen hier schweigen müssen. Ich sehe Ihrer baldigen Antwort entgegen und grüße Sie inzwischen – indem ich zugleich auf die Einsendung der T–’schen Manuskripte verzichte – aus das Freundlichste als

Ihr ergebener
Ernst Keil.

Vorausgesetzt, daß Fräulein von T– ihr Vergehen einsieht und bereut, bitte ich, ohne Härte zu verfahren und jede öffentliche Blame streng zu vermeiden. Vielleicht ist es nur ihre Armuth, die sie verleitet hat, den Ruhm eines Andern zu usurpiren, um ihre eigenen schriftstellerischen Schöpfungen an den Mann zu bringen. Wir wollen dann milde richten und uns mit der Erklärung zufrieden geben.

Der oben erwähnte einzige, in unserem Besitz befindliche Brief des Fräulein –a von T– aber lautet:

N–, 27. Oktober 1872.

     Euer Hochwohlgeboren, hochgeehrter Herr!

Am 22. September d. J. nahm ich mir die Freiheit, die Anfrage an Euer Hochwohlgeboren zu richten, ob Sie geneigt wären, novellistische Versuche eines zwar unbekannten und unberühmten Autors gegen mäßiges Honorar in Ihr vortreffliches Blatt aufzunehmen, und ob ich es wagen dürfte, Einiges aus meiner Feder Ihrer einsichtsvollen Beurtheilung unterzulegen, und ob endlich Manuskripte, im Falle sie vor Ihrem Urtheile nicht bestehen würden, zurückgesendet werden. Da ich aber weder brieflich, noch auch in der Correspondenz der „Gartenlaube“ auf meine Anfrage eine Antwort zu erhalten die Ehre hatte, und da ich mich nicht entsinne, ob mein Schreiben recommandirt gewesen, so wage ich es, Sie, hochgeehrter Herr, nochmals mit meiner Frage zu belästigen. Ich weiß, daß einem Manne (folgt ein Compliment für den Redakteur) wie Sie jede Minute kostbar ist; dennoch aber bin ich so kühn, Sie um das Almosen einiger Augenblicke Ihrer werthvollen Zeit zu bitten, indem ich gänzlich rath- und hülflos in dieser Hinsicht in der Welt stehe. Vor mehreren Jahren nahm ich mir die Freiheit, einige Gedichte Ihrem vortrefflichen Blatte einzusenden, und Sie erwiesen mir die Ehre, mehrere von denselben unter der Chiffre M. v. T. in demselben abzudrucken. Ermuthigt durch dieses Glück, welches von so großer Bedeutung für mich, einen Anfänger, war, da Ihr Blatt nur das Beste und Gediegenste der neuen Erscheinungen der Literatur aufnimmt, und meinem inneren Drange nachgebend, fuhr ich fort zu schriftstellern, allerdings mit großen Hindernissen, welche meine gegenwärtige Berufsthätigkeit mir in den Weg warf, kämpfend. Seither habe ich mehrere kleinere Novellen, worunter auch eine Bauerngeschichte und einen Band lyrische Gedichte, geschrieben. Meine literarischen Bekannten riethen mir von einer der Novellen, sie einem wissenschaftlichen Blatte, von einer anderen, sie einem Jugendschriftenverleger einzusenden, und so fort. Da ich aber durchaus keine Wege kenne, um zu einem Verleger zu gelangen, und da ich wohl weiß, wie schwer es überhaupt für jeden unbekannten Autor ist, einen solchen zu finden, wende ich mich vertrauensvoll an Sie mit der dringenden Bitte, mir Ihren Rath zu ertheilen. Vielleicht machen Sie eine glänzende Ausnahme unter den großen Herren, welche die Bittschriften, Gesuche u. dgl. ungelesen oder doch unbeantwortet in der Nacht des Papierkorbes der ewigen Vergessenheit anheimfallen lassen. – Sollten Sie mir Antwort geben durch die Gartenlaube, so bitte ich diese unter Chiffre T. W. – sollten Sie Ihre Großmuth so weit treiben, mich durch ein persönliches Schreiben zu beglücken, so ist meine Adresse unten angegeben.

Hochachtungsvoll Euer Hochwohlgeboren ergebene
–a v. T–,
bei Herrn v. K. B.
zu N. im Szaboleser Comitat, Ungarn.

Man merke wohl auf: Der Brief ist am 27. October 1872 geschrieben, also zwei Jahre nach Erscheinen des „Hermann“, anderthalb Jahre nach Veröffentlichung des „Helden der Feder“, zehn Monate nach Erscheinen der Erzählung „Am Altar“ – [716] sämmtlich Novellen, die Fräulein von T– verfaßt haben will – und trotzdem erwähnt die Briefschreiberin mit keinem Wort ihrer Autorschaft der Werner’schen Romane, mit keiner Silbe ihrer Affairen mit dem zur glücklichen Stunde verschwundenen Herrn Enke oder ihrer an die Redaction der Gartenlaube früher abgesandten Reclamationen. – Von unserer Redaction ward dieser Brief einige Tage nach Empfang, am 4. November, geschäftlich dahin beantwortet, daß man um Einsendung der Novellen – mit Ausnahme der Bauerngeschichte – ersuche. Eine Erwiderung darauf, resp. Einsendung der offerirten Manuscripte ist nicht erfolgt.

Als der von uns gestellte Termin abgelaufen war, ohne daß Fräulein von T– die verlangte Erklärung abgegeben hatte, wandte sich der Unterzeichnete Redacteur nochmals an Herrn Aigner und bat namentlich um schnelle Rücksendung des T–’schen Briefes, die denn auch mit der nachfolgenden kurzen Zuschrift des Herrn Aigner alsbald erfolgte:

Pest, 20. Juli 1873.

     Herrn E. Keil in Leipzig!

Anbei sende ich, Ihrem Wunsche gemäß, den Brief von Fräulein von T– mit dem Bemerken zurück, daß sich dieselbe zu der gewünschten Erklärung nicht verstehen will, da sie wohl schweigen, nicht aber schriftlich erklären könne, daß sie nicht die eigentliche Verfasserin der Werner’schen Novellen sei. Nachdem sie – ihrer Angabe nach – doch nicht so ganz ohne Beweise ihrer Autorschaft dasteht, als angenommen zu werden scheint, so sieht sie einer Erklärung der Gartenlaube ruhig entgegen und wird die Antwort darauf nicht schuldig bleiben.

      Damit habe ich mich meines Auftrages entledigt und zeichne

hochachtungsvoll
L. Aigner.

Einer solchen „bodenlosen Frechheit“ gegenüber (siehe Aigner’s ersten Brief) wäre längeres Schweigen Verbrechen. Reisen und Sommerfrischen der beiden Hauptbetheiligten, d. h. des Fräulein Buerstenbinder, und des Redacteurs, konnten zwar die Veröffentlichung dieser Angelegenheit um einige Wochen verschieben, sie dürfte aber heute immer noch zeitig genug kommen, um unsere Leser zu überzeugen, welchen Intriguen und Angriffen, abgesehen von tendentiösen Schmähungen der clericalen Partei, eine Schriftstellerin ausgesetzt ist, deren zeitgemäße Schöpfungen einen ungewöhnlich raschen Erfolg errungen haben.

Ein Wort der Vertheidigung zur Entlastung Werner’s hier anzuführen, hieße Fräulein Buerstenbinder beleidigen. Es bedarf auch nicht unserer wiederholten Versicherung, daß alle in den verschiedenen Briefen des Fräulein von T– angeführten Reclamationen und Manipulationen, soweit dieselben Fräulein Buerstenbinder und uns betreffen, vollständig erlogen sind, da weder die Verfasserin des „Glück auf“, noch unsere Redaction – außer dem oben angeführten Brief und vielleicht (?) einem Begleitschreiben zu Gedichten – jemals eine Zuschrift von der genannten Dame oder von dem mysteriösen Enke empfangen haben. Wir wollen ferner still darüber hinweggehen, daß die Erzählung „Am Altar“, welche unleugbar unter dem directen Einflusse der 1870 noch gar nicht existirenden altkatholischen Bewegung geschrieben ist, unmöglich schon Ende des genannten Jahres fix und fertig vorgelegen haben kann, wie Frl. von T– behauptet. Ebenso wird es unsern Lesern gegenüber nicht noch einer besonderen Hinweisung bedürfen, daß die ganze Erzählung des ruhmsüchtigen Fräuleins schließlich nur auf ein unsauberes Manöver hinausläuft, den eigenen überall zurückgewiesenen Geistesproducten Eingang in die Literatur zu verschaffen und dabei das Nützliche mit dem Angenehmen zu vereinen. Der Zweck scheint denn auch nach der Erklärung des Herrn Aigner, der offen zugiebt, bei der Sache geschäftlich interessirt zu sein, bereits erreicht, und das bisher ungedruckte Manuscript einer Reihe von Novellen, die „in Stil und Tendenz den früheren ganz gleich“, glücklich placirt zu sein. Niemand wird zweifeln, daß es sich auch recht gut ausnehmen würde, wenn auf das Titelblatt dieser etwaigen Novellensammlung nur die einfache Bemerkung gesetzt werden dürfte: Verfasserin der Romane „Ein Held der Feder“, „Am Altar“, „Glück auf!“.

