Die Gartenlaube (1874)/Heft 6

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[89]

No. 6.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


9.


„Mama,“ sagte Leo und reckte seine kleinen Arme schmeichelnd zu ihr empor, „ich will artig sein und nie wieder nach der Berger schlagen, aber lasse mich auch neben Dir sitzen!“

Sie nahm ihn an ihre Seite, unbekümmert um den Zornblick, der vom Kamin herüberfuhr, und machte ihm das Frühstück zurecht. Da trat Baron Mainau durch die gegenüberliegende Thür ein. Er blieb einen Augenblick mit sichtlicher Befriedigung an der Schwelle stehen. So war es recht, so hatte er die neue Herrin von Schönwerth gewünscht. Da saß sie, im züchtig am Halse schließenden Battistkleide, unscheinbar, auffallend blaß und farblos neben dem prächtig blühenden Knabengesicht, und von dem hellen Wandgetäfel hob sich das Haar roth, entschieden roth ab. … Gestern hatte ihm die imposante, anspruchsvolle Erscheinung förmlich bange gemacht. Die reizvolle Gestalt mit dem selbstbewußt getragenen, goldflimmernden Köpfchen und den entschiedenen Worten auf den Lippen hatte ihn erschreckt; sie war nichts weniger als der hochaufgeschossene, unbedeutende Rothkopf, jenes stille Mädchen mit dem furchtsamen Gemüth gewesen, wie er es für sich und die ganzen Verhältnisse in Schönwerth als einzig passend ausgesucht. Diese unliebsame Entdeckung hatte ihm bereits schwer zu schaffen gemacht und ihn bis zu diesem Augenblick mit geheimem Verdruß und Aerger darüber erfüllt, daß er doch wohl von der alten, geriebenen Erlaucht in Rudisdorf überlistet und nun an eine hochmüthige, anspruchsvolle Frau gebunden sei, die, auf ihre lange Ahnenreihe und äußere Vorzüge pochend, ihm seine sorglich reservirte Freiheit verkümmern könne. … Nun sah er sie wieder in Amt und Würden als Hausfrau von so bescheidenem Aeußern, daß selbst die durchaus nicht hübsche Gouvernante ganz passabel neben ihr erschien. … Sie hatte seinen Knaben an ihrer Seite, und der grillige Onkel schien gut verpflegt zu sein.

Mit heiterem Morgengruß kam er rasch näher. Es war, als ströme die ganze Farbengluth und Frische des jungen Sommertages mit ihm herein, so übermüthig, kraft- und lebenathmend schritt der schöne Mann durch den weiten Saal. Niemand empfand das wohl tiefer, als der kranke Mann im Rollstuhl; er zog die feinen Brauen tief zusammen, und ein schmerzlicher Seufzer hob seine Brust – seine gallige Laune wurde dadurch sicher nicht gebessert.

„Nun, Raoul, wie viel von Deinen gerühmten Prunus tribola-Stämmchen stehen noch in den neuen Anlagen?“ fragte er spöttisch nach dem Neffen hinüber, der eben die Hand seiner jungen Frau leicht mit den Lippen berührte – ein Schatten flog über seine breite, weiße Stirn, dann aber lachte er.

„Diese Schlauköpfe – ‚nur ein Häuschen‘ haben sie bauen wollen, und dazu waren ihnen meine prächtigen Prunus gut genug,“ sagte er mit leichtem Humor. „Sie sind glücklicher Weise in dem Moment erwischt worden, als sie Miene machten, das stattlichste Exemplar, meinen Liebling, zu annectiren – der Schaden ist im Ganzen unbedeutend –“

„Er ist nicht unbedeutend, und wenn sie auch nur einen Zweig abgeknickt hätten,“ unterbrach ihn der Hofmarschall heftig. „Es ist weit gekommen. So lange ich auf den Füßen stand, hätte Keiner gewagt, auch nur ein Blatt anzurühren – diese freche Brut mußte gestraft werden, exemplarisch gestraft werden. … Ich hätte die Reitpeitsche in der Hand haben müssen.“ …

„Ich habe keinen Genuß dabei, solch ein heulendes, kleines Ding zu schlagen, und der Junge war mir zu blaß,“ sagte Baron Mainau langsam und nachlässig, wobei er in eines der Fenster trat – welch ein Contrast zwischen dem angenommenen Phlegma des sonst so ungestümen Mannes und dem sprudelnden Grimm seines Onkels! … Tiefgereizt wandte der alte Herr den Kopf nach dem Neffen, der mit den Fingerspitzen leise auf den Scheiben trommelte.

