Die Gartenlaube (1874)/Heft 21

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[331]

No. 21.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Drei Liebeslieder.*[1]

Von Hoffmann von Fallersleben.

Du hast mir keinen Kranz gewunden,
Auch nicht ein Blümlein mir geweiht,
Doch einen Kranz der schönsten Stunden
Den schönern Tagen angereiht.

Du hast mir keinen Wein credenzet,
Auch nicht ein einzig Tröpfelein,
Doch hat Dein Auge mir geglänzet,
Als schenkt’ es Deine Seele ein.

Du hast kein Liedlein mir gesungen
Von Liebeslust und Liebesleid,
Doch ist mir jedes Wort erklungen
Wie lauter Liebesseligkeit.

Du bist nicht nahe mir geblieben,
Kurz war des Sehens süßes Glück,
Doch immer zaubert mir mein Lieben
Dein süßes holdes Bild zurück.

Heil Dir, daß etwas Dich begeistert,
Was Deine Schönheit noch verschönt,
Wenn auch die ganze Welt Dich meistert
und Dich verspottet und verhöhnt.

Bleib’ allem, was nach Wahrheit strebet,
Bleib’ allem Guten zugewandt,
Und jede Seele, die da lebet
Für Freiheit, sei mit Dir verwandt!

Nie soll sich Dir ein Freier nahen,
Der nicht zugleich ein Freier ist,
Kein Mann soll Deine Hand empfahen,
Der Dir nicht ist, was Du mir bist.

Heil Dir, daß etwas Dich begeistert,
Was Deine Schönheit noch verschönt,
Wenn auch die ganze Welt Dich meistert
Und Dich verspottet und verhöhnt.

Mich könnte noch die Welt versöhnen,
Wenn sie Dich liebte wie ich Dich,
Wenn sie sich sehnte nach dem Schönen
Und am Gefund’nen freute sich.

Doch nein! sie kann Dich nur beneiden,
Hohn ist der Sold, den sie Dir bringt.
So muß es auch die Rose leiden,
Daß sie der Dornen Neid umringt.



Des Frühlings Boten send’ ich Dir,
In diesen winterlichen Tagen,
Daß sie noch einen Gruß von mir,
Ein stilles Lebewohl Dir sagen.

Könnt’ ich für meines Lebens Müh’n
Vom Schicksal Eine Gunst erwerben!
Wie diese Blumen möcht’ ich blüh’n
Und so an Deinen Blicken sterben.



Die Blumen sind verwelket,
Die Du empfängst von mir,
Verklungen sind die Lieder,
Die ich gesungen Dir.

Gern hätt’ ich Dir erneuet,
Was Freude Dir gemacht,
Gern hätt’ ich frische Blumen
Und Lieder Dir gebracht.

Ach! wär ich nicht gezogen
So weit von Dir hinaus,
Noch heute brächt’ ich Blumen
Und Lieder Dir in’s Haus.

Nun ist mir in der Ferne
Nach Dir so bang’ und weh,
Als ob ich nie Dich wieder,
Nie, nie Dich wieder sah’.



  1. * Die obigen, wohl noch nicht veröffentlichten Lieder Hoffmann’s von Fallersleben gingen uns aus dem Nachlasse des Dichters von vertrauenswürdiger Seite zu. Hoffmann dichtete sie im Jahre 1845 während seines Aufenthaltes in Mecklenburg an eine dortige junge Dame.
    D. R.




Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Schluß.)


Lianens sonst so liebliches Antlitz mit den weichen Zügen erschien wie versteinert in Entschlossenheit und Härte. „Herr Hofmarschall,“ fuhr sie in ihrer Rede fort, „der Mann verfolgte die schöne Indierin auch Nachts durch die Gärten, um sie dem armen Sterbenden im rothen Zimmer zu rauben; sie mußte sich hinter Schloß und Riegel flüchten vor ihm. – Sieh hin, Raoul,“ unterbrach sie sich und deutete nach dem Hofmarschalle, der vernichtet in sich zusammengesunken war, „Herr von Mainau will Dir Dein Kind entreißen, unter dem Vorwande, daß der einzige ehrenfeste, unbescholtene Mann der Familie auch nur den einzigen jungen Träger des Namens erziehen dürfe, aber seine Hand hat ein Menschenleben schwer geschädigt, und die Intrigue, durch die Gabriel und seine Mutter verstoßen worden sind, wirft unauslöschliche Flecken auf den ‚Nimbus des Edelmannes‘. Du kannst ruhig sein angedrohtes Vorgehen abwarten; Leo wird ihm nie zugesprochen werden.“

Hatte sie gemeint, der Schuldige sei unter der Wucht der Anklagen und des so plötzlich aufgerüttelten Gewissens vollständig zusammengebrochen, so war das ein Irrthum gewesen. Schon bei ihrem Hinweise auf seine geknickte Haltung hatte er sich mittels eines energischen Ruckes steif aufgerichtet; bei der Anschuldigung bezüglich Gabriel’s und seiner Mutter nickte er [332] wiederholt, wie amüsirt, mit dem Kopfe, und jetzt brach er in schallendes Hohngelächter aus.

„Das Tableau meiner Verbrechen ist ja famos zusammengestellt, schöne Frau. … Ich sag’s ja, diese Weiber mit den rothen Flechten sind Teufel im kühl ausgesonnenen Intriguiren. Tausend noch einmal, was für pikante Sachen! … Und das wird theatralisch effectvoll vorgetragen im eilig übergeworfenen schwarzen Trauergewande, das Sie, beiläufig gesagt, blaß und unschön wie ein Gespenst macht –“

„Onkel, kein Wort weiter!“ rief Mainau erbittert und zeigte zum ersten Male nach der Thür.

„Schön, schön – ich werde gehen, wenn es mir beliebt. Aber jetzt bin ich der Angegriffene und bin es mir selbst schuldig, Licht in diese Geschichte zu bringen. … Was Sie plötzlich so siegesgewiß, so unglaublich herausfordernd mir gegenüber macht, gnädige Frau – ich kann mir’s denken. Während wir hier stritten, sind Sie voll leicht verzeihlicher Neugier hinübergegangen, um das ‚unglückliche Weib‘ sterben zu sehen. Das giebt einen köstlichen Nervenreiz; das cajolirt den schauerbedürftigen diabolischen Zug in der weiblichen Natur –“

„Ich bitte Dich, Raoul, thue Nichts, was Du später bitter bereuen müßtest!“ rief Liane, mit beiden Armen Mainau umschlingend, der, außer sich, auf den giftigen Sprecher losstürzen zu wollen schien.

„Der weiblichen Natur,“ wiederholte der alte Herr hämisch lächelnd, da Mainau, zornig den Boden stampfend, ihm den Rücken zuwandte. „Möglich, daß die gelähmte Zunge der ‚armen Bajadere‘ im Delirium des Sterbens noch einmal – es soll ja dergleichen vorkommen – so viel Beweglichkeit zurückerhalten hat, verwirrtes Zeug zu lallen, sehr möglich sogar. Aber welcher vernünftige Mensch nimmt dergleichen für baare Münze, oder formulirt gar solch’ miraculeuses Zeug zu ehrenkränkenden Anklagen? … Meinen Standesgenossen, wie sie auch heißen mögen, dürften Sie mit diesen allerliebsten Neuigkeiten nicht kommen. Man kennt mich und würde von der zweiten Frau meines Schwiegersohnes einfach behaupten, daß sie mit Ränken umzugehen wisse.“

„Sprich weiter, Liane! Ich fürchte, die Herren Standesgenossen werden Dinge zu hören bekommen, die den Begriff vom angeborenen Adel kläglich zu Schanden machen,“ sagte Mainau schneidend. „Aber sprich zu mir! Du hörst ja, der Herr Hofmarschall hat mit der Sache nichts zu schaffen, mich aber spannt sie auf die Folter.“

„Die Frau im indischen Hause war todt, als ich hinüberkam; über ihre Lippen ist dreizehn Jahre lang kein verständliches Wort mehr gekommen, und so ist sie auch gestorben,“ versetzte die junge Frau; sie verstummte für einen Moment wieder und schloß die Augen; ein abermaliger Schwindel überfiel sie. Sie stützte sich fest auf die Tischplatte und fuhr rascher fort: „Was ich zu sagen habe, weiß ich von einem Zeugen, der seit Onkel Gisbert’s Rückkehr aus Indien in Schönwerth gewesen ist, einem Zeugen, der nicht faselt, sondern genau weiß, daß er das, was er behauptet, nöthigenfalls beschwören muß.“ Sie sprach in der That zu Mainau, als sei der Mann mit der aufhorchenden, nicht zu unterdrückenden Besorgniß in den gespannten Zügen hinausgegangen, und sie erzählte, wie er sich, unterstützt von dem Geistlichen, zum Herrn von Schönwerth gemacht, mit welcher raffinirten Grausamkeit Onkel Gisbert von der Frau getrennt worden war, die er bis zu seinem letzten Athemzuge geliebt hatte. … Dazwischen klang spöttisches Kichern oder ein gemurmelter Fluch zu ihr herüber, aber sie ließ sich nicht beirren. Nur als der Name der Löhn zum ersten Male auf ihre Lippen trat, da mußte sie innehalten.

„Die Bestie! Diese Natter!“ unterbrach sie der Hofmarschall in einem Gemische von Wuth und schrillem Auflachen. „Sie ist Ihr Gewährsmann, meine Gnädigste? … Sie haben mit dem rohesten, ungeschliffensten Weibe der gesammten Schönwerther Dienerschaft geklatscht und wollen nun darauf hin mich, mich angreifen?“

„Weiter, Liane!“ drängte Mainau mit bleichem Gesichte, „Lasse Dich nicht irre machen! Ich sehe bereits allzu klar.“

„Mögen Sie auch alle diese Behauptungen der Löhn zu entkräften verstehen, weil Sie allerdings mit scharfem Auge selbst über jeden, auch den kleinsten Vorgang in Schönwerth gewacht haben – Eines können Sie nicht bestreiten, denn Sie wissen nicht darum, Sie haben keine Ahnung von dem Geschehenen,“ wandte sich die junge Frau noch einmal an den Hofmarschall selbst, „die Indierin war, trotz Ihrer Wachsamkeit, wenige Tage vor seinem Tode noch einmal bei Onkel Gisbert; er ist gestorben mit der Ueberzeugung, daß sie unschuldig verleumdet worden ist.“

„Bah, Sie tragen die Farben allzu dick auf, liebe kleine Frau. Sie sollten wissen, daß das jedweder Darstellung die Grundbedingung, die Glaubwürdigkeit, nimmt,“ versetzte der alte Herr mit gut gespielter spöttischer Nachlässigkeit; allein so erloschen, so gleichsam aus vertrockneter Kehle sich ringend hatte seine Stimme noch nicht geklungen. „Von dieser rührenden Scene weiß ich allerdings nichts – sehr begreiflich! Sie wird schließlich, wie alles Andere auch, auf die pure nackte Erfindung hinauslaufen. … Uebrigens sehe ich nicht ein, weshalb ich so lammgeduldig dieses nichtswürdige Intriguengespinnst länger anhören soll. Ich bin droben in meinen Appartements jederzeit zu finden für den – Gerichtsdiener, den Sie mir so liebenswürdig auf den Hals schicken möchten – ha, ha, ha! … Gehen Sie jetzt schlafen, gnädige Frau! Sie sind entsetzlich bleich und sehen aus, als stünden Sie nicht fest auf den Füßen; ja, ja, das Dichten greift an, sagen die Leute. … Gute Nacht, meine schöne Feindin!“

„Bitte, Onkel!“ rief Mainau und trat vor die Thür, auf welche der Hofmarschall sehr eilig zuschritt. „Ich habe Dich mit unerhörter Geduld und Langmuth stundenlang mich und meine Familie verunglimpfen lassen – jetzt fordere ich von Dir, daß Du in meinem Beisein das Ende der Mittheilungen erwartest, wenn Du nicht den letzten Rest von Deiner ‚Cavalierehre‘ in meinen Augen verlieren willst.“

„Poltron!“ zischte der Hofmarschall zwischen den Zähnen und warf sich in den Stuhl zurück.

Die junge Frau erzählte den Vorfall an Onkel Gisbert’s Sterbebett. Es war todtenstill im Zimmer geworden, in dem Moment aber, wo sie beschrieb, wie der Sterbende die zwei Siegel mit so peinlicher Sorgfalt unter das Geschriebene gedrückt, da fuhren beide Zuhörer empor.

„Lüge, infame Lüge!“ schrie der Hofmarschall.

„Ah!“ rief Mainau, als falle plötzlich ein grelles Licht in tiefe Nacht. „Onkel, die Herzogin und ihr Gefolge werden bezeugen müssen, daß sie den Siegelring gesehen haben, den Smaragd, von welchem Du beiläufig erzähltest, er sei Dir vor Zeugen am 10. September von Onkel Gisbert feierlich übergeben worden. … Und jener Zettel, den er auf diese Weise einigermaßen rechtskräftig zu machen suchte, existirt er noch, Liane?“

Die junge Frau nahm schweigend, mit bebenden Händen die Kette vom Nacken und legte sie in seine Hand.

Das kleine Schmuckstück war allerdings wie „zugehämmert“; keine Spur von Mechanik ließ sich entdecken. Mainau nahm die starke Klinge eines Taschenmessers und schob sie zwischen das Gefüge – ein starker Druck, und der dünne Deckel zerbrach. … Lässig, aber doch so glücklich zusammengebrochen, daß die emporstehenden Enden die zwei Siegel vor jedweder verwischenden Berührung geschützt hatten, lag ein Zettel in dem schmalen Behälter, jedenfalls noch so, wie ihn die Indierin von ihren küssenden Lippen weg hineingelegt hatte.

„Diese Abdrücke sind, noch dazu unter dem Schutze einer so klug eingeleiteten Maßregel, für mich eine absolute Bürgschaft, so gut wie für Dich, Onkel, der Du selbst erklärt hast, ein solcher Abdruck gelte Dir mehr als die eigenhändige Unterschrift.“

Keine Antwort, kein Laut erfolgte.

„Hier die scheinbar defecte Stelle des Steines, sie tritt klar und scharf hervor. Morgen beim Tageslichte, unter der Loupe, werden wir den schönen Männerkopf bewundern können. … Und hier unten das Datum, zweimal unterstrichen: ‚Geschrieben in Schönwerth am 10. September.‘“

Er legte einen Augenblick in unbeschreiblicher Bewegung die Hand auf die Augen, dann entfaltete er das Papier. „An mich adressirt? an mich?“ rief er erschüttert. … Er trat näher an das Lampenlicht und las den Inhalt mit lauter Stimme.

Der Sterbende erklärte gleich bei Beginn, er sei in Folge seines geistigen und körperlichen Gebrochenseins der Gefangene seines Bruders und des Geistlichen. Er habe, obgleich in dem [333] Wahne, daß die Indierin treulos sei, dennoch zu ihren Gunsten testiren wollen; allein es sei Alles geschehen, ihn zu verhindern; selbst der Arzt sei bestochen gewesen und habe seine Bitten um eine gerichtliche Commission stets als einen im Fieberdelirium ausgesprochenen Wunsch ignorirt. In solchen Momenten seien dann Alle beflissen gewesen, ihm das Vergehen, die moralische Gesunkenheit der verstoßenen Frau und das Strafbare seiner früheren Beziehungen zu ihr, in den schwärzesten Farben hinzustellen, und er, in seiner grenzenlosen Hinfälligkeit und oft bis zum Wahnsinne geängstigt durch Hallucinationen, habe sich gefügt. … Nun aber wisse er, daß man ihn in fluchwürdiger Weise hintergangen habe. Er wisse, daß ihm ein Sohn geboren sei, dessen Existenz man ihm verschwiegen habe. Er wisse ferner, daß sein Bruder das Weib seines Herzens mit glühender Leidenschaft verfolge und ihr jedes, auch das kleinste Erbtheil zu entziehen suche, um die Unglückliche ganz in seine Hand zu bringen. … Unter all den Schurken, die ihn in eiserne Ketten geschnürt, sei nicht Einer, der ihm einer mitleidigen Regung fähig schiene; wohl aber erinnere er sich in diesem Augenblicke namenloser Verlassenheit seines jugendlichen Neffen „mit dem tollen, heißen Kopfe, aber großmüthigen Herzen“. Angesichts des nahenden Todes, der ihn stündlich bedrohe, wende er sich an ihn mit seiner letzten Bitte. Er halte es dabei für seine Pflicht, auszusprechen, daß die Indierin makellos an Ruf und Sitten und nicht, wie man gefabelt, eine Bajadere gewesen sei, als sie sein Eigen geworden. Er erkenne ferner den kleinen Gabriel als seinen Sohn an und beschwöre seinen Neffen, die beiden verfolgten unglücklichen Wesen zu schützen und ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen, so zwar, daß ihnen der dritte Theil seiner gesammten Hinterlassenschaft ungeschmälert überantwortet und seinem Kinde der Familienname des Vaters zuerkannt werde. … Frau Löhn, die treue Seele, solle dem Neffen, der Sicherheit wegen, persönlich den Zettel übergeben, dessen Glaubwürdigkeit er noch in der Weise verbürgen wolle, daß er unmittelbar nach geschehenem Abdrucke des Siegels den Smaragdring in die „ungetreuen“ Hände seines „entarteten“ Bruders lege.