Gleichwohl würden wir die so widerliche und bis jetzt private Angelegenheit nicht in die Oeffentlichkeit bringen, wenn nicht von anderer Seite ähnliche verdächtigende Aeußerungen gefallen wären, die sämmtlich auf obige trübe Quelle zurückzuführen sind. Es handelt sich zudem um eine Angelegenheit von principieller Tragweite, welche die Aufmerksamkeit aller literarischen Kreise verdient, und gleichzeitig um Aufdeckung eines Bubenstückes, wenn wir uns überhaupt einer Dame gegenüber so ausdrücken dürfen. Stelle man sich nur den Fall recht deutlich vor!

Eine reichbegabte, überaus talentvolle Schriftstellerin erobert binnen kurzer Zeit mit den Erzeugnissen ihres stillen und angestrengten Schaffens die Gunst der Leserwelt, so daß ihre Erzählungen in verschiedene Sprachen übersetzt werden und in vier- und sechsfachen dramatischen Bearbeitungen über die Bühne gehen. Bescheiden verbirgt sie sich hinter einem fremden Namen, aber alle irgend Eingeweihten wissen, daß sie eine Persönlichkeit von fleckenlosestem Rufe ist, überdies aber ihre mehr als sorgenlose Lebensstellung jeden Verdacht eines unehrenhaften Eigennutzes ausschließen muß. Und eine solche Dame muß plötzlich hören, daß sie von einer Schwindlerin oder Irrsinnigen in den verschiedensten Kreisen Oesterreichs der schimpflichen Handlung beschuldigt wird, sich mit fremden Leistungen geschmückt und zur Erzielung größerer Honorare fremde Manuscripte benutzt zu haben, die Eigenthum einer fernen Unbekannten sind – ja, mehr noch, sie muß die Erfahrung machen und es sich gefallen lassen, daß von fernher ein sonst ehrenwerther Buchhändler an das Gerechtigkeitsgefühl der Gartenlauben-Redaction „gegen sie und für jene betrogene Unglückliche“ appellirt und daß diese Letztere schließlich noch so herzensgut und mitleidig sein will, „über den ihr (man höre!) gespielten Betrug zu schweigen“.

Da war es doch wohl unsererseits eine Pflicht, das Schweigen zu brechen und ein so freches Spiel beim rechten Namen zu nennen. Fast scheint es, als ob Gaunereien dieser Art in den Schwang kommen sollten. Seitdem einzelne Frauen mit so außerordentlichem Erfolg die schriftstellerische Laufbahn betreten, hat sich eine wahre Tollheit waghalsigen Nachstrebens verschiedener abenteuerlicher weiblicher Köpfe bemächtigt. Auch eine andere berühmte und hochverehrte Erzählerin der Gartenlaube ist früher von ähnlichen rohen Angriffen und Klatschereien nicht verschont geblieben. Es ist Zeit, daß das Publicum anfängt sich selbst und seine Lieblinge gegen leichtsinnige Verleumdungen zu schützen, zumal wenn es, wie es scheint, hier und da gelingt, selbst ruhig denkende und nüchterne Männer zu bethören.

      Leipzig, den 15. Oktober 1873.

Die Redaction der Gartenlaube.
Ernst Keil.


Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 13. Die Kirche von Argenteuil.

„Die Franzosen sind heute wieder ganz des Teufels,“ meinte mein Corporalschaftsführer, indem er sich niederwarf, um nicht von den herumfliegenden Granatsplittern getroffen zu werden. „Sowie die Zeit der Ablösung kommt, beginnen sie zu knallen, als ob’s zum Sturm losgehen sollte.“

„Wie die Kerle im Dunkeln nur so genau zielen können! Die Schanze ist ganz neu und bei Nacht aufgeworfen, und selbst Spione können kaum etwas von ihr wissen.“

„Spione kommen auch nicht so bald hinein. Aber sie können bei Tage einen Posten bemerkt und so etwas gewittert haben. Das ist nicht so seltsam, als daß sie genau die Ablösungsstunde kennen, obwohl sie doch fast täglich geändert wird.“ Ich hatte mich wieder erhoben und wollte eben einen Schluck aus meiner Feldflasche thun, als eine Granate vor der Brustwehr einschlug und ein Splitter, die Flasche zerschmetternd, mir am Kopfe vorbeisauste. Donnerwetter! Das war doch ein wenig überraschend. Der Kopf brummte mir ordentlich von dem Geräusche, welches das Eisenstückchen gemacht hatte. Und meine schöne Flasche! Nun konnte ich mir eine große Literflasche um den Hals hängen, wenn ich einen Schluck Cognac auf Vorposten mitnehmen wollte.

„Sprich doch einmal mit dem alten Jean!“ meinte ein [717] Camerad. „Der wird Dir wohl eine neue Flasche besorgen können, wenn es auch nur eine blecherne französische ist.“

„Oder auch seine Nichte!“ tröstete spöttisch ein Anderer. „Die giebt Dir doch sicher eine Flasche, wenn sie eine hat.“

„Wer den Schaden hat, braucht, für den Spott nicht zu sorgen,“ dachte ich und grübelte im Stillen über die Möglichkeit nach, zu einer neuen „Schluckpulle“ – wie die technische Bezeichnung lautet – zu kommen.

Bald darauf kam die Ablösung; die neuen Posten zogen auf, die alten wurden abgelöst, und wir trollten uns fröhlichen Herzens, aber so vorsichtig wie möglich nach Hause. „Nach Hause“, das heißt nach dem hinter der Vorpostenkette liegenden Flecken Argenteuil, wo wir zum Entsetzen aller noch vorhandenen Einwohner Cantonnements bezogen hatten. Das Entsetzen bezog sich eigentlich nur auf den Umstand, daß wir auf die französischen Granaten bedeutende Anziehungskraft ausübten und so auch die guten Einwohner gefährdeten; sonst war es ihnen durchaus nicht unlieb, daß wir da waren. Die Leute, die etwas zu verlieren hatten – an ihrer Spitze der Pfarrer – hatten ihre Schätze aufgepackt und waren vor den verfluchten Preußen oder, wie sie sich ausdrückten, den maudits Prussiens ausgerückt. Was sie nicht fortschleppen konnten, brachten sie in die Keller zu ihren Weinfässern, mauerten die Eingänge zu und dachten, nun wäre Alles gut, die dummen Preußen würden nichts finden.

Dem war nicht so; wir fanden eine große Menge; aber schon vor uns hatten die zurückgebliebenen Leute, welche nichts zu verlieren hatten, viel mehr gefunden. Sie nahmen von den leeren Häusern Besitz, eigneten sich an, was sie fanden, und eröffneten mittelst der vermauerten Weinschätze einen einträglichen Handel mit den Preußen, denen gegenüber sie nun wieder auf die verfluchten Reichen schimpften, die an allem Unglücke schuld seien. „Ah! quel malheur pour nous, pour vous, pour tout le monde!“ – das war der Stoßseufzer, der alle Reden schloß und alle Herzen tröstete durch das Bewußtsein, daß die ganze Welt mit Frankreich zu leiden hätte. Im Uebrigen ließ es sie ziemlich kalt, wenn wir in den Häusern, die wir bewohnten, so viel wie möglich Hausgeräth aus allen unbewohnten Häusern zusammenschleppten, wenn wir alle Kellerwände zerklopften, um Wein zu finden, wenn wir die Dachsparren herauszogen oder die Treppen zu den obersten Stockwerken abtrugen, weil wir kein Brennholz hatten. Nur sehr Wenige trieben ihren Patriotismus so weit, daß sie nichts mit uns zu thun haben wollten; die Mehrzahl war vergnügt, mit uns Geschäfte machen zu können, und das genügte uns auch.

