Die Gartenlaube (1873)/Heft 45

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[723]

No. 45.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Ende vom Liede.
Eine Berliner Geschichte von Albert Moedinger (Max Alt).
(Fortsetzung.)


3.

Einige Wochen später (es war über die Medaille noch nichts entschieden und die Aussichten waren meiner Meinung nach verzweifelt dürftig), einige Wochen später tauchte das Gerücht auf, daß die Firma „Friedrich Mannstein’s Gummiwaarenfabrik“ fallirt habe. Es bestätigte sich nur zu bald durch die öffentliche Bekanntmachung des Concurses. Natürlich kam Robert Fürst zu mir und war sehr erregt über die Nachrichten, die er mitbrachte.

„Sie haben ihn tüchtig heranbekommen, den armen Eduard,“ sagte er; „nicht etwa, daß er Geld in das Geschäft gegeben hätte, das er verliert, nur insofern, als er jetzt sicher ist, keinen Pfennig von der in Aussicht gestellten Mitgift seiner Frau zu erhalten.“

„Nun, das ist ein Unglück, für das Niemand kann,“ sagte ich beschönigend; „und er wird es tragen müssen.“

„Er wird es tragen müssen, gewiß,“ fuhr Robert Fürst fort, „und es wird ihn nicht umbringen. Aber glauben Sie, daß sehr viel Tröstliches für ihn in der Entdeckung liegen wird, daß das brave Haus schon bankerott war, als wir jene Hochzeit mit dem Couvert zu drei Thaler und allem sonstigen unnützen Luxus feierten?“

„Aber das wäre ja fast Betrug!“ antwortete ich zweifelnd.

„Es ist Betrug,“ fuhr der Schöngeist erregt fort; „ganz beweisbarer Betrug, gegen ihn wenigstens. Sie haben ihm eine Falle gelegt, und er ist einfältig genug gewesen hineinzugehen.“

„Glauben Sie, daß er sie des Geldes wegen geheirathet hat?“

„Gewiß nicht, aber Geld verdirbt nie etwas, selbst die beste Sache nicht. Sie haben ihn getäuscht, schlau getäuscht, und ich bin überzeugt, daß der adelige Artilleriehauptmann nicht daran gedacht hat, sie heirathen zu wollen. Es war nur eine für meinen schönen Vetter berechnete Attrape.“

„O, o!“ mußte ich lachen; „Sie gehen wieder zu weit. Glauben Sie, daß diese jedenfalls nicht angenehme Entdeckung Einfluß haben wird auf das Verständniß Ihres Vetters zu seiner Frau?“

„Was ist da noch viel Einfluß nöthig?“ sagte der Schöngeist, mit den Achseln zuckend; „von Seiten der Geldfrage glaube ich nicht. Eduard hat sehr viel Glück gehabt in seinen Unternehmungen und wird in kaufmännischen Kreisen für sehr ‚fein‘ gehalten. Das Geld würde er gern entbehren, wenn er damit den Schein des Dupirtseins von sich abwenden könnte. Wenn ich ihn richtig beurtheile, so wird er in der nächsten Zeit sich mehr als je mit seiner Frau zeigen und sie auffallend artig und liebevoll behandeln. Lassen Sie sich durch diese Veränderung nicht täuschen; es geschieht nur, um jenen lächerlichen Schein von sich abzuwenden. Der Zwang, den er sich auf diese Art der Welt gegenüber auferlegen muß, wird eine Reaction in seinem Betragen ‚zu Hause‘ naturgemäß hervorrufen, und ich glaube nicht, daß der häusliche Friede dabei besonders gewinnen wird.“ –

Der Schöngeist schien ein recht guter Menschenkenner zu sein, denn seine Vorhersagungen trafen auf den Buchstaben ein. Eduard trug den „Schlag“ mit großer Resignation und nichts deutete darauf hin, daß er die Nebenumstände aus jenem für ihn unangenehmen Lichte betrachte. Zum Glück war das eigene Vermögen der Frau Mannstein für sie und ihre noch unversorgten Kinder ausreichend. Es waren ein paar große Festlichkeiten in seinem Hause, bei denen die junge Frau sich wieder von ihrer vortheilhaftesten Seite zeigte. Es sollte nicht lange währen.

Die einzige Leidenschaft, welche Eduard hatte, war das Billardspiel, und da er das Wirthshaus nicht liebte, hatte er in seinem Hause dafür Sorge getragen, ihr fröhnen zu können. Es war ein Tag in der Woche festgesetzt, wo seine Freunde bei ihm zusammenkamen, um ein paar Partien Boule zu spielen. Die junge Frau war an diesem Tage regelmäßig in ihrer Familie; die Männer blieben unter sich, und es wurde um neun Uhr kalt gespeist und Bier dazu getrunken. Diese Abende waren natürlicherweise sehr lustig und es wurde an ihnen manch tüchtiges Gelächter erweckt, das nie an den Tag gekommen sein würde, wenn die Herren nicht „unter sich“ gewesen wären. So war es an dem Abend, der ein neues Licht in das geheimnißvolle Dunkel des Verstecks werfen sollte, in das sich das Ungethüm, die Schlange, schon so lange zurückgezogen hatte. Robert Fürst war sehr ausgelassen; die Nase juckte ihm fortwährend, und er knüpfte daran, daß ihm der Sage nach aus diesem vulgären Umstand „etwas Neues“ kommen müsse, ein paar kleine Berichte von Erlebnissen, die er bei derselben Gelegenheit gehabt hatte. Sie waren sehr komischer Natur, riefen große Heiterkeit hervor und die Zeit zur Abendmahlzeit war auf diese Art schneller herangekommen als sonst. Die Boule war zu Ende, und als wir in das Speisezimmer traten, fanden wir zwar den Tisch gedeckt, aber nichts [724] von den kalten Speisen darauf, die uns sonst so einladend begrüßten.

„Oho!“ rief Eduard Sandow lachend, „die Frauensleute haben wieder die Uhr nicht im Kopf. Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Herren!“ und er ging, um nach der Ursache der Verzögerung zu sehen.

Ich war mit einem der Gäste bei einem interessanten Thema und bemerkte nicht, daß der Schöngeist ebenfalls das Zimmer verlassen hatte. Unser Wirth blieb ziemlich lange aus, und kurz vor ihm sah ich Robert Fürst zurückkommen. Er machte mir ein kleines, fast unmerkliches Zeichen und flüsterte mir im Vorübergehen zu: „Gesehen! in Lebensgröße; ein selten schönes Exemplar!“

Gleich darauf trat Eduard in das Zimmer und sagte lachend: „Es ist, wie ich gesagt habe – die Uhr geht nach, ist sogar stehen geblieben. Sie müssen sich schon noch ein Viertelstündchen gedulden. Wir wollen noch fünfzig zuschreiben.“

Es würde mir unter anderen Umständen vielleicht nichts an seinem Benehmen aufgefallen sein. Aber darauf vorbereitet, daß etwas passirt sei, bemerkte ich, daß er auffallend blaß war und daß sein Lachen einen seltsamen unheimlichen Klang hatte. Als wir wieder in das Billardzimmer zurückgegangen waren, um noch eine kurze Partie zu machen, zitterte seine Hand so heftig, daß seine Queue eine Zeitlang den Ball umfuhr, ohne ihn zu treffen. Er bat seinen Vetter für ihn zu stoßen, indem er seine linke Hand auf seine Brust legte.

„Mein Herzklopfen wieder einmal und besonders heftig!“ sagte er schwach; „entschuldigt mich! Es geht gleich vorüber.“

Es ging vorüber, nachdem er ein Glas Wasser hinuntergestürzt hatte, und bald daraus rief man uns zu Tische. Wir hatten Alle tüchtigen Appetit, nur unser Wirth aß wenig. Er trank dafür mehr als die Anderen, was ich früher nie bei ihm bemerkt hatte. – – –

„Es ist schlimmer als ich glaubte,“ sagte der Schöngeist, als er seinen Schlaftrunk bestellt hatte, der an dem Abend ausnahmsweise aus einem Glas Punsch bestand. „Es ist verachtungswürdig, daß ich lauschte, ich weiß es; aber warum juckte diese unglückliche Nase so, und warum sagte sie mir noch außerdem ganz deutlich, daß die Neuigkeit von ‚dieser‘ Seite kommen müsse!? Als mein Vetter das Zimmer verließ, drängte es mich, mir ein Reservetaschentuch aus meinem Ueberzieher zu holen. Die Garderobe stößt dicht an die Küche, und als ich die ersten Worte dessen hörte, was dort verhandelt wurde, da war jeder Rest von Scham in mir erstorben. Ich fuhr fort zu lauschen.

‚Was soll das heißen, Emilie,‘ sagte die Stimme meines Vetters unmuthig; ‚es ist zehn Minuten über Neun! woran liegt es?‘

‚Es ist nicht meine Schuld, Herr Sandow,‘ antwortete das Mädchen, und seine Stimme klang ängstlich und trostlos, ‚es ist nicht meine Schuld – werden Sie nicht böse – ich habe mich selbst schon so sehr abgeängstigt.‘

‚Nicht Ihre Schuld? abgeängstigt? Was reden Sie für Unsinn, Emilie!?‘ rief Eduard zornig.

‚Ich hätte gewiß Alles besorgt, wie immer – wenn Madame – sie wollte Geld schicken – aber sie schickte keins und – werden Sie nicht böse, Herr Sandow! Es ist nicht meine Schuld; der Fleischwaarenhändler wollte nicht mehr – borgen.‘

‚Emilie!‘ donnerte die Stimme des unglücklichen Mannes; sie donnerte wirklich, und es war wohl nicht zu verwundern. ‚Emilie! wie können Sie so schamlos sein, mir in’s Gesicht zu sagen, daß – meine Frau Sie bei den Lieferanten borgen heißt?‘

Das arme Mädchen schluchzte vernehmlich: ‚Ich hätte es Ihnen gern erspart, so gern, aber ich konnte nicht mehr auslegen, weil ich meinen Lohn – o, werden Sie nicht böse! Es ist nicht meine Schuld.‘

Das Mädchen weinte heftig, und ich hörte einen Augenblick nichts weiter als ihr Schluchzen und das Klopfen von meines Vetters Herzen, was aber von meinem eigenen herrührte, wie ich im nächsten Moment entdeckte.

‚Hier ist Geld, Emilie,‘ sagte der Unglückliche nach einer kurzen Pause, und ich werde den Klang seiner Stimme nie vergessen ‚hier ist Geld! Weinen Sie nicht! Seien Sie still und besorgen Sie Alles schnell, und seien Sie ein gutes Mädchen und machen kein Aufsehen, und – o, o!‘ ich sah ihn deutlich nach seinem armen Kopfe fassen, ‚und nun ein vergnügtes Gesicht machen, mein Gott! nun ein ver–‘

Einen Augenblick später streifte ich an Ihnen vorüber, mit den Worten: ‚Gesehen, in Lebensgröße!!‘“ –

Wir saßen eine Weile schweigend da, und ich versuchte, mich schaudernd in die Lage des unglücklichen Mannes zu versetzen.

„Es ist grauenhaft,“ fuhr Robert Fürst dann fort, „viel grauenhafter noch, als es selbst Ihnen den Eindruck macht. Man muß den armen Mann kennen, wie ich ihn kenne, um es ganz zu fassen; er ist so stolz. Selbst als junger Mensch hat er nie einen Groschen Schulden gehabt; er hatte darüber mehr als philiströse Ansichten; er nannte es geradezu unanständig. Und nun beim Fleischwaarenhändler, also auch bei anderen keinen Leuten. Wenn es eine Rechnung von fünfhundert Thalern bei Gerson oder Friedberg wäre, er würde sie mit Freuden doppelt bezahlen. Beim Fleischwaarenhändler, in seiner Gegend natürlich – er ist verloren! Er kann es unmöglich ertragen; er läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach den Bart abschneiden, damit ihn Niemand kennt. In jedem Menschen, der ihn von heute an ansieht, wird er einen Gläubiger seiner Frau wittern – im Betrage von zwölf und ’nem halben Sibergroschen. Es ist grauenhaft, grauenhaft, und wenn ich auch manchmal dachte, daß ihm etwas nicht schaden könne, das ist bei Gott zu viel, zu viel. Der arme Mann, der arme Mann.“



4.

Ich hatte Berlin im Frühling des Jahres 186* verlassen und den ganzen Sommer auf dem Lande zugebracht. Erst im September kehrte ich nach der Stadt zurück, die mir in den ersten Tagen jenen traurigen, die Brust beklemmenden Eindruck machte, den wir immer empfinden, wenn wir lange die entzückende Luft von Feld und Wald geathmet haben. Ich konnte mich nicht hineinfinden, und machte in der ersten Woche noch täglich Excursionen in die Umgegend, um mich nach und nach einzuwohnen in das dunstige Babel.

Gleich in den ersten Tagen hatte ich Robert Fürst meinen Besuch machen wollen. Ich traf ihn nicht; auch er hatte einen Ausflug gemacht und wurde erst Ende der Woche zurückerwartet. Aber ich traf früher mit ihm zusammen.

Es war auf einem der kleinen Dampfer, welche die Oberspree nach Köpnick zu befahren. Ein grauer, aber noch recht warmer Herbsttag; die Luft weich und ein wenig neblig, so daß die wunderlichen pittoresk-alterthümlichen Hintergebäude, welche die Spree jenseits der Jannowitzbrücke einfassen, sich, in ihr verlierend, seltsame, burgähnliche Gestalten annahmen, die sich in dem leise dampfenden Wasser spiegelten, wo es nicht dicht bedeckt war von eng beieinanderliegenden Fahrzeugen aller Art. Der Dampfer war wenig besetzt, und in der frühen Morgenstunde waren die Brücke, das Geländer und die äußeren Wände der Kajüte etwas feucht. Alles war übersäet mit Millionen kleiner mikroskopischer Thautropfen. Acht Uhr hatte es ausgeschlagen auf dem Glockenthurm der Stralauer Kirche, und der Capitain war im Begriff das Zeichen zur Abfahrt zu geben, als er noch gewohnheitsmäßig einen Blick auf die höher liegende Brücke warf, um nach einigen, vielleicht verspäteten Passagieren zu sehen. Wirklich kamen noch mehrere die Treppe athemlos herab und sprangen auf den Dampfer, der sich schon bewegte, und der letzte von diesen war Robert Fürst. Als er mich bemerkte, kam er, ohne besonders erstaunt zu sein, auf mich zu, aber es war etwas in seinem Wesen, das mich betroffen machte.

„Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind,“ sagte er, mir die Hand reichend; „es ist angenehmer bei solcher Gelegenheit zu Zweien zu sein.“

„Bei welcher Gelegenheit?“ fragte ich verwundert.

„Sie wissen nichts? sind also zufällig auf dem Dampfer?“ sagte er schwer athmend.

„Ich will einfach einen Tag im Freien zubringen, in Treptow oder auf dem Eierhäuschen,“ antwortete ich; „aber was ist es?“

„Es ist nur – – ich glaubte Sie wüßten es,“ und er starrte bei diesen Worten in seltsamer Art in die Wellen, welche die Schraube des Schiffes aufwarf; „es ist nur – Eduard Sandow, [725] mein Vetter, ist gestern auf dem Müggelsee beim Segeln – ertrunken.“

Ich wußte nicht, in welcher Art die Umstände mich darauf vorbereitet hatten; ich hörte das Wort, ehe es ausgesprochen war, und als es wirklich erklang, schien es mir eine Täuschung zu sein.

„Ertrunken?“ sagte ich endlich, und auch mein Athem brach sich jetzt schwer Bahn; „ertrunken? wirklich ertrunken?“

„Ja,“ erwiderte der Schöngeist, „so heißt es, und ich glaube es auch – und im Seglercasino in Stralow glauben sie es auch.“

Und er sah immer noch in die Wellen, die, zu beiden Seiten des Schiffes aufsteigend, sich hinter ihm in eine breite, durcheinander wirbelnde Furche fügten.

„Weiß die arme Frau schon davon?“ fragte ich nach einer Weile.

„Meine Mutter ist in diesem Augenblick wohl dabei, sie vorzubereiten. Ich kam gestern Abend von der Reise, und heute Nacht vier Uhr wurde ich herausgeholt durch den Ueberbringer der Depesche. Ein Bekannter von ihm, der ein paar hundert Schritt von ihm segelte, sandte mir die Nachricht von dem Unglück.“

„Ich war länger als vier Monate von Berlin entfernt. Sind noch besondere Umstände hinzugetreten?“

„Es konnte nicht gut schlimmer werden,“ antwortete er mir, „aber es wurde es dennoch. Sie vernachlässigte sich immer mehr und die Wirthschaft dazu. Es ist in dieser Stimmung peinlich, davon zu sprechen; nehmen Sie deshalb mit ganz kurzen Sätzen vorlieb. Ein Diner bei Sandow zu Ehren eines auswärtigen Geschäftsfreundes. Nur Kaufleute, darunter ein Neider seines Glücks, der schon oft versucht hatte, ihm Ungelegenheiten zu bereiten. Mein Vetter sieht ihn auffallender Art sein Besteck untersuchen. Sie essen Alle mit Alfenide; das Silberzeug war – versetzt. Wechsel von ihr, auf seinen Namen ausgestellt, coursirten in den Händen der berüchtigtsten Halsabschneider, und er glaubte seinen kaufmännischen Credit untergraben.“

„Hat man eine Ahnung, wo das entsetzliche Weib – das Geld gelassen hat?“ fragte ich kopfschüttelnd.