„Schön, schön! Der Herr Landstreicher hat mich ja sehr schmeichelhaft geschildert – dies der Dank für meine unermüdliche Pflege, die vielen schlaflosen Nächte!“ sagte der Hofmarschall sich erhebend mit nervös zuckendem Gesichte, während Mainau das Document in seine Brusttasche steckte. „Er ist eben ein charakterloser Bursche bis zu seinem letzten Athemzuge gewesen, den die zwei lügnerischen Weiberzungen windelweich gemacht haben. … Bah, mich ärgert nur, daß ein Geschöpf, wie diese Löhn, mich dupiren durfte.“

Mainau trat von dem Sprechenden weit zurück, mit Ostentation zeigend, daß nun auch er jede Beziehung zu dem „ehrenfestesten, respectabelsten Manne der Familie“ als gelöst ansehe.

„Soll ich morgen als Bevollmächtigter Gisbert’s von Mainau das“ – er drückte die Rechte bezeichnend auf die Brusttasche – „vor Gericht niederlegen?“

„Eh, man wird sich die Sache überlegen. … Man hat ja auch seine Documente. Es wird sich herausstellen, wer siegt, ob Du mit diesem Wische, oder die Kirche mit dem Zettel, der im Raritätenkasten liegt. Der Hofprediger ist ja auch noch da, ein anderer Zeuge als Frau Löhn, die Beschließerin! … Hm, ich glaube, das famose Schriftstück, das Du so zärtlich an Dein Herz genommen, wird Dir mehr Kopfschmerzen machen, als Du denkst. … Einstweilen nimm Dich der Dame dort an! Die nichtswürdige Intrigue, die sie so liebevoll und bereitwillig in Scene gesetzt, scheint sie doch ein wenig mitgenommen zu haben.“

Schon während Mainau las, hatten unheimliche Nervenschauer die junge Frau überrieselt. Es war ihr, als habe ein blutrother, wallender Nebel das Zimmer erfüllt, der auf- und abfluthend das verstörte Gesicht des gegenübersitzenden Hofmarschalls fratzenhaft verzerre. … Nun breitete sich eine tiefe, eisige Nacht über sie hin. Ein halbirres Lächeln erzwingend, streckte sie beide Hände nach der Richtung aus, wo Mainau stand, und brach, von seinen Armen aufgefangen, mit einem dumpfen Schrei bewußtlos zusammen. … Fünf Minuten später brauste eine Equipage nach der Stadt, um Aerzte an das Bett der schwer erkrankten Herrin von Schönwerth zu holen.




28.


Es waren liebliche, sonnenglänzende Herbsttage, die über das Schönwerther Thal hinzogen. Der warme, weiche Lufthauch trug schwer an den Düften der Resedabeete und des reifenden Obstes, und der wilde Wein breitete seine wuchtige Purpurfahne über graue Thurmmauern und die majestätischen Säulenbündel der offenen Gänge.

Vor zwei Fenstern im Erdgeschosse des Schlosses hingen zugezogene blaue Vorhänge; ein Fensterflügel stand offen, und das dufterfüllte Nachmittagslüftchen stieß an die schweren Seidenfalten und schob sie wie mit muthwilliger Kinderhand auf einen kurzen Moment auseinander. Dann flog stets ein feuriger Sonnenpfeil durch die blaue Dämmerung drinnen und weckte glitzernde Reflexe in dem rothgoldenen Haargespinnst, das auf der weißen Bettdecke lag. … Wochenlang hatten Leben und Tod um den dort ruhenden, jungen, tieferschöpften Frauenleib erbittert gerungen; seit gestern aber hofften die Aerzte wieder, und jetzt, in dem Augenblicke, wo das Sonnenlicht abermals wie ein zitterndes Goldstäbchen bis auf die sanftathmende Brust hineinschlüpfte, hoben sich die blonden Wimpern, und der erste verständnißvolle Blick brach aus den verschleierten Augen. Er fiel auf den Mann, der zu Füßen des Bettes saß. Das war sein Platz gewesen von der Stunde an, wo er die Bewußtlose auf ihr Schmerzenslager niedergelegt – da hatte er zum ersten Male in seinem bisher so sorgenlosen, dem Genusse hingegebenen Leben alle Stadien jener unbeschreiblichen Seelenangst durchlaufen, die uns am Krankenbette wünschen läßt, selbst zu sterben, weil jeder Nerv in uns unausgesetzt auf der Folter liegt und weil wir meinen, nach dem letzten Herzschlage dort müsse es tiefe, grausige Nacht werden für immer.

„Raoul!“ – Wer ihm gesagt hätte, als er in der Rudisdorfer Schloßkirche von diesen Lippen das „Ja“ so gleichgültig hingenommen, sie würden ihn binnen Kurzem mit einem einzigen geflüsterten Laut in einen Wonnerausch versetzen! … Er zog die schmale Hand an sich und bedeckte sie mit Küssen, dann legte er den Finger auf den Mund. Die Augen irrten mit lächelndem Ausbruche weiter – wie wurden sie weit und glänzend! Vom Tische her, den Löffel mit der Medicin sorgsam in der Hand haltend, trat die unschöne Dame mit dem brennendrothen, starren Haare, dem sommersprossenbedeckten Gesichte, an das Bett – ihre Ulrike. Noch in jener furchtbaren Nacht hatte Mainau die Schwester telegraphisch herbeigerufen; sie war seine Stütze, sein Halt geworden, das häßliche Mädchen mit dem besonnenen, willenskräftigen Kopfe und dem Herzen voll zärtlicher, aufopfernder Mutterliebe für sein junges Weib. Keine andere Hand, als die ihre, hatte Liane berühren dürfen. Er hatte damit schwere Opfer an Kraft und Hingebung auch für sich gefordert, und sie waren freudig gebracht worden.

Beide legten mit bittend gehobenen Händen der Kranken Schweigen auf; aber sie lächelte. „Wie geht es meinem Kinde?“ flüsterte sie.

„Leo ist gesund,“ sagte Mainau. „Er schreibt täglich ein halbes Dutzend zärtliche Briefe an die kranke Mama – dort liegen sie aufgestapelt.“

„Und Gabriel?“

„Er wohnt im Schlosse, hat sein Zimmer neben dem Hofmeister, der ihn unterrichtet, und wartet sehnsüchtig auf den Moment, wo er seinem schönen, muthigen Anwalte dankbar die Hand küssen darf.“

Die Augen schlossen sich wieder, und die Kranke fiel in einen tiefen Genesungsschlaf.

Acht Tage später schritt sie an Mainau’s Arme zum erste Male wieder durch ihre Gemächer. Es war der letzte Tag im September, und noch wölbte sich ein krystallblauer Sommerhimmel droben; noch taumelte selten ein angekränkeltes Blatt zur Erde. Die Kronen der hochstämmigen Rosen strotzten in unerschöpflicher Blüthenfülle, und auf den Rasenflächen lag ein jugendgrüner Flaum wie im Frühling. Die Welt draußen strahlte, als könne es nie Nacht, nie Winter werden.

Die junge Frau blieb im Salon, der Glasthür gegenüber, stehen. „Ach, Raoul, es ist doch himmlisch, zu leben, und –“

Und, Liane?“

„Und zu lieben,“ sagte sie und schmiegte sich an seine Brust. Fast in demselben Momente schauerte sie aber auch in sich zusammen [334] und horchte mit erschreckten Augen auf ein dumpfrollendes Geräusch draußen.

„Leo fährt mit seinen Ziegenböcken durch die Halle,“ beschwichtigte Mainau. „Sei unbesorgt, der Fahrstuhl, der Dich in Deinen Fieberphantasien Tag und Nacht verfolgt hat, rollt schon längst nicht mehr durch das Schönwerther Schloß.“ … Es geschah zum ersten Male, daß er der unseligen Ereignisse wieder gedachte; aber er biß sich sofort auf die Lippen. „Ich bin Dir Erklärungen, vor Allem Beruhigung schuldig, Liane, und der Arzt hat auch jede Mittheilung erlaubt; aber es ist mir noch unmöglich, darüber zu sprechen, so wenig, wie ich im Stande bin, den indischen Garten zu betreten, wo das Furchtbare geschehen ist. Ulrike, unsere weise, verständige Schwester, wird Dir im blauen Boudoir Alles sagen, was Du wissen willst und mußt.“

Nun lag sie wieder auf dem Ruhebette, und der blauatlassene Wolkenhimmel hing über ihr. … Was zwischen heute und ihrem ersten Eintreten in dieses kleine, blaue Boudoir lag, es war genug des Schlimmen für ein ganzes langes Frauenleben, und sie hatte es in wenigen Monaten durchleiden müssen. Und doch durfte kein Glied in der Kette fehlen, die zwei gleichgültig nebeneinander verharrenden Geister allmählich entzündet und schließlich so rasch zusammengeführt hatte. … Noch sah sie nicht muthig und innerlich befreit auf das Ueberwundene zurück; sie wußte ja nicht, was nach jenem Augenblicke gekommen war, wo sie zusammenbrechend den Hofmarschall in all’ seiner Impertinenz, seinem ungebrochenen Uebermuthe drohend und hohnlächelnd vor Mainau hatte stehen sehen. Dieses Bild war ihr in der Seele haften geblieben, und wie der unverwüstliche Jasminduft von Zeit zu Zeit, als schüttle ihn die Geisterhand der vorüberschwebenden, „aus Spitzen gewobenen Seele“ höhnisch aus den Atlasfalten der Wände, sie unheimlich anhauchte, so traten die furchterweckenden Gestalten vor sie hin und ließen sie nicht ruhig werden. … Ulrike saß neben ihr. Frau Löhn trat eben ein und brachte ein Körbchen voll Trauben, welche Mainau für die Damen abgeschnitten hatte. „Von dem Spalier, das dem Herrn Hofmarschall allein gehörte,“ sagte sie. „Es sind die besten Trauben im ganzen Garten; die schönsten schickte er immer der Frau Herzogin, und die anderen wurden für theueres Geld – verkauft; nicht einmal der kleine Baron Leo kriegte eine Beere.“

Mainau hatte sie offenbar instruirt; sie erwähnte – was bisher streng verboten gewesen war – so sicher die früheren Verhältnisse.

„Wann hat der alte Herr Schönwerth verlassen?“ fragte Liane unumwunden.

„Gleich am anderen Morgen, gnädige Frau. Er kam in der Nacht vom Säulengange her, und war so böse und bissig, wie ich ihn mein Lebtage nicht gesehen – na, ich wußte ja, wo ihn der Schuh drückte. Wir standen noch Alle in der Halle. ‚Na, was steht Ihr da und gafft und horcht? Und gleich die ganze Gesellschaft beieinander? Geh’ hinauf zum Herrn Hofprediger!‘ sagte er zu dem Anton; ‚ich lasse ihn dringend bitten, in mein Schlafzimmer zu kommen.‘ Der Anton stand da wie ein Geist, und alle Anderen machten sich aus dem Staube. ‚Na, was wird’s?‘ fuhr er den Burschen an, und da sagte ihm der, was geschehen war, und daß er den Herrn Hofprediger nicht holen könne, weil er auf und davon sei. Ich stand hinter der Treppe – den Anblick vergess’ ich in meinem ganzen Leben nicht. … Der Anton mußte ihn die Treppe hinaufführen. In’s Bett ist er nicht gekommen; er hat die ganze Nacht gepackt; nur ein paarmal ist er ’nübergegangen und hat die Thüre aufgemacht und in die dunkle Stube geguckt und hat gemeint, der mit dem geschorenen Kopfe müsse absolut d’rin sein. … Am andern Morgen, punkt sieben Uhr, fuhr er zum Schloßthore ’naus.“

„Er ist ein ganz erbärmliches Subject, dieser Herr Hofmarschall,“ sagte Ulrike, während Frau Löhn einen Theil der Trauben auf den Kiesplatz hinaustrug, wo Leo noch mit seinen Ziegenböcken auf- und abfuhr. Gabriel war der Insasse des Wagens. „Von seinem Enkel hat er keinen Abschied genommen; er muß ihn geradezu vergessen haben. … Er hat nach wenigen Tagen nur insofern ein Lebenszeichen gegeben, als er durch seinen Anwalt den dritten Theil von Onkel Gisbert’s Hinterlassenschaft reclamiren ließ. … Schönwerth wird verkauft werden. Mainau will diese Besitzung nie wieder betreten, wenn er sie einmal im Rücken hat. Schon ein Aufblinken des Teiches von ferne versetzt ihn in eine unbeschreibliche Aufregung. … Nach Franken geht er aber vorläufig nicht, später allerdings, denn er will seine Güter, so viel wie möglich, selbst beaufsichtigen. … Weißt Du, Herzchen wo Dir diesmal der Weihnachtsbaum brennen wird? Im weißen Saale zu Rudisdorf, auf der Stelle, wo Papa uns immer bescheerte, Mainau hat von den Gläubigern Schloß und Park auf Jahre hinaus gemiethet; dort sollst Du völlig genesen. Ich gehe vor Euch zurück, um Alles einzurichten; die neuen Möbel sind bereits bestellt. Magnus schreibt mir, die alte Lene renne wie toll vor Freude im Schlosse umher, und juble, daß die schöne, ‚vornehme‘ Zeit wiederkomme. … Mama werden wir freilich nicht in unserer Mitte haben. Sie ist ebenso glücklich wie Lene, aber darüber, daß ihr Mainau die Wahl gelassen hat zwischen Rudisdorf und einem andauernden Aufenthalte in Dresden, den er bestreiten will. Selbstverständlich ist sie nicht einen Augenblick im Zweifel gewesen und wird nur noch so lange in Rudisdorf verbleiben, um Dich und Deinen Mann anständiger Weise zu begrüßen, dann geht endlich, wie sie mir schreibt, ein Strahl der Lebenssonne für eine einsame, unverdient leidende Frau auf – das sind eben Ansichtssachen, Kind. … Frau Löhn geht mit uns. Mainau will sie stets in Deiner Nähe wissen, weil sie so goldtreu ist. Er möchte sie auch noch nicht von Gabriel trennen, der noch einige Zeit den vortrefflichen Unterricht des Hofmeisters genießen, dann aber als junger Herr von Mainau behufs seiner künstlerischen Ausbildung nach Düsseldorf gehen soll. Dein Retter aber, der Jäger Dammer, ist wohlbestallter Förster in Wolkershausen geworden und wird schon in zwei Monaten seine kleine, tapfere Försterin heimführen. … Das wäre so ziemlich Alles, was ich Dir auf Wunsch Deines Herrn und Gemahls mitzutheilen habe; er schmeichelt sich, es sei Alles auf diese Weise nach Deinem Sinne eingerichtet. … Sieh, liebes Herz, ich gehöre nicht zu den überschwänglichen Seelen, aber mir ist es stets, als müsse ich eine Dankeshymne anstimmen, wenn ich sehe, wie mein Liebling geliebt wird. Und was meinst Du denn dazu, daß ich, Ulrike, Gräfin von Trachenberg, in eigener Person das große Wirthschaftsgebäude in Rudisdorf von den Gläubigern gemiethet habe, um eine ausgedehnte Blumenfabrik zu errichten? Mainau billigt meinen Entschluß vollkommen; er giebt mir – selbstverständlich leihweise – das Einrichtungscapital und hofft zuversichtlich mit mir, daß es mir glücken wird, durch Thätigkeit und Arbeit allmählich etwas von Dem wieder frei zu machen, was Uebermuth und Verschwendung in die Haft der Sequestration gebracht haben. Gott gebe mir Kraft dazu!“

Sie schwieg, während die junge Frau, die verschränkten Hände auf die Brust gedrückt, mit geschlossenen Augen und einem entzückten Lächeln da lag, kaum athmend, als könne ein einziger Hauch alle diese lieblichen Gebilde der Zukunft verwehen; nur ein dunkler Schatten flog darüber hin. „Der Schwarze, Ulrike!“ fuhr sie empor.

„Er ist spurlos verschwunden,“ versetzte die Schwester. „Man glaubt allgemein, daß er sich unter klösterlichen Schutz geflüchtet hat. Er kann Dir nichts mehr anhaben; sei ruhig! In die Oeffentlichkeit darf er sich nie wieder wagen; der Vorfall macht ein derartiges Aufsehen, und die gesammte protestantische Bevölkerung ist so aufgebracht, daß selbst seine Beschützerin, die Herzogin, es für nöthig gefunden hat, sich für längere Zeit nach Meran ‚zur Heilung ihrer angegriffenen Brust‘ zurückzuziehen –“

Mainau trat ein. Die beiden Knaben folgten ihm.

„Raoul, wie soll ich Dir danken?“ rief die junge Frau.

Er lachte und setzte sich neben sie. „Du mir danken? Lächerlich! Ich habe mir als rechtschaffener, unverbesserlicher Egoist Alles wohlüberlegt zu einer glücklichen Zukunft eingefädelt; daß es aber auch so himmlisch schön wird, wie ich mir träume, das liegt allein in den Händen meiner – zweiten Frau.




[335]

Besuch der Pathin.
Originalzeichnung von L. Tannert in Düsseldorf.