Unter dieser Mehrzahl war auch ein Belforter, der ziemlich geläufig Deutsch sprach und bei den Soldaten sich bald sehr beliebt gemacht hatte; er tauschte ihnen für Reis und Erbswurst Kartoffeln und Wein ein und schenkte ihnen zuweilen Kleinigkeiten, die er sich nachher theuer bezahlen ließ; kurz, der alte Jean wurde allgemein „Landsmann“ genannt und als solcher behandelt. Er war Allerweltscommissar, aber eigentlich Kirchendiener und bewohnte ein kleines Haus in der Nähe der Kirche als Amtswohnung. Einige Zeit, nachdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, eröffnete er – da er als Kirchendiener augenblicklich nichts zu thun hatte – eine Weinstube und zapfte nun lustig aus drei verschiedenen Kellern, die er mit der schützenden Inschrift „Jean sein Keller“ versehen hatte.

Zog Jean’s billiger Wein und seine Stellung als „Landsmann“ die Soldaten in seine Kneipe, so that es noch mehr seine Nichte Désirée, eine blonde Schönheit von ganz deutschem Typus. Sie machte die Honneurs als Wirthin und bezauberte Alle gleichmäßig durch ihr freundliches und anstandsvolles Benehmen, wie durch ihre Schönheit und ihre allerliebste deutsch-französische Mundart.

Selbstverständlich war in dieser freuden- und frauenarmen Zeit ein jedes Exemplar des weiblichen Geschlechts Gegenstand allseitiger zartester Bewerbungen; ja sogar unserer siebenundvierzigjährigen, vertrockneten Marketendermatrone soll es nicht an Bewunderern gefehlt haben. Natürlich war also ein hübsches, junges Mädchen, wie Désirée, das Licht, um das alle militärischen Schmetterlinge herumflatterten und ich mitten unter ihnen. Ich that, wie alle Anderen, mein Möglichstes, um ihren Augen zu gefallen, und der Zufall begünstigte mich mehr als die Anderen. Ich hatte nämlich einmal Gelegenheit, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen, indem ich ein paar betrunkene Franzosen, die sehr unartig wurden, verjagte; seitdem zeigte Désirée mir eine gewisse Zutraulichkeit, die mich zum Gegenstand des Neides für meine Cameraden machte. Sie erzählte mir von ihren Schicksalen, klagte über ihre Lage, in der sie so viel Unfreundlichkeit von ihrem Onkel ertragen mußte, weil sie mittellos und von seiner Gnade abhängig war, und fragte mich dann wohl naiv, ob sie es bei den Prussiens besser haben würde, wenn sie mit uns nach Berlin käme. Sie wollte ganz gern eine Deutsche werden; denn ihre gute verstorbene Mutter hatte nur deutsch gesprochen und so schöne deutsche Lieder und Märchen gewußt. Erst allmählich hatte ihre Mutter sich daran gewöhnt, auch französisch zu sprechen; ihre Désirée hatte aber auch deutsch lernen müssen. Nun waren Vater und Mutter todt. Vermögen hatten sie nicht hinterlassen, und der Onkel Jean hatte die kleine Nichte nach Argenteuil geholt, damit sie ihm die Wirthschaft führe. Er war eigentlich immer mürrisch und unfreundlich gewesen, war geizig und warf dem armen Mädchen jeden Bissen vor, den er ihr gab; ganz schlimm war es aber mit ihm geworden, als der deutsch-französische Krieg ausgebrochen war und die Gloire der Franzosen völlig über den Haufen geworfen hatte. Wenn Désirée nun einmal deutsch mit ihm sprach oder ein deutsches Liedchen summte, schalt er sie „Prussienne“ und beschuldigte sie, daß sie die Feinde lieber sähe als ihre Landsleute.

„Was können aber die armen Soldaten dafür, daß jetzt Krieg ist? Soll ich sie deswegen hassen? Sie thun mir nichts Böses; ich will es ihnen auch nicht thun,“ meinte Désirée.

Ich tröstete sie, indem ich ihr eine bessere Zukunft in Deutschland ausmalte; genug, wir schwatzten gar vertraulich miteinander, und ich hatte mich schließlich so an das Mädchen und ihr naives Geplauder gewöhnt, daß ich jeden freien Augenblick benutzte, um sie zu sehen.

Jean beobachtete mich wohl mißtrauisch, sagte aber nichts weiter in meiner Gegenwart. Im Geheimen schien er jedoch seiner Nichte Lectionen zu geben; denn sie war, so lange er anwesend, scheu und zurückhaltend gegen mich und athmete erst frei auf, wenn er nicht mehr zugegen war und wir unbeobachtet plaudern konnten. Mochten Désirée’s Worte oder das ganze Wesen Jean’s der Grund sein, ich fühlte gegen den Alten einen geheimen Argwohn. Trotz seines Entgegenkommens mußte ich ihn immer unwillkürlich beobachten, als ob ich ihn einmal auf einer verrätherischen Handlung ertappen würde.

Am Tage nach dem Verlust meiner Feldflasche ging ich, da wir keinen Dienst hatten, zu Jean’s Budike, um einen Frühschoppen zu trinken und mich zugleich zu erkundigen, ob er vielleicht eine alte französische Feldflasche für mich habe. Ich traf Désirée allein an. Sie brachte mir Wein, setzte sich zu mir, und ich erzählte ihr nun mein Erlebniß von gestern. Die Gefahr, in der ich geschwebt hatte, ließ sie erbleichen; ich fühlte mich geschmeichelt und gerührt durch ihre Theilnahme, und wir waren im besten Zuge, einander Geständnisse zu machen. Da fuhr Désirée plötzlich erschreckt auf. Jean und der Vicar traten in die Thür, ohne uns zu bemerken; ich hörte blos noch die Worte: „Auf Wiedersehen heute Abend!“ Dann machte der Vicar Kehrt, und Jean trat ein. Er schien unsere Verwirrung wohl zu bemerken, gab es aber nicht zu erkennen, sondern begrüßte mich in seiner gewöhnlichen übertrieben herzlichen Weise als „Landsmann“, erzählte mir sofort, daß der „Paffen“, damit meinte er den Vicar, auf die in seinem Hause wohnenden Soldaten sehr böse wäre, weil sie ihm den Wein austränken, und fragte, ob ich etwa auch einen Weinkeller gefunden hätte, da ich doch schon seit zwei Tagen nicht bei ihm gewesen wäre.

„Das eben nicht; aber wir waren auf Vorposten.“

„So? habt Ihr dort auch Wein? Wo steht Ihr denn jetzt? Ich werde hinkommen, um Wein zu bringen,“ meinte er lachend; „dann wird man mich wohl passiren lassen.“

Mochten diese Worte noch so unschuldig sein, sie weckten doch das in mir schlummernde Mißtrauen, und da ich überhaupt ärgerlich war über sein störendes Erscheinen, so entgegnete ich kurz:

„Nun, ich würde Euch sicher nicht durchlassen. – Ich wollte Euch nur fragen, ob Ihr mir vielleicht eine Feldflasche verkaufen könnt? Das ist der Zweck meines Hierseins.“

[718] „Naturellement! Ihr seid mein Freund! Nicht wahr? Ich habe gerade noch eine, die mir schon viele deutsche Landsleute abkaufen wollten; ich hätte sie nicht fortgegeben für den doppelten Preis; aber –“

Damit eilte er hinaus, um die Flasche zu holen. – Désirée hatte inzwischen still in einer Ecke gesessen und zugehört; als ihr Onkel mich seinen Freund nannte, zuckte sie verächtlich mit den Schultern. Nun schien sie mit irgend einem Entschluß zu kämpfen; sie sah mich an, als ob sie etwas sagen wollte, schwieg aber, so daß ich endlich fragte, was sie auf dem Herzen hätte.

„Nichts“ – stammelte sie – „aber es verdrießt mich –“ Sie hörte ihren Onkel wiederkommen. „Gebt auf die Kirche Acht!“ flüsterte sie leise, aber entschlossen.

„Auf die Kirche?“ wiederholte ich erstaunt.