„Eine Ahnung, ja! Gewisses? nein! Die Familie, ihre eigene schlechte Wirthschaft, der Bruder, der saubere Bursche mit dem ‚Ende vom Liede‘, mögen sich wohl darin getheilt haben. Auch munkelt man“, setzte er nach einer Weile leiser hinzu, „von einer Jugendliebe. Ein langhaariger Musikant, der ihr ein Heft Lieder gewidmet und der sie drei Jahre vor ihrer Verbindung mit Eduard heimlich hatte entführen wollen. Es wurde unglücklicher Weise durch einen Zufall verhindert, und er soll seitdem sehr heruntergekommen sein.“

„Hat das Schicksal Ihrem armen Vetter auch die Kenntniß dieses Umstandes nicht erspart?“ fragte ich weiter.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Schöngeist; „aber es wäre unlogisch, wenn es das gethan hätte, und das Schicksal ist niemals unlogisch.“

„Das Ende vom Liede ist grausam, lieber Freund,“ rang es sich aus meiner gepreßten Brust, „fürchterlich grausam!“

„Das Leben ist immer grausam,“ antwortete er nachdenkend; „sehen Sie, wohin Sie wollen! Unerbittlich, Zoll für Zoll treiben die Ereignisse den Menschen dahin, wo sie ihn haben wollen. Und wenn er gebrochen und widerstandslos daliegt am Boden, dann kommen die Menschen und sagen achselzuckend: ‚Er verschuldete es selbst!‘ Von wo ihm aber die Eigenschaften gekommen, denen folgend oder widerstrebend er seinem Schicksal anheimfiel – danach fragt Niemand – es ist ganz gleich, der Arme unterlag. Glauben Sie mir, wenn mein armer Vetter den Augenblick, den wir Alle einmal durchleben müssen, allein mit unserem Gott, früher herbeiführte, als er ihm körperlich vielleicht bestimmt war, so that er es, es klingt paradox, nur aus Furcht. Ein normaler Mann würde sich von – von der Person haben scheiden lassen; das war ein Ausweg, der für Eduard verschlossen blieb. Eine Scheidung, das Gerede, die Umstände, die dabei an’s Licht kommen mußten, das war ein Gedanke, dem er nicht in die Augen sehen konnte. Und so setzte er seinen Fuß tastend in die Leere, in das Nichts, vor dem die muthigsten Männer beben, er, der Schwächling.“

„Woher kam ihm die Furcht, der all seine Fehler, der all sein Leid entsprang? Sagen Sie es mir! Es peinigt mich; woher kam sie ihm?“

Das Dampfboot war unterdeß an den verschiedenen Stationen nach kurzem Aufenthalt vorüber geglitten und ging jetzt seinem Ziele, dem Städtchen, entgegen, dessen Thürme bei dieser Wendung des Flusses uns zu Gesicht kamen. Ohne daß wir es weiter berührten, war ich entschlossen, den Vetter Eduard Sandow’s zu begleiten. Es galt ja, ihn aufzufinden, aufzufinden in dem großen, eine halbe Meile langen See, in dem so viel Wasser ist, daß man ganz Berlin darin versenken könnte.

Robert Fürst schien meine Gedanken zu errathen, denn er sagte plötzlich: „Ich weiß es auch nicht, wie wir es anstellen sollen. Wenn nicht einige von den befreundeten Bootsbesitzern da sind, bin ich so rathlos, wie ein Kind. Der große See, und …“

„Hatte Sandow früher schon eine Leidenschaft für das Segeln?“ fragte ich, als wir im Begriff waren, anzulegen.

„Nein,“ antwortete mein Begleiter, „sie kam erst im vorigen Herbst. Es zog ihn wohl hinaus, oder er wollte es dadurch einleiten. Sie hätten ihn in den letzten Monaten sehen sollen! Er fing schon an, seiner Frau ähnlich zu werden, war häufig unbarbiert und gar nicht mehr so ängstlich, wenn sein Oberhemd einmal grauer war als gewöhnlich. Im vorigen Jahre begann er mit einem Freunde zu segeln, um sich die nöthige Kenntniß zu erwerben. Im Frühjahre kaufte er selbst ein Boot und fuhr noch mehrere Monate mit einem tüchtigen Gehülfen zusammen. Seit acht Wochen soll er immer allein hinausgegangen sein, und zwar oft bei Wetter, bei dem Alle zu Hause blieben. Davor hatte er keine Furcht.“ – –

Wir stiegen aus, da das Dampfboot wegen niedrigen Wasserstandes seine Fahrt nicht weiter fortsetzen konnte, und gingen durch die kleine Stadt in der Richtung des Müggelsees. Ich kannte den Weg von Ferienexcursionen her, die ich als Knabe gemacht, und es war mir zuweilen, als sähe ich mich vor mir her gehen mit der grünen Botanisirtrommel und dem heimlichen Streichschwamm zu der verbotenen Cigarre. Als wir die letzten Häuser des Städtchens hinter uns hatten und nur ein paar hundert Schritte sandigen Weges uns von der Kiefernhaide trennten, hatte sich der Nebel langsam in einen feinen, aber dichten Sprühregen aufgelöst, ähnlich dem, der an Sandow’s Hochzeitstage in den Kranz der Braut gefallen war. Nur war die Luft warm und mild heute, und die Erde hauchte den balsamischen Duft aus, den der Regen ihr nach langer Dürre so reich entlockt. Das Bild begann mehr und mehr sich in einen Localton umzustimmen, aus dem nur im Vordergrunde ein wenig spärliches Grün am Boden und die röthlichen Kiefernstämme mit ihren dunkeln Kronen hervorstachen. Als wir an den Saum des Waldes gekommen waren, erhob sich von den ersten Bäumen eine Schaar schwarzer Krähen schreiend und durcheinanderschießend in die Luft und flog ein Stück Weges uns voran, einen neuen Ruheplatz zu suchen. Es durchschauerte mich, als wir, unsern Weg fortsetzend, die dunkle Gesellschaft zum zweiten und dritten Male aufjagten und sie uns immer mit ihrem heisern Geschrei voranflog und uns dann wieder erwartete, als wollte sie uns den Weg zeigen. Es wurde mir fast leichter um’s Herz, als sie sich endlich von uns trennte, und ihren Weg in gerader Linie fortsetzte, während wir links nach unserm Ziel, der Müggelbude, abbogen. – –

Ich komme nun zu traurigen Bildern, und ich möchte bei ihrer Ausführung den Grundsatz der alten Meister befolgen, im Schatten so wenig wie möglich zu zeichnen.

Es waren mehrere von Eduard’s Bekannten mit ihren Booten an Ort und Stelle, als wir ankamen, und auch Fischer aus der Umgegend hatten sich eingefunden, weil sie wußten, daß sie gebraucht würden. Sie hatten ihn Alle gern gehabt und schüttelten Alle den Kopf, als wollte ihnen die Sache nicht klar werden. Das Boot, das nur gekentert, nicht untergegangen war, hatten sie schon an’s Land gebracht und auch nach seinem Besitzer hatten sie zu suchen angefangen. Die Fischer in ihren langen schmalen Kähnen, die Boote, die sie forschend umkreuzten, die langen Stangen, die langsam in das Wasser hineinfuhren und wieder emporkamen, und alles Das in dem feuchten, grauen Nebel, halb sich abzeichnend, halb verschwimmend, – es war ein trauriger Anblick. Sie mühten sich den ganzen Tag, aber vergebens. Gegen Abend war ein starker Südost aufgesprungen, der sich bald zu einem tobenden Sturme [726] umwandelte; der Regen fiel jetzt in Strömen; die Wellen gingen hoch auf der Müggel und trieben sich gegenseitig in toller Jagd dem sandigen Ufer zu. Es war ein vollständiges Unwetter geworden, und wir waren Alle in das Haus des Fährmanns eingekehrt, wo Robert Fürst und ich ein Unterkommen für die Nacht suchten und fanden. –

Der andere Morgen sah uns nicht so früh auf den Beinen, als wir verabredet hatten. Der Schlaf mußte spät, aber um so fester zu uns gekommen sein, denn als ich beinahe zugleich mit Robert Fürst erwachte, schien die Morgensonne goldig in’s Zimmer und hatte schon Zeit gehabt, die kleinen trüben Fensterscheiben zu trocknen, an die ich im Halbschlafe den Regen unaufhörlich hatte schlagen hören. Wie Alles glänzte und leuchtete, als wir bald darauf hinaustraten in’s Freie. Wie jedes Grashälmchen mit Silber eingefaßt zu sein schien und in seiner schmalen Höhlung einen funkelnden Diamanten barg und ihn hin- und herwiegte, bis er bei dem fröhlichen Spiel noch einmal aufleuchtend hinunterglitt und erlosch! Welche Ruhe, welcher Frieden nun in der ganzen Natur! Die große unendliche Wasserfläche nicht spiegelglatt zwar, aber sich leise melodisch wiegend und zauberhaft erglänzend in Millionen hüpfender und glitzernder Spitzchen. Die Wellen langsam und etwas träge hinaufgleitend auf den Sand, ihn dunkler färbend und mit einem gelblich weißen Saume einfassend, aus welchem breitschaftiges Schilf und die großen runden Blätter der Mummeln smaragdgrün hervorleuchten. Die alten Kiefern, die den sandigen Abhang rechts krönen, in süßer Ruhe nach so vieler Mühe; kein Laut, kein Mißklang in dem harmonischen Bilde; Ruhe überall, Ruhe – nach dem Sturme.

Schweigend und in tiefes Sinnen versunken folgten wir dem schmalen Uferpfade. Da, plötzlich, bei einer Wendung, die er machte, erhob sich von einem alten morschen Weidenstamme die wartende unheimliche Schaar und rauschte schwarz empor in die noch leuchtender erscheinende Luft. Schreiend und durcheinanderschießend schwebten sie einen Augenblick über dem Ufer, als wollten sie sich niederlassen; dann stiegen sie mißtrauisch und sich dichter sammelnd wieder empor und zogen, fliehend vor unserem Schritte, dem Saume des Waldes zu. Unwillkürlich waren wir näher aneinander getreten und hatten gegenseitig des Anderen Hand erfaßt. Einen Augenblick noch folgten wir dem schmalen Pfade; dann waren wir da, und auch da – auch da war Ruhe nach dem Sturme.


Als die Trauerbotschaft zu der jungen Wittwe Eduard’s kam, soll sie aus einer Ohnmacht in die andere gefallen sein und bei ihrem jedesmaligen Erwachen irre Worte gestammelt haben, von ihren Trauerkleidern, wie sie wohl getragen würden jetzt, und ob die Schneiderin auch noch damit fertig werden würde. Sie soll sogar in einem heftigen Anfalle von Verzweiflung etwas von ihrem schönen aschblonden Haar geopfert haben und zwar in dem Augenblicke, als sie erfuhr, daß die tiefgebeugte Mutter sich plötzlich emporgerafft hatte aus ihrem schmerzlich dumpfen Sinnen, um zu verhindern, daß die leblose Hülle ihres todten Lieblings die Schwelle des Hauses überschritte, das er mit dem unabweisbaren Gedanken verlassen hatte, es nicht wieder zu betreten. Sie hatten ihn in das Vaterhaus getragen, und dieser Umstand, verbunden mit dem gar nicht zweideutigen Betragen der Verwandten ihres Mannes, mag Marie Sandow den glücklichen Gedanken eingegeben haben, in irgend eine heftige Krankheit zu verfallen, deren Verlauf ihr das ärztliche Verbot jeder Aufregung als willkommenen Rettungsanker zuwarf. Sie löste dadurch einen bangen Zweifel, der uns Alle beherrscht hatte – wie sie sich wohl in der letzten Stunde benehmen würde und was möglicher Weise aus ihrer Anwesenheit entspringen könne.

Der traurige Tag war gekommen und wir umstanden ihn, um Abschied von ihm zu nehmen. Es war das Zimmer, in welchem die lebensgroßen Bilder seiner Eltern hingen; da schlief er in seinem schwarzen Kleide, von dem man nichts gewahrte vor den unzähligen Kränzen, die es bedeckten. Der Schein der Lichter auf den dunkeln Candelabern kroch flackernd und schwankend an den hohen Palmen und Cypressen empor, die sich von jenseits des Katafalks nach dieser Seite hin die Hände reichten. Ernst und feierlich tönte die Stimme des Predigers, und er mußte ergreifende Worte sprechen, denn der weibliche Theil der Trauerversammlung schluchzte ohne Aufhören. Ergreifender jedoch als diese Worte, die nur undeutlich an mein Ohr schlugen, waren für mich die vier Augen, die stumm und still aus ihren Goldrahmen heraus auf das gebrochene Leben unter sich sahen, das in demselben Zimmer so frisch zu ihren Füßen erblüht war. Ergreifender als Alles aber schien mir die Frau mit den dicken schwarzen Locken, die wieder zweimal da war und deren lebende Ausgabe, gramgefurcht nun und gebeugt, mit thränenlosen und doch so schmerzerfüllten Blicken, einer Niobe gleich in das düstere Bild hineinstarrte.

Als wir eine halbe Stunde später den Kirchhof verließen, wo er nun warm gebettet aller Furcht entrückt war, schlugen wir schweigend den Weg nach der Stadt ein, wohin wir unsern Wagen vorausgeschickt hatten. Als wir durch das altersgraue Thor traten, warf uns gleich das erste Haus eine Schaar tobender Knaben in den Weg, die jauchzend der Nachmittagsschule den Rücken drehten. Melancholisch schob sich der Schöngeist durch den Schwarm hindurch, und melancholisch sagte er, als wir dem dichtesten Schwarm entronnen waren:

„Ist das Lied nun zu Ende, bitte, so sagen Sie es mir!“

Ich sah nicht ab, was noch etwa geschehen könne, und drückte diese Meinung aus.

„Es ist möglich, daß Sie Recht haben,“ antwortete er ernst, „aber es ist so unbefriedigend, so unbefriedigend, und deshalb,“ fügte er nach einem kurzen Nachdenken hinzu, „halte ich es für das Beste, wir nehmen noch einen Schlaftrunk, ehe wir nach Hause gehen.“ – – –

Drei Jahre später – ich hatte mich nach Beendigung einer längeren Studienreise auf eine Zeit in Paris niedergelassen – fand ich, spät in der Nacht nach Hause kommend, einen Brief mit dem Stempel meiner Vaterstadt vor. War es, daß er ungewöhnlich stark und die Handschrift mir unbekannt war, war es ein gewisser feuchter Duft, den er aushauchte (es hatte den Tag über geregnet und die nasse Luft mochte die Tasche des Briefträgers durchdrungen haben), genug, noch ehe ich ihn erbrach, stand jene Nacht und der darauffolgende Morgen in der Müggelbude vor meinen Augen. Ich hatte mich nicht getäuscht; der Brief war von Robert Fürst und lautete kurz:

„Es fehlte noch etwas am Ende vom Liede; ich fühlte es damals genau. Es ist jetzt eingetroffen, nach und nach, und ich habe es kurz und tagebuchartig für Sie aufgezeichnet. Ich glaube, es wird auch Sie befriedigen. Mir wenigstens zieht sich das Herz nicht mehr krampfhaft zusammen, wenn ich an die traurige Geschichte Eduard Sandow’s denke, mit ihrer unerbittlichen Logik, die ihn in den Tod trieb. Es scheint ganz genau gewußt zu haben, was es wollte, das arme, so oft verlästerte Schicksal. Es scheint es überhaupt immer zu wissen. Beste Grüße von Ihrem

Robert Fürst.“

(Schluß folgt.)




England in Norwegen.


Wer die Romantik der rauschenden Gewässer studieren will – des Meeres schiefergraue Fluthen, die lichtblauen, klaren Seen, heute mit ihrem klaren Spiegel lächelnd und morgen aufgeregt und ungestüm, die in gewaltigem Sturmschritte dem Meere zueilenden Flüsse, die majestätischen Wasserfälle, welche zu Hunderten von den Bergen fallen –, der muß Skandinavien von Süd nach Nord, von Ost nach West durchwandern, und wahrlich! er wird begreifen, warum die nordische Sage so reich ist an Gestalten, die im thaubesprengten Grase an der Quelle tanzen, die in den Flüssen sich baden, die bald freundlich, mild und verlockend, bald drohend, unhold und verderbenbringend aus den Tiefen der Seen emportauchen. Des Nordländers Poesie

[727]

An den Gewässern von Gudbrandsdalen.
Originalzeichnung von Knut Ekwall.