[336]
Lustgang um und in die „Fränkische Krone“.


Ein Heimathbild, von Friedrich Hofmann.


(Schluß.)


Ein Stück deutscher Geschichte. – Heiteres und frommes Mittelalter! – Reformation und Mutterwürde. – Dreißigjähriger Krieg. – Tausendthaler-Gewehre und Hundertthaler-Apostelkrüge. – Hofer’s Stutzen und sein Hildburghäuser Mißgeschick. – Hinterlader, gezogene Kanonen und Revolver alter Zeit. – Die Ludwigskanone. – Ein Unicum der Holz-Mosaik. – Kupferstichsammlung. – Die Dürer und der jüngste Schatz. Lutherkirchlein. – In der alten Laube. – Schluß der Festung und des Artikels.


Wir stiegen nun auf der Treppe im Vorsaale zum obern Geschoß des alten Fürstenbaues. Hier bat ich Rothbart mir für die Räume zur Linken die Richtung der Führung zu überlassen. „Wir wollen ein Stück deutscher Geschichte durchwandern,“ sagte ich und ermahnte meine Freunde, von dieser bis zur nächsten Thür sich weder links noch rechts umzusehen, um sich den beabsichtigten Eindruck nicht zu verderben. Nachdem sie so einen Raum von der halben Länge des großen Waffensaales durchwandelt und die nächste Thür hinter sich geschlossen hatten, erkannten sie, daß sie sich plötzlich im schönsten Mittelalter befanden. Die schöne Kunst spielte damals noch gern, und darum hat sie die Decke dieses langen geräumigen Zimmers, das einst als Trinkstube gedient hat, mit etwa vierhundert Holz-Rosen geschmückt, von denen nicht zwei sich gleichen. Hoch an den Wänden wandeln, al Fresco, die Ahnen der Wettiner bis zum Ende des Mittelalters, stets Paar und Paar. Auf den Seiten der Fensternischen Bilder des häuslichen Ritterlebens und an dem bunten Kachelofen Bilder zum Theil recht derben Inhalts aus dem damaligen Volksleben. In der Mitte ein langer Tisch mit Aufsatz für eine ausgezeichnete Trinkgläsersammlung, über deren Seltenheiten die Reisebücher hinlänglich belehren.

„Nun laßt uns aus dem weltlich heiteren in das christlich fromme Mittelalter gehen!“ – und die nächste Thür führte uns in das „Marienzimmer“. Man sollte es, rascher bezeichnend, „Madonnenzimmer“ nennen. Hier ist aufbewahrt, was aus den ehemaligen Klöstern des Landes (namentlich Mönchröden) an Kunstwerken gerettet wurde. Der Hauptschmuck dieses Raumes von heiliger Dämmerung sind eine Statue der Madonna von dem tapferen Bildhauer und Bürgermeister Riemenschneider in Würzburg, dem Meister der Kaisersarkophage im Dom zu Bamberg, und neun Reliefdarstellungen aus dem Leben der Maria, nach Zeichnungen des Israel von Meken in Holz gearbeitet. Aber noch ehe wir uns durch die stille Beschauung der schönen Madonnen in die Hindämmerung zur Glaubensseligkeit jener Tage verlieren, rüttelt uns ein ahnungsvolles Donnern auf, das von Sachsen und von der Schweiz dahertönt –

Es wächst zum mächtigen Chor an und faßt mit Gewalt im Nu
Des Mittelalters Thor an und schmettert es auf ewig zu!

Die Reformation that’s! Nun öffn’ ich Euch die Thür:
Da treten aus lichtem Golde die muthigen Geister herfür. –

Sie sind hierher beschworen von Künstlers Zauberhand,
All’ die Reformatoren, wie einst ihr Kreis um Luther stand.

Bei Luthern auch von Bora sein Käthchen lobesam,
Die vom Gesang der Hora zu Wiegenliedern kam,
Die sie gleich fromm gesungen zu Gottes Freud’ und Ehr’:
Denn über die Mutterwürde geht Ihm auf dieser Welt nichts mehr.

So stehen wir im goldstrahlenden Triumphraume der Reformation. Aber was wird nun kommen? Wohin wird unser nächster Schritt durch die verhängnißvolle Thür uns führen? Oeffnet und tretet ein: Ihr seid mitten im Dreißigjährigen Krieg!

Da stehen sie, lebensgroß an der Wand, im alten Trotz sich gegenüber: da Kaiser Ferdinand und dort der Schwedenkönig Gustav Adolf, da Wallenstein und dort der Herzog Bernhard von Weimar, da der finstere Tilly und dort der Fürst des Landes in dieser großen Noth, der Herzog Johann Casimir von Coburg. Wer fühlt hier nicht den eisigen und doch erhebenden Hauch der Geschichte, des ungeheuren deutschen Schicksals! – Seid Ihr mit meiner Führung zufrieden?

Sie waren’s, und Alle bedauerten nur, daß dieser Saal nicht einzig dem Andenken an jenen Krieg gewidmet werden könne; derselbe hat noch die zweite Bestimmung eines Gewehrsaales. Hier, wie im Waffensaal hat der Castellan Merkel sich um die Reinigung und decorative Aufstellung der Waffen aller Art große Verdienste erworben. Man findet hier vom ersten wirklichen und wahrhaftigen „Schießprügel“, dem Urahn aller Handfeuerwaffen, an durch alle Verbesserungen des Gewehrschlosses guterhaltene und zum Theil außerordentlich kostbare Exemplare bis zu den neuesten und feinsten Erfindungen. Aeußerlich geschieden sind die etwa 700 Stück der Sammlung in Kriegs-, Luxus- und Jagdgewehre, unter den ersteren auch schwedische Musketen, die auf den Schlachtfeldern von Lützen und Breitenfeld, viele noch mit der Ladung, aufgefunden worden sind.

„Wie viel mag ein solches Stück werth sein?“ fragte ich, auf ein auffallend schönes Gewehr zeigend.

Rothbart lachte und sagte: „Sie haben gut gewählt. Dieses Cabinetsstück in Construction und künstlerischer Ausschmückung wird von Kennern jetzt sehr gern mit zwei- bis dreitausend Thalern bezahlt.“

Selbst bei allen Anderen rief diese Angabe ein staunendes „Was?“ hervor. Rothbart schritt ruhig zu dem mit den verschiedenartigsten Trinkgefäßen reich beladenen Büffet und ergriff einen der in langer Reihe dort aufgestellten Apostelkrüge. „Wie hoch schätzen Sie diesen?“ fragte er.

Niemand wagte zu antworten. Da zeigte er das schöne und seltene Exemplar näher und sagte: „Die Sammlungen gratuliren sich, wenn sie jetzt ein solches Stück für hundert bis hundertfünfzig Thaler erhalten können.“

Welch ein wunderliches Wesen der Mensch ist! Gestanden doch Viele, daß es wie ein neuer Respect vor diesen Sammlungen in sie gefahren sei, seitdem sie auch bedenken müßten, welcher Baarwerth hier aufgehäuft liege.

„Aber wo ist denn Hofer’s Stutzen?“ fragte plötzlich Einer, in seinem „Thüringer Wegweiser“ blätternd. „Da lese ich, daß es das interessanteste Stück dieser Sammlung sei, wenn nicht Zweifel an seiner Echtheit erlaubt wären.“ – „Dieser Stutzen war hier,“ erklärte Rothbart, „Herzog Ernst hat ihn jedoch dem Lande Tirol zurückgegeben; er befindet sich jetzt im städtischen Museum zu Innsbruck.“ – „Und was die Echtheit betrifft,“ fügte ich hinzu, „so kann ich darüber einen Aufschluß geben, der früher aus besonderen Rücksichten verschwiegen bleiben mußte und überhaupt wohl nur Wenigen bekannt geworden ist. Der Stutzen war echt. Kaiser Napoleon, in dessen Besitz er zuerst nach Hofer’s Gefangennehmung gekommen war, hatte ihn dem Könige Maximilian von Baiern zum Geschenke gemacht. Dieser verehrte ihn dem Schwiegervater seines Sohnes, des Kronprinzen Ludwig, dem Herzog Friedrich von Hildburghausen, einem leidenschaftlichen Waidmann. Als im Jahre 1826 die drei fürstlichen Erben des ausgestorbenen Hauses Gotha über die Erbtheilung im Residenzschlosse zu Hildburghausen verhandelten, sah Herzog Ernst der Erste von Coburg den Stutzen mit so sprechenden Blicken an, daß er ihn zum Geschenk erhielt. So kam er in die Coburger Gewehrkammer, die damals im Zeughause in Coburg unter der Aufsicht des alten Hofjägers Koch stand, der mütterlicherseits uns nahe verwandt war. Einstmals erbot sich der ‚Vetter Hofjäger‘, meinen Eltern die Gewehrsammlung zu zeigen; ich, als ihr ‚Größter‘, durfte mit. Als bei den Jagdgewehren auch ‚Andreas Hofer’s Stutzen‘ an die Reihe kam, fragte mein Vater, der aus einer Jägerfamilie stammte, ein wenig ungläubig: ‚Sollte der Tirol gesehen haben?‘ – ‚Freilich!‘ erwiderte der Vetter Hofjäger. ‚Aber wenn großen Herren ein Streich passirt, so müssen wir Kleinen das Maul halten, sonst geht’s an Dienst und Brod. Dir will ich’s sagen, Vetter; aber es bleibt unter uns. Siehst Du, da steht Dir einmal der alt (Herzog) Friedrich mit ein paar von seinen Cavalieren zufällig vor dem Stutzen und meint so: ‚Das gäb’ eine gute Bürschbüchse, aber der Schaft ist mir gar zu unbequem.‘ Und was geschieht? Schicken Die den Stutzen zum Büchsenmacher und lassen einen neuen Schaft hinanmachen! Da hast Du das Ding, und nun ist nichts mehr echt dran als das Schloß und der Lauf. Unser Herzog hat mich wohl zehnmal nach Hildburghausen um den alten Schaft geschickt; ich habe bei [337] allen Bedienten und Büchsenmachern danach gesucht, aber er war nimmer zu finden.‘ Das ist die wahre Geschichte von Hofer’s Stutzen.“

Nachdem Rothbart noch auf den dem Büffet gegenüber aufgestellten Schrank, ein Prachtwerk der Renaissance in Zeichnung und Ausführung, aufmerksam gemacht, folgten wir ihm quer über den Vorplatz in ein Zimmer voll größerer Schießwaffen. „Hier,“ sagte er, auf zwei Falconets auf Rädern zeigend, „sind unsere ältesten Hinterlader-Kanonen. Die eine trägt die Jahrzahl ‚1504‘. Noch älter und wohl der älteste Hinterlader der Art, welcher bis jetzt aufgefunden wurde, ist dieser ‚Gaisfuß‘ (ein Handfeuergewehr) mit Luntenschloß aus dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Er erinnert in der Idee ganz an das Zündnadelgewehr: die Patrone, eine eiserne Hülse mit angelötheter Zündpfanne, wird von hinten in den Lauf gesteckt und dieser dann ähnlich wie das Zündnadelgewehr geschlossen.“ Bei den zahlreich an den Wänden lehnenden alten Wallbüchsen erzählte Rothbart, daß er im Jahre 1851 in einem auf der Themse liegenden chinesischen Schiff Gewehre gesehen habe, die, zwar kleineren Calibers, aber mit Luntenschloß, diesen Wallbüchsen auf’s Haar glichen. „Man kam wirklich in Versuchung zu glauben, daß das Schiff aus den alten Vorräthen eines deutschen Zeughauses armirt worden sei.“ Wie der Hinterlader, ist auch die gezogene Kanone schon dagewesen. Man hat die Angabe alter Festungsbewohner, daß die Veste im Besitze einer solchen gewesen, die leider in schlimmster Zeit mit vielem andern Geschütz verschleudert worden sei, belächelt, bis endlich der Beweis für diese Behauptung gefunden wurde: eine sechspfündige Kanonenkugel, welche unterhalb der Veste in einer alten Eiche, und zwar auf der Seite nach der Festung hin, stak, also von dieser aus geschossen worden war. Diese Kugel, innen von Eisen, ist etwa einen Finger dick mit Blei umhüllt, ganz so wie in Preußen die ersten derartigen Projectile construirt waren, und in der Bleiumhüllung sind auf der einen Seite die Züge deutlich eingedrückt. Neuerdings sind auch einige sehr alte Spreng-Wurfgeschosse und sogar ältere Revolver, Gewehre, in welche mehrere Schüsse aufeinander geladen und nacheinander abgefeuert werden können, ein neuer Schmuck dieser geschichtlich gewiß höchst werthvollen Sammlung geworden.

Die Gesellschaft wollte das Zimmer verlassen, ohne ein kleines, freilich unansehnliches Stück, das mir aber an’s Herz gewachsen ist, nur eines Blickes gewürdigt zu haben. „Halt!“ rief ich. „Da Ihr den Geldwerth so hoch schätzt, so sagt mir, was wohl diese kleine Kanone da gekostet hat.“ Rothbart lachte; er verstand mich. Die Andern lachten auch und meinten: „Dieses Böllerchen wird wohl für ein paar Thaler zu haben sein.“ – „Respect, meine Herren!“ rief ich da, „für diese Kanone hat Herzog Ernst zehntausend Gulden bezahlt.“ – „Unmöglich!“ – „Und doch wahr, seht sie Euch recht genau an! Das ist die Kanone, welche Wilhelm Bauer mit dem Dampfschiffe ‚Ludwig‘ aus dem Bodensee gehoben hat. Diese kühne Schiffhebung, welche man damals, im patriotischen Festjahre 1863, als einen deutschen Triumph pries, wäre unmöglich gewesen, wenn nicht der Herzog unserm Bauer in dessen tiefster Noth durch jene Summe zur Erreichung seines Zieles geholfen hätte. Also, Achtung vor dem ‚Böllerchen‘! Es gereicht jedenfalls der Veste und dem Herzoge stets zur Ehre.“ Jetzt war’s freilich etwas Anderes. Alle drängten nach dem kleinen Stücke hin, beguckten es wie eine Merkwürdigkeit ersten Ranges und nahmen schließlich fast zärtlichen Abschied von der kleinen „Ludwigskanone“.

Von da führte Rothbart uns zu dem sogenannten Hornzimmer (das „Jagdzimmer“ unserer Illustration). Sämmtliche Wände desselben sind mit den seltensten Schnitzarbeiten ausgeschmückt, einer kunstvollen Holzmosaik, welche die großartigen Jagden des Herzogs Johann Casimir darstellt, und ebenso ist die Decke mit solcher eingelegten Arbeit bekleidet, Alles im reinsten Renaissance-Styl. Rothbart sagte: „Man darf mit Fug und Recht auch dieses ein Unicum nennen. Ich kenne nichts Reicheres und Besseres in diesem Genre.“ Die Zeichnungen dazu sind von Wolf Pirkner, dem Hofmaler des Herzogs. Nach den noch vorhandenen Rechnungen betrug der Kostenaufwand dafür zwanzigtausend Gulden, eine Summe, die jetzt mindestens den dreifachen Werth haben würde.

Wir rüsteten uns nun zum Besuche der letzten der großen Sammlungen der Veste, der Kupferstichsammlung, indem wir im Voraus – der Abend nahte heran – auf die Beschauung der Münz- und Autographensammlung verzichteten, wie sehr wir auch dies bedauerten, denn auch diese Sammlungen zeichnen sich, wie wir bei allen anderen gesehen haben, durch mit besonderem Glücke erworbene Glanzstücke aus.

Ueber die für Künstler und Gelehrte (Kunsthistoriker, Alterthumsforscher etc.) ohne Zweifel hochwichtige Kupferstichsammlung, eine der bedeutendsten in Deutschland, gab Rothbart uns eine sehr dankenswerthe Belehrung. Nachdem er uns erst durch die drei Säle geführt hatte, von denen einer den Deutschen allein gewidmet ist, der zweite die Niederländer und Franzosen, der dritte die Italiener, Engländer etc. enthält und in welchen diese Kunstschätze in Eichenholzschränken aufbewahrt sind, benutzte er die Verwunderungsfrage eines unserer Künstler, „wie es möglich gewesen sei, daß ein so kleiner Hof so große Kunstreichthümer habe erwerben können,“ zu folgender Auseinandersetzung.

„Die herzogliche Kupferstichsammlung ist gesammelt von dem Großvater des jetzigen Landesherrn, dem Herzog Franz (starb 1806) in der Zeit, in welcher es im lieben deutschen Vaterlande nur Wenige gab, die auf solche Dinge besonderen Werth legten, und wo leider und besonders in unseren alten Reichsstädten, wie in Nürnberg etc. diese Schätze um ein elendes Stückchen Geld an Juden und sonstige Zwischenhändler im wahren Sinne des Wortes verschleudert wurden. Zum großen Theil sind sie in’s Ausland gewandert, denn der heimische Markt hatte keinen Begehr danach. Aus diesem Grunde ist Ihnen nun erklärlich, wie der in seinen Mitteln so sehr beschränkte Herzog Franz im Stande war, eine so werthvolle, zwischen zweihundert- bis zweihundertfünfzigtausend Nummern enthaltende Sammlung Kupferstiche, Holzschnitte und Handzeichnungen zusammenzubringen. Seine Hauptbezugsquelle waren Nürnberg, die alten Patricierhäuser und sein Vermittler dort Frauenholz.