„Was ist mit der Kirche? Was hast Du gesagt, Désirée?“ fragte Jean, der in diesem Augenblick wieder eintrat. Er sah sie dabei forschend an.

„Ich fragte nur Herrn Frédéric, ob er morgen in die Kirche gehen werde,“ entgegnete Désirée schnell gefaßt. Damit eilte sie hinaus und ließ mich erstaunt sitzen. Auf die Kirche sollte ich Acht geben? Warum durfte der Onkel nichts davon wissen?

„So, so!“ fuhr Jean fort. „Was geht das das Mädchen an? Diese Frauenzimmer! Und sie thun so fromm. Aber fragte sie wirklich danach?“

„Ihr habt es ja gehört!“ entgegnete ich kurz. „Was wollt Ihr für Eure Flasche haben?“

Wir wurden Handels einig, und nachdem ich noch eine Weile gewartet hatte, ob Désirée vielleicht wiederkäme, ging ich nach Hause, indem ich mir über ihre räthselhaften Worte den Kopf zerbrach. Wollte sie mich aufmerksam machen auf eine Gefahr, die mir drohte? Aber wie sollte die durch die Kirche entstehen? Vielleicht waren dort Minen angelegt oder Waffen versteckt. Etwas uns Allen Gefährliches mußte dort jedenfalls vorhanden sein; denn auf mich allein konnte sich die Gefahr nicht beziehen. Und daß sie dem alten Jean ihre Worte verheimlichte, war noch ein Moment mehr für meine Annahme; er war eher fähig, uns einen Streich zu spielen, als uns vor einer Gefahr zu warnen.

Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe; ich mußte mir Nachmittags die Kirche ansehen. Sie stand mitten im Flecken auf einem freien Platz, auf den die meisten Straßen ausliefen. Der entflohene Pfarrer von Argenteuil wurde als der fromme Gottesmann gerühmt, dem man die Vollendung der neuen Kirche verdankte. Sie schloß nach höchst glaubwürdigen Attesten und Documenten eine sehr wunderthätige Reliquie in sich, nämlich den unnähtigen Rock Jesu Christi, und zwar sollte dieser Rock zum Unterschied von dem Rock zu Trier wirklich echt sein. Ich überlasse die Entscheidung über diese bekannte Streitfrage den Sachverständigen. So viel aber steht fest, daß der Rock in unserer Anwesenheit keine Wunder that, sich also offenbar vor den Prussiens gerettet hatte. Mit ihm war auch Alles aus der Kirche verschwunden, was irgendwie von Werth war; ein einziges großes Wandgemälde war da geblieben, auf welchem Karl der Große das Kästchen mit dem Rock, das er von Rom geholt hatte, den Nonnen des Klosters zu Argenteuil übergab. Sonst war die Kirche kahl und leer, und ich konnte auch nicht das geringste Bemerkenswerthe finden.

Ich kletterte auf den Thurm, dessen Thür zufällig offen stand. Die Treppen waren mit Schutt und Steinen bedeckt, da eine Granate mitten durch den Thurm gefahren war. Die Löcher, die sie gemacht hatte, dienten mir als Gucklöcher. Unter mir lag das ganze kriegerische Panorama; drüben sah ich die Franzosen, die höchst ungenirt zwischen ihren Schützengräben und den dahinter liegenden freistehenden Häusern, welche als Wachlocale für die Soutiens dienten, hin und her liefen. Sie wußten ja, daß wir auf so unsichere Zielpunkte nicht schießen durften. Auf dieser Seite, halb versteckt durch die am Ufer der Seine sich hinziehenden Baumpflanzungen, waren unsere Stellungen. Nur hin und wieder war ein Posten so leichtsinnig, den Kopf über die Böschung zu heben, um den Rothhosen Gelegenheit zu bieten, sich um ein paar Patronen zu erleichtern. Sonst setzte sich Keiner unnützer Gefahr aus; man beschäftigte sich nützlicher, indem man die Gräben und Brustwehren ausbesserte, die durch das schlechte Wetter leicht schadhaft wurden.

Zwischen beiden Parteien rollte majestätisch die Seine dahin, die gerade hier bei Argenteuil ganz besonders breit und reißend ist. In ihrer Mitte ragten noch die halb zertrümmerten Pfeiler empor; große Stücke des Brückenbogens, den die Franzosen an mehreren Stellen gesprengt hatten, verursachten heftige Strudel und bildeten gefährliche Klippen für Jeden, der es wagte, die Stelle zu passiren. An der Eisenbahnbrücke, die unterhalb Argenteuil’s in kühnen Bogen den Strom überspannt hatte, war nur der mittelste Pfeiler weggesprengt; die eisernen Bogen, die durch die Schienen zusammengehaltenen Schwellen waren in der Mitte in die Seine hinabgesunken, während die Enden des Schienenweges hoch oben noch auf dem verschont gebliebenen Pfeilern auflagen. Das Ganze gewährte einen romantisch grauenhaften Anblick, in den ich so versunken war, daß ich fast den Zweck vergaß, zu dem ich auf den Thurm gestiegen.

Ich wurde aus meinen Träumen durch das Sausen einer Granate aufgeschreckt, die in gerader Richtung unter mir in die Böschung unserer Schützengräben fuhr. Die Franzosen hatten offenbar bemerkt, daß dort gearbeitet wurde. „Da ist gut zielen,“ dachte ich, „wenn man einen Thurm vor der Nase hat, nach dem man Entfernung und Richtung bemessen kann! Es wäre auch besser, wenn noch ein paar Granaten vom Mont Valerien kämen und den ganzen Thurm mitnähmen!“

Ich kletterte wieder hinunter, da mir einfiel, daß ich den Chor noch nicht besucht hatte. Die Orgel schien vortrefflich gebaut zu sein, und ich beschloß, einmal Jean zu bitten, mir die Bälge zu treten. Während ich noch die verschiedenen Register musterte, ließen sich Schritte auf der Treppe zum Chor hören und die lange hagere Gestalt des Vicars tauchte in Jean’s Begleitung auf. Als der Vicar mich an der Orgel bemerkte, wurde sein gelbes, giftiges Gesicht grün vor Aerger und Schreck; er griff in sein Gewand, als ob er nach einem Dolch faßte, um mich nieder zu stoßen, so daß ich unwillkürlich nach meinem Seitengewehr fühlte.

„Was suchen Sie hier?“ preßte er endlich, sich mühsam fassend, hervor.

„Gar nichts,“ erwiderte ich erstaunt, aber doch mißtrauisch.

„Eh bien –“ meinte er, sich schnell umsehend, und starrte mich erwartungsvoll an. Ich wußte nicht, was ich weiter sagen sollte, grüßte und ging langsam hinunter. – Als ich die Kirche verließ, begann die Orgel zu ertönen.

Das Benehmen des Pfaffen war mir doch räthselhaft. Wie konnte ihn das so sehr alteriren, daß ein Preuße die Orgel besucht hatte, da doch jeden Sonntag Militärgottesdienst in der Kirche abgehalten wurde? Er mußte etwas zu fürchten haben, die Entdeckung irgend einer verdächtigen Sache; wahrscheinlich hatte er mich bei meiner unerwarteten Anwesenheit auf der Orgel für einen Spion gehalten; deshalb war er so heftig erregt gewesen. Es mußte etwas Verdächtiges in der Kirche sein – das bezeugte Désirée’s Warnung, das bestätigte das Benehmen des Vicars. Aber wo fand man einen Anhaltspunkt zur Aufdeckung des Geheimnisses? Ich mußte Désirée noch einmal befragen; vielleicht sagte sie mir Genaueres.

In den folgenden Tagen hatten wir so angestrengten Vorpostendienst, daß ich meine Absicht nicht ausführen konnte.

Inzwischen waren die Weihnachtsfeiertage herangekommen. Die Officiere aller Waffengattungen, die um Argenteuil herumlagen, wollten das Fest durch ein gemeinschaftliches Souper feiern. Zu diesem Zweck war der Speisesaal einer kleinen reizenden Villa ausersehen, welche am Ufer der Seine, völlig zwischen Bäumen versteckt, bisher von Granaten verschont geblieben war. Ueberhaupt wurde dieser Strich fast gar nicht beschossen, weil die Franzosen wußten, daß die vereinzelt liegenden Villen nicht mit Soldaten zu belegen waren, und sie daher ihre Munition sparen zu können glaubten.