[728] knüpft allzu gern an’s Wasser an; ohne dieses ist ihm eine Landschaft traurig und öde, und deshalb bietet das wasserarme Deutschland ihm so wenig Reize dar.

Aus dieser Poesie des Wassers erklärt sich denn auch zu einem großen Theile die Anziehungskraft, welche Norwegen auf das reisende Publicum, namentlich auf das englische, ausübt. Der fleißige Besuch Norwegens durch die Söhne und Töchter Albions hat seinen Grund wohl theils in der Nachbarschaft des Landes; denn von Edinburg nach Christiania ist die Entfernung wenige Meilen größer, als von London nach Hamburg. Zum überwiegenden Theil liegt aber die Veranlassung dazu in der Beschaffenheit des Landes. Der Engländer als Tourist ist, wie bekannt, ein ganz anderer Mensch, als der Europäer sonst. Reist er allein, so langweilt er sich und andere; tritt er aber rudelweise auf, so thaut er bald auf; dann sprechen von sieben oder acht Personen mindestens drei gleichzeitig, während die Mehrheit der Gesellschaft kichert und lacht. Schöne Landschaften zu durchwandern, von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt zu eilen, im Anschauen der schönen Natur zu schwelgen, ist nicht des Engländers Reiseart. Er verschmäht nicht schöne Gegenden; aber das Groteske geht ihm über das Liebliche, und hat er das gefunden, dann legt er sich vor Anker und kostet die Reize der Landschaft in der ihm eigenen Art aus, indem er sich ein kleines Stillleben anlegt. Aber auch das Groteske hat für ihn keinen Reiz, wenn er nicht noch in anderer Weise seine Rechnung findet.

Der Engländer kann bekanntlich seine Verwandtschaft mit den „Angeln“ nie verleugnen. Daher haftet er gern an dem einem Pole der Achse, an deren entgegengesetztem Pole ein Regenwurm hängt. Norwegen ist mehr als ein anderes Land seiner Passion günstig.

Skandinavien mit einer Unzahl kleiner und einem Dutzend großer Flüsse, von denen der schönste, die Angermanelf, fünfzig Meilen nördlich von Stockholm, an Wasserreichthum und landschaftlicher Großartigkeit den Rhein in Schatten stellt, ist gesegnet mit den trefflichsten Fischen. Nur im Innern Norrlands, da, wo Wälder von unendlicher Ausdehnung auf sumpfigem Boden und zahllose Seen das Land bedecken, wird man vielfach mit Fischen von der Gestalt des Barsches regalirt, die wegen ihres faden, thranigen Geschmacks dem Reisenden bereits längst zuwider sind, ehe er sie am vierzehnten Tage zum achtundzwanzigsten Male vorgesetzt bekommt. In den rauschenden Gebirgsflüssen und Bächen gedeihen aber die verschiedensten Arten aus der Ordnung Lachs oder Salm, der gemeine Lachs, die Lachsforelle, die Bergforelle, die Aesche etc. Wiewohl der Lachs zur Laichzeit durch schwimmende Balken leicht verscheucht wird, findet man ihn doch in allen größeren Gewässern Norrlands, obschon sie den ganzen Sommer hindurch mit Floßholz bedeckt sind. Ja, selbst die Angermanelf, die sechs Meilen aufwärts bis Nyland mit Seeschiffen und noch weitere neun Meilen bis Solleftea mit Flußdampfern befahren wird, enthält Lachse in großer Menge, wie die allenthalben zu ihrem Fange aufgestellten Reusen verrathen. Der Fisch, an welchem aber Norwegen vorzugsweise reich ist, ist die Forelle. In den Gebirgen im südlichen Norwegen, z. B. in der Sireaa, findet sie sich in großer Menge; die Imsaa und andere Gewässer, Flüsse sowohl wie Seen, östlich von Lillehamm und nördlich von Hedemarken haben großen Reichthum daran; nach Bergen zu in Hardanger kommt sie in großer Anzahl vor; wer von Röraas, der bekannten Bergstadt, an der schwedischen Grenze nordwärts in Stuedal auf den Forellenfang geht, findet reiche Beute; im Norden von Dovrfjeld gewährt diese Fischerei namentlich in der Gegend von Aune einen guten Ertrag. Doch wozu Orte nennen? Jeder kleine See im Gebirge ist von Forellen bevölkert, und in jedem Bache und Flusse sieht man diese reizenden Fische spielen. Auf der höchsten Station von Dovre, in Hjerkin, das über dreitausend Fuß hoch liegt, sah ich in der Küche einen fußhohen Berg von geschlachteten Forellen, die den zahlreichen Jägern und Botanikern, welche hier ihr Standquartier haben und von Hjerkin aus das ganze Hochgebirge durchschweifen, zum Mittagsmahle vorgesetzt werden sollten. In Skäggestad in Gudbrandsdalen, wo ich einige Tage später in ziemlich zahlreicher Gesellschaft zu Mittag speiste, wurden uns die prächtigsten Forellen aufgetragen, und so an verschiedenen Orten.

Es kann nicht wundernehmen, daß Norwegen, Eldorado der Forellenfischerei, von angelnden Albionssöhnen überschwemmt ist. Man findet sie an den kleinen Seen im Hochgebirge, am Fuße der Wasserfälle, zwischen Felsen und Gestrüpp, doch am liebsten in den Gegenden, wo sich wohnlich hausen läßt. Daher sind sie in jeder norwegischen Stadt zu finden, von wo aus sie ihre Ausflüge nach den Forellenbächen und Flüssen nehmen können. Unter den Thälern Norwegens ist eines der liebsten Aufenthaltsorte für sie Gudbrandsdalen, und da vorzugsweise das obere Thal, sowie das unvergleichlich schöne Thal der Ottaelf. Gudbrandsdalen ist einundzwanzig Meilen lang und wird vom Flusse Logen durchflossen. Dem Wanderer, der von Fogstuen aus in das Thal hinabsteigt, bietet dasselbe anfangs nur wenig Außerordentliches dar. Allein jenseits des Dorfes Dovre treten die Berge immer enger zusammen, und durch die Felsengassen, über Klippen und Gestein, zwängt sich der Fluß schäumend und brausend hindurch. Groteske Felsformationen und imposante Wasserfälle leihen dem Thal einen besonderen Reiz. Hinter der Schlucht von Laurgaard erweitert sich das Thal wieder. Die Berge, welche zu seinen beiden Seiten sich erheben, haben durchschnittlich nur eine Höhe von ein- bis zweitausend, die darüber hinwegschauenden jedoch von vier- bis fünftausend Fuß.

Neben der seltenen Schönheit des Thales, auf dessen einzelne Punkte hier eines Genaueren einzugehen uns leider der Raum fehlt, ist es, wie gesagt, besonders die Manie des Angelns, welche die Kinder Albions so zahlreich nach Gudbrandsdalen zieht. Selten pflegen sie einzeln ihrem Sport nachzugehen; in der Regel ist eine ganze Gesellschaft beisammen, Alt und Jung, Herrlein und Fräulein. Durch ihre auffällige Kleidung, namentlich ihr für die Fischerei jedenfalls geeignetes Schuhwerk und ihre Ausrüstung machen sie sich schon in der Hauptstadt kenntlich. Haben sie geeignetes Terrain für ihre Thätigkeit gefunden und steht ihnen sonst kein Hinderniß entgegen, so machen sie sich unverzüglich an’s Werk und liegen mit großer Ausdauer ihrer Passion ob. Es darf dabei etwas halsbrecherisch hergehen; das ist englisch. Auf den Ertrag ihrer Fischernte verzichten sie gewöhnlich; was sie erbeutet haben, pflegen sie zu verschenken, und willige Nehmer finden sie stets.

Durch ihre Freigebigkeit suchen sich die angelnden Briten überhaupt gern das Ansehen von Noblesse zu geben; in den Hôtels der großen Städte ist man aber von ihrer Lordschaft nicht immer überzeugt, weil sie größere Ausgaben vermeiden und namentlich bei der Table d’hôte regelmäßig fehlen. In Christiania war man gar nicht wohl auf sie zu sprechen; man bezeichnete die Angelkünstler als heruntergekommene Genies, die von England nur herüberströmten, um in Norwegen mit dem Reste ihres Vermögens noch für etwas zu gelten. Für den rauhen, stolzen Norweger mag das schon so scheinen; er bedarf der Bedienung nicht, weil er selbst thätig und zu jeder Arbeit geschickt ist; aber er bedient auch nicht gern, und den bummelnden Engländer zu honoriren, ist erst recht nicht nach seinem Geschmacke.

Wie in den Alpen, in der sächsischen Schweiz und in allen von Touristen vielbesuchten Gegenden, haben die Engländer auch in Norwegen durch ihre Freigebigkeit mit Kupfermünzen ein eigenes Bettlerpublicum herangezogen. Ich kann mich nicht besinnen, in Schweden von Malmö bis nach dem armen Dalarne hinein und bis hinauf nach Hernösand und Oestersund jemals von einem Bettler angesprochen worden zu sein, auch in Norwegen nicht, ausgenommen im nördlichen und mittleren Gudbrandsdalen, hier aber in einer Weise, die jeder Beschreibung spottet. Wir waren nur erst eine kleine Strecke über Dombaas nach Gudbrandsdalen hinein, als eine wahre Meute von Wegelagerern auf unser Fahrzeug zustürzte. Ich war schon vorher gewarnt worden, diesen Bettlern etwas zu geben, und meine Reisegefährtin, die Frau eines Handelsherrn A. aus Drontheim, empfahl mir dies noch ausdrücklich. Als die Betteljungen nichts erhielten, begann eine wilde Jagd hinter dem Wagen her; einzelne suchten sich hinten an demselben festzuhalten, und es blieb unserm Kutscher schließlich nichts übrig, als die Zudringlichen mit Hülfe der Peitsche wegzufegen. An manchen Punkten schien man Krüppel, Lahme und Blinde aus dem ganzen Gebirge zusammengeschleppt zu haben, und kaum daß das Rollen unseres Wagens in das Dorf hineinschallte, so setzte sich eine wahre Karawane hinkend, schleichend, auf allen Vieren kriechend, heulend und [729] jammernd zu unserm Empfange in Bewegung. Ich habe noch nie ein so widerwärtiges Bild gesehen. Alles hatte sich phantastisch in die ärgsten Lumpen gehüllt; Flicken von allen Farben hatte man auf’s Tollste übereinandergehäuft, und der Ton, mit welchem man uns ansprach, war das Heulen des bereits Verhungernden. So bittet die Noth nicht, so bettelt nur das professionelle Lumpenthum. Eine Freigebigkeit, die das erzeugt, ist verbrecherisch. Es mag wohl sein, daß Mancher, der hier Gaben ausstreut, ein gutes Werk damit zu stiften meint. Manchen mag es auch geben, der mit Wohlgefallen auf sich als Menschenfreund herniederschaut, wenn er Kupferschillinge wegwirft, weil ihm sein Gewissen zu anderer Zeit über den Erwerb seines Goldes und Silbers gar herbe Dinge zu sagen hat. Was ist Der aber, der in den Augen von Betteljungen für einen Lord gelten will, Anderes als ein Betteljungenlord?

Man findet in der von Bettlern besonders stark frequentirten Strecke von Gudbrandsdalen vielfach eine Bekanntmachung, unterzeichnet von den beiden Geistlichen in Vaage, worin diese die Reisenden bitten, den Bettlern nichts zu geben, sondern die Almosen in Büchsen zu thun, welche an verschiedenen Stellen des Weges angebracht sind. Die Bekanntmachung ist in norwegischer und englischer Sprache abgefaßt. Ich glaube, der norwegische Text ist völlig überflüssig. Der englische würde vollständig genügen,[WS 1] wenn er überhaupt etwas nützte. Ich bezweifle das aber. Wenn die norwegische Regierung, ich will sagen, das Storthing von Christiania, dem ein gewisses Selbstbewußtsein durchaus nicht fehlt, etwas thun wollte, was dem stolzen Warägerthum besser anstände als manches Andere (ich erinnere nur an das, was vor zwei Jahren die Jaabek und Genossen im norwegischen Landtage gegen die höhere Schulbildung geleistet haben), so würde es in einer energischen Beseitigung des Bettelunfuges in Gudbrandsdalen bestehen.

Mitten in diesem schönen Thale steht ein großes Gefängniß. Es enthält die Ernte dessen, was nicht weit davon durch den Bettel gesäet worden ist. Sagt das häßliche Bild der lungernden, zerlumpten, heulenden Horden am Wege durch Gudbrandsdalen, daß es wünschenswerth wäre, Schritte dagegen zu thun, so verkündet das eisenvergitterte Haus gebieterisch: Es ist eine moralische Pflicht für Norwegen, das gefährliche Unkraut, welches die Touristen in den keuschen Boden seiner Berge und Thäler tragen, mit Feuer und Schwert auszurotten.
J. Bgr.




Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 13. Die Kirche von Argenteuil.
(Schluß.)


Die dem Portale Zunächststehenden lauschten; sie vernahmen deutlich eilige Schritte in der Kirche, dann ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand fortgerückt würde – und nun war Alles still; fast gleichzeitig hörte das Schießen der Franzosen auf.

Die Patrouillen kamen zurück; die beiden Gesuchten waren nicht zu Hause gefunden, jedoch hatte die Haushälterin des Vicars den Portalschlüssel überliefert. Wie ein wüthender Strom ergoß sich die Menge in die Kirche, um die Verräther zu ergreifen; alle Ausgänge blieben besetzt und eine systematische Treibjagd begann. Wir durchstöberten den Thurm, den Chor, die Sacristei; wir warfen alle Kirchenstühle um, suchten unter dem Altare nach – nichts zu finden! Wir stiegen hinab in die Gewölbe – keine Spur von Menschen! Und doch waren sie dagewesen! Es mußte ein geheimer Ausgang da sein, durch den sie entkommen konnten; wir suchten und klopften an allen Wänden, in allen Ecken; aber umsonst. Wir waren geprellt. Aergerlich standen wir endlich vom Suchen ab; die Thurmthür wurde vernagelt, vor den Ausgängen Posten aufgestellt und die weitere Untersuchung für den nächsten Tag aufgehoben.

Die Menge begann sich eben zu verlaufen, als in höchster Eile und, wie es schien, höchst erstaunt der Vicar und Jean auf dem Platze erschienen, um sich zu erkundigen, was denn vorgefallen wäre. Aber weder des Vicar’s langer Rock, noch Jean’s Stellung als „Landsmann“ verhinderten die Soldaten, Beide sofort zu ergreifen und nach der Commandantur zu begleiten. Unterwegs hielt Jean so feurige Reden über seine Unschuld und über den Undank seiner „Landsleute“, und der Vicar machte ein so gottergebenes, engelreines Gesicht, daß Manchem Zweifel aufstiegen, ob diese Beiden wohl die Attentäter sein könnten. Jedoch tröstete man sich mit dem Gedanken: „Na, es wird ja schon herauskommen!“ und lieferte sie an den Commandanten ab.

Das Verhör, das am nächsten Tage mit den Beiden abgehalten wurde, ergab gar nichts. Der Vicar wies darauf hin, daß man den Schlüssel zum Portal in seiner Abwesenheit gefunden hatte; einen andern Eingang wollte er nicht kennen, ebensowenig konnte er vermuthen, wer in der Kirche gewesen und das Licht auf den Thurm gebracht hatte. Er war mit Jean zusammen ein wenig ausgegangen, um sich mit ihm über dienstliche Angelegenheiten zu besprechen, und hatte erst, als Alles vorbei war, von dem Vorfalle vernommen.

Dieselben Aussagen machte Jean, der noch nebenbei auf seine bekannte Vorliebe für seine „preußischen Landsleute“ hinwies.