„Das sind so humane Anwandlungen, die von Gevatter Schneider und Schuster wüthend applaudirt werden – mit ihnen wird man allerdings über Nacht populär – bei seinen Standesgenossen macht man sich einfach lächerlich,“ warf der Hofmarschall hin.

Baron Mainau ließ die Finger auf den Scheiben weiter spielen; aber das Blut stieg ihm in das Gesicht.

„Mein lieber Raoul, als ich vorhin die allerliebste Scene im Hofe mit ansah, da kam mir mit lebhaftem Erschrecken der Verdacht, es sei doch wohl wahr, was man Dir nachsagt.“

„Und was sagt man mir nach?“ fragte Baron Mainau, indem er sich umwandte.

„Eh – nicht heftig werden, mein Freund!“ begütigte der Onkel – der schöne Mann dort stand plötzlich so gebieterisch und Rechenschaft heischend im Rahmen der Fensternische. – „Deine Ehre schädigt es weniger, Du verfällst – wie gesagt – einfach dem Fluch der Lächerlichkeit, wenn Du einen notorischen Verbrecher aus Humanitätsrücksichten entwischen lässest – dem Strolch, dem Hesse, der seit Jahren den Schönwerther Forst [90] unsicher gemacht hat, soll ein ‚Höherer‘ fortgeholfen haben just in dem Moment, wo ihn endlich die Gensdarmerie beim Kragen nehmen wollte –“

Ein spöttisch heiteres Lächeln flog hell und ausdrucksvoll über Mainau’s Gesicht hin.

„Ei, ist wirklich auch diese kleine Sünde zu Deinen Ohren gekommen, Onkel?“ fragte er. „Allen Respect vor dem Kunstgewebe der Spinne – wohin die unglückliche Fliege auch tritt, sie berührt einen heiklen Faden, der elektrische Schläge in das Centrum zurückführt. … Dieser Mensch, dieser Hesse, war wirklich ein lästiges Individuum – er schoß mir meine Capitalhirsche vor der Nase weg. Wenn es noch aus Passion geschehen wäre – ich hätte ein Auge zugedrückt – aber er that es aus Nothfi donc! … Ehemals war das freilich anders; da hatten die Herren von Schönwerth das gute Recht, solch einen Eindringling ohne Weiteres niederzuschießen und sich nach Belieben Handschuhleder aus seiner Haut gerben zu lassen. Himmel, muß das ein Machtgefühl gewesen sein! Die Haut des lieben Nächsten über seine Finger ziehen zu dürfen!“

Bei diesen letzten Worten drehte sich der Hofmarschall um und sah scharf prüfend nach dem Sprechenden; dann wandte er ihm ungeduldig den Rücken und stieß mit dem Stock tactmäßig gegen die bronzene Kaminverzierung, daß sie unablässig klirrte.

„Die meisten dieser unserer Standesvorrechte haben uns die fatalen modernen Ideen aus der Hand gewunden,“ fuhr Baron Mainau fort, „und was sie uns dafür bieten, will ich nicht. … Der Spitzbube, der den Laden ‚der Gevatter Schneider und Schuster‘ ausräumt, wird genau so gestraft, wie mein Sünder, mein Wilddieb – ei, das paßt mir nicht! Er wird eingesteckt, und weil er nach der Haft erst recht nichts zu beißen und zu brechen hat, da pirscht er mir schon am nächsten Abend wieder unverdrossen in meinem Revier. Da helfe ich mir, wie vordem, selber und schaffe den Burschen aus dem Wege – in Amerika schadet er mir nicht mehr.“

„Narretheien!“ murmelte der alte Herr grimmig, während Baron Mainau unbefangen an den Kaffeetisch zurücktrat und Leo’s Lockenkopf streichelte. „Nach Tische fahren wir aus, mein Junge; wir müssen doch der Mama die Fasanerie und die anderen Herrlichkeiten von Schönwerth zeigen – bist Du einverstanden, Juliane?“ fragte er. … Sie bejahte bereitwillig, ohne die Augen von der Stickerei zu heben, an der sie arbeitete.

Er brannte sich eine Cigarre an und griff nach seinem Hut. Liane erhob sich. „Darf ich für wenige Augenblicke um Gehör bitten?“ fragte sie. … Da stand sie wieder vor ihm, hoch, schlank, unnahbar vornehm; er sah in nächster Nähe die wundervoll belebte, weiße Sammethaut, wie sie das Rothhaar gern begleitet, er sah in die stahlfarbenen Augen, die den seinen so ruhig und leidenschaftslos begegneten. Höflich reichte er ihr den Arm.