Das Souper hatte begonnen; auf der ganzen Vorpostenlinie ließ sich kein Schuß hören, und Jeder war froh bei dem Gedanken, daß man heute einmal ruhig und unbesorgt sich der Geselligkeit und der Erinnerung an die Heimath überlassen könne.

Da plötzlich sauste eine Granate durch die Baumgipfel des Parks über das Haus hinweg.

„Haben denn die Franzosen nicht einmal am Feiertag Ruhe?“

[719]

Der Obstplatz zu Bozen.
Nach der Natur aufgenommen von Ferdin. Petzl in München.

[720] „Es ist nur eine kleine Weihnachtsgabe; sie werden wohl nicht zu viel schenken!“

Eine zweite schlug auf dem Kiesweg vor der Saalthür nieder. Ein Pferd, durch das Krachen scheu gemacht, hatte sich losgerissen. Der Officierbursche suchte es zu beruhigen, indem er es hin- und herführte. Eine Granate riß ihm den Kopf weg, fuhr in das Kellergeschoß und crepirte mit furchtbarem Getöse.

Nun begann in Folge des Niederbrechens der Baumäste und des Crepirens der Granaten, die zahlreich wie Hagelkörner geflogen kanten, ein so heftiges Krachen und Sausen, daß es doch an der Zeit schien, das Haus zu verlassen, obwohl bis jetzt wunderbarer Weise noch keine Granate so recht das Haus getroffen hatte; offenbar aber hegten die Franzosen die löbliche Absicht, Alles in diesem Geschützkreise in Grund und Boden zu schießen.

Wir waren Alle aus unseren Quartieren und von unseren bescheidenen Weihnachtsfreuden aufgescheucht worden, und als nun die Officiere und hinter ihnen die Burschen mit dem kopflosen Körper des Getödteten ankamen, und wir von ihnen das Nähere hörten, konnten wir nicht zweifelhaft sein, daß die Franzosen sowohl von dem Ort wie der Zeit des Soupers Kenntniß gehabt und womöglich alle Officiere mit einem Schlage zu vernichten beabsichtigt hatten.

„Ein schönes Feiertagsessen!“ meinte Einer. „Das wird Allen eine angenehme Erinnerung für die Weihnachtsfeiertage des nächsten Jahres sein. Ich will doch im nächsten Jahre, wenn wir wieder zu Hause sind, um dieselbe Zeit einen gehörigen Schluck auf mein Wohl trinken. Wie spät ist es? Ich habe meine Uhr im Quartier vergessen.“

„Sieh’ doch nach der Thurmuhr! Es ist freilich schon etwas finster, aber ein Soldatenauge ist scharf und dringt durch Nacht und Nebel,“ meinte ein Anderer im Scherz.

Obwohl wir Alle wußten, daß die Uhr nicht mehr ging, seitdem die Granate durch den Thurm gefahren war, sahen wir doch unwillkürlich nach oben – aber was war das?

Ein Licht an einem der Schalllöcher! Es mußte weithin zu bemerken und konnte nichts Anderes sein, als ein Zeichen für die Franzosen. Deswegen hatten sie auch im Dunkeln so gut zielen können. Wer hatte das Licht dort aufgesteckt? Die Kirche wurde um sechs Uhr geschlossen, und später konnte nur ein Kirchenbeamter, der einen Schlüssel hatte, hinein. Also der Vicar oder Jean oder Beide waren die Schuldigen. Vielleicht konnten wir sie noch überraschen. Alles stürmte der Kirche zu, der Hauptmann, den wir unterwegs trafen und auf das Licht aufmerksam machten, voran, um die Verräther zu entdecken.

Das Portal war verschlossen; die Kirche wurde umstellt; aufgeregt und geräuschvoll umwogten die Herbeigeeilten das Gebäude, indem man voller Spannung den Nachrichten entgegensah, welche die in die Häuser des Vicars und Jean’s entsandten Patrouillen bringen würden. Da verschwand das Licht.

„Sie sind noch drinnen!“ jubelten Alle. „Paßt nur auf die Thüren gut auf!“

„Still!“ gebot der Hauptmann.


(Schluß folgt.)



Der Obstplatz in Bozen.
(Mit Abbildung.)

Wenn der berühmte Fragmentist das bischöfliche Brixen das rhätische Coblenz nannte, so möchte ich Bozen, die alte Handelsstadt, als das tirolische Florenz bezeichnen. Giebt es wohl eine Ortschaft in Tirol, die diesen Namen mit größerem Rechte verdient, als das blumenliebende, an Gärten so reiche Bozen? Der Wanderer aus dem Norden wird bezaubert von dem Glanze südlicher Blumenpracht, von der Schönheit und Mannigfaltigkeit der Gesträuche und Bäume, die nur unter einem so milden Himmel gedeihen oder diese Schönheit und Ueppigkeit entwickeln können. Wer die Gärten des Erzherzogs Heinrich, des Grafen Sarnteim, des Baron Goldegg oder die Gartenanlagen des Dr. J. Streiter besucht hat, kann ihre Herrlichkeit nicht mehr vergessen; ihr Zauberbild steigt ihm gewiß oft aus dem Dunkel der Erinnerung leuchtend empor. Und wer so glücklich ist, den Garten des Herrn Moser zu sehen, wenn Hunderte der verschiedensten Rosenbüsche in voller Blüte stehen, die wasserreichen Brunnen rauschen und die Vögel im Dickicht singen, der denkt unwillkürlich an König Laurin’s Rosengarten, von dem der alte Dichter sang:

„Wer ihn konnte sehen an,
Der mußte all sein Trauern lan.“

Ja, wenn ein Fremder den feinsten Reiz dieser Stadt kennen lernen und genießen will, muß er jene lauschigen Heiligthümer südlicher Flora besuchen, wo „im dunkeln Laub die Goldorangen glühen, die Myrrhe still und hoch der Lorbeer steht.“ Allein nicht nur Anlagen und Gärten, selbst andere Plätze und stille Winkel mahnen uns, daß wir an der Schwelle Italiens stehen. Minaretähnliche Cypressen und breitkupplige Pinien erheben sich aus den Weinbergen; der dunkle Lorbeer und die zarte Myrthe grünen an den Felswänden, und die Fackeldistel breitet ihre saftigen Blätter über das rötliche Porphyrgestein. In reichster Toilette zeigt sich aber Bozen als Blumenstadt am ersten Mai, an dem der vielbesuchte Blumenmarkt gehalten wird. An diesem Tage bildet der ganze Obstplatz, den der Künstler in unserer heutigen Nummer teilweise im Bilde vorführt, einen großen wunderbaren Garten voll von Glanz und Glut und berauschendem Duft. Was Blumenfreunde, Gärtner und Bauern an Blumenpflanzen und scheuen Gewächsen auszustellen und zu verkaufen haben, wird von nah und fern hierher gebracht, um den Reiz dieses unvergleichlichen Maifestes zu erhöhen. Die wechselvollen Trachten, die schönen Gestalten und interessanten Typen des hin- und herwogenden Volkes beleben dieses blumen- und blütenreiche Fest. Da findet man Abkömmlinge der Hessen, die von dem Reggelberge niederstiegen, neben Gothen und Gothinnen, die aus dem romantischen Sarnthale oder von den Höhen des Tscheggelberges gekommen sind; Bajuwaren aus der nächsten Umgegend, verdeutschte Romanen aus Ueberetsch und Wälsche aus dem Trentino drängen sich im dichten Gewühle.

Es erinnert dieses bewegte, reiche Bild an das Gewühle und Treiben auf dem Obstplatze in alten Zeiten, als noch die berühmten Messen abgehalten wurden, zu denen die Handelsherren aus Sinigaglia und Venedig, aus Augsburg, Ulm, Calw und Nürnberg herbeikamen, oder an die alten Volksfeste, die einst hier gefeiert wurden. Ich erinnere nur an das Georgispiel, das am Frohnleichnamsfeste gegeben wurde, an das Ringelrennen um Pfingsten und an den Bindertanz mit seinen Auswüchsen lustigster Volkslaune. Allein selbst an gewöhnlichen Tagen bietet der Obstplatz, der schon im Mittelalter den belebtesten Punkt der Stadt bildete und zwei öffentliche Bäder besaß, ein bewegtes, lautes, farbenreiches Bild, das mit seinem halbitalienischen Charakter jeden Fremden, der aus dem Norden kommt, durch Eigenthümlichkeit und südliches Leben ansprechen muß.