Was sollte man machen? Eine Haussuchung oder vielmehr eine Kelleruntersuchung bei den Verdächtigen ergab auch keine weiteren Momente, also mußte man sie laufen lassen. Möglich war es, daß andere Franzosen durch einen geheimen Zugang in die Kirche gelangt waren, wenn auch unwahrscheinlich, daß Vicar und Kirchendiener nichts davon wissen sollten. Da aber nichts herauszubekommen war, mußte man sich darauf beschränken, durch größte Wachsamkeit sich gegen einen ähnlichen Art der Verrätherei zu schützen. Und daß unter uns Spione waren, stand fest; wie konnten sonst die Franzosen genau die Stunde des Soupers und den Ort, wo es stattfinden sollte, wissen? Das Lichtsignal war nur des besseren Zielens wegen aufgesteckt. Das Licht ließ sich nicht wieder sehen; die Franzosen blieben aber andauernd gut unterrichtet von unseren Stellungen, unserer Stärke, unserem neuen Geschützstand; das ließ sich aus allen Operationen ersehen, die sie uns gegenüber ausführten, und die Gefangenen, die wir hin und wieder machten, bestätigten es. Vergebens wurden die Posten verdoppelt und die Wachsamkeit verschärft, so daß keine Maus, geschweige denn ein Boot, unbemerkt zu den Feinden hinüber konnte; die Dinge blieben beim Alten. Ein Regiment wurde abgelöst; von dem neuen ablösenden Regiment kam zunächst nur ein Bataillon nach Argenteuil; die beiden anderen konnten erst nach einigen Tagen eintreffen. Sofort versuchten die Franzosen, über die Seine zu kommen und uns in unseren Stellungen zu überrumpeln; sie wurden glücklicherweise zurückgejagt; daß sie aber auf unsere augenblickliche Schwäche speculirten, erfuhren wir von den Gefangenen. Unsere Officiere und wir mit ihnen waren wüthend; aber Niemand wußte zu helfen.

Ich dachte wohl an Jean, und Désirée’s Worte dienten noch mehr dazu, meinem Argwohn eine bestimmte Richtung zu geben; aber sowie ich gescheut hatte, ihren Namen in die Untersuchung gegen Jean und den Vicar zu ziehen, so mochte ich auch jetzt nicht davon sprechen, daß vielleicht die Nichte behülflich sein könnte, den Onkel zu entlarven. Ich benutzte aber natürlich die erste Gelegenheit, wo ich mit Désirée ungestört sprechen konnte, um ihr zu danken für den Hinweis, den sie mir in guter Absicht gegeben, obwohl ich ihn nicht sofort verstanden hatte.

„Ach,“ entgegnete sie niedergeschlagen, „es war eigentlich recht schlecht von mir, daß ich Ihnen das gesagt habe. Verrathen Sie es nur keinem Andern, ich bitte Sie; man würde mich sonst tödten.“

„Wer denn? Von wem haben Sie denn Derartiges zu fürchten? Aber beruhigen Sie sich! Ich habe es Niemand gesagt und werde es auch Niemand sagen, daß Sie von der Verrätherei und der Kirche gewußt haben. Jetzt ist ja auch Alles vorbei, und es kann Niemand mehr auf den Thurm hinauf.“

[730] „Um Gotteswillen still!“ flüsterte sie ängstlich, sich umsehend. „Wenn es Jemand hörte, daß wir über diese Dinge sprechen, wäre ich verloren.“

„Aber ich begreife nicht – wie kann für Sie Gefahr daraus entstehen, daß Sie mich einmal warnen wollten? Es hat ja Niemand etwas gemerkt.“

„Ach, er hat es ja bemerkt. Er hat mir gedroht, mich zu tödten, wenn ich jemals –“

„Aber wer denn? Wer ist das?“

„Ach Gott, ich habe schon wieder zu viel gesagt. Aber Sie werden mich nicht verrathen, nicht wahr? Es wäre mein Tod, ich weiß es gewiß.“

Ich beruhigte das angstvolle Mädchen, so gut ich konnte; ich hatte genug gehört, um zu wissen, um wen es sich handelte.

„Aber es ist gleichgültig, wie es mir geht,“ sprach sie plötzlich mit einem Gemisch von Angst und entschlossener Zärtlichkeit. „Ich habe es nun einmal gesagt, und wenn wieder solche Gefechte kommen, wie neulich, dann sterbe ich vor Angst. Ich kann es kaum aushalten, wenn ich das Treiben ansehe. Sie wissen es nun einmal; vergessen Sie es nicht, auf die Kirche zu achten – ich wiederhole es.“

Erstaunt hörte ich sie an; also auch jetzt noch liefen die Fäden der Verrätherei in der Kirche zusammen? Doch ich drang vorläufig auf keine weitere Erklärung, sondern brach ab, um von andern Dingen zu sprechen, die einen beruhigenden Eindruck auf das Mädchen machten.

Es war dunkel geworden. Désirée hatte Licht angezündet und bediente die zahlreichen Gäste, die sich einzufinden begannen.

Jean kam nach Hause und warf einen argwöhnischen Blick auf mich und auf Désirée; dann setzte er sich an einen andern Tisch zu einigen Soldaten. Offenbar wollte er mir aus dem Wege gehen. Das hinderte mich jedoch nicht, ihn aufmerksam zu beobachten.

Es war nicht schwer zu bemerken, wie er aus den arglosen Leuten gesprächsweise alle militärischen Neuigkeiten herausholte, ohne daß sie eine Ahnung davon hatten, daß sie ausgeforscht würden. Zuweilen machte er dabei ein so verschmitztes Gesicht, daß ich ihm gern meine Flasche an den Kopf geworfen hätte. Ein Franzose, dem Anschein nach ein Landmann, trat herein, wechselte mit Jean einen Blick des Einverständnisses und wurde von diesem in das Hinterstübchen hineingebeten. Ein bedeutungsvoller Blick, den Désirée forschend auf mich warf, erweckte sofort den Gedanken in mir: Das ist auch ein Spion!

Nach einer Weile kam der Mann wieder heraus; ich stand auf, bezahlte meine Zeche und ging ihm langsam und scheinbar absichtslos nach. Er verschwand in dem Hause des Vicars. Natürlich! Jean und der Vicar waren unzertrennlich, also wußten sie wohl Beide von all’ den Geheimnissen, die uns beunruhigten; wahrscheinlich waren sie die Leiter des ganzen Getriebes, und die Kirche bildete vielleicht den geheimen Versammlungsort, wo die Instructionen ausgetheilt wurden. Wenn man nur den versteckten Zugang gekannt hätte! Ich mußte dahinter kommen, koste es was es wolle; mein Verdacht war durch Désirée’s Benehmen heute fast zur Gewißheit geworden.

Als ich in mein Quartier kam, erzählte einer der Cameraden, der auf Wache gewesen war, daß er heute Nacht, als er vor einem der Seiteneingänge der Kirche Posten stand, drinnen Flüstern und leise Schritte gehört hätte und ein Geräusch, als ob eine Treppe knarre. Auf seine Meldung hatte der wachthabende Unterofficier ein paar Mann in die Kirche hineingeschickt; es war aber nichts zu finden gewesen.

Am nächsten Tage meldete ich mich beim Feldwebel und ersuchte ihn, mir wegen Privatangelegenheiten beim Hauptmann Gehör zu verschaffen. Nachmittags wurde ich zum Hauptmann gerufen.

„Nun, was wünschen Sie?“

„Ich bitte den Herrn Hauptmann um die Erlaubniß, mich heute Nacht in der Kirche aufhalten zu dürfen.“

„Wozu denn das?“

„Weil ich glaube, daß es mir so gelingen wird, herauszubekommen, wer neulich das Licht auf dem Thurme aufgesteckt hat und wer noch jetzt die Franzosen mit Nachrichten über uns versorgt.“

Ich trug alle meine Verdachtsgründe vor, gestützt aus die Wahrnehmungen, die ich und die der Posten in voriger Nacht gemacht hatte, und auf die Warnung Désirée’s, die ich nicht verschwieg.

„Wenn ich vor Dunkelwerden mich in der Kirche verstecke,“ so schloß ich, „dann werde ich doch wenigstens sehen, auf welchem Wege die geheimnißvollen Besucher hineinkommen, und darauf hin macht man vielleicht noch andere Entdeckungen.“

Der Hauptmann, nachdem er ein Weilchen überlegt hatte, bestellte mich um sechs Uhr auf die place de l’église, dort sollte ich ihn erwarten.

Der Abend kam, und ich machte mich auf den Weg, gegen die Kälte durch den Mantel, gegen etwaige Gefahren durch einen sechsläufigen Revolver gesichert. Der Hauptmann erwartete mich bereits und theilte mir mit, daß das Portal während dieser Nacht nicht verschlossen sein werde, und daß der Doppelposten vor demselben, sowie eine die Kirche umgehende Patrouille den Befehl hätte, sobald sich ein Geräusch in der Kirche hören ließ, in dieselbe einzudringen, um mir nöthigenfalls Hülfe leisten zu können. Im Uebrigen wünschte er mir viel Glück und Erfolg und übergab mich dann dem Unterofficier, der mich durch die Posten hindurch in die Kirche geleiten sollte.

Das Portal schloß sich leise hinter mir, und ich stand nun allein in dem dunkeln Raum, der mir geheimnißvoll und öde entgegengähnte. Ich leide nicht an Gespensterfurcht; aber doch beschlich mich ein eigenthümliches fremdartiges Gefühl, als ich mich langsam und vorsichtig in der Finsterniß fortbewegte.

Kirchen und Kirchhöfe sind nun einmal Orte, die „den Rest von kindlichem Gefühle“ in jedem Menschen wieder erwecken; ist es doch sogar dem Dr. Faust so gegangen; warum mir nicht?

Ich scheute mich fast, den Fuß niederzusetzen; die schweren eisenbeschlagenen Stiefel gaben auf den Steinplatten einen so seltsamen Laut, der in dem hohen Gewölbe so verrätherisch wiederhallte, daß ich mich in einen Stuhl niederließ, um erst zu überlegen, wo ich mich am besten placiren könnte. Mir fiel die Orgel ein; von dort aus konnte ich Alles hören und beobachten, was in der Kirche geschah, und war dabei nicht in Gefahr, zu früh entdeckt zu werden. Ich schlich also die kleine Treppe hinauf, die mit einem besondern Aufgange zum Platze auf das Chor führte, und setzte mich oben so nieder, daß ich den ganzen Kirchenraum überblicken konnte. Vorläufig war allerdings nichts zu sehen; es war aber anzunehmen, daß die Erwarteten mit einer Blendlaterne erscheinen oder wenigstens durch Geräusch sich bei ihrer geheimnißvollen Thätigkeit vernehmbar machen würden.

So saß ich nun da und wartete. Nichts regte sich in dem dunkeln Abgrunde vor mir; ich hörte nur, wie draußen die Posten vor den Thüren langsam hin- und hergingen; zuweilen brummte in der Ferne der Mont Valérien, oder der schwache Knall eines Gewehrschusses ließ sich von der Seine her vernehmen. Es wurde windig, und ein paar Glasscherben fielen aus den zerschossenen Kirchenfenstern auf die Steine nieder, daß die ganze Kirche davon wiederhallte.

Sollte ich vergebens warten? Fast sah es so aus; denn schon vier Stunden hatte ich dagesessen, und nichts hatte die geheimnißvolle Stille gestört als das Geräusch des Windes, der durch die Fensterlücken stoßweise in’s Gewölbe hineinheulte. Aber gleichviel – ich mußte ausharren.

Da plötzlich fuhr ich auf; ein leises Geräusch, wie wenn ein Schrank fortgerückt würde, hatte sich rechts von mir unten im Kirchenschiffe hören lassen. Ich starrte gespannt in die Finsterniß hinein; das Geräusch dauerte fort; es mußte in der Nähe des Bildes sein, das als das einzige in der Kirche mir aufgefallen war. Jetzt wurde es still. Ein Lichtschimmer erschien und beleuchtete schwach den untern Theil des Rahmens. Zwei dunkle Gestalten huschten an dem Bilde vorbei und stiegen langsam, wie aus dem Bilde heraus, in die Kirche nieder.

Ich erinnerte mich jetzt, vor dem Bilde eine Trittleiter gesehen zu haben, die benutzt zu werden schien, um Kerzen auf die unter und neben demselben angebrachten Leuchter zu stecken. Hinter dem Bilde mußte also ein Gang ausmünden, durch den –

Doch ich erschrak; die Beiden kamen eilig auf die Treppe zum Chor zu. Wenn sie mich entdeckten! Instinctiv fühlte ich, daß ich mich verbergen mußte, da das Geheimniß noch nicht [731] ganz aufgedeckt war. Fast hätten mich meine Stiefel verrathen, als ich so schnell wie möglich im Hintergrunde des Chors mich hinter einem vorspringenden Pfeiler zu verbergen suchte. Athemlos lauschte ich nun den leisen Schritten, mit denen die beiden nächtlichen Kirchenbesucher die Treppe emporstiegen. Sie traten auf das Chor – es war der Vicar und Jean.

„Seid Ihr sicher, daß Désirée uns nicht eines schönen Tages verräth?“ fragte der Vicar, indem er sich auf den Sessel niederließ, auf dem ich gesessen hatte. „Den Mädchen ist nie zu trauen. Sie verlieben sich, und dann schwatzen sie Alles aus. Désirée ist so wie so keine Französin in ihrer Gesinnung.“

„Das ist richtig,“ erwiderte Jean, indem er seine Laterne an der Orgel niedersetzte. „Ich hatte sie schon im Verdacht, geplaudert zu haben, und habe ihr darauf hin meine Meinung gesagt. Sie weiß, was ihr bevorsteht, wenn sie durch ihre Thorheit uns in’s Verderben stürzt. Sie kennt mich. Allerdings thut sie mit diesem Preußenhunde, dem Frédéric, sehr vertraut; aber ich denke, sie wird sich in Acht nehmen, durch Verrath ihren Untergang heraufzubeschwören.“

„Ist dieser Frédérice derselbe, den wir hier oben einmal trafen?“

„Ja wohl! Er ist verdammt mißtrauisch gegen mich – das habe ich längst gemerkt; aber er ist zu dumm, zu dumm. Mich fängt er nicht.“

„Sehr schmeichelhaft!“ dachte ich in meiner Ecke.

„Nun, nun,“ meinte der Vicar, „gebt nur auf das Mädchen, auf Euch, auf Alles Acht! Diese Preußen haben feinere Nasen, als es zuweilen scheint.“

Inzwischen hatte Jean sich daran gemacht, mit einem Schraubenzieher ein paar Schrauben zu lockern, die einen Theil der Orgelclaviatur festzuhalten schienen.

„Was habt Ihr Neues erfahren?“

„Bertin war bei mir.“

„Das weiß ich. Er war auch bei mir und hat mir seine Notizen gegeben. Was sonst?“

„Ein Bataillon von dem Regiment, das neulich gekommen ist, bleibt hier; die beiden anderen gehen nach Montmorency.“

„Was weiter?“

„Es werden neue Emplacements für zwei Batterien bei der Villa Granier und in dem Parke des Herrn Bonnaire gebaut.“

„Das ist etwas werth,“ meinte der Vicar, indem er über Jean’s Schulter sah. „Habt Ihr schon den Strom eingestellt?“

„Einen Augenblick noch!“ sagte Jean und griff in die Oeffnung hinein, die durch das Herausnehmen mehrerer Tasten entstanden war.

Der Vicar drückte auf den Knopf eines der Registerzüge, und das darauf folgende Ticken ließ mich nicht länger im Zweifel – es war ein Telegraphenapparat in der Orgel, dessen Leitung wahrscheinlich unter der Seine weg in’s französische Cantonnement ging. – Zu der Freude über die werthvolle Entdeckung gesellte sich nun die Besorgniß, die wichtigen Nachrichten dem Feinde mitgetheilt zu sehen, und ohne mich weiter zu besinnen, sprang ich mit einem lauten „Halte-là“, den Revolver in der Hand, vor. Einen Augenblick schienen Beide vor Schrecken erstarrt zu sein; dann machte der Vicar eine wilde Bewegung. Ich hob den Revolver und der Vicar sank wieder zurück.

„Gehen Sie mir voran die Treppe hinunter!“ sagte ich. „Aber machen Sie keinen Fluchtversuch; ich würde Sie niederschießen.“

In diesem Augenblicke erinnerte ich mich meiner Hülfsmannschaften draußen.

„Posten und Patrouille herbei!“ rief ich laut und griff nach der Laterne. Ein Fußtritt warf sie um, und die Beiden stürzten eilig die Treppe hinunter. Ich gab Feuer. Ein Aufschrei ließ mich erkennen, daß ich Jemand getroffen hatte; aber die Fliehenden eilten beide weiter.

Das Portal öffnete sich; bei dem Scheine der Laterne, welche die Patrouille mitbrachte, sah ich die Flüchtlinge schon vor dem Bilde. Noch einen Augenblick – und sie waren die Leiter emporgeflogen und hinter dem Bilde, das sich knarrend vorschob, verschwunden. Nur eine breite Blutspur hatten sie hinterlassen. Ich suchte eine Feder, schlug an den Rahmen, gegen das Bild – nichts rührte sich; die Fliehenden hatten Zeit, zu entkommen. Der geheime Gang mündete aber wahrscheinlich noch in Argenteuil aus, und ein gänzliches Entschlüpfen der Beiden war dann noch vielleicht zu verhindern, indem man sofort die Posten an den Ausgängen des Ortes benachrichtigte. Zugleich war eine Meldung an den Hauptmann abgeschickt worden, und wir warteten auf sein Eintreffen, bevor wir das Bild einschlugen. Er brachte ein paar Leute mit Brecheisen und Aexten mit. Der Rahmen des Bildes wurde abgesprengt. Die Feder wurde sichtbar – ein kräftiger Druck – und das Bild wich langsam zurück.