„Nimm Dich in Acht, Raoul! Die schöne Frau hat eine ganze Tasche voll interessanter Neuigkeiten aus Rudisdorf mitgebracht,“ rief der Hofmarschall, scherzhaft mit dem Finger drohend, ihm nach. „Sie ist in ihren Familientraditionen bewandert, wie kaum ein Archivar. Ich habe eben hören müssen, daß ein Mainau Dienstmann bei den erlauchten Trachenbergern gewesen ist.“

Mainau ließ mit einer ungestümen Wendung den Arm sinken, auf welchem die Fingerspitzen seiner jungen Frau lagen. Schweigend, aber mit tiefverfinstertem Gesicht, schritt er allein nach der Thür, öffnete sie weit und ließ die junge Frau an sich vorübergehen.

Sie erhob die Augen erst wieder, als sie vor einer zweiten Thür mit einer Handbewegung aufgefordert wurde, einzutreten. Von dem pompejanischen Roth der entgegengesetzten Zimmerwand flog es ihr beim Eintreten wie eine weiße Wolke entgegen – jenes schwebende junge Wesen mit der eigensinnig hochmüthigen Wendung des reizenden Köpfchens, mit der flachen Brust, den schmalen Schultern und dürftigen Kinderarmen inmitten der täuschend hingehauchten, gelblichen Spitzenwogen sah in dem schweren Rahmen wie ein weißer Schmetterling aus, der, an einen Faden gebunden, vergebens strebt, weiter zu flattern. Das war die erste Frau, und Liane sagte sich unter leichtem Erschrecken, daß sie in Mainau’s Zimmer stehe. Halb und halb flüchtend näherte sie sich dem Fenster.

„Ich werde schnell zu Ende sein,“ sagte sie, den Fauteuil ablehnend, den er ihr hinschob. Sie blieb stehen und legte die Hand auf die Ecke des Schreibtisches, der in dem Fensterbogen stand; dabei stieß sie unwillkürlich an eine der großen Photographien, die im Medaillonrahmen die Tischplatte schmückten.

„Die Herzogin,“ sagte Mainau wie vorstellend, mit einem halben Lächeln und schob das Bild der üppig schönen Frau vorsichtig wieder an seinen Platz. Mit einem Ruck ließ er das Rouleau um ein Stück niedergleiten – ein schmaler Sonnenstreifen zitterte auf der Stirn der jungen Dame und zwang sie, die Augen niederzuschlagen. „Nun,“ sagte er, bei der Beschäftigung dem Fenster zugewendet, „darf ich Deine Wünsche hören, Juliane? Stehen sie wirklich in Beziehung zu Rudisdorf, wie der Onkel meinte? – Er war sehr schlechter Laune, der alte Herr – Deine Bemerkung hat ihn offenbar gereizt –“

„Nothwehr,“ versetzte Liane gelassen, aber sehr bestimmt.

„Wie, er hat es dennoch wieder gewagt, Dich zu kränken? Ich habe sein Wort –“

„Lassen Sie das!“ unterbrach sie ihn mit einer ihrer ruhig edlen Handbewegungen. „Ich halte den Mann für sehr krank und vergesse das keinen Augenblick. Der wirklichen Böswilligkeit aber werde ich so lange entschieden zu begegnen wissen, bis sie sich nicht mehr hervorwagt.“

Mainau sah über die Schalter zurück mit einer Art von grübelnder Prüfung in ihr Gesicht. „Das klingt sehr vernünftig,“ sagte er langsam. „Auf diese Weise werden wir den Frieden haben, den ich so sehnlich für mein Dasein wünsche. … Glaube mir, Nichts stört Einem das Behagen beim Reisen so consequent und gründlich, als wenn man sein Haus nicht so bestellt weiß, wie es sein sollte.“

„Darüber eben wollte ich mit Ihnen reden. Sie –“

Er lächelte heiter und belustigt. „Das geht aber wirklich nicht mehr, Juliane,“ unterbrach er sie. „Wer dieses Gespräch mit anhören könnte, der müßte doch laut auslachen. … Es hilft Dir nichts, einmal mußt Du Dich entschließen, das ‚Sie‘ mit dem ‚Du‘ zu vertauschen – schon um der Schloßleute willen, die darin nur einen ganz unpassenden Respectsausdruck sehen würden. Und den Nimbus will ich nicht, oder vielmehr – was schlimm, aber wahr ist – ich verdiene ihn nicht bei meinen vielen Fehlern.“