Das Hauptgebäude dieses Stadtteiles, von dem die Straße nach Meran abzweigt, war das Gasthaus „Zur goldenen Sonne“, welches schon 1420 bestand. Wie unzählige Fremde mögen in dieser Sonne, die ihr Licht über Gerechte und Ungerechte leuchten ließ, eingekehrt sein und sich an ihrem Scheine erfreut haben! Damals schon hatten venetianische Kaufleute hier ihre Herberge; wälsche Fischer und Geflügelhändler boten hier ihre Waare feil und zahlten je einer sechs Gulden jährliche Steuer. Bis in die neueste Zeit noch ehrten italienische Handelsleute die alte Sitte. Daß aber auch gute Deutsche im Schatten der „Sonne“ sich nicht nur wohl fühlten, sondern auch das Zeitliche segneten, zeigt uns der Umstand, daß hier 1515 der Schulmeister Benedict Debs aus Ingolstadt, dessen Name mit den religiösen Volksschauspielen in Tirol in engster Beziehung steht, seine literarische und irdische Laufbahn beschloß. Als im vorigen Jahrhundert die „Sonne“ ihren Höhepunkt erreicht, beehrten Fürsten und Kaiser dieses Wirthshaus mit allerhöchsten Besuchen, wie die Kaiserin Maria Theresia, wovon der große, hohe Salon Nr. 10 im zweiten Stocke noch jüngst den Namen „das Kaiserzimmer“ führte.

[721] Auch Goethe, als er nach Italien zog, bewohnte dieses Gemach am 9. September 1786. Zwei Jahre später finden wir Herder hier, der am 1. September 1788 an seine Kinder schrieb: „Jetzt bin ich nun in Bozen, wo heute eine unsägliche Menge Volkes ist, weil neunzehntausend Kinder gefirmelt werden sollen, da der Bischof in vielen Jahren nicht gefirmelt hat, weil er zu faul gewesen. Da ist nun vor unserem Wirthshause zur Sonne ein solcher Obstmarkt, als Ihr in Eurem Leben nicht gesehen habt: Birnen, Quetschen, Weintrauben, Nüsse, Feigen.“ Damals stand die „Sonne“ am höchsten, und es begann kurz darauf ihre Neige. Italienische Kaufleute, Künstler und Gelehrte hielten aber fest an der „Sonne“, wenn auch die vornehme Welt nur mehr die „Kaiserkrone“ besuchte. Endlich bewahrheitete sich auch an unserer „Sonne“ der Spruch:

„Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergeh’n,“

denn im vorigen Jahre wurde das altberühmte Gasthaus verkauft und, um den Platz zu erweitern, abgebrochen. Unser Künstler hat aber das Bild des Hauses, in welchem Goethe und Herder gewohnt, für die Nachwelt gerettet.

Der „Sonne“ gleich haben auch die historischen Bozener Messen ihren Glanz verloren, allein das rührige Kaufmannsleben dauert in der alten Handelsstadt dennoch fort und vermittelt theilweise den regen Verkehr zwischen Deutschland und Italien. Bozen wird indessen nach anderer Seite hin sicherlich aufblühen. Es wird eine Hauptstation alpiner Touristen werden, denn kein Punkt Tirols bietet für den feineren Landschaftsbeobachter so viele und wechselnde Genüsse, wie die Bozener Gegend. Zudem giebt Bozen den besten Ausgangspunkt nach dem noch zu wenig besuchten Sarnthal, nach dem romantischen Eggenthal, sowie nach der schönen Mittelebene, nach Ueberetsch und dem reizenden Gehänge von Montan zwischen Auer und Neumarkt. Wer eine überraschende Bergaussicht ohne viel Mühe und ohne Gefahr genießen möchte, der kann das schon im Eckerliede genannte Jochgrimm besteigen. Damen werden sich daran auch kein Füßchen verletzen. Diesen alpinen Vorzug Bozens hatte Herr Amthor auch erkannt, als er seine Schrift über diese Stadt und deren Umgegend schrieb.

Möchten recht viele Reisende das Florenz an dem Eisach besuchen und die ebenso wechselreiche wie schöne Umgebung kennen lernen – und sie werden, wenn sie die rechten Wege und Punkte gefunden, dem Schreiber dieser Zeilen gewiß nicht undankbar sein.
Z.




Blätter und Blüthen.


Im Hause der französischen Nationalversammlung. Bei den sich immer häufiger wiederholenden parlamentarischen Krisen in Frankreich dürfte es auch für entferntere Beobachter dieser Zustände nicht ohne Interesse sein, einen Einblick in das innere, ich möchte sagen häusliche Treiben der Nationalversammlung zu thun. Ich möchte daher den Leser ersuchen, mich auf einem Besuche der Säle und Zimmer zu begleiten, in denen die Berathungen der Versammlung gepflogen werden.

Seitdem Versailles als Sitz der französischen Regierung angenommen worden, hat jede historische Erinnerung an den großen Erbauer des Schlosses einem praktischen Zwecke weichen müssen, und der Contrast zwischen der ehemaligen und der jetzigen Bestimmung der Räume ist manchmal recht eigenthümlich. Wen sollte es da Wunder nehmen, wenn das zu den leichtesten und elegantesten Aufführungen bestimmte Theater heute der Sitzungssaal der Nationalversammlung geworden ist? Sind doch die Verhandlungen selbst oft höchst theatralisch und ist doch ihr Ausgang nicht minder tragisch oder ergötzlich wie derjenige der großen Schöpfungen eines Racine, eines Corneille oder Molière!

Wie bereits bekannt, ist es keineswegs leicht, Zutritt zu diesen Räumen zu erhalten, und es bedarf dazu mancher Verbindungen, wenn man darauf verzichtet, eines der fünfzehn Billete zu erringen, die täglich für die Fremden ausgetheilt werden. Sie fallen meist in die Hände von Unterhändlern, die vom frühen Morgen an darauf warten und sie nachher, je nach dem Interesse, daß die Sitzung verspricht, für zwei, fünf, zehn oder zwanzig Franken wieder verkaufen. Das Beste ist also immer, sich an die Deputirten oder an Freunde derselben zu wenden, und man darf es als ein wahres Freundschaftszeichen ansehen, wenn man mit einer Eintrittskarte beglückt wird. Die Vertheilung der Billete ist das Amt der Quästoren, die eine strenge Controle darüber zu führen haben. Jeder Deputirte hat nämlich alle einundzwanzig Tage Anrecht auf zwei Billete ersten Ranges, alle achtzehn Tage Recht auf zwei zweiten Ranges. Wer nun einen großen Kreis von Freunden oder Bekannten hat, dem ist es gewiß nicht leicht, den vielfachen Anforderungen zu genügen.

Rechnen wir uns zu den Bevorzugten, denen es gelungen ist, Eintritt in das Sitzungsgebäude zu erlangen, und werfen wir zunächst einen Blick auf die Einrichtung des Haupt- und Sitzungssaales.

Das Parterre des kleinen Theaters ist in drei Theile abgetheilt, in denen die Rechte, die Linke und die beiden Centren ihren Platz finden. Die Pulte und Plätze der Herren Abgeordneten sind einfach und sehr eng, Letzteres aus Mangel an Raum. Der alten Bühne zunächst, vornan, befinden sich die Tische der Minister und die Bänke für die Mitglieder der einzelnen Commissionen. Ein Theil der Bühne ist für den Präsidenten, den Redner und die Geschäftsführer eingerichtet. Der Präsidentenstuhl ist ein umfangreiches altes Möbel, das einem curulischen Stuhle nicht unähnlich sieht. Auf dem davor befindlichen Tische steht die große Glocke, die in den stürmischen Verhandlungen fast unaufhörlich erklingt und die allein manchmal die Ruhe wieder herzustellen vermag. Jeder Präsident hat seine eigene Art, diese Klingel zu gebrauchen. Herrn Grevy’s Art war kurz, kalt und gebieterisch; er wußte sich meisterhaft derselben zu bedienen. Sein Nachfolger, Herr Buffet, hat noch immer keine rechte Sicherheit im Gebrauch der Glocke erlangt; unter seinem Drucke klagt und wimmert sie, ohne recht zu wissen, wann sie beginnen, wann aufhören soll.