Einer nach dem Andern schlüpfte hinein. Wir befanden uns in einem langen, schmalen Raume, dessen Vorhandensein wir schon längst hätten ermitteln können, wenn wir daran gedacht hätten, die Größe der in dem Querschiff liegenden Capellen zu vergleichen. Von der Capelle rechter Hand vom Eingang war durch eine Wand ein kleiner Raum abgetrennt, in den man mit Hülfe einer Leiter gelangte, da die Oeffnung in der Höhe des Bildes und von diesem gedeckt war. Bei oberflächlicher Betrachtung verrieth nichts den geheimen Raum, da man die Wand mit dem Bilde einfach für die Seitenmauer des Querschiffes hielt. In diesem Versteck fielen uns neben den Gegenständen des Kirchenschmuckes zuerst ein Bündel Chassepots nebst Munition und Bajonneten in’s Auge. Wichtiger aber war die Entdeckung einer Treppe, die in die Tiefe, in der die Flüchtigen verschwunden waren, hinabführte. Vorsichtig stiegen wir hinunter und folgten dem niedrigen Gange, der offenbar schon aus alter Zeit stammte und den Dienern der alten Kirche ähnlich gedient hatte, wie jetzt denen der neuen.

Wie waren noch nicht hundert Schritt gegangen, als der Mann, der mit der Laterne voranging, über etwas stolperte; es war der Leichnam des Vicars. Meine Kugel hatte ihn tödtlich getroffen; er hatte nur noch die Kraft gehabt, sich in den Gang hineinzuschleppen, wo er, verlassen von seinem Gefährten, verfolgt von den verhaßten Siegern, in Verzweiflung über das Scheitern seiner Pläne wohl nicht mit christlichen Wünschen für seine Feinde die Seele ausgehaucht hatte. Still schritten wir über die Leiche hinweg; es galt, noch den überlebenden Verräther zu entdecken.

Wieder standen wir vor einer Treppe; über uns zeigte sich eine geschlossene Fallthür. Die Eisenstäbe und Faschinenmesser wurden eingesetzt; drei Mann, auf der oberen Stufe stehend, stemmten den Rücken gegen die Thür, und krachend flog sie auf. Wir befanden uns in dem Hinterstübchen von Jean’s Wohnung; an der Thür lag Désirée, leblos, von Blut überströmt. Sie hatte ihre Liebe büßen müssen. Den Anstrengungen des sofort herbeigerufenen Arztes gelang es, sie wieder zum Bewußtsein zurückzurufen. Der Arzt winkte den Anwesenden zu, und Alle, bis auf den Hauptmann und mich, verließen auf den Fußspitzen das Zimmer, mit mitleidigen Blicken auf das arme Opfer. Ich knieete an ihrem Lager und hielt ihre kalte Rechte in meinen Händen.

„Das wußte ich,“ sprach sie mit schwacher Stimme; „der Onkel hat es mir oft genug gesagt, daß er mich tödten würde, wenn ich sein Geheimniß verriethe. Nun sah er sich entdeckt und hat mir sein Versprechen gehalten. Hab’ ich ihn denn verrathen? Ach, ich war nur Ihnen so gut –“

Sie schwieg erschöpft; ihr Ende schien zu nahen. Ich bedeckte ihre Hand mit Küssen und stammelte zusammenhangslose, sinnlose Worte des Trostes und der Hoffnung.

„Ich sterbe gern,“ flüsterte sie leise, „denn nun weiß ich gewiß, daß Sie mich nicht vergessen werden.“

„Sie ist todt,“ sprach der Arzt, sich über ihr Gesicht beugend.

Wahrlich, ich werde sie nicht vergessen! – –

Am nächsten Morgen wurde Jean Rauger wegen Spionage standrechtlich verurtheilt und auf freiem Felde erschossen. Er war von einer Patrouille ergriffen worden, als er durch die Gärten in die Weinberge von Argenteuil zu entkommen suchte.
v. Sz.



[732]
Woraus die Sonne besteht und wie sie arbeitet.
Von Dr. Hermann J. Klein.

Das glänzende Tagesgestirn hat von jeher die Aufmerksamkeit der denkenden Menschen auf sich gezogen, wenngleich freilich die Resultate, zu welchem man bezüglich des Wesens der Sonne gelangte, bis zum Anfange des siebzehnten Jahrhunderts nichts als Phantasie waren. Die griechischen Weisen haben bezüglich der Sonne nur thörichte Aussprüche gethan; ein Anaximander hielt sie für eine kreisrunde Oeffnung im Himmelsgewölbe, durch welche die feurige Sphäre scheint; Epicur glaubte das Richtige zu treffen, wenn er die Sonne für ein Feuer ansprach, das Morgens angezündet und Abends wieder gelöscht würde; Andere ergänzten diese Meinung sehr unglücklich dadurch, daß sie behaupteten, das Auslöschen der Sonne geschehe im großen Flusse Okeanos, der die Erde umkreist und hinter den hyperboreischen Bergen herumfließt. Dieses Verlöschen und Anzünden haben sich die Epicuräer jedenfalls als eine äußerst einfache Sache gedacht, denn sie legten der Sonne einen Durchmesser von einem Fuß bei. Anaxagoras glaubte schon sehr weit zu gehen, als er die Sonne für so groß erklärte wie der Peloponnes, die heutige Halbinsel Morea.

Mancher Leser wird sich dieser wunderlichen Ansicht aus seiner Jugendzeit noch erinnern, denn sie kam in allerhand Wendungen unter den Uebungsbeispielen der lateinischen Grammatik vor. Ein Satz, in welchem die wirkliche Größe der Sonne angegeben wurde, fand sich dagegen unter diesen Beispielen nicht. Ich will dieses Versehen hier gleich nachholen und bemerken, daß die Sonne im Durchmesser 108mal, in der Oberfläche 11,600mal und im körperlichen Inhalte, im Volumen, 1,250,000mal unsere Erde übertrifft. Sehr viele Anhänger Epicur’s werden sich über die Zahlen wundern, besonders wenn sie hören – was noch nicht ganz allgemein bekannt ist –, daß unsere Erde ebenfalls eine respectable Größe besitzt und ihre Oberfläche zum Beispiel 9,260,000 Quadratmeilen umfaßt. Diese Zahl also mit 11,600 multiplicirt, giebt die Anzahl der Quadratmeilen, welche die Sonnenoberfläche umfaßt. Nichts ist einfacher als die Begründung dieser Angaben, der Nachweis, daß sie nicht willkürlich sind und etwa die Sonne auch halb so groß angenommen werden könnte, wie Mancher vielleicht denkt. Ich kann mich indeß mit diesem Beweise hier nicht aufhalten; wer sich dafür interessirt, kann ihn in meiner „Populären astronomischen Encyklopädie“ (Berlin, 1871) nachschlagen. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die ungeheure Größe des Sonnenballes durch einen Vergleich mit irdischen Dingen in kleineren Dimensionen zu versinnlichen und dem Vorstellungsvermögen zu Hülfe zu kommen. Nach meiner Meinung versinnlicht folgender Vergleich am besten die jeder Vorstellung spottende ungeheuere Größe der Sonne. Der Mond ist ein Weltkörper wie unsere Erde und umkreist dieselbe in einer solchen Entfernung (51,800 Meilen), daß selbst die schärfsten Ferngläser Objecte an seiner Oberfläche von der Größe der Cheops-Pyramide oder des Kölner Doms nicht mehr unterscheiden lassen. Wäre aber die Sonne hohl und befände sich die Erde im Mittelpunkt derselben, so könnte der Mond ungehindert in dem hohlen Sonnenballe die Erde umkreisen, ja er könnte beinahe noch einmal so weit entfernt sein, als er in der That ist, und dennoch innerhalb der hohlen Sonnenkugel seine Bahn um die Erde vollführen.

Was ist nun dieser ungeheure Ball? In welchem Zustande befindet er sich und aus welchen Stoffen besteht er?

Diese Fragen sind schon seit Jahrtausenden aufgeworfen worden; aber ihre Beantwortung ist erst dem vergangenen Jahrzehnt gelungen. Man ließ sich lange Zeit hindurch und beim gänzlichen Mangel einer bessern Führerin ausschließlich von der Analogie leiten und meinte unsere irdischen Zustände auch drüben, in einer ganz andern Welt, wiederfinden zu müssen. Ohne daß man es direct aussprach, hielt man doch daran fest, daß die Bewohnbarkeit der Weltkörper durch menschenähnliche Bewohner ein Princip sei, das man unter Umständen anwenden könne. Noch im Jahre 1851, kurz vor seinem Tode, sagte Arago, den man damals für das Nonplusultra alles astronomischen Wissens ansah: „Wenn man einfach die Frage stellte: Ist die Sonne bewohnt? so würde ich antworten, daß ich darüber nichts wisse. Wenn man mich aber fragt, ob die Sonne mit Wesen bewohnt sein kann, welche eine ähnliche Organisation besitzen wie die, welche unsere Erde bevölkern, so werde ich nicht anstehen, eine bejahende Antwort zu ertheilen.“ Das war auch die Meinung von Humboldt.

Man glaubte bis zur Mitte der sechsziger Jahre fast allgemein, die Sonne sei an und für sich eine dunkle Kugel wie unsere Erde, mit Bergen und Thälern, Seen und Flüssen wie diese. Gleich unserer Erde sei sie auch von einer Atmosphäre umhüllt, die sich natürlich weiter in die Höhe erstrecke als unser dunstiger Luftkreis. Während wir nun meist trübes Gewölk hoch über uns erblicken und bisweilen eine graue Wolkendecke den ganzen Himmel überzieht, sollte die Sonne beständig von einer strahlenden Lufthülle umgeben sein, die, wolkenartiger Natur, ihren Sitz ein paar hundert Meilen über der eigentlichen Sonnenoberfläche habe. Diese Lichthülle oder Photosphäre dachte man sich als die Spenderin des Lichtes und der Wärme. Ja, es wurde sogar die Meinung ausgesprochen, die Sonne sei möglicher Weise an und für sich ganz kalt und nur leuchtend, die Wärme entstehe erst auf der Erde, wo diese von den Sonnenstrahlen getroffen werde. Von der Unrichtigkeit einer solchen Vorstellung kann man sich einen annähernden Begriff machen, wenn man erwägt, daß, wie die mechanische Wärmetheorie und das Gesetz von der Erhaltung der Kraft mit positiver Gewißheit ergeben, auf dem ganzen Erdboden keine Wärme vorhanden ist, die nicht ursprünglich, vielleicht vor Millionen von Jahren, in der Sonne geruht hat und mit den Sonnenstrahlen herabkam, daß ferner die Wärme, welche unsere Maschinen treibt, genau denselben Ursprung hat, daß dieses nicht minder für unsere Körperwärme gilt, ja, daß die Wärme, welche wir bei der geringsten Bewegung verbrauchen, ein Geschenk der Sonne ist und umgekehrt ohne diese Wärme keine Bewegung möglich wäre.

Wir haben wirklich bis vor Kurzem gar nicht geahnt, in welcher Abhängigkeit wir von der Sonne sind, oder vielmehr von der Wärme, die sie ununterbrochen ausstrahlt. In dieser Beziehung hat erst der Heilbronner Arzt Robert Mayer die Welt von sehr unrichtigen Vorstellungen geheilt.

Wer will sie schätzen, die Summe von Arbeit, die tagtäglich auf der Erde geleistet, die Menge von Kraft, die jeden Tag verbraucht wird! Die gewaltige Woge des Meeres, wie die plätschernde Welle am Strande, bewegt sich nicht aus sich selbst, sondern bedarf eines Impulses dazu; dies ist einleuchtend. Und wo ist dieser Impuls zu suchen? Nur in der Bewegung der Luft. Der Sturm ist es, welcher die See aufwühlt und die Wogen donnernd gegen die Ufer wirft. Aber wodurch entsteht die Bewegung der Luft? Aus keiner andern Ursache als aus der ungleichen Erwärmung. Das Aufsteigen der heißen Luftmassen am Aequator und ihr Herabfließen gegen die Pole hin, die Strömungen der kälteren Luftmassen nach den heißen Gegenden, alle diese Bewegungen sind nur durch Wärmeverbrauch möglich und bei absolutem Wärmemangel würden sie so wenig eintreten können, als überhaupt irgend ein gasförmiger Körper alsdann existiren konnte.

Ich nehme ein Stück Eis, mache eine Höhlung in dasselbe und bringe in diese Höhlung die Kugel eines Thermometers. Dasselbe zeigt fünf oder beliebig viel Grad Kälte an. Jetzt führe ich dem Eise Wärme zu, das Thermometer fängt an langsam zu steigen; nun zeigt es Null Grad, steht auf dem Gefrierpunkte, und indem ich die Wärmezufuhr fortsetze, beginnt das Eis zu schmelzen. Immer mehr des Eises schmilzt, aber mein Thermometer bleibt unverrückt auf Null Grad stehen. Wo bleibt die Wärme, die ich dem Eise ununterbrochen zuführe? Sie wird verbraucht, indem sie das Eis in Wasser auflöst – es bleibt nichts davon übrig, um auf das Thermometer einzuwirken. Endlich ist das ganze Eisstück geschmolzen; ich fahre fort Wärme zuzuführen, und siehe! das Thermometer fängt an zu steigen. Es steigt immer mehr und mehr. Endlich zeigt es hundert Grad Wärme und gleichzeitig beginnt das Wasser sich in Dampf zu verwandeln. Ich fahre vor wie nach fort Wärme herbeizuführen, allein mag ich das Feuer unter dem Gefäße, in welchem sich das [733] Wasser befindet, auch noch so sehr anfachen, das Thermometer in dem siedenden Wasser ist und bleibt auf hundert Grad Wärme stehen. Wo bleibt nun die zugeleitete Wärme? Sie wird jetzt zur Dampfbildung verbraucht und giebt den Dämpfen Spannkraft. Wird dem Dampfe die Wärme auf irgend eine Weise wieder entzogen, so stürzen die Molecüle desselben mit einer gewissen Kraft aufeinander, und diese ist genau derjenigen gleich, welche früher zu ihrer Trennung angewandt wurde, und sie liefert ganz genau die gleiche Wärmemenge, die früher zur Verdampfung aufgewendet wurde. Der gasförmige und der flüssige Zustand der Körper sind, wie sich leicht begreift, blos vorübergehende Zustände, welche durch die Wärme bedingt werden und mit dieser schwinden, der feste Zustand ist der ursprüngliche und wahre der Materie. Um den gasförmigen und flüssigen Zustand dauernd zu erhalten, dazu gehört für die ganze Erdoberfläche eine enorme Wärmemenge, und die Sonne ist es, welche diesen täglichen Bedarf liefert. Jeden Augenblick verliert die Erde Wärme durch Ausstrahlung gegen den kalten Weltraum, und es würde sehr bald mit ihrem Wärmevorrath am Ende sein, wenn die Sonne nicht ununterbrochen neue Wärme spendete.

Es ist eine interessante Frage: wie groß die Wärmemenge ist, welche die Sonne täglich auf die Erde herabsendet. Man hat diese Frage beantwortet, indem man die Wärmestrahlung der Sonne auf einem bestimmten Raume und in einer bestimmten Zeit maß. Auf diese Weise ergab sich, daß die täglich von der Sonne auf die Erde treffenden Wärmestrahlen hinreichen würden, einen Eisklumpen von 92 Billionen 600,000 Millionen Cubikmeter zu schmelzen. Dieser Eisklumpen entspricht einem massiven Block von 61/7 Meilen Länge, 61/7 Meilen Breite und 61/7 Meilen Höhe. Um sich von dieser Wärmequantität einen annähernden Begriff zu machen, will ich Folgendes bemerken. Wenn die Sonnenwärme, welche die Erde trifft, einzig dazu verwendet würde, das Meerwasser in Dampf zu verwandeln, und wenn dieser Dampf jedesmal entfernt werden könnte, so daß er bei seiner Erkaltung und Condensation nicht wieder auf den Erdboden zurückkäme, so würde die Sonnenwärme in etwa tausendsechshundert Jahren den ganzen Ocean, überhaupt alles Wasser auf der ganzen Erdoberfläche verdampfen. Man kann die Arbeitsgröße dieser Wärmemenge in Pferdekräften ausdrücken, und es ergiebt sich hierbei, daß die Sonne in jeder Minute eine Kraftmenge zur Erde sendet, welche der Arbeitskraft von 220 Billionen einpferdiger Dampfmaschinen gleichkommt, und von dieser Kraft wird hier unten alle Bewegung bestritten.