Wie unwillkürlich überflogen seine Augen bei diesen Worten den Schreibtisch und die tiefe Fensterwölbung, in welcher das große, prächtig geschnitzte Möbel stand. Liane folgte diesem Blicke. Es war in der That eine Schönheitsgalerie, die alle diese Bronzerahmen an der Wand umfaßten – hier und da ein schönes aristokratisches Frauengesicht mit schwärmerischem Augenaufschlag oder stolz zurückgeworfenem Kopfe und dazwischen Tänzerinnen in den verwegensten Stellungen und Toiletten. Inmitten des Tischaufsatzes aber, da, wo am passendsten Leo’s Bild gestanden hätte, lag auf weißem Sammetkissen und unter einer Glasglocke ein ziemlich verblaßter hellblauer Atlasschuh.

Der jungen Dame war diese Art von Cultus unter den Cavalieren nicht neu; ihre Mitschülerinnen im Stifte hatten genug davon zu erzählen gewußt; hier aber sah sie den ersten Beweis und erröthete heftig. Mainau bemerkte es.

„Reminiscenzen aus der unglücklichen Zeit, wo man ‚gerast‘ hat,“ sagte er heiter und klopfte mit dem Zeigefinger so hart an die Glasglocke, daß ein scharfer Ton durch das Zimmer schrillte. „Mein Gott, ich habe den Anblick herzlich satt – aber ‚ein Mann ein Wort!‘ … In einer begeisterungsvollen Stunde gelobte ich der Trägerin, diesen Zeugen ihrer Triumphe in Ehren zu halten, und da liegt er nun, und bei jedem Briefe, den ich schreibe, verwundet dieses blaue Gegenüber durch seine mehr als respectable Länge und Breite meinen Schönheitssinn und meine Eitelkeit, indem es mir sagt, ich sei dazumal doch ein ungewöhnlich dummer Junge gewesen. … Aber nun noch einmal, Juliane!“ brach er, ernster werdend, die Selbstironisirung ab. „Ich bitte Dich ernstlich, nunmehr in den unbefangenen Umgangston einzulenken, der Dir Deine Stellung im Hause weit mehr erleichtern wird, als Du denkst. … Wir wollen gute Freunde sein, Juliane, ein paar wackere Cameraden, die sich vertragen, ohne die gegenseitigen Ansprüche in das Bereich der Sentimentalität hinaufzuschrauben. Und Du sollst sehen – so [91] viel Wankelmuth man mir auch nachzusagen weiß –, in der Freundschaft bin ich zuverlässig und habe ich nie betrogen.“

„Ich gehe darauf ein, schon um Leo’s willen,“ versetzte sie, mit seltenem Tacte die eigenthümliche Lage auffassend, in der sie sich doch nun einmal befand. „Ich habe um diese Unterredung gebeten, um Dir zu sagen, daß das Kind in den unzuverlässigsten Händen ist, daß Du sofort Schritte thun mußt –“

Er ließ sie nicht ausreden. „Die überlasse ich Dir!“ rief er ziemlich ungeduldig. „Jage diese Person auf der Stelle fort, wenn es Dir beliebt, aber mich lasse aus dem Spiele! … Ich bitte Dich um’s Himmels willen, mache es nicht wie Valerie! Die hätte mich auch am liebsten zum Büttel im Hause gemacht und hat anfänglich Thränen der Erbitterung genug geweint, weil ich mich nicht herbeiließ, ihrer Kammerfrau für jede schlecht gesteckte Schleife einen Verweis zu ertheilen. … Nur kein Echauffement daheim, Juliane – nur das nicht! … Je ruhiger, leidenschaftsloser und gleichmäßiger das häusliche Leben in Schönwerth verläuft, desto dankbarer werde ich meinem guten Cameraden sein. … Im Uebrigen hat sich ja der Onkel bereits mit einer neuen Gouvernante in Verbindung gesetzt, die sehr empfohlen wird.“

Liane zog einige Papiere aus der Tasche. „Es wäre mir sehr lieb, wenn sie nicht käme,“ sagte sie. „Vielleicht siehst Du gelegentlich in diese Blätter – es ist in wenigen Augenblicken geschehen – sie enthalten meine Schulzeugnisse aus dem Stifte. Ich bin grammatisch vollkommen fest in den neueren Sprachen, und was die Aussprache betrifft, so nimmst Du Dir vielleicht die Mühe, selbst zu urtheilen. Die Zeugnisse sind auch in anderen Fächern günstig; trotzalledem würde ich nicht wagen, mich zum Unterrichte des Knaben anzubieten, dürfte ich mir nicht sagen, daß ich mit Ernst und Lust gelernt habe. … Du würdest mich glücklich machen, wolltest Du die Lebensaufgabe, die ich mir gestellt habe, acceptiren und die Erziehung Deines Kindes einzig und allein in meine Hände legen.“