Die Sammlung ist vor zwölf Jahren auf Befehl des Herzogs Ernst des Zweiten hierher auf die Veste gebracht und chronologisch und nach Schulen geordnet aufgestellt. Die Kataloge sind soweit vorgeschritten, daß auf Verlangen jeder Meister sofort vorgelegt werden kann, und Kenner und Liebhaber haben jeden Tag Zutritt zu der Sammlung, können auch auf Wunsch dieselbe zu Studien etc. benutzen. Wegen der dazu nöthigen Erlaubniß wendet man sich an mich.

Am reichhaltigsten vertreten ist die deutsche Schule; sie umfaßt etwa siebenzigtausend Blätter und beginnt mit den Blättern des Meisters E. S. – um 1460. Aber auch die übrigen Schulen, besonders die italienische und französische, sind, wenn auch nicht so zahlreich, so doch in ihren besten Meistern und in guten Abdrücken vertreten. Als besonders bemerkenswerth sind zu bezeichnen Originalkupferplatten von Marco Antonio Reymondi, Agostina Veneziano und J. E. Ridinger.

Für uns Deutsche ist offenbar hier der liebste und werthvollste Schatz bewahrt. Hier ist der fast vollständige Albrecht Dürer! In durchgängig sehr guten, zum Theil vortrefflichen Abdrücken besitzt unsere Sammlung seine derartigen Werke vollständig bis auf etwa zehn Holzschnitte und folgende sechs Kupferstiche: ‚Die Dreieinigkeit‘, ‚Sanct Hieronymus‘, ‚Veronica‘, ‚Das Urtheil des Paris‘, ‚Der große Courier‘ und ‚Joachim Patenier‘. Im Ganzen enthält die Dürer-Sammlung einhundertsiebenzehn Blätter Kupferstiche, vierhundertsiebenzig Blätter Holzschnitte, darunter ‚Die Eule‘ als ein Unicum, und eine Anzahl Handzeichnungen, unter letzteren eine Armstudie zu einem Christus am Kreuze und das Brustbild einer Nürnbergerin, beide in Kohle gezeichnet und in natürlicher Größe.“

Nicht blos unsere Künstler, auch wir Laien betrachteten mit patriotischer Erhebung diesen deutschen Kunstschatz; trotzalledem konnte Einer die Frage nicht unterdrücken: „Wie hoch möchte sich wohl der Geldwerth dieser großen Kupferstichsammlung belaufen?“

„Darauf,“ antwortete Rothbart, „muß ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Nur Das kann ich Ihnen sagen, daß diese unsere Dürer allein jetzt nicht unter vierzigtausend Thaler erworben, bei einer Auction aber leicht auf sechszigtausend Thaler gesteigert werden könnten.“

Zum Schlusse zeigte uns Rothbart die letzte Erwerbung [338] dieser Sammlung, ein Geschenk des sächsichen Generalconsuls Gerson in Frankfurt am Main, bestehend in zweihundertundzwölf Handzeichnungen, die in Rom zwischen 1550 und 1555, also zu einer Zeit, wo die antiquarischen Studien dort einen höchst bemerkenswerthen Aufschwung nahmen, entstanden sind und unschätzbaren Werth für die classische Alterthumskunde dadurch erhalten, daß ein nicht geringer Theil der hier dargestellten Monumente seitdem vollständig verschollen ist. Auch von den noch existirenden sind, wie uns diese Zeichnungen belehren, nur sehr wenig noch in demselben Zustande, in dem sie das sechszehnte Jahrhundert kannte. Es wird daraus klar erkennbar, wie unglaublich diese Denkmäler unter den Restaurationen des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gelitten haben. Eine ausführliche Beschreibung derselben gab Dr. Matz in Göttingen in einem Monatsberichte der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, die deren Werth so hoch stellt, daß sie eine Vervielfältigung dieser Blätter auf ihre Kosten angeordnet hat.

Wir gingen nur noch durch die Räume der Münz- und Autographensammlung, um wenigstens ein Bild ihrer äußeren Anordnung mitzunehmen. Im Vorbeigehen traten wir in den ehemaligen Fürstenstand der Luther-Capelle ein. Das ist der Raum, den in den verhängnißvollsten Tagen seines Glaubenskampfes so oft Luther’s Stimme erfüllt hat. Wie klein und schmucklos ist dieses Kirchlein! Und doch spricht aus ihm gerade in diesem Augenblick, wo der vor vierthalbhundert Jahren begonnene Kampf von Neuem und am erbittertsten in Deutschland tobt, sein Geist mahnend und stärkend zu unseren Herzen.

Und nun hinaus in’s Freie! Welchen Gang durch die deutsche Geschichte hatten wir auf unserer dreistündigen Wanderung vollbracht! Es war ein Uebermaß von Eindrücken, das uns nicht sogleich zum Genusse der Naturschönheit kommen ließ, die hier von allen Himmelsgegenden aus der Nähe und Ferne uns winkt. Nach kurzer Rast und Erquickung machten wir rasch noch einen Gang um den Wall, um einige beachtenswerthe alte Geschütze der Bärenbastei zu besehen und uns des Rundblicks ins Land zu erfreuen. Letzterer ist oft geschildert und bedarf hier meines Lobes nicht mehr.

Auf der hohen Bastei hatte Barth uns das schönste Plätzchen bewahrt, eine uralte Laube hart vor dem Wirthshause mit dem freien Blicke nach Süden und Osten. Wir erreichten sie noch im rechten Augenblick. Die letzten Strahlen der scheidenden Sonne beleuchteten die Thürme von Banz, die Kirchenfenster von Vierzehnheiligen, die Capelle des Staffelberges und die fernen Berghäupter des Fichtelgebirgs und des näheren Franken-Jura; auf den anmuthigen Itzgrund sank schon die Dämmerung hinab. Auf der Bastei und auf den Terrassen herrschte überall munteres Leben; für uns aber hatte der Tag so reichen Stoff aufgesponnen, daß der Faden der Unterhaltung kein Ende genommen hätte, wenn nicht, wie Alles in der Welt, auch eine Festung endlich geschlossen würde.

Als wir am äußern Burgthor den in der Veste wohnenden Freunden den letzten Handdruck gereicht und im Freien waren, gingen wir, weil wir vom Berg noch nicht lassen konnten, noch einmal um den äußern, parkartigen Wall, und Alle stimmten mir zu, als ich, an meine alte Dichtung von der Veste erinnernd und auf das Land hinabzeigend, sprach: „Ja, es ist und bleibt herrlich, hier

Zu wandeln rings um die Bastei’n,
Zu weilen in den Mauerscharten
Im Hauch der Nacht, im Sternenschein
Umblüht von diesem Wundergarten!“




Pariser Bilder und Geschichten.


Blumen


Von Ludwig Kalisch.


Von Blumen sollte man eigentlich nur in gebundener Rede sprechen; allein unsere Zeit liebt die Verse nicht mehr. Sie betrachtet Alles von dem nationalökonomischen Standpunkte und man beweist ihr nicht leicht eine Wahrheit, wenn man sie nicht in Prosa und durch Zahlen beweist. So will ich denn diese Skizze mit der statistischen Bemerkung einleiten, daß Paris vier große Blumenmärkte besitzt, von denen einer auf dem Quai aux fleurs, am Hôtel Dieu, der zweite auf dem Platze St. Sulpice, vor der Kirche gleichen Namens, der dritte am Chateau d’Eau zwischen dem Boulevard St. Martin und dem Boulevard du Temple und endlich der vierte sich dicht an der Madeleine befindet. Zweimal in der Woche und je an verschiedenen Tagen bieten diese Märkte ihre reizenden Waaren feil, so daß Paris jeden Tag seinen großen Blumenmarkt hat.

Man hat die Behauptung aufgestellt, daß der Culturzustand eines Volkes sich am sichersten nach der Quantität Seife bemessen lasse, die dasselbe verbraucht, und es giebt vielleicht Nationalökonomen, die genau berechnet haben, wie viel Portion Cultur aus einen Centner Windsor- oder Mandelseife kommt. Was aber beweist die Pflege der Blumen für die Civilisation eines Volkes oder einer Stadtbevölkerung? Kann man von der Vorliebe für Harlemer Zwiebeln auf den sittlichen Zustand, auf den Geschmack, auf das poetische Gefühl einer städtischen Bevölkerung schließen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß die Stadt Paris jährlich viele Millionen Franken für Blumen ausgiebt und daß hier die Blumenzucht sich immer mehr ausbreitet und mit einer wahren Leidenschaft betrieben wird.

Die eingefleischten Pariser, die niemals in das Weichbild der Riesenstadt kommen, die während der schönen Jahreszeit nicht viel mehr als die kränkelnden Bäume auf den Boulevards und im Winter gar nichts grünen sehen, würden am Ende ganz vergessen, daß außerhalb des Festungsgürtels, wo kein Asphalt und Macadam die Mutter Erde deckt, die Natur allerlei Knospen und Blüthen treibt, wenn sie nicht durch ein schüchternes Pflänzchen, das in einem Topfe vor ihrem Fenster vegetirt, daran erinnert würden. Man steht in Paris selten ein Empfangszimmer, in welchem nicht einige Zierpflanzen prangten oder zu prangen sich bemühten. Diejenigen Pariser aber, die über alles Irdische am meisten erhaben sind, die nämlich im fünften, sechsten oder gar im siebenten Stockwerke wohnen, lieben es besonders, ihre Fenster und Fensterchen mit Pflanzen zu verzieren. Befindet sich, wie dies häufig der Fall ist, vor ihrer Wohnung eine Altane, so verwandeln sie diese in ein hängendes Gärtchen; und wenn sie sich aus dem Zimmer auf dasselbe begeben, glauben sie auf’s Land zu gehen. Die Pariser sind auf diese Taschenausgabe der hängenden Gärten nicht weniger stolz, als Semiramis auf die ihrigen war. Keine Classe der Pariser Bevölkerung liebt indessen die Blumen so sehr wie die Grisetten. Man findet selten ein Pariser Nähmädchen, dessen Kammerfensterchen nicht mit einer Zierpflanze geschmückt wäre. Eine Grisette pflegt jeden Morgen ihre Blumen, wie eine Mutter ihre Kleinen pflegt. Sie denkt an die Toilette ihrer Fuchsias früher als an ihre eigene. Sie wäscht und säubert ihnen die staubigen Blätter; sie giebt ihnen zu trinken. Sie freut sich, wenn sie gedeihen; sie ist traurig, wenn sie dieselben verkommen sieht, und trennt sich von dem sauer ersparten Frankenstück, um sie durch neue zu ersetzen. Der Blumenmarkt auf dem Quai aux fleurs im lateinischen Viertel zählt die Grisetten zu den treuesten Kunden, und es ist bekannt, daß in schweren Zeiten, wenn die Arbeit stockt, dieser Markt es sogleich und auf’s Empfindlichste spürt.

Außer den erwähnten Blumenmärkten giebt es auch viele Läden, wo zu jeder Jahreszeit die prachtvollsten Blumen vorhanden sind. Man findet dort einen beständigen Vorrath an exotischen Blüthen, die sehr theuer bezahlt werden. In diesen Läden werden auch die großen kunstvollen Sträuße verkauft, von denen ein einziger hundert, ja zweihundert Franken und darüber kostet. Der Umsatz eines solchen Blumengeschäfts ist oft sehr bedeutend, zumal im Winter und während der Faschingszeit. Man braucht in Paris nicht um Blumen, Sträuße und Kränze in Verlegenheit zu sein. Wer von den Trillern einer Prima Donna oder von den Sprüngen einer Tänzerin begeistert ist und ihr ein kostbares Bouquet vor die Füße werfen will, findet in der nächsten Nachbarschaft der Theater eine reiche Auswahl. Es giebt in diesen Blumenläden stets mehr Lorbeerkränze [339] als Leute, die dieselben verdienen, und mehr vorräthige Myrthenkränze als vorräthige Bräute. In Paris wartet die Waare immer auf den Käufer, und wem Fortuna die Taschen gefüllt, braucht sich kaum einen Wunsch zu versagen, der durch Geld befriedigt werden kann. Der Reiche ist nirgendwo reicher als in Paris, vielleicht aber auch der Arme nirgendwo ärmer. Ein gähnender Abgrund, ja, die gähnenden Pforten der Hölle sind nicht so fürchterlich, so schrecklich, so entsetzlich wie ein gähnender Geldbeutel in Paris.

Es giebt in Paris auch viele Mädchen, die auf den Straßen Blumen feilbieten; doch befinden sich unter ihnen wenige Lilien, unter diesen Mädchen nämlich. Sie bieten, wie auch wohl in Deutschland, ihre Waare gewöhnlich den Herren an, die eine Dame am Arme führen, und sind in der Regel höchst unschüchtern. Auch giebt es ältere Frauen, die in Körben und auf Kippkarren allerlei billige Blumen feilbieten. Wie manche dieser Matronen hat nicht früher die Huldigungen der Löwen des Tages empfangen! Wie manche von ihnen ist nicht täglich von allen Seiten mit den duftigsten und prächtigsten Sträußen überhäuft worden! Aber sie hat den Fehler begangen, alt zu werden, und diesen Fehler verzeiht man in Paris am allerwenigsten. Die Waare, die sie verkauft, erinnert sie beständig daran, welch kurzes Dasein den Blüthen beschert ist.

Ich muß bei dieser Gelegenheit von einem Blumenmädchen sprechen, deren Name sich in gewissen Kreisen einer großen Popularität erfreut. Es ist dies Isabelle, die ausschließlich im Dienste des Jockeyclubs steht und in diesem höchst einträglichen Dienste ihre Zukunft nicht vergißt. Isabelle begleitet seit Jahren jedes Wettrennen mit den holden Kindern der Flora. Sie reicht den Zuschauern und Zuschauerinnen der vornehmen Welt ihre schönen duftigen Sträuße und bewahrt den schönsten und duftigsten für den Sieger, der sich durch ein ansehnliches Geldgeschenk mit ihr abfindet. Am Derby-Tage aber, an dem großen Wettrennen in Chantilly, erhält sie von dem Sieger nicht nur ein höchst erkleckliches Geldgeschenk, sondern auch einen neuen vollständigen Anzug und zwar in den Farben des Siegenden. Diesen Anzug trägt sie dann bei allen Pferderennen bis zum nächsten Derby-Tage, wo sie von einem andern Sieger auf dieselbe Weise wie von dessen Vorgänger belohnt wird. Unter dem zweiten Empire überreichte Isabelle bei den großen Rennen ihre Sträuße dem Kaiser, der Kaiserin und dem glänzenden Gefolge, sowie dem diplomatischen Corps in der kaiserlichen Loge. Ein solcher Renntag war für die Blumenspenderin ein sehr reicher Erntetag. Durch den Sturz des Kaiserreichs haben sich ihre Einkünfte zwar vermindert, indessen sind dieselben noch immer bedeutend genug. Selbst wenn die Saison der Rennen vorüber ist, während der rauhen Jahreszeit, hat sie dennoch ihre täglichen Einnahmen. Sie hält sich beständig im Gebäude des Jockeyclubs auf, bietet den Mitgliedern desselben einen kleinen Strauß oder eine Knospe dar und streicht behaglich die Gratification ein. Isabelle hat bereits das Schwabenalter erreicht oder gar zurückgelegt. Sie war, wie gesagt, auf ihre Zukunft bedacht und könnte sehr bequem von ihren Renten leben. Schon vor mehreren Jahren hat ihr Vermögen einige Frevler verleitet, während der Nacht sie in ihrer Wohnung zu überfallen, um sich ihrer Ersparnisse zu bemächtigen. Isabelle hat sich aber so tapfer gewehrt, daß es ihr gelang, die Uebelthäter den Händen der Justiz zu überliefern. Dieser Muth hat ihre Popularität noch vermehrt, welche sie mit Intelligenz ausbeutet.

Woher kommen aber die Blumen, deren die Weltstadt so viele verbraucht? Sie kommen aus der Umgegend von Paris, wo man ihnen nicht nur im Allgemeinen eine ganz besondere Pflege widmet, sondern auch gewisse Gattungen mit außerordentlicher Sorgfalt hegt. So werden in Brie-Comte-Robert fast ausschließlich Rosen gezogen, und man sieht dort wie in Persien ganze Rosenfelder. Andere Ortschaften wenden den Camelien, wiederum andere den Dahlien ihre Pflege zu. Diese Blumen werden jeden Morgen nach den Pariser Centralhallen gebracht, wo sie in dem „Pavillon des Fleurs“ von den Detailhändlern gekauft werden. Die Prachtexemplare sind sehr theuer. Eine schöne Rose kostet zwei Franken, eine Camelie drei Franken, natürlich während der rauhen Jahreszeit; denn sobald der Frühling kommt und überall Blüthen und Blumen hervorzaubert, sinken dieselben sehr im Preise, und die Pariser Blumenläden machen dann nur wenig oder gar keine Geschäfte mehr.