Die Rednertribüne ist von Acajouholz und hat einen doppelten Aufgang von je sechs Stufen, eine weise und politische Einrichtung, welche den unversöhnlichen Gegnern gestattet, sich auf den unschädlichen Kampf der Worte und Gedanken zu beschränken. Zu beiden Seiten dieser Stufen befinden sich die kleinen Stehpulte für die Stenographen, die sich alle fünf Minuten ablösen, also immer ziemlich zahlreich vertreten sind. Ueber diesen Häuptern des Staates dürfen wir aber die Diener desselben, die einflußreichen Huissiers nicht vergessen, deren Amt darin besteht, die tobende Versammlung zur Ruhe anzuhalten: „Silence, Messieurs, un peu de silence, Messieurs!“ rufen sie unermüdlich, sobald die Klingel des Präsidenten ertönt, indem sie dabei bald schwach, bald lauter mit ihren langen Stäben auf den Boden stoßen. Sie sind es auch, die die Deputirten zur Abstimmung einladen und sie dazu nicht selten aus dem Büffet oder aus den Nebensälen herbeirufen.

Zwei ziemlich schmale Galerien gestatten einen Einblick in dieses Heiligthum; die erste enthält die diplomatische Loge, eine Loge für die früheren Deputirten, eine für die Angehörigen des Ministeriums, für die Familie des Präsidenten und einige Freunde der Deputirten. Die zweite hat eine große Loge für die Journalisten, und offene Nebenlogen, sogenannte Tribünen für das Publicum.

Nur durch einen schmalen Corridor von dem Theatersaale getrennt ist der „Salle des Pas-Perdus,“ der sogenannte Promenadensaal der Deputirten. Es ist eine schöne Galerie, die etwa zweihundert Fuß in der Länge und zwölf Fuß in der Breite mißt. Ihre Ausstattung ist jedoch wenig erfreulich; rechts und links Statuen oder Gräber der verstorbenen königlichen Personen: Chlodwig und Clotilde, Pipin der Kleine und Bertha, Franz der Erste und Diana von Poitiers, Ludwig der Neunte, Philipp der Dritte, Philipp der Vierte und so weiter. In der Mitte befindet sich das Mausoleum Ferdinand’s und Isabella’s von Castilien. Die Legitimisten können hier mit Muße über das Ende der Monarchen nachdenken.

In diesem Saale herrscht die größte Freiheit in der Unterhaltung, denn kein Uneingeweihter darf dessen Schwelle überschreiten; die Journalisten dürfen nur von ferne, aus einer vergitterten Loge diesem Treiben zusehen, und es gelingt ihnen nur selten, ein bedeutendes Wort zu erhaschen, das man ihnen mitleidig zuwirft, etwa wie ein Stück Brod für die Bären in den zoologischen Gärten. Aber auch diese Vergünstigung wird ihnen in dem daranstoßenden Zimmer, in dem Büffet, entzogen. Hier also vertraut man sich die allergeheimsten Wünsche und Befürchtungen, hier schmiedet man die Complote, hier giebt man das Losungswort für die bevorstehenden Kämpfe. Das Büffet ist ein ziemlich großer rechtwinkliger Saal, der aus einem Theil der Bühne und aus dem Conversationszimmer der Schauspieler gewonnen ist. Vor den Fenstern erhebt sich ein ungeheurer Schrank voll zahlloser Flaschen von allen Farben und Dimensionen; ein davorstehender Tisch trägt die üblichen Butterkuchen und Brödchen.

Unter dem Kaiserreiche und noch 1871 wurden die Ausgaben für das Büffet von dem Nationalbudget bestritten, und war dazu eine Summe von fünfzigtausend Franken ausgesetzt, die aber niemals genügte. Das war eine herrliche Zeit! Rheinwein, Bordeaux und Burgunder flossen wie in Strömen, und die allerappetitlichsten Kuchen mußten den Hunger der Repräsentanten des Volkes stillen. Aber die Zeiten ändern sich. Mit der Republik sollte auch die republikanische Einfachheit kein leerer Klang sein, und so stellten Ende des Jahres 1871 einige Deputirte den Antrag, daß man den üppigen Festen ein Ende mache. Die Majorität wagte keinen Einspruch zu thun, und es wurde bestimmt, daß jeder Deputirte wöchentlich fünf Franken von seinem Gehalt für die Bestreitung der nöthigen Erfrischungen abgebe, wodurch man die jährliche Summe von etwa 45,000 Franken erhielt. Da aber das Buffet in derselben Ueppigkeit beibehalten wurde und Jeder nun für sein Geld verzehren wollte, so stellte sich nach Verlauf von drei Monaten heraus, daß man 8000 Franken mehr ausgegeben, als die Casse erlaubte, daß man also nach weiteren drei Monaten gar nichts mehr werde verabreichen können. Die Quästoren sahen sich daher gezwungen, die Getränke und Kuchen zu vereinfachen, und trotz allem Murren der diesmal einstimmigen Deputirten ist es denn bei dieser Einschränkung geblieben, so daß die [722] wahrhaft republikanische Frugalität die besten Erfolge für die Zukunft verheißt.

Von den Räumen der einzelnen politischen Gruppen bleibt wenig zu sagen, da es denselben an historischem oder architektonischem Interesse gebricht; ebenso ist es mit der Bibliothek und den für die Quästur bestimmten Sälen. Wir wollen diesen kurzen Ueberblick daher mit einigen Angaben über die erheblichsten administrativen Ausgaben beschließen.

Die Zahl der Gesetzvorschläge und der dieselben begleitenden Berichte ist sehr bedeutend, und die Druckkosten derselben betragen jährlich über 220,000 Franken. Die Versammlung liefert jedem der 750 Mitglieder ein Exemplar des „Journal officiel“, was eine Ausgabe von 32,000 Franken verursacht; der persönliche Gehalt eines jeden Deputirten beträgt jährlich 12,000 Franken, total 8,400,000 Franken. Für Heizung und Erleuchtung des Locals werden jährlich 220,000 Franken gerechnet. – Im Jahre 1871 beliefen sich die Gesammtausgaben der Nationalversammlung auf 7,640,798 Franken 75 Centimes, in den Jahren 1872 und 1873 auf 8,624,000 Franken.
H.

Das Sühnungslinnen in Japan. Der Fremde, welcher die entlegenen Quartiere und Vorstädte Yeddos durchstreift, sieht gelegentlich seine Aufmerksamkeit wohl durch eine am Wege angebrachte Vorrichtung gefesselt, über deren Zweck er sich vergeblich den Kopf zerbricht. Dieselbe besteht in ihrem Hauptbestandtheile aus einem Stück japanesischer Leinwand, auf welches ein Name geschrieben und das mit seinen vier Enden an ebenso vielen in die Erde eingerammten Pfählen befestigt ist. Dahinter steht eine hölzerne Tafel aufgepflanzt, auf der verschiedene Worte zu lesen sind, und zur Seite ein mit Wasser angefülltes kleines Faß mit einem Schöpflöffel darin. Tritt man dem seltsamen Apparate näher, so bemerkt man wohl, wie einer der Vorübergehenden einen Löffel Wasser über die Leinwand ausgießt und andächtig wartet, bis die Flüssigkeit durch das Zeug hindurchsickert, ehe er dann seinen Weg fortsetzt.

„Was mag das Alles bedeuten?“ forscht der Fremde, nicht ahnend, daß dieses wunderliche Gebahren sich stets an ein sehr schmerzliches Begebniß knüpft, welches der Aberglaube der Japanesen für die Betroffenen zu einem noch traurigeren Vorkommnis macht. Stirbt nämlich eine Frau im Kindbette, so wähnt der Japanese, daß ein solcher Tod, zu einer Zeit, wo sich die süßesten Hoffnungen des Weibes erfüllen, nur die Strafe für irgend eine schwere Versündigung der Wöchnerin sein kann, für welche die Unglückliche in jener Welt noch härtere Bußen erwarten.