Er war einige Male rasch im Zimmer auf- und abgegangen und blieb jetzt mit sichtlichem Befremden in seinen Zügen vor ihr stehen. „Die Sprache ist mir neu aus Frauenmunde – ich habe sie noch nicht gehört,“ sagte er. „Ich würde ihr auch unbedingt glauben, wärst Du um zehn Jahre älter und im Leben erfahrener, Juliane.“ Sein Blick flog spöttisch und halb verächtlich über die Schönheitsgalerie in die Fensternische und blieb dann einen Augenblick an der spitzenumwogten ersten Frau hängen.

„‚Der Löwe hat noch nicht Blut geleckt!‘ pflegen wir der siegesgewissen Unerfahrenheit gegenüber zu sagen. … Wer weiß es, in vielen dieser Köpfe haben vielleicht auch ‚tugendsame Lebensaufgaben‘ gespukt, bis – die Gesellschaft sie in ihren Strudel gezogen hat,“ fuhr er fort und deutete mit der Hand nach den Bilderreihen. „Du bist im Stifte erzogen, und kaum in Dein Elternhaus zurückgekehrt, sahst Du – verzeihe! – die Rudisdorfer Herrlichkeit zusammenbrechen. … Du weißt ja nicht, welchen hinreißenden Zauber das Leben bietet, das – die Frau Gräfin Trachenberg bis auf die Neige ausgekostet hat.“

Bei Erwähnung ihrer verschwenderischen Mutter erröthete die junge Dame bis über die Schläfen. „Was soll ich Dir antworten,“ versetzte sie leise, „da Du ja doch nicht glaubst, daß auch die Mädchenseele stark genug sein kann, das Warnende im Beispiele einzusehen? … Laß uns ganz aufrichtig untereinander sein, wie es guten Cameraden ziemt,“ fuhr sie rasch und energisch fort. „Ich habe meinen Lebensplan festgestellt, so gut wie Du den Deinigen, und werde an ihm halten. Vor Allem möchte ich Dich dringend bitten, nichts mehr in das obere Fach meines Schreibtisches zu legen – mir machen diese Geldrollen namenlose Angst, und – was soll schließlich aus ihnen werden?“

„Und Das soll ich Dir glauben, Juliane?“ lachte Mainau auf. „Das soll ich Dir glauben, nachdem Du mich gestern versichert hast, Du würdest das Vorrecht, den Hermelin zu tragen zu behaupten wissen? … Wo willst Du ihn denn tragen? Doch nicht im Schulzimmer? – Du wirst ihn majestätisch über das Parquet der Hofsäle gleiten lassen, und daß dann noch mehr dazu gehört, Das wirst Du sehr schnell einsehen. Es wird eine Zeit kommen, wo Du mich bittest, Dein Nadelgeld zu erhöhen – Diese da“ – er zeigte auf das Bild der ersten Frau – „hat Das aus dem Grunde verstanden, und Du – Du wirst es auch lernen.“

„Nie!“ rief die junge Frau entschieden. „Niemals! … Und nun laß Dir zu meiner Vertheidigung sagen: Ja, ich bin stolz auf meine Ahnen – es waren Ehrenmänner von Geschlecht zu Geschlecht – ich kenne nichts Lieberes, als in den Blättern ihres Lebens nachzuschlagen. Aber auf diese Verdienste kann ich mich ja nicht stützen, wenn es darauf ankommt, mich selbst geltend zu machen. Ich würde mich auch niemals dieses ererbten Glanzes Leuten gegenüber bedienen, die auf äußere Stellung kein Gewicht legen. Nur da, wo mir die Anmaßung, der Uebermuth des begüterten Adels entgegentritt, da klopfe ich auf mein Ahnenschild, daß es klingt.“

Er stand einen Moment schweigend mit untergeschlagenen Armen vor ihr. „Ich möchte wohl fragen: ‚warum zeigst Du diese Augen erst in Schönwerth, Juliane?‘“ sagte er langsam.