Es versteht sich von selbst, daß die geringere Classe der Bevölkerung nicht im Stande ist, ihrer Blumenliebe große Geldopfer zu bringen. Sie begnügt sich daher mit einigen Veilchen. Die Veilchen werden in Paris bis in den Winter hinein und schon vor dem Beginne des Frühlings feilgeboten. Das Veilchen ist die Lieblingsblume der Pariser Arbeiterclasse.

Die Blumen spielen auch in der Politik eine Rolle; und wenn einst in England die rothe und die weiße Rose, Lancaster und York, in einen langen, blutigen Kampf geriethen, so haben später in Frankreich die Lilie und das Veilchen, das Sinnbild der Unschuld und das Sinnbild der Bescheidenheit, sich ebenfalls auf’s Bitterste bekämpft. Jedermann weiß, daß die Lilie das Wappen des alten französischen Herrscherhauses ist; vielleicht wissen aber nur Wenige, warum das bescheidene Veilchen von den Bonapartisten zum Symbol ihrer Partei gewählt worden. Die Sache verhält sich folgendermaßen. Während der ersten Restauration hegten die Anhänger Napoleon’s die Hoffnung, daß der Kaiser, sobald die ersten Veilchen sprießen, die Insel Elba verlassen und nach Frankreich zurückkehren würde. Sie wagten jedoch nicht, diese Hoffnung unumwunden zu äußern, und sie nannten Napoleon nur den „Père la Violette“. Unter den vielen Gassenhauern, die damals in den Pariser Theatern und Kaffeehäusern gesungen wurden, befand sich einer, der unter dem Titel „Le Père Violette à Messieurs les chevaliers de l’Eteignoir ou les Prédictions d’un bon Luron“ (Vater Violette an die Herren Ritter vom Löschhute, oder die Prophezeiungen eines braven Kerls) besonders populär war. Männer und Frauen fingen nun an, Veilchensträuße zur Schau zu tragen und somit ihre Abneigung gegen die Bourbonen und ihre Anhänglichkeit an den gestürzten Heros öffentlich zu bekunden. Ein besonderer Umstand diente dazu, die Popularität der Veilchen zu vermehren. Mademoiselle Mars, die berühmte Schauspielerin, war eine in der Wolle gefärbte Bonapartistin, und als sie während der ersten Restauration die Rolle der Elmire in Molière’s „Tartuffe“ gab, trat sie mit einem Veilchenbouquet auf die Bretter. Ein ungeheurer Tumult brach los. Die anwesenden Royalisten verlangten, daß sie als Abbitte für die begangene Dreistigkeit „Vive le roi!“ rufe.

„Ich habe gerufen,“ erwiderte sie.

„Man hat es nicht gehört,“ schrieen die Royalisten, unter denen sich besonders viele Gardes du Corps befanden.

„Ich behaupte, daß ich gerufen habe,“ wiederholte die unerschrockene Künstlerin und sagte dann zu ihren Gefährten auf der Bühne: „Laßt uns fortfahren!“ Die Aufführung litt keine Unterbrechung mehr. Da es nun in Paris niemals ohne Witz und Wortspiel abgehen kann, so versicherte man, die Künstlerin habe nach dieser Darstellung geäußert: „Die Gardes du Corps haben nichts mit Mars gemein.“ Kurz, seit jenem Abende wurden die Veilchen das Sinnbild der bonapartistischen Partei, und wir haben gesehen, daß die Bonapartisten, welche am achtzehnten März die Gratulationsreise nach Chislehurst machten, sich vorher mit ungeheuren Veilchensträußen versehen hatten.

Man sagt von den Büchern, daß sie ihr eigenes Schicksal haben; man kann dies von den Blumen, die ihr kurzes Leben in Paris beschließen, mit ebenso großem Rechte behaupten. Die Rose, die heute im Garten des Floristen die Knospe durchbricht, weiß nicht, in welchem Strauße sie morgen prangen, an welchem Busen sie duften und welchen Zwecken sie dienen wird. Die Blumen prangen auf den Tafeln der Reichen; sie erhöhen die Pracht öffentlicher Feste; sie zieren die Wiege; sie schmücken das Grab. Die meisten werden jedoch auf den Altar der Liebe gelegt, und ich meine hier nicht blos die Liebe, welche den bleichen Mond mit verweinten Augen anschmachtet und die Nächte mit lyrischen Seufzern verbringt, sondern auch die antiplatonische. Die Pariser Theater allein consumiren Tausende und aber Tausende der herrlichsten Blumensträuße. Die Herrlichkeit dauert jedoch nicht lange, und die kostbaren Bouquets, die heute aus den Theaterlogen auf die Scene fliegen, werden schon übermorgen aus dem Fenster auf die Straße geschleudert und wandern in die Butte des Lumpensammlers. Man kann nicht schöner leben und nicht erbärmlicher sterben, als diese armen Blumen.

[340] Das Straußflechten ist eine Kunst, die nicht nur erlernt sein will, sondern ohne natürliches Talent, ohne Geschmack und Farbensinn sich gar nicht erlernen läßt. Die Pariser haben es in dieser Kunst zu einer großen Meisterschaft gebracht, und es ist nicht zu verwundern, daß Paris täglich eine bedeutende Menge Sträuße in die Provinzen und selbst in’s Ausland versendet.

Da der Cultus der Todten kaum in einer anderen Stadt so lebhaft ist, wie in Paris, so sieht man auf den Pariser Kirchhöfen, und besonders auf dem Père Lachaise die schönsten Sträuße und Kränze. Wie es in Paris viele Magasins de deuil giebt, Läden, in welchen man die Toilette für Trauernde verkauft, so giebt es auch Blumenläden, in welchen Blumen und Kränze zum Schmucke der Gräber verkauft werden, und ich habe in diesen Blättern bereits erwähnt, daß in der Nähe des Père Lachaise sich eine Reihe von Magazinen befindet, wo Blumen aller Art und Immortellenkränze mit eingeflochtenen oder bemalten Inschriften in großer Auswahl auf die Kunden warten. Diese Inschriften künden die verschiedenen Grade der Verwandtschaft an, wie z. B.: à mon mari! à mon frère! à ma soeur! à ma tante! Der Käufer sucht sich den Kranz mit der entsprechenden Inschrift aus. Gar manche arme Wittwe, gar manche betrübte Mutter giebt ihren letzten Sou hin, oder trägt ein Kleidungsstück in’s Pfandhaus, um am Tage aller Seelen das Grab ihres Gatten oder ihres einzigen Kindes schmücken zu können. Freilich kauft hier auch mancher lachende Erbe, dem der reiche Oheim zu lange gelebt hat, voll innigen Behagens einen Kranz mit der Inschrift: à mon oncle! Es giebt in Paris, und nicht blos in Paris, unzählige Hüte, die sich nach dem schwarzen Flore sehnen. Die innere Trauer hört oft auf, wenn die äußere beginnt. –

Ich komme jetzt von den natürlichen Blumen auf die künstlichen.

Es ist bekannt, daß schon die Alten künstliche Blumen verfertigten; ich glaube indessen nicht, daß die Alten in dieser Kunstindustrie auch nur im entferntesten den Vergleich mit der Pariser ausgehalten hätten, so sehr sie in jeder andern Kunst uns Alle übertreffen. In der Pariser Blumenfabrikation sind nur wenige Männer beschäftigt, und diesen ist blos ein Theil der Arbeit, das Ausschneiden der Blätter, anvertraut, eine Arbeit, die viel körperliche Kraft erfordert.

Die Arbeiterinnen werden in zwei Classen eingetheilt, in die eigentlichen Ouvrières (Arbeiterinnen) und in die sogenannten „Monteuses“. Die Ouvrières verfertigen die Blumen auf eine höchst mechanische Weise. Man liefert jeder derselben die einzelnen Bestandtheile, die sie dann zu einer Blume zusammenfügt, etwa wie der Uhrmacher aus den einzelnen ihm gelieferten Theilen eines Gehäuses die Uhr herstellt. Jede Ouvrière ist Specialistin. Die Eine verfertigt ausschließlich Veilchen, die Andere bloß Vergißmeinnicht und wiederum eine Andere nur Dahlien. Eine solche Arbeiterin wird auf’s Stück bezahlt und verdient täglich ungefähr zwei Franken. Manchen von ihnen gelingt es, nach jahrelanger Arbeit ein kleines Etablissement zu gründen, in welchem ihre frühere Specialität fortgesetzt wird. Es giebt in Paris viele solcher kleinen Werkstätten, von denen jede nur immer eine und dieselbe Blumenart liefert; ja, es giebt Fabrikanten, die ausschließlich blaue Blumen, andere, die nur weiße Blumen für Communionen und Brautkränze, oder Strohblumen für Grabstätten verfertigen. Durch diese Specialität wird eine große Vollkommenheit erwirkt, die sich besonders an der Rose zeigt. Die Rosenfabrikanten – die „Rosiers“ – bilden wieder gewisse Classen, von denen Einige die feinen Rosen für Kopfschmuck, die Anderen für Kleiderverzierungen herstellen. In keiner anderen Stadt der Welt wird diese Blume so trefflich im Einzelnen und so täuschend im Ganzen nachgeahmt wie in Paris.

Die einzelnen Blumen werden dann der „Monteuse“ übergeben, welche dieselben zu Sträußen, Kränzen, Hutverzierungen und Kleidergarnituren zusammensetzt. Die Monteuse kann keine Blumen verfertigen; sie hat diese nur geschmackvoll zu gruppiren. Sie wird nicht nach dem Stück bezahlt, sondern bezieht einen Monatsgehalt. Eine Monteuse, die sich durch feinen Geschmack auszeichnet, gewinnt monatlich zweihundert bis zweihundertfünfzig Franken. Es giebt Pariser Häuser, in denen viele Monteuses beschäftigt sind. Ich habe eine solche Werkstätte gesehen. Dieselbe ist im Besitze eines wackeren Deutschen, dessen liebenswürdiger Zuvorkommenheit ich manche Belehrung über den hier besprochenen Industriezweig verdanke. Man kann sich nichts Anmuthigeres denken als eine Gruppe junger Mädchen, die mit feinen geübten Fingern die Blumen zu malerischen Sträußen, zu farbenprächtigen Kränzen flechten und winden. Ich wurde an die Geliebte und spätere Gattin unseres großen Dichters erinnert, an Christiane Vulpius, die sich vor ihrer Bekanntschaft mit ihm bekanntlich durch Verfertigen künstlicher Blumen ernährte und die ihn unter Anderm zu den schönen Gedichten „Der neue Pausias“ und die „Metamorphose der Pflanzen“ begeisterte.

Die Ausfuhr der französischen künstlichen Blumen beläuft sich auf mehr als dreißig Millionen im Jahre. Den meisten Absatz finden dieselben in Amerika, in England und Deutschland. Sonderbar ist es, daß diese unechten Kinder der Flora auch in Südamerika sehr gesucht sind, wo doch die Natur die allerherrlichsten Blumen hervorbringt und den Blüthenschmuck in keiner Jahreszeit ablegt. Die Kunden in den südamerikanischen Ländern verlangen gewöhnlich an den künstlichen Blumen den eigenthümlichen Duft der natürlichen. Die Blätter von jenen werden also mit den entsprechenden Essenzen getränkt, die Blätter der Rose mit Rosenessenz, die Blätter der Nelke mit Nelkenessenz etc. Ein Verfahren, das, beiläufig gesagt, die Alten auch schon kannten.

Unter den Stoffen, die zur Herstellung der künstlichen Blumen verwendet werden, befindet sich ein eigner Sammt, der, wie ich gehört, in Deutschland in besonderer Güte verfertigt und auch von dort bezogen wird. Von Deutschland werden auch zum großen Theil die Federn bezogen, aus denen man ebenfalls künstliche Blumen herstellt. Diese Federn werden in Paris gefärbt und überhaupt den entsprechenden Zwecken gemäß behandelt. Neben diesen gefärbten Federn verarbeitet man auch die natürlichen buntfarbigen aus den tropischen Ländern.

Es giebt unter den Pariser Blumenfabrikanten mehrere Deutsche. Früher waren sehr viele deutsche Mädchen in den Blumenfabriken beschäftigt. Seit dem jüngsten deutsch-französischen Kriege hat sich dies jedoch sehr geändert, wie denn überhaupt unsere Landsleute jetzt in den Pariser Werkstätten nur wenig vertreten sind. Ich habe vor einer Reihe von Jahren einen unserer Landsleute kennen gelernt, der in der Nähe von Paris eine Lederblumenfabrik besaß. Die fabricirten Blumen unseres Landsmannes waren höchst geschmackvoll, und daß sie sich auch durch seltene Solidität auszeichneten, versteht sich von selbst.

Mehrere Knollengewächse werden ebenfalls als Materialien zu künstlichen Blumen benutzt, die man auf den Pariser Straßen fast täglich sieht. Rosen und Dahlien, aus Kartoffeln, Tulpen und Astern, aus weißen Rüben geschnitzt und naturgemäß gefärbt, finden ihre Käufer unter der ärmeren Volksschichte. Diese Blumen bieten den Vortheil, daß sie erst als Augenweide dienen und dann als Gemüse verspeist werden können. Sie vereinigen das Angenehme mit dem Nützlichen und unterscheiden sich dadurch von einer anderen Gattung künstlicher Blumen, von den rhetorischen Blumen nämlich, die auf den politischen Rednerbühnen fabricirt werden und an denen keines von beiden zu rühmen ist.




In der Bildergalerie.
1. Wie wir die Bilder ansehen.


In einem illustrirten Familienblatte, welches nicht blos durch den todten Buchstaben, sondern auch durch das lebendige Bild auf den Geist zu wirken strebt und häufig gute Holzschnittcopien berühmter Gemälde veröffentlicht, sind ein paar Worte über die schwierige Kunst, Bilder zu betrachten, gewiß nicht am unrechten Orte. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß zum Sehen unendlich viel mehr gehört, als das Oeffnen der Wimpern, daß diese Sinnesthätigkeit eine überaus zusammengesetzte, [341] mit Nachdenken und geistigen Schlüssen unbewußt durchwebte und durchsättigte Arbeit ist, daß in Folge dessen nur die wenigsten Menschen mit einiger Vollendung sehen lernen, daß sich ein Mensch mit geübten Augen von einem Naturkinde so unterscheidet, wie ein beschäftigter Redacteur, der ganze Schriftseiten mit zwei Blicken überfliegt, von einem Abcschützen, der stotternd und mit unzähligen Fehlern seine erste Fibelseite herbetet. Es ist schier unglaublich, was Künstler, Naturkundige, Geometer etc. auf einem Ausfluge Alles sehen, wovon ihre harmlosen Begleiter nicht die Spur wahrnehmen.

Ein Kind lernt – wie der angehende Mikroskopiker zum zweiten Male – nur sehr allmählich die Gegenstände, welche sich auf seiner Augennetzhaut verkehrt abbilden, unterscheiden, ihre Gestalt, Größe und gegenseitige Entfernung richtig beurtheilen; Hand und Mund, das heißt das Tastgefühl derselben, sind dabei seine Lehrmeister. Diejenigen, welche sich nicht in jenen Zustand zurückversetzen können, in welchem sie mit der Hand nach dem blanken Schüsselchen griffen, welches, von der Amme Mond genannt, noch lange neben ihrem Kinderwagen hertrabte, müssen deshalb immer wieder an die seitdem oft wiederholte Erfahrung erinnert werden, welche der englische Chirurg Chiselden im Jahre 1729 bei einer Staaroperation machte. Wie es Locke und einige andere Tiefdenker vorhergesagt hatten, gerieth der vierzehnjährige blindgeborne junge Mann bei der Eröffnung des neuen Sinnes, den er niemals vermißt hatte, in die größte Bestürzung und vermochte die Gegenstände nunmehr sehr viel schlechter zu unterscheiden, als vorher mit der bloßen Hand. Er glaubte, daß alle Gegenstände, die er sah, seine Augen berührten und daß die nahen und fernen Dinge alle in derselben Ebene unmittelbar vor ihm aneinander gedrängt stünden, und hielt demgemäß die aus der Ferne heraneilenden Menschen für drohend anwachsende Zwerge.

Erst nach mehrmonatlicher angestrengter Uebung brachte er es so weit, den Gesichtssinn mit der tastenden Hand in Einverständniß zu finden, und ging nicht mehr mit ängstlich vorgestreckten Händen, aus Furcht vor den allerseits in seine Augen dringenden Gestalten, auf der Straße umher. Als man ihn in dieser Zeit wieder einmal vor ein Gemälde führte, in welchem er anfangs nichts als eine bunte Klexerei zu erkennen vermocht hatte, begann er nun mit umgekehrtem Erstaunen die Leinwand zu betasten um sich zu vergewissern; ob das Dargestellte greifbar sei, und frug, da er die Bildfläche eben fand, erschreckt, welcher von beiden Sinnen ihn nun eigentlich betrüge, der neu erschlossene, oder die immer zuverlässig befundene Hand? Einem Kinde, welches das erste Bild zu sehen bekommt, muß es zur Schande des besten Malers unzählige Male wiederholt werden, was es vorstellen soll, und erwachsenen Leuten, die zum ersten Male eine Malerei erblicken, geht es nicht besser. Der Reisende Oldfield versichert wenigstens, daß, als er einem Haufen Australier ihr gut getroffenes und colorirtes Racenportrait vorgeführt habe, der Eine darin ein Schiff, der Andere ein Känguruh etc. erblickt habe; unter zwölf Personen sei keine einzige gewesen, die das Bild in irgend eine Beziehung mit sich selbst gebracht habe.