Ein ganz ansehnliches Budget, wie man gestehen muß, und doch ist es blos diejenige Quote, welche die Erde für sich bezieht! Außer dieser wollen aber auch noch andere Planeten ihren Theil Sonnenwärme haben, und erhalten ihn wirklich. Zuletzt wird – nach unseren beschränkten Begriffen zu urtheilen – im Haushalte der Sonne eine grenzenlose Verschwendung getrieben. Denn noch nicht der millionste Theil der ganzen von der Sonne ausgeschickten Wärme kommt einem Planeten zu Gute; die ganze übrige Menge geht in den kalten und leeren Weltraum hinaus, zu welchem Zwecke, das weiß man noch nicht. Was unsere Erde anbelangt, so empfängt sie von der ganzen jährlichen Sonnenausgabe eigentlich nur eine sehr magere Tantième, nämlich blos den dreiundzwanzig millionsten Theil von Einem Procent! Unser armer Erdball sitzt also keineswegs im Verwaltungsrathe des Sonnensystems.

Wie ich bereits bemerkte, hat die Verschwendung der Sonnenwärme bereits seit Millionen von Jahren in dem enormen Maßstabe, den ich eben bezeichnete, angedauert, und gegenwärtig deutet auch eigentlich noch gar nichts darauf hin, daß die Wärmeausgaben der Sonne in den nächsten Jahrhunderttausenden eingestellt würden. Es entsteht daher die Frage nach dem Capitale, von dem die Sonne ihre kolossalen Ausgaben Jahr für Jahr bestreitet. In dieser Hinsicht hat es der Wissenschaft viele Mühe gekostet, hinter den dichten Schleier, mit dem die strahlende Sonne ihr ganzes Thun und Treiben verbirgt, zu kommen und die Quelle zu entdecken, aus der die immensen Ausgaben bestritten werden.

Ich will mich nicht damit aufhalten, die Irrwege aufzuzählen, auf die man früher bezüglich der Quelle der Sonnenwärme gerathen ist, sondern gleich bemerken, daß die Entwickelungsgeschichte der Sonne die Antwort auf die Frage nach dem Ursprunge der Sonnenwärme enthält. Die Naturgeschichte der Sonne enthält den Ursprung ihrer Wärme und ihres Lichtes.

Versuchen wir, einen Blick auf diese Geschichte der Sonne zu werfen. Zu diesem Ende müssen wir uns zurück versetzt denken in eine Vergangenheit, in welcher von unserem Erdballe, vom Monde und von allen Planeten noch keine Spur vorhanden war; vielleicht war damals sogar der ganze Sternenhimmel, der sich allnächtlich über uns aufspannt, auch noch nicht vorhanden. Alle Körper, welche heute unser Sonnensystem zusammensetzen, bildeten damals einen ungeheuren glühenden Nebelball von mehreren tausend Millionen Meilen Durchmesser. Der Kern dieses Nebelballes ist unsere heutige Sonne; die Planeten, die Erde selbstredend mit ihnen, sind die äußersten Theile dieses Balles, und wenn man bedenkt, daß unsere Erde gegenwärtig längst erkaltet ist, so weiß man von selbst, daß zwischen dem Damals und dem Heute ein Zeitraum von ungeheurer Länge verflossen sein muß. Ich habe, auf gewisse physikalisch-astronomische Thatsachen gestützt, eine Zahlenangabe für die Dauer dieses Zeitraumes zu gewinnen versucht und kann diese Dauer hiernach nicht unter einigen tausend Millionen Jahre schätzen. Auf ein paar Millionen Jahre mehr oder weniger kommt’s, glaube ich, sicherlich nicht an.

Die Sonne hat während dieser ganzen Zeit ununterbrochen geleuchtet und Wärme ausgestrahlt, aber ihre ursprüngliche Gluth heute bei Weitem noch nicht ganz eingebüßt. Gegenwärtig noch ist die Sonne nichts als ein ungeheurer Gluthball, in welchem sich alle Stoffe theils in glühend-flüssigem, theils glühend-gasförmigem Zustande befinden. Die Spectralanalyse hat es ermöglicht, diese Thatsachen festzustellen und zwar mit einer Gewißheit, die jeden Zweifel ausschließt. Wenige wissenschaftliche Entdeckungen haben in solchem Grade die allgemeinste Aufmerksamkeit erregt, wie diejenigen, welche mittels der Spectralanalyse gewonnen wurden. Für diese Methode der Beobachtung scheint der Raum und die Trennung der Körper nicht zu existiren; es bleibt sich gleich, ob der untersuchte Gegenstand in zehn Fuß Abstand vom Beobachter sich befindet, oder ob seine Entfernung zehntausend Millionen oder hunderttausend Milliarden Meilen beträgt. Die ungeheure Entfernung der Sonne von der Erde – sie beträgt zwanzig Millionen deutsche Meilen –, welche bisher ein unübersteigliches Hinderniß genauerer Untersuchung war, ist für die Methode der Spectralanalyse nicht vorhanden. Wir untersuchen die glühende Materie der Sonne mit genau der nämlichen wissenschaftlichen Sicherheit, als wenn wir eine kleine Quantität derselben im Laboratorium behandeln könnten.

Es ist interessant, die Stoffe kennen zu lernen, welche hauptsächlich die Zusammensetzung des glühenden Sonnenballes bilden. Die Untersuchungen in dieser Beziehung sind noch nicht abgeschlossen; ich will daher blos bemerken, daß man bis jetzt folgende chemische Elemente in der Sonnenatmosphäre als vorhanden nachgewiesen hat, alle in glühend gasförmigem Zustande: Aluminium, Barium, Calcium, Chrom, Eisen, Kobalt, Kupfer, Magnesium, Mangan, Natrium, Nickel, Titan, Wasserstoff, Zink; dagegen sind Gold, Silber, Quecksilber etc. in für uns noch wahrnehmbarer Menge auf der Sonne nicht vorhanden. Diese Körper, die sich auch auf anderen Fixsternen nicht finden, scheinen also überhaupt in der Welt zu den seltneren zu gehören und sind es nicht allein auf unserer Erde. Man braucht nicht viel Einbildungskraft dazu, um sich vorzustellen, daß auf der Sonne eine ganz ungeheure Gluth herrschen muß, wenn die genannten Metalle dort als glühende Gase existiren. Und dies gilt blos von der Sonnenatmosphäre, die auf jeden Fall beträchtlich weniger heiß sein muß als der eigentliche Sonnenball. Alle Versuche, welche man bis jetzt angestellt hat, durch directe Messungen die Temperatur der Sonne zu ermitteln, sind fehlgeschlagen; diese übersteigt bei Weitem alle Hitzegrade, welche wir künstlich darstellen können. Auf dem Wege der Rechnung hat man dagegen gefunden, daß an der Sonnenoberfläche mindestens siebenundzwanzigtausend Grad Hitze herrschen müssen. Das ist eine Temperatur, gegen welche die Gluth unserer Eisenschmelzen wie ein angenehmes Frühlingslüftchen erscheint, und doch würde man irren, wenn man der Sonne im Ganzen blos den angegebenen Hitzegrad zuschreiben wollte. Wie groß die Gluth im Innern des Sonnenkörpers ist, das entzieht sich nachgerade aller Schätzung. Sie ist dort so ungeheuer, daß alle Substanzen daselbst nur im Zustande [734] glühender Glase existiren könnten, wenn nicht der kolossale Druck, welcher auf diesen glühenden Gasmassen lastete, sie zu glühender Flüssigkeit zusammenpreßte. Deshalb ist auch der ganze Sonnenkern eine ungeheure glühend flüssige Kugel, umhüllt von einer glühend-gasförmigen Atmosphäre. In den oberflächlichen Theilen der glühend-flüssigen Sonnenkugel entstehen bisweilen blasenartige Hohlräume, und in diesen sammelt sich glühendes Wasserstoffgas an. Von Zeit zu Zeit brechen diese Massen unter gewaltigem Drucke fontainenartig hervor und erheben sich bis zu zwanzig- und dreißigtausend Meilen Höhe in die Sonnenatmosphäre. Das sind die so viel genannten und doch im Ganzen noch so wenig gekannten Protuberanzen. Viele von ihnen lodern in einer Ausdehnung und Höhe auf, daß sie die ganze Erdkugel, wenn man sie in diese glühenden Gasmassen hineinwerfen könnte, so aufnehmen würden, wie die Flammen eines Schmiedefeuers eine Nuß.

Die Geschwindigkeit, mit welcher die glühenden Massen emporgeschleudert werden, beträgt viele Meilen in der Secunde und aus den Bewegungen, welche dieselben dem Auge des Beobachters darbieten, muß man schließen, daß in der glühenden Sonnenatmosphäre Wirbelstürme von solchen Dimensionen und von solcher Heftigkeit vorkommen, wie man sie sich auf der Erde schon aus dem Grunde gar nicht vorstellen kann, weil unser Erdball viel zu klein ist, um ein Analogon dazu bieten zu können. Wenn unsere ganze Erde in einen solchen Wirbelsturm geriethe, so würde sie umhergeworfen, ähnlich einer Schneeflocke, die hienieden der Nordwind jagt. Macht doch unsere ganze Erde nicht den dreihundertzwanzigtausendsten Theil der Sonnenmasse aus, das heißt dreihundertzwanzigtausend Erdkugeln würden der Sonnenkugel an Gewicht kaum gleich kommen.

Die Sonnenflecke sind wahrscheinlich wolkenförmige oder schlackenartige Abkühlungsproducte, die bald wieder von der glühenden Masse des Sonnenballes verschlungen oder aufgelöst werden. Dem Auge erscheinen diese Flecke schwarz, aber diese Dunkelheit ist eine scheinbare und wird hervorgerufen durch den Contrast mit der strahlenden Sonnenoberfläche.

Nach den Bestimmungen von Herschel würde die Sonne, wenn sie ganz von Flecken analog denjenigen, welche wir jetzt stellenweise sehen, bedeckt wäre, uns doch viertausend Mal heller erscheinen als heute der Vollmond. Gegenwärtig übertrifft das Sonnenlicht die Helligkeit des Mondlichtes um mehr als das Sechshunderttausendfache.

In Folge der ununterbrochenen Ausstrahlung müssen Wärme und Licht der Sonne abnehmen, aber diese Abnahme wird vorläufig noch sehr nahe compensirt durch die Zusammenziehung des Sonnenkörpers. Mit der Zeit findet diese aber ihre Grenze. Dann nehmen die Sonnenflecke mehr und mehr zu, ihre Zahl, ihre Größe und ihre Dauer müssen immerfort wachsen, bis sie schließlich die ganze Sonnenoberfläche bedeckt haben und die Incrustirung derselben beginnt. Sicherlich ist dieses bei vielen Sternen im Weltenraume schon eingetreten; andere sind auf dem besten Wege, ihr Licht ebenfalls ganz zu verlieren.

Die Sonne muß also mit der Zeit ihre Wärme und ihr Licht einbüßen. Das Capital wird dereinst aufgezehrt sein, von dem sie mit so enormer Liberalität nach allen Seiten hin spendete. Was dann bezüglich der Erde eintreten muß, liegt auf der Hand. Der Untergang des organischen Lebens steht dann vor der Thür. Es ist eine Chimäre, von dem ewigen Bestehen des organischen Lebens in der Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, nach beiden Richtungen hin umfaßt es vielmehr nur eine Spanne Zeit im Entwickelungsprocesse der Natur. Von diesem Standpunkte aus betrachtet, leuchtet die Wahrheit leicht ein, daß es abgeschmackt ist, behaupten zu wollen, die Welt sei um des Menschen willen vorhanden und Letzterer der Herr des Universums. Wir vegetiren blos auf unserem alten Erdballe, und die Natur außerhalb der Erde kümmert sich um uns nicht, fragt nicht darnach, ob es uns wohl geht oder ob wir verderben. Die Sonne verspart ihren Schein durchaus nicht, um uns ein paar Milliarden Jahre länger leuchten zu können, sondern geht verschwenderisch mit ihrer Habe um und läßt unsere Nachkommen und das gesammte organische Leben dereinst in Dunkelheit und Kälte umkommen, wenn sie selbst kein Licht und keine Wärme mehr besitzt.




Die Perle der Nordsee.
Eine Sommer-Erinnerung.

Wie mächtig wir auch die Anziehungskraft des Südens auf uns einwirken lassen, der Hochsommer, unsere eigentliche Reisesaison, läßt uns dennoch Schatten in den Wäldern, Kühlung in den Fluthen suchen, die wir im schönen Süden kaum finden würden.

„In’s Seebad!“ Das ist zur Sommerszeit das einmüthige Losungswort so Vieler unter den Reiselustigen, daß nur etwa noch die Frage: „In welches Seebad?“ zu entscheiden bleibt.

Helgoland ist doch die Perle unter den Seebädern, und besäße es auch keinen andern Vorzug als seine isolirte Lage mitten in der Nordsee,“ rief ein alter Enthusiast, mit welchem ich an einem sehr unfreundlichen Regentage zu Anfang August dieses Jahres auf dem Verdeck des Dampfers „Cuxhaven“, Capitain Röhrs, die Elbe hinabfuhr. „Kein anderes Seebad bietet uns die Seeluft so rein, so ungemischt, – lesen Sie nur die neue Broschüre des Badearztes Dr. Zimmermann über den Ozongehalt der Helgolander Seeluft!“

Ich lieh dem alten Enthusiasten ein williges Ohr, als er mir diese und noch andere Vorzüge von Helgoland herzählte, als er mich versicherte, daß er seit fast zwanzig Jahren Stammbadegast dort sei, daß sich auf der Insel so Vieles verändert, verbessert und verschönert habe, daß es jetzt schon fast überfüllt dort sein solle, daß aber Herr Müller, der liebenswürdige Besitzer des Hôtel de Krüß, gewiß noch ein kleines Zimmer für ihn und für mich übrig haben werde.

Bald goß der Regen in Strömen vom Himmel. Der Wind blies tüchtig aus Nordost, und noch bevor am äußersten Ende des linken Elbufers das Städtchen Cuxhaven in Sicht kam, wurden von den Stewards, den Schiffskellnern, jene verhängnißvollen Blechgeschirre rings umhergestellt, deren bloßer Anblick schon manche nervenschwache Dame veranlaßt haben soll, dem Gotte Neptun, bevor sie noch seine Domaine – das Meer – erreichte, ein erstes Magenopfer darzubringen.

Achtzig Passagiere befanden sich mit uns am Bord. Einigen war das Wasser schon bei Cuxhaven allzu bewegt; sie verließen das Schiff, um bei ruhigem Wetter mit nächster Gelegenheit die Reise fortzusetzen. Das auf dem Schiffe selbst für den Preis von fünf Thalern gelöste Billet behält in solchem Falle seine volle Gültigkeit.

Die Schilderung der nun folgenden Meeresfahrt mit obligater Seekrankheit möge mir erlassen bleiben! Bald sah man in weitester Ferne den ersehnten Felsen auftauchen; bald schon erkannte man die rothe Farbe des Gesteins, die grünen Grasflächen und Kartoffelfelder des Oberlandes, das blendende Weiß des Dünensandes – roth, grün und weiß, das sind ja die Landesfarben auch dieses Ländchens.

Ein Dutzend Fischerboote umschwärmen den zwischen Fels und Sanddüne ankernden Dampfer, um uns an’s Land zu bringen, wo eine dicht gedrängte Menge unter den Klängen der eben im Musikpavillon am Strande concertirenden Curcapelle uns erwartet. Unvergeßlicher Moment für Jeden, der ihn erlebte, diese Ankunft in Helgoland mit ihrer obligaten „Lästerallée“! So heißt ja das durch stramm gespannte feste Schiffstaue zwar räumlich in Schranken gehaltene, aber im „Lästern“ der Ankommenden nur allzu schrankenlose lebendige Spalier der Curgäste, durch welches jeder neu Ankommende gleichsam Spießruthen laufen muß. Je deutlicher die kaum überwundene Seekrankheit noch aus den trostlosen Zügen des neuen Ankömmlings spricht, um so lebhafter fällt die lästernde Begrüßung aus. „O, wie seekrank!“ ruft man mit wenig Witz und viel Behagen einer alten blassen Dame zu. – „Droschke gefällig?“ rief mir ein „juter“ Berliner entgegen. – „Gewiß, wenn Sie sich vorspannen,“ war meine rasche Antwort.

„Was kommt dort von der Höh’?“ etc., hebt ein Jünger Thaliens an, und in diesen Chor stimmt zum Theil selbst die weibliche Gesellschaft mit ein, um eine über die Landungsbrücke

[735]

Ankunft auf der Düne bei Helgoland.
Nach der Natur aufgenommen von H. Lüders.