Sie wandte die Augen, die ihn so beredt und glänzend angesehen, erschrocken weg. „Darf ich nun um eine definitive Entscheidung bitten?“ fragte sie unsicher und mit einer peinlichen Verlegenheit ringend. „Darf ich für Leo Mutter und alleinige Erzieherin zugleich sein, und wirst Du beim Hofmarschall dahin wirken, daß auch er mir freie Hand läßt?“ setzte sie wieder gefaßt und dringend hinzu.

„Er wird Schwierigkeiten machen,“ antwortete Mainau und strich sich mit der Hand über die Stirn; „aber das soll mich nicht abhalten, Dir unbeschränkte Vollmacht zu ertheilen. … Wir werden ja sehen, wer in Deiner Natur siegt – ob die selbstgewählte Lebensaufgabe mit ihren vielen Schattenseiten, oder – die Weltdame, die Tochter der Prinzessin Lutowiska.“

„Ich danke Dir, Mainau,“ sagte sie fast kindlich froh und herzlich, indem sie seine letzte, sehr ironische Bemerkung ignorirte.

Er griff nach ihrer Hand, um sie zu küssen – sie wandte sich ab und schritt rasch nach der Thür. „Ist nicht nöthig bei guten Cameraden – wir werden uns auch so verstehen,“ rief sie mit einem reizend heiteren Lächeln über die Schulter zurück und ging hinaus.




10.


Frau Löhn hatte es jetzt schlimm, wie sie sich auszudrücken pflegte. Sie nickte zu dieser Behauptung stets mit dem steifgehaltenen Kopfe und stieß grimmig den tadellos sitzenden Hornkamm tiefer in ihr graues Zopfbündel. Ihre Kranke machte ihr schwer zu schaffen; sie war sehr aufgeregt, weil ja die Frau Herzogin alle Tage – „selbst wenn der liebe Herrgott Spitzbuben regnen ließ“ – am indischen Hause vorbeiritt. … Seltsam – in den Hofkreisen hatte man sicher vorausgesetzt, Mainau’s plötzliche Vermählung, „dieser halbverrückte, abenteuerliche Schritt“, werde seine Beziehungen zum Hofe sofort lösen und die ehemalige Gunst in die erbittertste Feindseligkeit wandeln – es kam ganz anders. Die Eingeweihten flüsterten sich zu, die Herzogin sei wie erlöst aus ihrer starren Haltung, seit sie wisse, daß die Verbindung im vollsten Sinne des Wortes eine Convenienzheirath sei, die auch der alte Hofmarschall tödtlich anfeinde und allmählich wieder zu lösen hoffe. Um was diese Scharfsinnigen aber nicht wußten, das war eines der tiefen Räthsel der Frauennatur, die im stolzen Herzen der Aristokratin, wie in dem der Grisette schlummern – die Herzogin hatte den schönen, übermüthigen Mann nie leidenschaftlicher und demuthsvoller geliebt, als nachdem er sie so furchtbar, so eclatant gestraft, ja, moralisch fast mit Füßen getreten hatte. … „Der Rothkopf“, wie die neue Herrin des Schönwerther Schlosses von Hofdamenlippen genannt wurde, war kein Gegenstand der Eifersucht mehr, seit die Herzogin im Fluge durch den „Nonnenschleier“ gesehen und keinerlei Reize entdeckt hatte. Während die erste Frau durch prachtvolle Toiletten und ihre pikante, Lebenslust und Vergnügungssucht athmende Erscheinung ein Schmuck, ein jederzeit umschmeichelter Gast des Hofes gewesen war, hatte Mainau die zweite gar nicht einmal vorgestellt. Er bewohnte nach wie vor, oft auf mehrere Tage allein, wie ein Garçon, seine elegante Miethwohnung in der Residenz und sprach unbefangen von seiner bevorstehenden Reise nach dem Orient. … Das Alles genügte, um die Herzogin zu überzeugen, daß mit dem vollzogenen Strafact der glühende Rachedurst des leidenschaftlichen Mannes für immer gelöscht und das weitere Geschick [92] des dazu benutzten Werkzeuges ihm sehr gleichgültig sei. Nun ritt sie wieder fast täglich durch den Schönwerther Park, und zwar in sehr gehobener Stimmung.