Aber auch wir hochgebildete Europäer, die wir seit früher Kindheit mit den Bilderbüchern enge Freundschaft schließen und uns an ihren täglichen Umgang gewöhnen, erblicken selten in einem Bilde Alles, was man darin sehen kann, was uns der Künstler in demselben zeigen wollte. Ich denke hierbei nicht an die verborgenen Ideen beziehungsreicher Compositionen, sondern nur an das Jedem erkennbar Ausgedrückte, nicht an die geheime Spiegelkraft jedes echten Kunstwerkes, gerade so viel Geist zurückzustrahlen als hineinschaut, sondern nur an Dasjenige, was auf dem Wege zum Auge verloren geht, wenn wir dem Bilde nicht auf die rechte Weise gegenübertreten. Wollte ich mich aber hierüber ausführlich aussprechen, so würde das ein Buch geben; ich muß mich auf ein paar Hauptpunkte beschränken, zu deren Erörterung wir uns zunächst darüber verständigen müssen, welche Hauptunterschiede zwischen dem Eindrucke einer Malerei oder Zeichnung und der Wirklichkeit bestehen.

Der wichtigste Unterschied liegt nun darin, daß sich von den drei Ausdehnungen der Körperwelt wohl zwei, nämlich die Längen- und Höhenumrisse der Gegenstände, genau wie sie sich dem Sinne darstellen, im Bilde wiedergeben lassen, die dritte Dimension hingegen, die Tiefe, auf dem Wege unmittelbarer Darstellung ebenso wenig, wie im einzelnen Netzhautbilde. Wir wissen aus unserem Umgange mit dem Stereoskope, daß diese die Körperlichkeit und Raumausfüllung erst vollendende Tiefenwahrnehmung nur durch das gleichzeitige Erblicken zweier ungleichen Bilder vermittelst unserer beiden Augen zu Stande kommt, namentlich so weit es die Betrachtung naher Gegenstände betrifft. Wer sich darüber noch nicht klar geworden ist, braucht nur vor sich auf den Tisch in die Verlängerung seiner Nasenspitze einen Würfel zu legen und denselben abwechselnd mit dem rechten und linken Auge zu betrachten. Er wird dabei zwei ganz verschiedene Ansichten erhalten, die nur durch zwei ungleiche Zeichnungen, aber nimmermehr durch eine einzige, noch so geschickte Malerei für beide Augen dargestellt werden können, obwohl wir doch sonst mit diesen immer nur ein einfaches Bild sehen. Erhalten wir nun aber in beiden Augen, wie natürlich beim Betrachten eines Gemäldes, genau gleiche Netzhautbilder, so dient dieser Umstand dem Sinnenapparate geradezu als Beweis, daß er keinen wirklich plastischen Gegenstand, sondern eine flächenhafte Darstellung mit blos zwei Ausdehnungen vor sich habe. Der Maler nimmt zu mancherlei Kunstgriffen seine Zuflucht, um uns die dritte im Einzelbilde nicht darstellbare Ausdehnung vorzutäuschen; er übertreibt zu diesem Zwecke die Schlag- und Eigenschatten der Körper, sowie die Wirkung der Luftperspective; er wirkt durch starke Lichtcontraste oder führt ein geschlossenes Licht ein etc., aber dennoch müssen wir ihm auf halbem Wege entgegenkommen, um den Erfolg zu sichern.

Schon Leonardo da Vinci erörterte es ausführlich in seinen Werken, daß ein Gemälde im glücklichsten Falle die Dinge dieser Welt getreu so zeigen kann, wie sie einem Einäugigen erscheinen, und daß deshalb der Beschauer einäugig sein müsse, um es seinem Inhalte nach zu würdigen. Obwohl die Meisten diese Lehre aus ihrem Unterrichte in der Perspective kennen, es sich auch sofort durch das Ansehen des Würfels in’s Gedächtniß zurückrufen können, sieht man außer Künstlern doch nur sehr wenige Leute, welche beim Betrachten von Galerien oder Bilderwerken jeder Art von dieser Erfahrung Nutzen ziehen. Während wir beim Betrachten eines plastischen Kunstwerkes sowie eines jeden körperlichen Dinges unsere beiden Augen mit höchstem Nutzen und Genuß beschäftigen, müssen wir vor allem Gemalten das eine derselben schließen, weil seine Mitwirkung nicht nur unnütz, sondern hinderlich ist. Man thut gut, wenn man zugleich durch Anwendung der hohlen Hand den Anblick des störenden Rahmens oder der umgebenden Wand beseitigt, die uns sonst zur Unzeit immer wieder erinnern, daß es nur ein Bild ist, was wir betrachten. Es ist nicht mit wenigen Worten auszudrücken, um wieviel vollkommener ein gutes Bild durch diesen einfache Handgriff, wenn man so sagen darf, auf uns wirkt. Eine Landschaft vertieft sich zusehends bis zu ihren verschwindenden Horizontlinien; die Figuren stehen frei in derselben und lösen sich von einander; die Verkürzungen werden verständlich und naturwahr, und es ist fast, als ob man mit zwei Augen in ein Stereoskop blickt. Diese Wirkung kommt vielleicht nicht im ersten Augenblicke. Man muß sich erst, wie der landläufige Ausdruck so richtig sagt, ist den Anblick vertiefen, aber endlich wird man das Bild genießen, wie es der Maler gesehen haben will und selbst sah. Das gilt nicht nur für Oelgemälde, sondern ebenso für jede Flächendarstellung, für Kupferstiche, Holzschnitte, Lithographien und Zeichnungen, sowie namentlich für Photographien. Natürlich sind nicht alle Bilder gleichmäßig geeignet, den Vortheil dieser Betrachtungsweise augenfällig zu zeigen, am besten eignen sich dazu Ansichten mit in einem weiten Raume frei gruppirten Figuren oder Gebäuden etc.[1]

Ist freilich die Zeichnung mangelhaft und das Auge geübt, so erscheinen die Sünden des Zeichners gegen die Perspective dem einäugigen Betrachter um so viel deutlicher und greifbarer, als dem mit beiden Augen Dreinschauenden, der sich dadurch seines [342] genauen Urtheils über die dritte Ausdehnung begeben hat. Letzterer ist in dem umgekehrten Falle einem Bilde gegenüber, wie der Einäugige in der Körperwelt; es ist bekannt, wie schwer der letztere z. B. einen frei aufgehängten Ring mit einem Stocke zu treffen vermag. Es klingt paradox, daß man mit einem Auge mehr und besser sehen soll, als mit zweien, und doch überzeugt man sich leicht von der Richtigkeit dieser aus der Theorie folgenden Thatsache. Im Grunde erreicht man dabei mehr, als man hoffen durfte, denn eigentlich sollte man mit dem einen Auge nur die Gewißheit ausschließen, daß das Dargestellte flächenhaft in einer bestimmten Entfernung vor uns steht, d. h. bis zur Unentschiedenheit kommen, ob, was wir sehen, gemalt oder körperlich sei. Unsere sodann zur letzteren Ansicht neigende Zuversicht entstammt einestheils den oben erwähnten Uebertreibungen der Schattirung und Lichtabstufung im Bilde und dann dem Umstande, daß wir überzeugt sind, auch mit einem Auge die Körperlichkeit der Dinge erkennen zu können. Vielleicht ist dies in Wirklichkeit nur insofern möglich, als sich das Auge immerfort bewegt und sich dabei überführt, daß die körperlichen Gegenstände dadurch eine geringe Verschiedenheit des Ansehens gewinnen; dies trifft nun beim Bilde nicht zu, wird aber durch das Vorerwähnte aufgehoben, und die Willigkeit des Geistes thut das Uebrige. Die erzielte Wirkung ist also eine mehr negative, die Beförderung einer Illusion durch Ausschluß des Gegenbeweises.

Doch kommen einzelne Nebenumstände derselben zu Hülfe, z. B. das Glänzen spiegelnder Glas- und Wasserflächen, polirter Metall- und Holzgegenstände. Wir haben bekanntlich erst durch neuere Untersuchungen von Dove, Oppel, Helmholtz und anderen Physikern erfahren, daß der Glanz eine von dem zweiäugigen Sehen kaum trennbare psychologische Empfindung ist, die durch eine Art Wettstreit der beiden Netzhautbilder entsteht, wenn gleichartige Stellen derselben hier dunkel und dort hell, oder auch nur verschiedenfarbig erscheinen. Werden glänzende oder spiegelnde Flächen, z, B. das Meer im Abendsonnenlichte, oder Säle mit gebohntem Parquet, blanken Möbeln, Krystallgegenständen etc. für das Stereoskop doppelt aufgenommen, so bemerkt man trotz des blendenden Glanzeffectes, welchen das Bild im Apparate ergiebt, bei Betrachtung jeder der beiden Hälften für sich (mit zwei Augen) nichts davon, wohl aber, daß der Spiegelschein bei jeder der beiden Aufnahmen eine etwas andere Stellung einnimmt, so daß sich dunklere und hellere Partien bei der stereoskopischen Betrachtung decken müssen. Die Maler wissen es sehr gut, daß sich Glanzeffecte eigentlich durch ein einfaches Bild nicht darstellen lassen; sie pflegen daher auch wohl glänzende Gegenstände, z. B. Perlen, Goldschmuck etc. pastös, das heißt körperhaft aufzutragen, wodurch in der That der verlangte Effect erzielt werden kann, weil sich nun die gefirnißte Erhöhung selbst als spiegelnder Körper den beiden Augen gegenüber verhält. Dies ist also eine Uebertreibung, die den übertriebenen Eigenschatten etc. entspricht. Wenn aber der blos flächenhafte Glanzfleck der zweiäugigen Betrachtung gegenüber auch nothwendig stumpf und wirkungslos bleiben muß, so kann er dem einzelnen Auge doch einen vollkommen befriedigenden Effect ergeben, da dieses für sich in Folge seiner Beweglichkeit für die Empfindung von Glanzeffecten nicht ungeeignet ist und durch Ausschließung des andern Auges wie oben des Gegenbeweises überhoben wird. Es wird also alle schroffaufgesetzten Lichter eines Gemäldes, das heißt seine „Glanzstellen“, als solche anerkennen und dadurch die Wirkung des Ganzen entsprechend steigern.

An diese erste Bedingung einäugiger Betrachtung knüpft sich eine zweite, minder wichtige, die Aufsuchung des Punktes, auf welchen das Auge des Malers wie des Betrachters gerichtet angenommen werden, den man den Augenpunkt nennt. Bei Figurenbildern und historischen Compositionen nimmt man in der Regel diesen Punkt als auf der Mitte der Horizontlinie liegend an, und es bedarf dann bei der Betrachtung keiner besonderen Bestimmung. Sorgfältige Maler, welche die physikalischen Gesetze des Sehens näher studirten, haben in diese Richtung die Hauptgruppe ihrer Composition verlegt und sie durch schärfere und eingehendere Detailausführung vor den nebensächlicheren Seitengruppen hervorgehoben, gerade wie wir beim Anblicken einer Sache, die uns interessirt, die Umgebung derselben nur undeutlich wahrnehmen.

Bei weitgeöffneten Landschaften und namentlich bei Architekturbildern pflegt der Maler den Augenpunkt hingegen, um einer gewissen ermüdenden Gleichmäßigkeit der Linienführung zu entgehen, aus dem Centrum auf eine Seite des Bildes zu verlegen, und es ist dann zu einem vollkommenen Genusse des Bildes, namentlich wenn es größere Dimensionen besitzt, sehr nothwendig, dorthin das Auge mit der Hohlhand zu richten. Man findet auf derartigen Bildern diesen Punkt sehr leicht, wenn man sich aus der Lehre von der Linearperspective erinnert, daß in diesem Punkte der Horizontlinie alle Linien der Gebäude, Straßen, Felder etc. zusammenlaufen, und sich schneiden müssen, die gleichsam auf der Bilderfläche senkrecht stehend, also die Tiefe des Bildes bis zum Horizonte ausdrückend, gedacht werden. Die übrigen Bestimmungen über den Standpunkt des Betrachtenden etc. sind weniger wesentlich.

Noch muß ich erwähnen, daß man auch durch künstliche Veranstaltungen dahin gelangen kann, einem gewöhnlichen Bilde stereoskopisches Relief zu verleihen. Das einfachste Mittel ist die Verdoppelung der Bilder mit Hülfe eines rechtwinkligen Glasprismas, welches man vor das eine Auge hält, während das andere wie gewöhnlich das Bild betrachtet. Bei photographischen Bildern in Visitenkartenformat ist es noch viel einfacher, zwei derselben, die aber von demselben Negativ copirt sein müssen, nebeneinander in’s Stereoskop zu schieben. Ich habe noch nirgends auf diesen Weg zur Vermehrung des Eindrucks z. B. von Familienportraits hingewiesen gefunden und glaube, daß mancher meiner Leser mir für den Wink dankbar sein wird. Von einer wirklichen Verkörperung, wie bei echten Stereoskopaufnahmen, kann natürlich keine Rede sein, jedenfalls aber ist diese Betrachtungsweise von kleinen Photographien weit der üblichen Glaslinsenvorrichtung mit einfachem Bilde vorzuziehen. Copien nach berühmten Gemälden können bei dieser Betrachtungsweise eine Wirkung geben, die außerordentlich bedeutend ist und sogar die einäugige Betrachtung erheblich übersteigt, weil hierbei zugleich eine Lichtvermehrung und Vergrößerung des Bildes stattfindet, während von der einäugigen Methode Helligkeitsverminderung und scheinbare Verkleinerung unzertrennlich sind. Denen, welche sich an dem Genusse classischer Meisterwerke der Malerei erfreuen, kann ich nur rathen, je zwei gleiche Visitenkartencopien derselben zu Pseudo-Stereoskopbildern vereinigt zu betrachten; die Landschaften Claude Lorrain’s oder Poussin’s, ja selbst Figurenbilder mit perspectivischen Hintergründen, wie z. B. die Madonna im Grünen zu Florenz von Raphael, geben hierbei einen wunderbaren Anblick. Da man das Stück einer solchen Copie heutzutage für ein Spottgeld (einen Silbergroschen) kauft, so läßt sich in dieser Richtung für geringe Kosten leicht eine Sammlung beschaffen, die als Quelle reichen Genusses dient.

Carus Sterne.




In der Heimath des Lamas.
Von Ernst Moßbach.


Bis zum heutigen Tage ist das Innere der Länder Südamerikas, welche am stillen Ocean liegen, für den Verkehr auf Fahrstraßen und Eisenbahnen noch verschlossen geblieben. Nur auf dem verhältnißmäßig schmalen Küstenstriche westlich von den Cordilleren sind schon länger größere und kleinere Strecken Eisenbahnen im Betriebe, welche aber, mit wenigen Ausnahmen, zu keiner besonderen Bedeutung gelangt sind.

Vor der Inangriffnahme der Centralpacificbahn in Nordamerika hielt man es sogar für unmöglich, die steilaufstrebenden Rücken der südamerikanischen Küstencordilleren mittelst der modernen Verkehrswege zu überschreiten. Jetzt hält man selbst jenen Felsenwall nicht mehr für unüberwindlich durch die Macht des Dampfes. In Peru ist der Eisenbahnbau mit höchster Energie begonnen worden; das Küstengebiet mit seinen Häfen soll mit

[343]

Transport von Kupfererzen durch Lamas auf den Cordilleren. Nach einer Skizze von E. Moßbach, auf Holz übertragen von H. Leutemann.

[344] den reichen Hochländern jenseit des Gebirges durch vier Schienenwege verbunden werden, die an Kühnheit und Großartigkeit nicht ihres Gleichen haben, außer, wenn wir die Verschiedenheit der zu Gebote stehenden Mittel in Betracht ziehen, vielleicht die berühmten alten Inkastraßen, durch welche in früherer Zeit schon die gleichen Zwecke und zum Theil auf derselben Linie erstrebt wurden.

Die Kosten sämmtlicher projectirter Bahnen sind auf mehr als vierhundert Millionen Thaler veranschlagt. Die wichtige Bahnstrecke, welche von Lima aus über einen bis zu viertausendsechshundertneunundvierzig Meter aufsteigenden Paß nach Oroya im Xauxathale führen wird, geht unter der Leitung des Bauunternehmers Henry Meiggs schnell ihrer Vollendung entgegen; auf einer südlicheren Strecke keucht schon das Dampfroß von Arequipa über die Cordilleren bis nach Puno am dreitausendachthundertzweiundvierzig Meter hoch liegenden großen und schönen Titicacasee, auf welchem, Dank der Energie der peruanischen Regierung, seit Kurzem zwei tüchtige Dampfboote den Verkehr vermitteln. So ergreift denn die Cultur auch Besitz von jenen bisher fast unzugänglichen Gebieten und bald wird die Locomotive den Reisenden auf glattem Schienenwege von der Meeresküste in wenigen Stunden bis fast zur Montblanc-Höhe emporführen, von den heißen Küstenstrichen in die kalte dünne Luft der hohen Engpässe und nach den Hochebenen und prächtigen Thälern im Herzen jener großartigen Gebirge.