[736] noch immer schwankend und wankend dahertaumelnde lange Gestalt zu begrüßen, die von einigen für einen Professor aus Berlin, von Anderen für einen Schauspieler aus Wien gehalten wird.

Ist dieses Fegefeuer der Ankunft überstanden, so sind wir damit zeitweilig eingebürgert unter der Badegesellschaft, und da unsere Siebensachen noch lange nicht, vielleicht erst mit einbrechender Dunkelheit, vom Bord an’s Land geschafft werden, so haben wir die herrlichste Muße, zunächst ein Stübchen zu miethen – für zwei bis drei Thaler die Woche – und alsdann im Restaurant zum „Fremden-Willkomm“ den opferwilligen Magen für die überstandenen Leiden der Seereise durch ein gutes Diner zu entschädigen. Nach dem Mahle credenzt uns „Doris“ im Strandpavillon eine Tasse schwarzen Mocca, und zeitiger als sonst suchen wir heute das Lager auf, um – von der Seekrankheit zu träumen.

„Was für Wetter heute, was für Wind, wann ist Hochwasser?“ das sind folgenden Morgens die ersten Fragen. Gebadet wird gegenüber der Insel, auf der Sanddüne, die bei gutem Weiter mit Segeln in zehn bis fünfzehn Minuten, bei widrigem Winde auf Umwegen, lavirend oder rudernd, in einer halben oder dreiviertel Stunde zu erreichen ist. Die Ankunft daselbst hat unser Zeichner recht hübsch auf einem Bilde veranschaulicht, welches von der Insel selbst freilich nur zur Rechten die äußerste Südspitze erkennen läßt.

In’s Seebad geht man nie mit nüchternem Magen, sondern etwa eine Stunde, oder anderthalb, nach eingenommenem Morgenkaffee. Zwischen neun und elf Uhr ist der größte Andrang, und es gehört oftmals die größte Geduld dazu, das Freiwerden eines noch besetzten und schon wieder auf’s Neue belegten Badekarrens zu erwarten.

Nach dem Bade Strandpromenade oder, lang hingestreckt im warmen Dünensande, ein Luft- und Sonnenbad, wie es schöner und molliger sich nicht denken läßt, und zum Beschluß des Vormittages im Pavillon der Düne ein Gabelfrühstück mit Porter, Ale, oder sonstiger Anfeuchtung auch des inneren Menschen. Bis zur Mittagstafel um drei Uhr fällt dann auch für ein Schläfchen noch Zeit genug ab, wenn etwa bei starkem Wellenschlage die kräftige Wirkung des Bades sich einschläfernd äußern sollte.

Nachdem die Curpflichten den Vormittag absorbirt haben, gehört der Nachmittag und der Abend der Geselligkeit, der Erholung und dem Vergnügen. Die unscheinbaren Morgen-Negligés sind den mannigfaltigsten Toiletten gewichen, und der Anblick einer Table d’Hôte von etwa fünfhundert bis sechshundert Gedecken, an fünf langen im großen Parterresaale des Conversationshauses gedeckten Tafeln, ist an sich schon ein Genuß, ganz abgesehen von der trefflichen Bewirthung daselbst. – Man sitzt volle zwei Stunden zu Tische. Die Zeit hat man ja dazu. Die erste Flasche „Cabarus“ – aller Rothwein, der auf Helgoland verzapft wird, trägt diesen Phantasienamen! – ist manchmal so trinkbar, daß die Sitzung durch eine zweite Flasche verlängert wird; – nur dann nicht, wenn gegen fünf Uhr der erste der drei Signalschüsse ertönt, durch welche die an der Südostseite des Oberlandes aufgepflanzte Batterie uns das einzige Ereigniß des Tages, das Herannahen des Hamburger Dampfers, meldet, wo wir ja mit dabei sein müssen.

Wenn man dann spät Abends auf dem Oberlande, nahe der Kirche, Papa Janssen’s hübschen grünen Garten betritt und die zahlreichen Gäste, um den liebenswürdigen Münchhausen der Insel versammelt, an delicatem neuem Hering mit Pellkartoffeln sich laben und Kulmbacher Bier dazu trinken sieht, so vergißt man einen Augenblick ganz, daß man sich nicht auf dem Festlande befindet, und erst der insulare Bierpreis von sechs Schillingen oder vier und einem halben Groschen für ein sehr kleines Seidel gemahnt uns an die Wirklichkeit, die trotz alledem keine rauhe, sondern eine höchst gemüthliche ist.

Mein Enthusiast auf der Fahrt von Hamburg hierher hatte Recht gehabt: es hatte sich hier Vieles verändert, verbessert und verschönert seit den zwölf Jahren, wo ich die Insel nicht gesehen, und alle diese Veränderungen waren meist erst in neuester Zeit, unter der Aegide des jetzigen Gouverneurs, vor sich gegangen. Wie oft auch das originelle Eiland mit seinen Bewohnern in Monographien und Journalartikeln geschildert worden ist, und wie wenig Neues ich dem Leser bieten würde, wenn ich eine Beschreibung der Insel nach der üblichen Schablone unternehmen wollte: Eines läßt sich nicht todtschweigen, wenn man heutzutage von Helgoland spricht, und das ist die neue Aera dieser Insel, die mit der Person des jetzigen Gouverneurs innig zusammenhängt.

Sie datirt aus dem Jahre 1868. Früher eine dänische Besitzung, kam bekanntlich Helgoland im Jahre 1814 an England. In der dänischen Zeit war die Insel von einem Landvogt und sechs Rathmännern regiert gewesen, und eine kleine Anzahl von Soldaten hatte die executive Macht gebildet. Die Gefängnisse von Schleswig hatten zur Aufnahme der seltenen Verurtheilten gedient. Mit der englischen Besitzergreifung änderte sich Dieses. An die Stelle des dänischen Landvogtes ward einer der sechs Rathmänner als Bürgermeister beeidigt, der die ganze innere Regierung der Insel führte und dem ein englischer Officier als Statthalter oder Lieutenant-Gouverneur und als Appellationsinstanz vorgesetzt war.

Die alte friesische Biederkeit der Einwohner von Helgoland ließ dieses Verhältniß eine Zeitlang bestehen; gar bald aber fingen die Rathmänner an, despotisch aufzutreten; das Volk dagegen verweigerte ihnen den Gehorsam. Die ärgsten Schreier unter den Einwohnern wurden in die sogenannte Vorsteherschaft der Insel gewählt, die Schulden des Landes vergrößerten sich mit jedem Jahre; die Pachtgelder des Roulettespieles bildeten – traurig, aber wahr! – das alleinige sichere Einkommen der Insel; die Ausübung des Strandrechtes, früher, unter dänischer Herrschaft, wenigstens noch mit einiger Ehrenhaftigkeit gehandhabt, bildete einen Schandfleck der Insel – es war eben die reine Strandräuberei.

Das Jahr 1864 schaffte einen Wandel in diese unhaltbaren Verhältnisse: England verlieh der kleinen Insel am 7. Januar 1864 die freieste Verfassung; die Bewohner durften sich ihre eigenen zwölf Vertreter wählen, je auf ein Jahr; die Krone ihrerseits ernannte zwölf, anstatt der bisherigen sechs Rathmänner, und diese Letzteren im Vereine mit jenen Ersteren, zusammen also vierundzwanzig, bildeten das „Gemeindehaus“, welches das alleinige Recht hatte, Steuern auszuschreiben und über die Verwendung der öffentlichen Gelder Beschlüsse zu fassen. Dagegen verlangte England von der Insel, außer einer Revision der Strandrechtsordnung, der Aufhebung des Hazardspieles und der allmählichen Deckung des Deficits mittelst genügender Steuern, gar nichts, weder Geld, noch Militär, noch Marinedienste, im Gegentheil: England gab und giebt noch heute zwölfhundert Pfund Sterling Zuschuß zur Deckung der öffentlichen Ausgaben.

So lange sie blos auf dem Papier stand, ließ man sich diese neue Verfassung gefallen, als sie aber thatsächlich in’s Leben treten sollte, da ging Empörung durch die Bevölkerung der Insel; ein sogenanntes Bürgercomité petitionirte nach England um schleunige Wiederherstellung der „alten Rechte und Privilegien“, d. h. auf deutsch: „um Beibehaltung des Strandrechtes und der Spieltische im Conversationshause“.

Die Zustände auf der Insel waren schlimmer denn je, so schlimm, daß endlich der englische Minister für die Colonien es für nöthig fand, aus eigener Anschauung sich ein Bild von der Sachlage zu verschaffen. Dies hatte denn zur Folge, daß im Jahre 1868 die Volksvertretung und das bisherige System der Selbstregierung aufgehoben und die ganze executive Gewalt in die Hände des jetzigen Gouverneurs, Seiner Excellenz des Herrn Oberstlieutenant Fitz-Maxe[WS 2], gelegt ward, welcher seinerseits nur allein dem englischen Ministerium des Auswärtigen verantwortlich ist.

Sehr angenehm mag seine Stellung anfangs nicht gewesen sein. Sie ist es in mancher Hinsicht vielleicht heute noch nicht. Seine Verantwortlichkeit ist eine große, und seine pecuniären Einkünfte sind kaum der Rede werth. Gleichwohl hat der Gouverneur durch Alles Das, was er geschaffen, sich die Anerkennung, wenn nicht seiner Untertanen, doch der zahlreichen Badegäste und der ganzen gebildeten Welt in hohem Grade zu gewinnen gewußt, und wir bewundern hier, wie ein hochgebildeter, thatkräftiger, seine Stellung richtig erfassender Mann durch eine verständnißvolle Initiative den öden Felsen, den ihm das Geschick als Wohnsitz und als Wirkungskreis zugewiesen hat, sich selber und der Mitwelt zu verschönern vermochte. [737] Was von den neuen Schöpfungen auf Helgoland zuerst unser hohes Interesse beansprucht, ist Telegraph und Post. Die jetzige Regierung hat endlich die Mittel gefunden, das langersehnte Kabel zwischen Helgoland und dem Festlande – Cuxhaven – herzustellen; der Sitz der Hamburg-Helgoländer Telegraphencompagnie ist Berlin. Ein semaphorisches Observatorium steht mit dem Telegraphen in Verbindung und vermittelt gegen eine geringe Vergütung durch optische Signale Telegramme an die im Gesichtskreise der Insel sich bewegenden Seeschiffe.

Mit der deutschen Reichspostverwaltung hat die Regierung im Laufe dieses Jahres einen Vertrag abgeschlossen, welcher Helgoland an den Vortheilen des deutschen Reichspostgebietes in seinem ganzen Umfange theilnehmen läßt, so daß also der deutsche Brief, wie im Inlande, nur einen Groschen Porto kostet.

Das Seebad der Insel, früher eine Art Privatactiengesellschaft unter den Einwohnern mit nicht allzureichlich ausgefallenen Dividenden, ist jetzt mit großen Geldopfern für die „Landschaft“ käuflich erworben und wird von einer königlichen Badedirection verwaltet. Ein neues Badehaus mit großem Schwimmbassin zur Benutzung bei schlechtem Wetter ist erbaut worden, und dadurch Helgoland der einzige Badeort in ganz Europa, welcher außer den Strandbädern auch den Vorzug eines gedeckten Seewasserschwimmbassins bietet, fortwährend durchströmt von 15,000 Kubikfuß frischen Wassers.

Eine Landungsbrücke ward mit großen Kosten sowohl am Strande der Insel, wie auch auf der Düne erbaut. Die bisherige Schutzwehr der Düne gegen Sturm und Meeresfluth, seit Jahren aus Buschwerk und Pfählen construirt, ward durch ein starkes Bollwerk aus Balken ersetzt, welches aus Mangel an Geldmitteln nicht ganz vollendet und auch theilweise durch eine der heftigsten Sturmfluthen wieder zerstört ward.

Ein kleiner Schleppdampfer ward für den Preis von etwa dreitausend Pfund Sterling angeschafft, um nothleidenden Schiffen zu Hülfe zu kommen, und so sehr erwünscht diese Neuerung den Assecuranzgesellschaften nur sein konnte, der Helgoländer, alter Sitte gedenkend, blickt noch jetzt auf jedes durch diesen Dampfer als gerettet weggeschleppte Schiff als auf ein ihm von Gott und Rechtswegen gebührendes, ihm nun entgehendes Strandgut.

Ein nicht geringes Interesse nimmt das kleine Theater der Insel in Anspruch. Der Gouverneur, welcher, Engländer von Geburt, deutsches Wesen und deutsche Sprache sich in hohem Maße zu eigen gemacht hat, ist ein eifriger Beschützer der Kunst, der er auf der Insel eine Stätte bereitet hat. War doch auch einst seine jetzige Gemahlin eine hochgefeierte Größe der deutschen Schaubühne! Das freundliche Theater am Unterlande öffnet an drei Abenden der Woche seine Pforten dem Publicum, und die liebenswürdigen Mitglieder des Anhalt-Dessauischen Hoftheaters wissen durch ein gewähltes Repertoire, Oper, Lustspiel und Posse umfassend, das Publicum dauernd zu fesseln. Im letzten Sommer war überdies die gefeierte Anna Schramm längere Zeit ein gern gesehener, vielfach ausgezeichneter Gast dieser Bühne, die am 21. August zum ersten Male eine interessante Novität zur Aufführung brachte, betitelt: „Roger Dumenoir, Volksdrama in drei Aufzügen von F. Martine.“ Unter diesem Pseudonym führte sich kein Geringerer, als der Gouverneur selbst, beim Publicum ein; sein Drama fand verdienten Beifall und wird, wie ich vernehme, eben am Residenztheater in Berlin zur Aufführung vorbereitet.

Wie also auf Helgoland nichts verabsäumt wird, den Anforderungen der Zeit Rechnung zu tragen, wie man jetzt sogar den Gedanken zu verwirklichen trachtet, die bekannte, fast zweihundert Stufen hohe und gar Manchem so beschwerliche Treppe, welche zum Oberlande hinaufführt, durch eine Hebemaschine, wie sie in den großen Hôtels Englands und Amerikas gebräuchlich ist, zu ersetzen, das Conversationshaus erheblich zu vergrößern und mit einem Hôtel ersten Ranges zu verbinden, so unterliegt auch die innere Verwaltung der Insel einer steten Vervollkommnung. Am 8. Juli 1868 ward eine Einfuhrsteuer auf Wein, Spirituosen und Bier eingeführt. Noch im nämlichen Jahre regelte eine Verordnung des Gouverneurs vom 28. Juli 1868 das Schulwesen der Insel. Das Strandrecht ward durch eine weitere Verordnung vom 23. November auf gesetzliche Bestimmungen über Strandungs- und Bergungsfälle zurückgeführt, und durch eine neuere Verordnung vom 17. Juli 1871 wurden Bestimmungen festgestellt, um von den Insulanern im Auslande contrahirte Schulden gerichtlich belangen zu können. Wie kräftig die früher so mangelhafte Polizei gehandhabt wird, das zeigten noch in diesem letzten Sommer die gegen das Ueberhandnehmen der sogenannten „Lästerallee“ ergriffenen Maßregeln und die seiner Zeit in den Blättern vielfach besprochene öffentliche Verbrennung einer Roulette, welche von einigen Jüngern der höheren Bauernfängerei in einem Saale des „Sonnenunterganges“, eines beliebten Tanzlocales, nächtlicher Weile heimlich aufgestellt worden war.

Möge der freundlichen Insel eine schöne und gesegnete Zukunft bevorstehen! In diesen Wunsch wird Jeder mit einstimmen, der in ihren Fluthen Heilung und Stärkung fand, oder der auch nur einige Tage oder Wochen lang ihre herrliche Seeluft einathmen durfte.

Fr. Schl.




Blätter und Blüthen.