Seit die Erzieherin das Schloß verlassen, was auf Mainau’s Befehl schon wenige Tage nach der Besprechung mit Liane geschehen war, kam auch der Hofprediger öfter als je nach Schönwerth – er ertheilte Leo selbst den Religionsunterricht. … Es hatte einen schlimmen Auftritt zwischen Onkel und Neffen gegeben; die Dienerschaft war der Meinung gewesen, die Splitter müßten umherfliegen, so wüthend hatte der Stock des Kranken das Parquet bearbeitet – eine völlig nutzlose Erhitzung – denn eine halbe Stunde später war Leo’s Schlafzimmer neben das der jungen Frau verlegt worden, und von diesem Augenblicke an trat sie in alle Rechte der Mutter ein und wurde als solche im Hause streng respectirt. Denn obgleich die Schloßleute sich zuraunten, der Hofmarschall könne die junge Frau nicht ausstehen, und „der junge Herr mache sich doch auch gar nichts aus ihr“, so verhehlten sie sich dabei nicht, daß man ihr die Gräfin auf zehn Schritte ansehe und nie den Muth finde, ihr unhöflich zu widersprechen. Anfangs staunten sie freilich, wenn „diese Zweite“, so schweigsam und lautlos wie die weiße Frau, plötzlich unter ihnen erschien, um nach „dem Rechten“ zu sehen; aber sie gewöhnten sich um so schneller an „diese Eigenheit“, als auch die sonst so spröde Beschließerin widerspruchlos ihre Leinenschränke vor den grauen, prüfenden Augen der Herrin öffnete.

Liane vermied seit jenem Gespräch, mit Mainau allein zu sein, und ihm fiel es nicht ein, sie zu suchen. Er hatte auch nie wieder Gelegenheit gehabt, sich über ihre Augen zu wundern. Selbst bei den anregendsten Gesprächen und Debatten zwischen ihm und dem Hofprediger am Theetisch sah sie so still auf ihre schönen, unermüdlich an einem Teppich stickenden Hände nieder, daß Mainau überzeugt war, sie gehe im Geiste Leo’s Vocabeln durch, oder zähle die Seifenstücken, die man in der Waschküche verbraucht habe. Er, der „die deutsche Langeweile“ floh, wie tödtliches Gift, er hatte sie grundsätzlich mit dieser „stillen, passiven Natur“ in sein Haus verpflanzt. Dazu waren alle seine neuen Anlagen im Parke fertig, es blieb ihm, wie er sich ausdrückte, für das nächste halbe Jahr nicht eine einzige Aufgabe in der Heimath zu erfüllen, und so rüstete er energisch zur Abreise. … „Das Vagabondenblut der Mainau“ siede in ihm, sagte er eines Abends beim Thee lachend zum Hofmarschall.

Der alte Herr wurde spitz und verbat sich in seinem und seiner edlen Vorfahren Namen dergleichen Bezeichnungen – es kam zu einem scharfgeführten Wortwechsel, der grelle Schlaglichter auf die Vergangenheit warf. … Während Liane, scheinbar indolent, Stich um Stich weiter stickte, sah sie im Geiste die drei Brüder Mainau, die vor circa fünfunddreißig Jahren viel von sich reden gemacht hatten – sie waren schön, vornehm und gesucht gewesen. … Der Greis dort mit dem tadellos frisirten grauen Kopf, dem fortgesetzt fahlrothe Lichter der inneren Erregung über die Wangen flackerten, er hatte Recht, wenn er gegen das Vagabondenblut protestirte. Ihm, dem mittleren dieser Brüder, wäre es unmöglich gewesen, in einer anderen als der Hofatmosphäre seine Lebenslust zu suchen. Er hatte immer nach den höchsten Zielen gestrebt, wie die Gräfin Trachenberg zu sagen pflegte, wenn sie andeuten wollte, daß sie ihm einen Korb gegeben habe. … „Standesgemäß“ am Hofe placirt, hatte er sich auch „standesgemäß“ eine ebenbürtige Gemahlin durch die damals regierende Herzogin „aufbefehlen“ lassen und konnte sich mit gutem Gewissen sagen, daß seine feinen Sohlen nie das grobe Pflaster der Alltäglichkeit berührt hatten. Sein ältester Bruder dagegen war frühzeitig ausgeschwärmt; er war in die Eisregion des Nordpoles vorgedrungen und hatte nomadenhaft die Jagdgründe der Indianer durchstreift, und wenn er einmal wieder „das kleine Klatsch- und Hofnest in dem deutschen Erdenwinkel“ aufgesucht, dann hatten seine Extravaganzen und Rücksichtslosigkeiten eine Gänsehaut um die andere über den Rücken des brüderlichen Höflings laufen lassen. Einmal aber war es einer schönen, reichen Erbin gelungen, ihn festzuhalten; er hatte sich mit ihr vermählt und war genau so lange in der Residenz verblieben, um dem jungen, lieblichen Geschöpfe nach einem schweren Wochenbette die Augen zuzudrücken, seinem verwaisten Kind bei der Taufe den Namen Raoul zu geben und sein Testament zu machen. Dann hatte er den Staub von den Füßen geschüttelt und es schließlich der deutschen Gesandtschaft in Brasilien überlassen, Nachricht von ihm zu geben – er war am Fieber gestorben.