Vorläufig aber müssen wir noch, wenn wir das Innere Bolivias auf dem Wege nach La Paz bereisen wollen, die Bahn von Arica nach Tacna benutzen und uns hier dem Rücken eines Maulthieres oder sicheren Pferdes anvertrauen, oder schon in Arica satteln, wenn wir den zweiten Weg nach Cochabamba einzuschlagen gedenken. Nachdem wir die heiße Sandwüste der Küste passirt haben, reiten wir auf beschwerlichen Wegen über die immergrünen Ausläufer der Cordilleren, durch die Steinklee-(Alfala) und Cacteen-Regionen und erreichen endlich in zwei anstrengenden Tagereisen die berüchtigten Engpässe des Hochgebirges.

An der Küste hatten wir 25 bis 28 Grad Réaumur Wärme; hier oben finden wir eine merklich dünnere Luft und 2 bis 3 Grad Réaumur Kälte. Ein schneidend scharfer Wind macht uns erschauern. Den Neuling befällt hier ein Leiden, das höchst unangenehm, ja gefährlich werden kann, die Bergkrankheit, von der freilich die Gebirgsindianer vollständig frei sind. In Folge der in dieser Höhe außerordentlich verdünnten Luft, in welche der Reisende beim Aufsteigen in verhältnißmäßig so kurzer Zeit gelangt, treten bald Herzklopfen, Ohrensausen, Athembeschwerden und Blutspeien ein, hierzu gesellen sich Uebelkeit, Kopfschmerz und Schwindel und steigern sich oft so, daß Ohnmachten eintreten und der Kränke gänzlich entkräftet und hülflos wird. Auch viele Hausthiere, welche auf jene Höhen gebracht werden, werden von diesem Leiden befallen und erliegen demselben häufig.

Bald gelangen wir auf das Puna-Plateau des Gebirges, den Despoblado, bei dessen Anblick selbst unser Führer, ein kupferbrauner Aymara-Indianer des Hochlandes, freudig in die Hände schlägt und ruft: „Auki tukunjama“, „Vater, ich preise Dich.“ Der Despoblado d. h. „das unbevölkerte Land“ breitet sich vor unseren Blicken in einer weiten von kolossalen Schneebergen begrenzten Fläche aus, auf der sanfte Hügel und groteske Trachytwände öfter mit zerrissenen Betten von Gebirgsbächen und kleinen See abwechseln. Die Gegend ist nicht monoton, aber es herrscht dort eine Todtenstille, nur unterbrochen vom Sausen des durch das spärliche Gras und Gestrüpp streichenden Windes. Ein Trupp Vicuñas, die vielleicht aus tieferen Zonen verjagt wurden, flieht in der Ferne und verschwindet in einer Bergspalte; dann und wann fliegen kreischend einige Wasservögel von einer Lagune auf. Sonst großartige Einsamkeit ringsum. Da erschallt plötzlich ein Glöckchen und die Töne einer Flöte dringen in einfacher hübscher Melodie zu unserem Ohre. Wir lauschen – und siehe da, zwischen den Hügeln vor uns tauchen die langen Hälse mehrerer Lamas auf, von denen eines das Glöckchen am Halse trägt. Der Flötenspieler, der Besitzer der Lamas, ein Indianer der Pampa-Hochebene, eilt auf uns zu und küßt unsere Steigbügel mit abgezogenem Hute und dem üblichem Gruße: „Dios aski uru tschuratam“ (Gott schenke Dir einen guten Tag), den wir mit „Humarus ukamaraki“ (Dir ebenfalls) erwidern. Es ist ein Transportzug von Kupfererzen der fünf Tagereisen entfernten Gruben von Corocoro, aus denen während ihres kaum vierzigjährigem Bestehens schon Millionen von Centnern gewonnen und auf diese Weise nach der Küste des Stillen Oceanes verschickt wurden.

Nach kurzem Halt setzt die Karawane ihren Marsch fort. Die Lamas schreiten mit ihrem eigenthümlichen klagenden Tone an uns vorüber, indem sie uns neugierig betrachten; der zottige Hund, der sie begleitet, zeigt uns die Zähne, unterläßt aber das Bellen, da seine Aufmerksamkeit durch den Geruch des halbverwesten Gerippes eines seiner Last hier unterlegenen Maulthieres von uns abgelenkt wird. Die Frau des Indianers wirft wieder ihre Spindel aus, mit der sie selbst im Gehen geschickt zu spinnen versteht, und der Indianer stimmt wieder seine Weise an, unbekümmert um seinen mächtigen schnellfüßigen Concurrenten, die Locomotive, welche bald mit schrillem Pfeifen die feierliche Stille dieser Hochebene unterbrechen und seinen Thieren die Lasten abnehmen wird.

Es ist ein eigenes Volk, diese Indianer. Mit einer Ausdauer, die für sie sprüchwörtlich geworden, beschäftigen sie sich hauptsächlich mit der Zucht und Dressur der Lamas, und wenn auch erstere keine besondere Geduldsprobe beansprucht, letztere fordert diese um so mehr. Das Lama ist von Natur ein störrisches Thier, welches sich nicht sogleich dem Willen des Menschen fügt, am wenigstem aber, wenn es körperlich gezüchtigt wird. Dann sprühen boshafte Blicke aus seinen großen braunen Augen; es stampft mit den Vorderfüßen, schlägt mit großer Kraft und Gewandtheit aus und speit seinem Zuchtmeister einen Speichel in’s Gesicht, der Hautflocken und Augenentzündungen verursacht. Ein wüthendes Lama läßt sich eher todtschlagen, als daß es einen Schritt gegen seinen Willen thut. Doch der Indianer weiß mit ihm fertig zu werden; er hat Geduld, viel Geduld, und Dank dieser bringt er es endlich so weit, daß ihm sein Zögling nicht allein gehorcht, sondern sogar große Zuneigung zu ihm gewinnt, die er ihm dann auch bewahrt.

Der Indianer legt dem Lama vor dem vierten Jahre keine Last auf; letztere steigert er auch nur allmählich vom Viertel- bis zum ganzen Centner; eine größere Last bürdet er ihm nicht auf und läßt ihn dieselbe in einem Tage auch höchstens fünf Leguas (vier deutsche Meilen) weit transportiren. Und doch vermögen diese großen starken Thiere, die man freilich nicht mit den verkümmerten Exemplaren unserer zoologischen Gärten vergleichen darf, recht gut das Doppelte zu tragen, wenigstens auf kürzeren Entfernungen. Ich selbst habe mir öfter den Spaß vergönnt, Lamas zu reiten. Freiwillig galoppirten sie mit mir, der ich mich keineswegs zu den Leichten rechne, ohne große Anstrengung davon. Man reitet die Lamas (jedoch mehr zur Belustigung) ohne Sattel und ohne Zaum. Ersterer wird durch die dicke Wolle des Rückens zur Genüge ersetzt; als letzterer dienen Hals und Ohren, d. h. man hält sich mit der einen Hand an der Wolle des Nackens fest und versetzt mit der andern kleine Schläge an das rechte oder linke Ohr, je nachdem man das Thier nach links oder rechts dirigiren will. Uebrigens erfordert das Reiten auf dem beweglichen Felle immerhin Geschicklichkeit. Hat man einmal das Gleichgewicht verloren, so kann man ziemlich sicher sein, neben der Bekanntschaft mit der Erde auch noch die eines Schnellschlages zu machen.

Der Indianer verwendet nur die männlichen Lamas zum Lasttragen; die weiblichen dienen ausschließlich zur Fortzucht; selbst Wolle müssen ihm die männlichen unverhältnißmäßig mehr als die weiblichen lassen; sie genießen überdies noch das besondere Vorrecht, ihre eigene Wolle zu Markte zu tragen. Der Indianer lebt in gutem Einverständnisse mit seinen Lamas, die er fast mehr liebt als seine Frau und Kinder. Daß ihm diese Liebe auch erwidert wird, sieht man an der Anhänglichkeit, mit welcher die sonst menschenscheuen Thiere zu ihm halten. Sie lagern, von der Weide zurückgekehrt, um seine Hütte, die dürftige Aeßung wiederkäuend; ohne Stallung oder sonstigen Schutz gegen die in jenen Gegenden oft schnell wechselnde Kälte und Wärme, oder gegen Regen, Schnee, Hagel und Wind, sind sie zufrieden mit den saftlosen Gräsern der Einöde, und können, als echte Südamerikaner, Alles ertragen, Alles entbehren. Sie folgen ihrem Herrn als Lastträger auf seinen Märschen über die unfruchtbare, rauhe Hochebene, tagelang hungernd und durstend und so das Schicksal ihres Herrn und Gebieters theilend, der sein Leben während jener Märsche auch nur kärglich [345] mit trockenen Cocablättern fristet. Wenn dieses oder jenes Thier auf den steinigen scharfen Wegen die Hornhaut der Füße durchgelaufen hat, bekommt es allenfalls Sandalen aus Leder, die sich von denen seines Herrn nur dadurch unterscheiden, daß sie etwas kleiner und sorgfältiger angepaßt sind.

Kein Wunder, daß der Indianer bei so wohlfeiler Anlage bald reich wird, zumal er sich den Transport sowohl wie auch die Wolle gut bezahlen läßt und selbst ein höchst einfaches, fast erbärmliches Leben führt. Ja, er verdient gern Geld, obschon er eigentlich keinen Genuß davon hat; denn er vergräbt es in der Absicht, wie man hier allgemein glaubt, es dem Inka zu geben, von dem er hofft, daß er einst wiederkommen und die Indianer vom Joche der fremden Eindringlinge befreien wird.

Aber auch auf die äußere Erscheinung des Lamas giebt der Indianer viel; er liebt die rein schwarzen, weißen und braunen ebenso wie die mit diesen Farben regelmäßig gefleckten. Anders gezeichnete werden geschlachtet und gegessen. Bei den Festen spielen die Lamas keine geringere Rolle als die Glieder seiner Familie. Frau und Kinder flechten ihnen rothe Bänder mit kleinen Quasten in die Wolle und hängen ihnen rothe Troddeln in die Spitzen der Ohren; eine Reinigung ist nicht nöthig, da das Lama als Symbol der Reinlichkeit gelten kann. Die so geschmückten Thiere werden dann von geputzten Indianerknaben bestiegen, welche die Gäste der umliegenden Dörfer und Estancias (kleinen Ansiedelungen) einladen – eine besonders für den Fremden überraschende, anmuthige Erscheinung.

Wir reiten weiter durch die großartige baumlose Landschaft, welche rings von hochaufragenden schneebedeckten Bergriesen eingerahmt wird und in gleichmäßiger Oede sich unter dem reinen Blau des Himmels ausdehnt. Auf ganz ebenen Flächen oder zwischen Hügeln und nacktem Gestein, an Teichen und großen und kleinen Seen vorüber, deren Ränder mit spärlichem Schilf bewachsen sind und von Vögeln umschwärmt werden, führt unser Weg entlang. Ein Condor zieht vielleicht hoch in der Luft seine Kreise über uns und dann und wann erspähen wir ein Vicuña an einer Berglehne und fühlen uns fast verlockt, mit der treuen Büchse im Arm, es zu beschleichen. Aber wir müssen vorwärts eilen. Wir können uns Glück wünschen, wenn uns nicht einer jener furchtbaren Gewitterstürme überfällt, die so oft mit entsetzlicher Wuth über jene kahlen Höhen hintoben und ihre Massen von Schnee und Hagel über den schutzlosen Reisenden entladen, oder wenn uns nicht tagelang ein eisiger Nebel umschließt, in dem wir nur mit großer Mühe unsern Marsch fortsetzen können. Von dem Despoblado steigen wir während einer vollen Tagereise auf tiefer gelegene Flächen, die sogenannten Pampas, hinab, wo uns die Strohhütten verschiedener Indianer-Estancias, umgeben von dickwolligen Alpacas, Lamas und Schafen, mitten in cultivirten Gerste- und Kartoffelfeldern friedlich entgegenblicken, und wo wir fühlen, daß wir wieder unter Menschen sind.

Wer sie aber jemals durchritten hat, jene Hochflächen der Andes, wer sie nach allen Richtungen durchstreift hat, der hat sie lieb gewonnen, der sehnt sich immer wieder zurück nach ihnen; er fühlt sich dort dem Himmel näher und ist mit sich allein in der erhabenen Einsamkeit des Gebirges.




Aus der Briefmappe der Gartenlaube.


Von E. K.


W. in Sttgrt. Die Mittheilungen über die Entstehung Ihres Buches waren für mich von großem Interesse, indeß dürfte Ihre Behauptung, daß derartige literarische oder kritische Schriften nicht zufällig entstehen und nur das Resultat jahrelanger unausgesetzter Studien sein können, doch nicht immer zutreffen. Es liegt mir zufällig ein schlagender Beweis des Gegentheils vor. Der erst vor zwei Jahren verstorbene, durch seine politische und literarische Wirksamkeit bekannte Dr. Adolf Ellissen in Göttingen stand seit 1870 mit David Strauß, dem genialen Verfasser des „Leben Jesu“, in lebhafter Correspondenz. Der erste der Strauß’schen Briefe, den ich der Freundlichkeit des Sohnes Ellissen’s verdanke, spricht sich über die Entstehung des geistreichen Buches von Strauß: „Voltaire“ sehr offen aus, und Sie mögen daraus ersehen, wie das Werk eigentlich gegen den Willen des Autors und nur gelegentlich entstand. Der Privatbrief enthält übrigens über Strauß’s Stimmung, seine Beurtheilung des Publicums etc. so viel des Interessanten, daß eine Veröffentlichung desselben sicher gerechtfertigt ist.

 „Darmstadt, den 18. October 1870.
Daß es gerade meine kleine Schrift über Voltaire sein würde, die mir die Freude einer neuen persönlichen Berührung mit Ihnen verschaffen sollte, dachte ich allerdings nicht. Ihre früheren Arbeiten über denselben Gegenstand mochten noch so bekannt geworden sein, sie blieben mir verborgen, da ich selbst erst seit Kurzem mit Voltaire und Voltarianis Bekanntschaft gemacht hatte. Uns von diesen alten Aufklärern zu unterscheiden, war ja für die Leute meiner Richtung eine Art Ehrensache gewesen; idealistisch und begeistert, wie wir waren, fanden wir uns insbesondere von allem, was frivol war oder auch nur schien, abgestoßen, und so kam es, daß ich Voltaire bis vor wenigen Jahren geradezu aus dem Wege gegangen war. An seinem Charles Douze hatte ich zwar, wie üblich, mein Bischen Französisch gelernt; wie ich aber später zu meinem Vergnügen unter Anderem den Candide lesen wollte, konnte ich ihm keinen Geschmack abgewinnen. Da fiel ich im Winter 1867–68, entsinne ich mich recht, mehr Friedrich’s als Voltaire’s wegen, auf den Briefwechsel dieser beiden Männer. Die Briefe Voltaire’s führten mich auf seine Werke, und so ließ ich mir in München, wo ich mich jenen Winter aufhielt, ein Dutzend Bände der trefflichen Beuchold’schen Ausgabe um’s andere holen, bis ich alle durchstöbert, alles mir wichtig Erscheinende gelesen hatte. Aber schreiben wollte ich nichts über ihn; ich war damals gegen das deutsche Publicum, dessen Männer nur Zeitungen, dessen Frauen (so schien es mir) nur noch Romane lesen, gründlich verstimmt. Darum excerpirte ich von dem Gelesenen nichts, und zwar nicht nur weil ich kein Buch machen wollte, sondern damit es mir nicht einfallen könnte, es zu wollen. Nun aber kam ich aus dem Lesen nicht mehr heraus. Es zeigte sich, wenn ich den Gegenstand los werden wollte, mußte ich etwas daraus machen. Also mußte ich einen guten Theil der Voltaire’schen Werke noch einmal lesen, diesmal excerpendo. Aber nun schreiben, wieder etwas schreiben, für wen? Für dieses Publicum, von dem ich ein paar Jahre vorher in mein Schreibbuch die Verse eingeschrieben hatte:

Das Publicum ist eine Kuh,
Die grast und grast nur immerzu;
Kommt eine Blum’ ihr vor die Nas’,
Die nimmt sie mit und fragt nicht: was?
Ist ihr wie andres Futter auch,
Beschäftigt das Maul und füllt den Bauch.

Da fiel mir die geistvolle Prinzessin ein, deren Bekanntschaft und, ich darf wohl sagen, Vertrauen ich seit einigen Jahren gewonnen hatte, und für sie schrieb ich nun das Büchlein, ohne mich (außer dem stoffreichen Werke von Desnoiresterres) nach anderen Werken über Voltaire umzusehen, rein nur aus dem Eindrucke heraus, den ich für mich aus dem Studium seiner Werke bekommen hatte. Daher des Büchleins – Vorzüge, wenn es deren hat, und Mängel, deren es sicher sehr viele hat.