Schwarzes Brett für die Volksschule. Nr. 3. Kann der Schulmeister schreiben? In den Jahren 1848 und 1849 war ich Hauslehrer beim Förster Christian N–e zu S–f in Mecklenburg-Schwerin. Sch–, der Schulmeister des Dorfes, seines Handwerks ein Schneider, hatte damals schon nahe an zwanzig Jahre sein Amt verwaltet und zwar zur vollkommenen Zufriedenheit der Behörden und aller Betheiligten, wenigstens war nie Klage über ihn geführt worden. Als aber die Söhne der Tagelöhner und Forstarbeiter im schleswig-holsteinischen Kriege waren und ihren besorgten Eltern nicht schreiben konnten, „ob sie gesund geblieben“, weil sie eben das Schreiben nie gelernt hatten, da ging es über den Schulmeister her. Der lebhafte Wunsch, von ihren Söhnen im Kriege Nachricht zu erhalten, hatte diesen ungebildeten Bewohnern des „platten Landes“ mit einem Schlage die Nothwendigkeit einer guten Schule klar gemacht. Sie glaubten dem Schulmeister nicht, der Alles auf die unüberwindliche Dummheit ihrer Kinder schob, sondern erlaubten sich, seine Fähigkeit als Lehrer zu bezweifeln. Zum ersten Male fiel es ihnen auf, daß auch nicht ein einziger seiner früheren oder jetzigen Schüler lesen könne, daß er nie Unterricht im Schreiben gegeben und daß Niemand ihn selbst je schreiben gesehen hatte. Einige der jüngeren Männer entdeckten sogar, daß er weder Feder noch Tinte im Hause habe, und behaupteten nun dreist und keck, der Schulmeister selbst könne nicht schreiben. Das zündete, und wie ein Lauffeuer ging es von Mund zu Mund: „Kann dei Schaulmeister schriwen?“ Ohne diese kitzlige Frage zu erledigen, ging eine Deputation der Tagelöhner mit der Courage von 1848 auf das Goldberger Amt und verlangte einen Lehrer, der lesen und schreiben könne. Doch bei dem Verlangen blieb es; denn als der Amtshauptmann die Rebellen anschnauzte. „Woher wißt Ihr denn, daß Euer Schulmeister nicht lesen und schreiben kann?“ standen sie wie die Ochsen am Berge und kehrten unverrichteter Sache wieder nach Hause zurück.

Der leichtfüßige Schulmeister hatte bis dahin unter den schwerfälligen Dorfbewohnern immer eine gewisse Ueberlegenheit behauptet; er hatte außer der Schneiderpolitur eine geläufige Zunge; er war der Einzige im Dorfe, der in Güstrow (drei Meilen von S–f) gewesen, hatte also die Welt gesehen – kurz, er spielte, wie bei Erntebier und Hochzeiten im wahren, so bei allen anderen Gelegenheiten im höhern Sinne des Wortes die erste „Figoline“, wie er das Ding auf Hochdeutsch nannte. Jetzt aber fühlte er seine Autorität schwanken; überall hörte er zarte Anspielungen im mecklenburger Fracturstil, der sich von der Blumensprache dadurch unterscheidet, daß er durchaus nicht mißverstanden werden kann, und der Schulmeister sann darauf, sich wieder zu Ehren zu bringen.

Obgleich der Forsthof vom eigentlichen Dorfe abgesondert war, kam doch die Frage: „Kann der Schulmeister schreiben?“ auch bei uns zur Sprache. Ich hielt es mit den Zweiflern, doch der Förster – nebenbei gesagt, einer der liebenswürdigsten und besten Menschen, mit denen ich je in Berührung gekommen – erklärte, der Mann könne sicherlich schreiben, da Pastor H–r zu P–n, der Schulvorstand, ihm ein gutes Zeugniß gegeben habe.

Die Aufklärung über die große Frage gab uns der Schulmeister selbst in einer höchst drolligen Weise. Seit längerer Zeit ging er häufig nach der oben erwähnten Amtsstadt Goldberg, sammelte dort gesprächsweise Kriegsnachrichten und andere Tagesneuigkeiten, die es in den Jahren 1848 und 1849 immer gab, und wenn er des Abends wieder im Dorfe war, las er seinen Nachbarn diese Neuigkeiten aus einem vorgehaltenen Zeitungsblatte vor. Das imponirte – er gewann Zuhörer und Freunde.

Auf einem dieser Ausflüge nach Goldberg, als er wie gewöhnlich auf der Post nachfragte, ob Briefe für den Förster N–e da wären, sagte ihm der Postmeister, daß außer den Briefen für den Förster auch einer für ihn da sei. Ein Brief für ihn! Ihm schwindelte. Es war der erste, den er in seinem Leben je erhalten hatte. Kein Wunder, daß er vor Begierde brennt, den Inhalt kennen zu lernen. Er läuft spornstreichs zurück zu dem redseligsten seiner Freunde, dem Handlungsdiener, der ihm nicht blos Kaffee und Zucker verkauft, sondern auch stets die meisten Zeitungsnachrichten mittheilt. Blaß vor Aufregung, bittet er ihn, ihm den Brief vorzulesen. Der Ladenschwengel, ein loser Vogel, liest: „An den Schulmeister Sch– zu S–f. Da nunmehro der Krieg mit den Türken ausgebrochen ist und jeder Mann die Waffen ergreifen muß, um [738] das Vaterland zu vertheidigen, so ist Er hiermit beauftragt, alle Tagelöhner und Forstarbeiter, über einundzwanzig Jahre alt, aufzufordern, sich morgen früh um neun Uhr in dem Amtsgebäude zu Goldberg unfehlbar einzufinden. Widrigenfalls werden selbige mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft werden. Gegeben zu Goldberg etc. Gläubig hört Sch– es an und denkt: „Täuwt (wartet) ji Canalljen, nu will ick juch wisen, wat ne Harrk is.“ Schnell erkundigt er sich, was der Türke eigentlich für ein Mensch sei, und wo er wohne, worauf der Ladenschwengel ihm zu verstehen giebt, daß der Türke der grausamste aller Wilden sei. Zum Ueberfluß zeigt er ihm noch einen Schillingsbilderbogen, auf dem in glühenden Farben ein türkischer Unhold abgebildet ist. Nun hält’s ihn aber nicht länger; mit geflügelten Schritten erreicht er Abends das Dorf und berichtet, die Kriegsfurie sei los, der Türkenkrieg ausgebrochen, und den Brief aus der Tasche ziehend, liest er den staunenden Landbewohnern den kategorischen Aufruf des Goldberger Amtes vor.

Am nächsten Morgen, wir hatten gerade gefrühstückt, kommt mit wichtigen Schritten der Gelehrte des Dorfes auf den Forsthof, händigt mit einem Kratzfuß und höflichen „Guten Morgen, Herr Förster!“ die Briefe ein und fängt an zu sondiren, ob wir von dem Türkenkriege schon Nachricht haben. „Na, Herr Förster, wat denken Sei dorvon?“

„Wovon?“

„Ja, von den Krieg?“

„O, de Krieg is jo nu vöbi.“

„I wat, he is jo irst gistern anfunag’n; na, ick seih, Sei hew’n noch nich davou hürt! ick mein’ den Krieg mit den Türken.“

„Dummes Tüg – wer hett Sei denn dat upbunn’n?“

„Herr Förster,“ – er fing jetzt hochdeutsch an, – „ich hab’ allen Respect vor Sie, aberst sonne Anzüglichkeiten muß ich mich denn doch gehursamst verbirren. Es is nich meine Schuld, daß Sie von diese Sache bis dato nix nich gehürt haben.“ Während er dies sagte, hatte er seinen Brief aus der Tasche gezogen und die Brille aufgesetzt. Er räusperte sich und las uns vor, was der witzige Goldberger ihm vorgelesen hatte. Durch unser unbändiges Lachen beleidigt, bemerkte er in sehr verletztem Tone, er wisse nicht, was da zu lachen sei, Krieg sei immer eine ernsthafte Sache, aber Krieg mit dem Türken sei fürchterlich.

Vergebens suchte ich ihm zu bedeuten, daß irgend Jemand ihm den Brief geschrieben haben müsse, um ihn zum Besten zu haben, und daß der „Türk“ ein schwacher kranker Mann sei, der gar nicht an Krieg denke. „Was sagen Sie, Herr Cannidat, haben Sie den Türk all enns seihn?,“ Ich verneinte. „Aewer ick hew em seihn,“ sagte er stolz und sich wieder an den Förster wendend, „pickswartes (pechschwarzes) Hoar harr hei un en langen gnäterswarten Snurrboart; en krummen Sabel swenkt er äwer sinen Kopp un dat Mul reet hei wiet upp.“ Dabei riß er selbst das Maul auf, zeigte seine Zähne und schwang den imaginären Säbel über seinem Kopf. Der Förster wälzte sich vor Lachen; ich selbst war dem Ersticken nahe. Die Scene war so gelungen, daß sie mir ewig unvergeßlich bleibt. So bald ich zu Athem kommen konnte, ersuchte ich den Schulmeister, sich zu setzen und mir den Brief zu zeigen. Ich las ihn laut vor; er lautete: „Lieber Schwager, ich bin Euch zum Trotz doch nach Amerika gegangen und habe meine Frau mitgenommen. Ich wohne in – – und damit Ihr sehen könnt, daß Alles wahr ist, was ich schreibe, lege ich unsern Schiffsschein bei. Dein etc.“ Bei den ersten Worten war der Schulmeister aufgesprungen. Sprachlos, bleich und starr stand er da, eine gefallene Größe; das Geheimniß seines Lebens war entdeckt. Nach einigen vergeblichen Flausen beichtete er, wie Alles gekommen, und gestand, daß er nicht schreiben und nur die großgedruckten Fragen im Lutherischen Katechismus lesen könne, die er als Kind auswendig gelernt. Umsonst bat er um Schonung. Der Förster sagte ihm, er hoffe, daß er die Tagelöhner noch nicht auf’s Goldberger Amt beordert habe.

„Ach, Herr Förster,“ sagte er weinerlich, „sei sünd all’ ne gaur halw Stun’n unnewegs.“ Damit war er aber auch zur Thür hinaus und in vollem Lauf hinter den Tagelöhnern her. Nach etwa zwei Stunden brachte er sie triumphirend zurück. Es seien andere Nachrichten gekommen, mit dem Kriege sei es nichts, hatte er ihnen gesagt. Ueber den Stand der Sache aufgeklärt, verlangten später die Tagelöhner zum zweiten Male einen andern Lehrer. Das Amt wandte sich jetzt an den Schulvorstand, den Pastor H–r in P–n. Dieser aber, obgleich ich ihm obige Geschichte erzählt hatte, berichtete dem Amte, daß der Schulmeister Sch– zu S–f genügende Kenntnisse besitze, um eine Dorfschule zu halten. Wie viel Mecklenburg auch gesündigt haben mag, besagten H–r hat es nicht „verbrochen, denn er war ein Sachse. Ehre dem Ehre gebühret! Seine Hochwohlehrwürden erzählten kurz darauf den benachbarten Pächtern und Gutsbesitzern bei einem Erntefest-Abendessen, an dem auch ich theilnahm, wie er den armen Schulmeister durch sein gutes Zeugniß aus der Noth geholfen habe. Ich war noch sehr jung damals, aber als ein echter Sohn Mecklenburgs hatte ich längst gelernt, das uns angestammte Vorrecht der göttlichen Grobheit zu beanspruchen und auszuüben. Ich erhob mich und erklärte ihm ruhig, aber sehr laut und deutlich jede Silbe betonend, daß er dem Goldberger Amt absichtlich und wissentlich eine arge Lüge berichtet, da er vorher durch mich und den Förster unterrichtet sei, daß der Mann, der unter seiner speciellen Aufsicht zwanzig Jahre lang Schulmeister in S–f gewesen, weder lesen noch schreiben könne.

„Und mit Schrecken und mit Grauen
Hörten’s die Ritter und Edelfrauen.“

Auch der Pastor war stumm, nur zuckte er die Achseln mit einem Blick nach oben, als wollte er sagen: „Himmlischer Vater, vergieb diesem jungen Grobian!“ Ich war aber einmal im Zuge und gab die ganze Geschichte vom Türkenkriege zum Besten. Alles lachte und nickte mir zu. Mancher drückte mir die Hand, vor Allen der brave Förster. Ich hatte gesiegt – der Pastor war in dem Türkenkriege gänzlich geschlagen. Und der Schulmeister? Wie kann man nur fragen! Ei, der Schulmeister blieb Schulmeister und ist es wahrscheinlich noch jetzt, wenigstens habe ich nicht gehört, daß er gestorben.
Heinrich Staude in Troy (Amerika).


Abermals gekreuzigt! Die „Neue Stettiner Zeitung“ schreibt: „Die orthodoxen Geistlichen in Hinterpommern, welche gut thäten, sich bei Ausübung ihrer Amtspflichten lediglich an das zu halten, was ihr Beruf von ihnen fordert, scheinen sich jetzt auf die Aesthetik zu legen, indem sie die Kirche zum Schauplatz einer sehr unberufenen Kritik machen, welche sich vorzugsweise gegen die bekanntlich in gewissen Kreisen schon lange im Geruch der Ketzerei stehende ‚Gartenlaube‘ richtet. Das ‚Stolper Intelligenzblatt‘ erzählt es und zu Nutz und Frommen aller Hausfrauen und solcher, die es werden wollen, sei es mitgetheilt, daß einer jener übereifrigen geistlichen Herren den Inhalt der ‚Gartenlaube‘ als ‚feines Gift‘ bezeichnet, welches sehr gefährlich wirke, und daß ein Zweiter bei Gelegenheit einer Trauung aus den gebildeten Ständen der Braut bemerklich machte, daß das Lesen von Modezeitungen und namentlich das der ‚Gartenlaube‘ sich für eine christliche Hausfrau nicht zieme.“ Was sagen unsere freundlichen Leserinnen dazu?


Berichtigungen. In Nr. 35 dieses Blattes ist auf Seite 566, 2. Spalte, 24. Zeile von oben, statt „Silberblick“ zu lesen: „Silberblock“.

In dem Artikel „In den Hallen des Schweigens und des Mirakels“ (Nr. 38, S. 618) ist im Eingange statt „Heimbach, einem Flecken an der Ruhr“ zu lesen: „an der Roer“.


Kleiner Briefkasten.

A. C. D. in Williamsburgh, New-York. Bei den amerikanischen Ansprüchen an Comfort dürfte ein kinderloses Ehepaar in den größten[WS 3] Städten Nord- und Süddeutschlands seinen Jahresetat, exclusive Kleidung und Vergnügen, auf circa tausend Thaler zu bemessen haben. Billiger würden sich die Kosten in den kleineren Städten stellen. Vieles hängt indessen von den Localverhältnissen ab.

K. H. Da wir nicht das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft haben, so bedauern wir, Ihnen in der uns vorgetragenen Angelegenheit einen Rath nicht ertheilen zu können. Ein solcher müßte sich durchaus auf eine Kenntniß Ihrer Fähigkeiten stützen.

W. 11/3 X. Lassen Sie sich gesagt sein, daß auf eingesandte Gedichte, mögen sie nun acceptirt oder dem Papierkorbe anheimgegeben worden sein, Antwort niemals ertheilt wird. Das haben wir an dieser Stelle bereits unzählige Male erklärt. Ihre Gedichte sind nicht zu verwenden.

C. in G. Ungeeignet. Uebersetzungen bringt die Gartenlaube nicht.

Maria K. in H. Recht warm empfunden und gewandt versificirt, aber zum Abdruck nicht geeignet, weil zu wenig eigenartig.

Z. Z. Acceptirt und kommt nächstens zum Abdruck.



Zur

Ehren-Dotation für Roderich Benedix

gingen erfreulicher Weise wieder ein: Total-Einnahme einer Benefiz-Vorstellung des Kölner Theater zu Gunsten der Benedix-Dotation durch Director H. Behr 513 Thlr.; Sammlung der Gesellschaft des runden Tisches in Pilsen 24 fl. ö.; von einem Postmann 1 Thlr.; Dr. S. in Bamberg 2 Thlr.; Heinrich Engelmann in Berlin 5 Thlr.; Sammlung im Bürgerverein in Oderberg 2 Thlr. 8½ Ngr.; L. G. in Dresden 2 Thlr.; W. M. in Bochum 2 Thlr. 15 Ngr.; Anna Ludwig in Königstein 1 Thlr.; Vorstellung des Dilettanten-Vereins in Plagwitz 10 Thlr.; H. W. in Berlin 2 Thlr.; C. F. Weber 3 Thlr.; G. Lurchow in Kieselkehmen 9 Thlr.; Vorstellung des Vaudevilletheaters in Leipzig 54 Thlr. 7 Ngr.; Carl von Holtei in Breslau 9 Thlr., als nicht angenommenes Honorar der Gartenlaube, mit den Worten:

Mit Ihnen gerath’ ich schon wieder in Streit:
Sie erweisen mir eine Gefälligkeit
Und können ernstlich von mir verlangen:
Dafür soll ich Honorar empfangen?
Beim Acheron, oder mein’twegen beim Styx
Ich bleib’ hartnäckig und nehme nix!
Doch wollen auch Sie hartnäckig bleiben
Dann mögen Sie’s gern zu Gute schreiben
Der Dotation für Benedix.
Sein Andenken darf nicht ersterben,
Wir ehren ihn treu in seinen Erben.

Holtei.
Der größere Dilettanten-Verein Victoria in Frankfurt am Main bereitet ebenfalls eine Benefiz-Vorstellung zu Gunsten der Benedix-Dotation für den 22. November vor.
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegnügen
  2. Vorlage: Fitz-Morse (nach Berichtigung)
  3. Vorlage: größeten