Die Art dieser letzteren und die Zeit, welche erfordert wird, die Seele von der begangenen Sünde zu reinigen und unter die Schaar der Jöbutz oder seligen Wesen zu versetzen, sind nach der Behauptung der Priester in jedem einzelnen Falle verschieden. Merkwürdiger Weise jedoch richtet sich Beides genau nach den Vermögensverhältnissen der Hinterbliebenen; das heißt: je nach der kleineren oder größeren Summe, die sie den Göttern oder vielmehr deren Priestern opfern, währt der Aufenthalt der armen Seele im Fegefeuer länger oder kürzer – ein Dogma, welches den Lehren unsrer römisch-katholischen Kirche auf’s Haar gleicht. Widersteht das ausgespannte Linnen den beständig erneuten Angriffen des Wassers nicht mehr, so ist die büßende Seele endlich von ihren Qualen erlöst. Nun geschieht es aber wohl, daß der Reiche, der das Geld nicht anzusehen braucht, vom Priester eine Leinwand empfängt, welche in der Mitte schon dünn geschabt ist, so daß sie beim ersten Tropfen Wasser auf der Stelle auseinanderfällt, während der Arme in Geduld harren muß, bis das grobe Segeltuch, das ihm übergeben zu werden pflegt, zerreißt. Indeß die Theilnahme aller Vorüberwandelnden ist ihm sicher; Keiner geht je an der Vorrichtung vorbei, ohne seinen Löffel voll Wasser über das Sühnungszeug auszugießen, denn so mannigfaltige Fehler man den Japanesen auch zuschreiben muß, der Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit gegen den Nächsten kann man sie nicht zeihen. Auch ohne daß sie Christen sind, gilt ihnen doch das „Liebet euch untereinander“ als höchstes Gebot.


Anfang und Ende einer Dichterehe. Wir können nicht umhin, unsere Leser noch einmal zu dem an der Spitze der Nr. 40 unseres Blattes genannten Heydrich’schen Werke über „Otto Ludwig’s literarischen Nachlaß“ zurückzuführen; namentlich möchten wir noch bemerken, daß der Inhalt desselben besonders reich an dramatischen Skizzen, Fragmenten und Studien ist, deren wahrhaft hoher Werth den frühen Untergang einer solchen Dichtergröße uns erst recht schmerzlich empfinden läßt. Wie reich und rein sein Seelenleben war, das mögen nur wenige Sätze aus der biographischen Einleitung darthun, welche u. A. auch viele briefliche Mittheilungen über Otto Ludwig, theils aus seiner eigenen, theils aus der Feder seiner Jugendfreunde enthält. Dort heißt es: Otto Ludwig lebte in den Jahren 1844 bis 1850 in Garsebach bei Meißen. Die Waldluft, die ländliche Einsamkeit thaten ihm wohl und kräftigten seine Gesundheit. Er dichtete viele Lieder, Novellen und Dramen. Lessing’s Dramaturgie studirte er damals eifrig.

„Ich schreibe Dir,“ so berichtet er seinem Eisfelder Jugendfreunde L. Ambrunn im Jahre 1844, „aus Garsebach, einem reizenden Erdwinkelchen, just wild genug, um mir zu gefallen, und zahm genug, da wohnen zu können, wozu ich mich denn mit Gott entschlossen habe. – Viele treffliche Menschen hab’ ich gefunden. Die Gegend ist wundervoll, und nur eine Stunde weit – durch Eisenbahn und Dampfschiff so nahe – bin ich mit den Persönlichkeiten der herrlichsten Künstlernaturen im Verkehr; mit Raphael, Correggio, Tizian und Holbein habe ich schon vertraute Freundschaft geschlossen, und selbst das klassische Alterthum weht uns wenigstens an in den Gypsabgüssen des Mengs’schen Museums.“ – „Ich möchte,“ so schreibt er in einem Skizzenhefte, „das Beste machen können, aber es dürfte Niemand darum wissen. Es ist wohl eine krankhafte Erscheinung, aber ich habe als Kind schon das Sprechen mit unendlicher Genugthuung Nachts im einsamen Bette, von Niemand belauscht, am liebsten geübt und konnte wenigstens ein Jahr vorher lesen, ehe es meine Eltern zufällig erfuhren. Das Ziel all meiner Wünsche wird immer mehr ein Winkelchen Erde, wo ich unbeachtet und unbekannt mich zu Tode dichten könnte. Ich fühle mich einmal als ein Sohn der Einsamkeit. Mir ist von Kindheit an Sammlung die liebste Zerstreuung gewesen. Selbst einen Freund sieht man in der Nähe oft vor ihm selber nicht, höchstens immer nur ein Stück von ihm.“

Bald berichtet er seinem Freund Schaller in Eisfeld in lieblichen Liedern, deren Abdruck wohl noch zu erwarten ist, das Erwachen seines Liebesfrühlings:

     Am 20. Juli 1844.

Jetzo hab’ ich dich, Natur,
Die mit heiligem Erbarmen
Oft dem wilderregten Sohn
Deine milde Götterruhe
Um die glüh’nde Stirn gegossen –
Jetzo hab’ ich dich gesehen,
Blauend aus zwei tiefen Himmeln
Unter einer Mädchenstirne,
Schön von blondem Haar umzogen.
Jetzo hab’ ich dich gesehen,
Ganz in deiner süßen Milde
Um zwei ros’ge Schwestern spielend,
Um zwei weiche Mädchenlippen,
Alle deine süßen Zauber
Um die reinste Form geschlungen.
Aber ach! die süße Ruhe
Hast du nicht, wie sonst, dem Sohne
Freundlich in das Herz gegossen:
Unruh’ nur und tausend Wünsche
Und der Sehnsucht süßes Bitter,
Die nur du kannst wieder heilen,
Wenn du mit dem gleichen Finger
Ihr das liebe Herz berührtest. –

Es kam, wie er’s wünschte. Was er suchte, er fand’s. Er lernte Emilie Winkler in Meißen kennen, die ihm bald eine treue Lebensgefährtin wurde.

Und in seinem letzten Lebensjahre schrieb Otto Ludwig demselben Jugendfreunde Schaller die wahrhaft herzerhebenden Worte: „Tausend Grüße von meiner Frau, die, in Gesundheit unverändert, an Seelengüte und allen häuslichen Tugenden fortwährend wächst und mir trotz Sorge und körperlicher Schmerzen, die nicht klein, das Wort ermöglicht, daß ich nicht glaube, es könne Jemand glücklicher sein als ich.“


Eine literarische Freibeuterei! Wenn wir in dem so überschriebenen Artikel unserer heutigen Nummer die dort erwähnte Dame trotz der früher ausgesprochenen Absicht der vollen Namensnennung nur mit –a von T– bezeichneten, so geschah dies lediglich in dem in der letzten Stunde an uns herangetretenen Gefühle schonender Rücksichtnahme. Wir bemerken indeß, daß wir den vollen Namen der Dame ohne jede Rücksicht veröffentlichen werden, falls Fräulein von T– das durch Herrn Aigner gegebene Versprechen „uns die Antwort nicht schuldig zu bleiben“ wider Erwarten unerfüllt lassen sollte. Durch die Art dieser Antwort wird der Grad unserer Delicatesse in der ferneren Behandlung dieser Angelegenheit bestimmt werden.
Die Redaction.




E. Marlitt’s Romane

sind in neuen Auflagen wiederum erschienen und zwar:

Goldelse. Volksausgabe, in 9. Auflage. Preis 1 Thlr.

Das Geheimniß der alten Mamsell. 2 Bände in 6. Auflage. Preis 2 Thlr.

Thüringer Erzählungen. Die zwölf Apostel. – Der Blaubart, in 3. Auflage. Preis 1½ Thlr.

Reichsgräfin Gisela. 2 Bände in 4. Auflage. Preis 2 2/3 Thlr.

Das Haideprinzeßchen. 2 Bände. Preis 3 Thlr.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ludwig Storch, der einst als „Thüringer Edeltanne“ unsern Lesern bekannt und lieb gewordene Dichter und Erzähler, welcher im April dieses Jahres seinen siebenzigsten Geburtstag auf schwerem Krankenlager gefeiert hat, tritt nun als weißbärtiger Barde noch einmal vor seinem lieben deutschen Volke auf. Der Schatz seiner „Balladen und Romanzen“ ist soeben im Druck erschienen und verdient nach Inhalt und Ausstattung eine um so wärmere Empfehlung, als in so hohem Alter die Herausgabe eines abgeschlossenen Werkes, das noch von solcher Geistesfrische zeugt, gewiß zu den literarischen Seltenheiten gehört.
    D. Red.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: stelbstverständlich
  2. Vorlage: Bünstenbinder