Natürlich hat mich nun nachträglich Ihre Schrift „Voltaire als politischer Dichter“ in hohem Grade interessirt; ich finde Ihre Uebersetzungen vortrefflich, treu und doch leicht, wie mit dem Pinsel Ming’s*[2] gemalt, Ihren Commentar instructiv und erleuchtend – ich und Meinesgleichen würden uns sehr freuen, das Büchlein in verjüngter Gestalt erscheinen zu sehen; – aber über das Publicum wage ich keine Vorhersagung, da ich mich in meinen Erwartungen von demselben gar zu oft für mich selbst getäuscht habe. Nur eins glaube ich jetzt zu wissen: da wir es nicht unterlassen können (ich meine Schriftsteller wie Sie und ich), ihm zu denken zu geben, so müssen wir dies wenigstens so thun, daß das Publicum sein eigenes Denken nicht gewahr wird; es muß meinen, wir erzählen ihm nur oder conversiren mit ihm – so lange hört es uns zu; sowie es entdeckt, daß es denken muß, läuft es davon.

Doch nicht blos über Voltaire’s politische Gedichte, auch über unsere jetzigen politischen Verhältnisse wünschte ich Ihre Meinung (die zum Theil wohl schon in Ihrem Büchlein über französische Thronfolger liegt) gelegentlich kennen zu lernen. Wie behagt Ihnen die preußische Annexion? wie macht sich die Stimmung in Hannover? was hoffen oder fürchten Sie von unserer deutschen Zukunft? Diesmal gehört zu den Hoffern

Ihr ergebenster
D. F. Strauß.


  1. Man betrachte z. B, die Illustrationen der Gartenlaube Nr. 3, (Jahrgang 1873) „In der Partnach-Klamm“, Nr. 7 „Bitte, bitte“, Nr. 9 „Norwegisches Liebespaar“, Nr. 17, „Bastei und Stadtgraben von Nürnberg“ und „Liebespaar“, den Holzschnitt nach Grützner’s Gemälde „Löcher im Kirchengut“ in Nr. 43 (besonders brillant), Nr. 44 „Obstplatz in Botzen“, Nr. 3 (1874) „Kirchhof auf dem Oybin“, Nr. 16 „Dorfrichter in Siebenbürgen“, durch die hohle Hand und mit beiden Augen, um den Unterschied zu sehen. Von andern den Meisten zugänglichen Bildern empfehle ich z. B. die Baum-Allee vor Dornröschen’s Schloß in Doré’s Märchenbuch, die Flucht der Königstochter (Eselshaut) ebendaselbst u. A.
  2. * Eine Anspielung auf Ellissen’s durch Hans Hopfen’s Erwiderung bekannt gewordenes Originalgedicht: „Der Pinsel Ming’s“.




Kl. in Kbg. Immer und immer wieder das alte Mißtrauen in die Wahrhaftigkeit Andersdenkender. Wo sind denn die Vortheile, die sich dem Manne bieten, den Sie als einen „ehrgeizigen Egoisten“ bezeichnen – wo die Carrièrebahnen, auf denen er in Amt und Würden einlaufen soll? Bekämpfen Sie mit rücksichtsloser Energie die Tendenzen des Parteimannes, wenn sie Ihnen verwerflich und allgemein schädlich erscheinen, aber legen Sie dem Ehrenmanne nicht schmutzige Motive unter, die er nicht kennt und deren Vorhandensein Sie erst noch zu beweisen haben. Karl Vogt in Genf, der auch ein reiches politisches Leben hinter sich hat, schrieb mir vor Jahren einmal sehr richtig:

„Der hat aber jedenfalls Unrecht und großes Unrecht, der seine Abwägung als die allein ehrliche und die des Andern als eine von nicht ehrlichen Motiven bestimmte bezeichnet. Ich sehe unter meinen nächsten und liebsten Freunden ebenso viel tüchtige und überzeugungstreue Menschen auf der einen wie auf der andern Seite, ohne darum glauben zu können, daß die Einen Götter und die Anderen Lumpen sind, und ich denke, es wird fast Jedem, der eine etwas längere politische Laufbahn hinter sich hat, ebenso gehen.“


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[346] M. in Rsf. Auch wir haben H. Oßwald wohl gekannt und in ihm einen treuen Kämpfer der Jahre 1848 u. 49 verehrt. Er war aber nicht, wie Sie vermuthen, aus Braunschweig gebürtig, wo er im Jahre 1848 die „Reichszeitung“ redigirte, sondern aus Würtemberg und bis zu seinem dreiundzwanzigsten Jahre Oberlieutenant in einem dortigen Regimente. Dann trat er in die Dienste des Volkes, indem er schriftstellerisch für die Rechte desselben stritt, und griff, als die Feder nicht mehr ausreichte, im Jahre 1849 wieder zum Schwerte. Von der provisorischen Regierung in Baden zum Oberbefehlshaber des die Festung Germersheim beobachtenden Cernirungscorps ernannt, ward er später in dem Gefecht von Durlach verwundet und wanderte nach kurzem Aufenthalte in der Schweiz nach Texas aus, wo er die vielverbreitete und einflußreiche „Texas-Staatszeitung“ gründete, ein Blatt, das in der deutsch-amerikanischen Presse einen hervorragenden Platz einnahm. Noch nicht vierzig Jahre alt, starb er 1859 in San Antonio, von allen Landsleuten wegen seiner vielen liebenswürdigen Eigenschaften und seines trefflichen Charakters viel geliebt und verehrt.

Hoffmann von Fallersleben war es, der damals dem nach Amerika auswandernden Gesinnungsgenossen in einem größern bis jetzt ungedruckten Gedichte einen schönen Abschiedsgruß nachrief, dem wir folgende Verse entnehmen:

Die Freiheit hat Dich groß gezogen,
Sie blieb Dir treu, blieb Dir gewogen.
Sie ward Dein Banner in schlimmen Tagen;
Du hast Dich tapfer für sie geschlagen.
Sie wird Dir sein auf allen Wegen
Dein Wort und Lied, Dein Fluch und Segen.
Du wirst für sie nur leben und kriegen,
Mit ihr nur fallen oder siegen.
Wie unter der Heimath blauem Himmelsbogen,
So auf des unendlichen Weltmeers grünen Wogen
Ist sie Dein Trost, Dein Schutz und Wehr,
Die Freiheit ruft: viel Feind viel Ehr!
 Was willst Du mehr?

Oßwald ruht, wie viele seiner Gesinnungsgenossen, in fremder Erde und hat die von ihm mit so großer Sehnsucht erwartete Auferstehung des deutschen Reiches nicht erlebt. Sein Name aber lebt in dem Gedächtnisse seiner Zeitgenossen fort. Er hat sich ein sicheres Andenken in schwerer Arbeit für das Volk verdient, und das Volk kann wohl eine Zeitlang die Erinnerung an ihre Vorkämpfer durch gewaltige neuere Ereignisse in den Hintergrund drängen – vergessen aber wird es keinen der Wackern aus den glorreichen Jahren der Bewegung, die sich einst für sein Wohl in schwerer Bedrängniß opferten.

M. in M. Vom pädagogischen Standpunkte aus mögen Ihre Angriffe eine Berechtigung haben, im Uebrigen aber schmähen Sie mir die Großmütter nicht! Kennen Sie das reizende Genrebild, auf dem ein kleiner Knabe abgebildet steht, der aus Furcht vor den unausbleiblichen Schlägen weinend auf die Scherben seines Milchtopfes herabsieht und, wie die Unterschrift besagt, von einem mitleidigen Spielcameraden getröstet wird: „Aber Moritz, hast Du denn keine Großmutter?“

Welch ein felsenfester Glaube an die Großmutter und ihre Macht über Alles, was Strafe und Schläge heißt, spricht aus dieser einfachen Kindesfrage! Wer von uns, die wir die sanfte Hand einer Großmama auf dem Lockenkopfe fühlten, erinnert sich nicht mit wehmüthiger Dankbarkeit dieses trauten Familienvermittlers, der für Alles eintrat, wenn ein Gewitter im Anzuge, der das verbotene Lutschen am Finger vertuschte, der stets eine Entschuldigung hatte für zerbrochene Teller oder Fensterscheiben, oder zerrissene Kleider und herausgestotterte Nothlügen? Wer hielt, wenn es mit dem Lernen etwas windig aussah, bei jeder Gelegenheit Magen- oder Kopfschmerzen so bequem bereit, um auf das Mitleid der Eltern zu wirken und den geliebten Enkel vor der drohenden Ruthe hinter dem Spiegel zu schützen? Wessen Arbeitskorb war so gefüllt mit Trost spendenden Biscuitstückchen oder Zuckerstengelchen und Topfkuchen, und wer hatte immer die zum Pferdespiele erforderlichen Leitschnüre, Fußbänkchen und Großmuttersessel bei der Hand, um die Extrapost und den stolzen Kutscher fertig zu machen und sich immer und immer wieder in die improvisirte Kutsche zu setzen und von dem stolzen Enkel fahren zu lassen, Gott weiß wie weit!? Und wer vermochte so niedliche Puppen aus den Abfällen der Nähterin hervorzuzaubern, oder so prächtige Schlitten aus Kartenpapier zu schneiden, oder so niedliche Schiffchen für das Wasser des Springbrunnens oder der Gosse draußen vor dem Hause?

Ach, und wer war es, der zwischen Taglicht und Dunkelwerden so unendlich viele und schöne Geschichten zu erzählen wußte von Rothkäppchen und den Todtenbeinchen mit dem singenden Vogel und von dem schönen Kutscher Hermann mit den weißen Handschuhen und der langen Klatschpeitsche auf dem hohen Kutschenbocke, der Großmutter und Enkelkind hinausfahren sollte auf das Landgut mit den vielen Kühen und Schweinen und den stolzen Pfauhähnen? Wer blieb bei den Kindern immer daheim und war glücklicher dabei als irgend Jemand, wenn Mama und Papa ausgingen, Besuche zu machen oder sich zu amüsiren? Und wer – Gott behüte alle Eltern davor! – wer streckte die kleinen wächsernen Glieder aus für den Sarg, wenn Mama und Papa erblindet von vielem Weinen an dem letzten Ruhebettchen des Lieblings standen und fast vergehen wollten vor Herzeleid? Wer las dann alle die nun nutzlos gewordenen Kleidchen, Schuhchen und Spielzeug zusammen und schaffte sie bei Seite, hinweg aus dem qualvollen Anblicke der schwer geprüften Eltern, bis des Himmels Balsam sich über die wunden Herzen ergossen und sie geheilt hatte? Wer war es?

Schmähen Sie mir die Großmütter nicht!

R. L. in L. Sie sind unzufrieden, verweisen auf „Die zweite Frau“ und beanspruchen mehr Glück in der Liebe, als Sie gefunden. In Ihrem Gatten achten Sie zwar den Ehrenmann, aber Sie vergleichen die glühenden Briefe des Bräutigams mit dem jetzigen ruhigen Wesen des Ehemannes und beschweren sich über Abnahme der Leidenschaft, über kalten Egoismus der Männerwelt. Und sind doch so glücklich, Mutter zu sein! Erlauben Sie, daß ich Ihre Klagen mit den Aussprüchen zweier deutscher Dichter zu beantworten suche. Jean Paul sagt etwas nüchtern, aber jedenfalls richtig: „Wenn das Weib liebt, liebt es in Einem fort – der Mann hat dazwischen zu thun.“ – Und Gustav Freytag fragt in einer seiner erzählenden Dichtungen: „Waren es Deine Thränen oder war es Dein Lachen, womit Du sein Herz umstrickt hast? Ich denke wohl, mit Lächeln begann’s und die Thränen folgten; das ist das Schicksal Aller, welche einander lieb haben auf dieser Erde.“

Hoffnungslos! Nach der Versicherung eines Arztes, der Ihren Brief gelesen, sind Sie durchaus nicht hoffnungslos krank und Ihr Leiden ist nicht gefährlich. Aber lesen Sie keine meist von Beutelschneidern über diese Leiden verfaßten Schriften, sondern suchen Sie Arbeit und Zerstreuung und vor Allem wenden Sie sich vertrauensvoll an einen tüchtigen rationellen Arzt.

C. H. in Santa-Rosa (Californien). Lieber Herr, Sie wünschen den „Entwurf einer Weltsprache“ zu schreiben, und weil Sie sich nicht ganz „tactfest“ fühlen, das Werk selbst zu verfassen und ihre „wackelige“ Gesundheit Ihnen auch nicht erlaubt, nach Leipzig zu reisen, so verlangen Sie, daß ein Mitglied der Redaction nach Santa-Rosa kommen und mit Ihnen das „volksthümliche und epochemachende Buch“ schreiben solle. Muß das gleich sein, verehrter Landsmann? Der Omnibus ist eben abgegangen, und es fehlen der Redaction augenblicklich nur noch einige wenige Stunden Zeit, um die kleine Landpartie mitzumachen.

C. M. A. C. Texas. Ihre liebenswürdigen und wahrhaft rührenden Zeilen habe ich der Wittwe unseres Gerstäcker übersandt, und heute bin ich in der Lage, Ihnen – freilich etwas verspätet – Genaueres über die Ruhestätte des Heimgegangenen mitzutheilen. Wenn auch nicht, wie er so sehnlichst wünschte, im Waldesschatten, so ist er auf dem Braunschweiger Friedhofe doch in der Nähe großer Bäume gebettet, aus deren Zweigen mit jedem Frühjahre der Nachtigallensang tönt, den er, wie alles Vogelgeschmetter, so sehr liebte. Ein Ahornbaum beschattet außerdem seinen Hügel. Ein anderer Wunsch dagegen, den er in seiner „Nacht auf dem Kirchhofe von Valparaiso“ in so rührenden Worten aussprach, ist erfüllt – kein kalter unbeweglicher Steinblock deckt die irdischen Reste des Rastlosen. Eingedenk des von ihm ausgesprochenen Protestes: „Die Erde drückt schon schwer genug, wenn wir Abschied von ihr und alledem nehmen mußten, was uns auf ihr, ach! so unendlich lieb und theuer war“, haben Gatten- und Kindespietät die einfache Marmorplatte mit Namen, Geburts- und Sterbetag zu Füßen des von Epheu überwucherten Hügels placirt und die schlanken hohen Rosenstämmchen, die Gerstäcker im Leben selbst noch täglich gepflegt, an die Seitenlängen des Grabes gepflanzt. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß die Ruhestätte des Braven mit Sorgfalt gehütet und gepflegt wird.

Ihnen aber Tausend Dank für die warme Theilnahme, mit der Sie unseres unvergeßlichen Freundes auch heute noch und aus weiter Ferne gedenken!

Kr. in St. (Böhmen.) Sie wünschen von der Redaction die Angabe von Büchern, deren Inhalt auf die Entwickelung wahrhaft-sittlicher Jünglinge wirken und deren Lectüre ihnen einen Stab durch’s Leben geben könne. Bücher allein, lieber Herr, bilden noch keinen Charakter, noch keinen guten Menschen. Es ist gewißlich wahr: nichts ist roher als die Unwissenheit und nichts macht den Menschen liebenswürdiger als wahres Wissen, aber Herzensbildung wird nur durch Umgang mit wissenschaftlich-hochstehenden und zugleich guten Menschen gefördert. Um Ihren Wunsch annähernd erfüllen zu können, bedarf es indeß vor Allem einer genauen Mittheilung über den Bildungsgrad Ihrer Zöglinge.




Geburtstagsmorgen. (Mit Abbildung, S. 335.) Wozu noch viel der Worte? Unser sprechendes Bild erklärt sich selbst. Das Geburtstagskind liegt noch tief in den Federn. Aber mit dem ersten Sonnenstrahle, da die junge fröhliche Mutter kaum das Geburtstagstischlein geschmückt hatte, hat die Frau Pathe – die prächtige Alte thut’s nicht anders – sich aufgemacht, ist durch die stillen Gassen des Dorfes leise dahergekommen – und nun ist sie da, das derbe Pferdchen von Sonneberg oder Nürnberg unter der reinlichen Schürze. Glücklich das Kind, das so eine Pathe hat!




Berichtigungen. In einem kleinem Theile der Auflage unserer Nr. 19 haben sich zwei Druckfehler eingeschlichen. Es ist dort in dem Artikel „Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten“ in der Anmerkung auf Seite 307 nicht zu lesen: Generalintendant von Röder, sondern Generalintendant von Redern und ferner an allen betreffenden Stellen des Aufsatzes nicht Brenicke, sondern: Warnicke. – Uebrigens gehen uns von mehreren Seiten Mittheilungen zu, welche diesem Artikel tiefer greifende Unrichtigkeiten nachweisen. Wir werden daher in einer der nächsten Nummern noch einmal auf denselben zurückkommen.

Bekanntlich wird die Gartenlaube vier- auch fünfmal gesetzt. Es leuchtet ein, daß in Folge dessen die Chancen für Druckfehler in unserer Zeitschrift verhältnißmäßig größere sind als in solchen Blättern, welche nur einmal gesetzt werden. So ist denn auch in einem sehr kleinen Theil (in etwa fünftausend Exemplaren) der Auflage unserer Nr. 20 ein Setzerfehler übersehen worden, den wir hiermit berichtigen: Es ist nämlich Seite 318 in dem Goethe’schen Gedichte „Der Goldschmiedsgesell“ Strophe 3 statt: „Und feilt und wirbt“ zu lesen: „Und feilscht und wirbt“.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.