Das Alles kam zur Sprache, und Liane fühlte sich einen Augenblick versucht, den ihr angetrauten Mann zu bedauern, der so früh schon allein gestanden – aber wozu denn? … Er war reich, schön, voll sprühender Lebenskraft, und in seiner Unabhängigkeit rücksichtslos gegen Andere bis zur äußersten Grenze. Die ganze Welt mit ihren Genüssen lag ihm zu Füßen, und über eine strenge Auswahl derselben hatte sich sein Feuerkopf wohl niemals Scrupel gemacht. So saß er dort neben dem keifenden Greis und sah den blauen Dampfringen seiner Cigarre nach, wie sie dem Fenster zuschwebten, um sich mit dem Goldhauch der letzten Abendsonnenstrahlen zu mischen.

„Liebliches Schönwerth,“ rief er mit lächelndem Pathos, wobei sein ausgestreckter Arm einen weiten Bogen über die draußen sich hinbreitende, unvergleichlich schöne Landschaft beschrieb. „Vielbeneideter Besitz! Dich verdanken wir einzig diesem verfehmten Wandertrieb. Onkel Hofmarschall sähe noch aus den Fenstern seiner Amtswohnung in der Residenz, wenn Gisbert von Mainau hinter dem Ofen sitzen geblieben wäre.“

Der Hofprediger hatte neulich Recht gehabt mit seiner Behauptung, daß man den dritten und jüngsten Bruder nicht nennen dürfe, ohne den alten Herrn außer Fassung zu bringen. Er fuhr empor; aber das Ungewitter, das über einen unvorsichtigen Untergebenen sicher losgebrochen wäre, reducirte sich auf ein Geplänkel von seinen Eissplittern. Während er hastig, als mache er sich reisefertig, sein neben ihm liegendes rothseidenes Taschentuch nebst den verschiedenen Flacons in die Tasche steckte, sagte er:

„Pardon, es wird Zeit, daß ich mich zurückziehe – für Abendluft und Kraftgenialität sind meine Nerven nun einmal mimosenhaft empfindlich – wer kann sich robuster und derber machen, als er ist? … Ja, das liebe Alter! Ich habe die französischen Moden immer so gern gehabt, und jetzt bin ich so bärbeißig, oder vielmehr so spottsüchtig, es lächerlich zu finden, wenn der deutsche Nachahmungstrieb auch versucht, in den Fußstapfen großer Onkels zu gehen. … Mein bester Raoul, Du hast viel vom Onkel Gisbert – wer wollte die Aehnlichkeit leugnen? –, und da Du das schön findest, so mache ich Dir mein Compliment darüber; ja, ich muß sogar lebhaft wünschen, daß Du Dich treulich an den Weg hältst, den er gegangen – jener Wandertrieb, er ist ja schließlich doch in dem heißen Sehnen und Trachten nach dem rechten Ziele, nach dem ewigen Heile aufgegangen.“

„Mein Gott, ja – wie kläglich! Der arme Onkel, er war siech und – fromm geworden,“ versetzte Mainau kalt lächelnd, während der Hofmarschall mit der silbernen Handklingel förmlich Sturm läutete.

Sein Kammerdiener erschien, um ihn in das Schlafzimmer zu fahren. Mainau schob den Dienstfertigen bei Seite und rollte den Stuhl eigenhändig bis zur Thür.

„Du erlaubst wohl, daß ich Leo’s Großpapa den schuldigen Respect erweise,“ sagte er höflich, wenn auch in sehr reservirtem Tone zu dem Hofmarschalle, der steif das Haupt neigte; dann schloß er die Thür hinter dem fortrollenden Fahrstuhle und kehrte an den Theetisch zurück.

Die junge Frau hätte am liebsten ihre Arbeit zusammengelegt und wäre auch gegangen; denn sie war allein mit ihm und hatte keine Lust, ihn, der so geistreich mit dem Hofprediger und seinem Onkel zu disputiren wußte, in solchen seltenen Momenten immer nur über die alltäglichsten Dinge reden zu hören, wobei er gar nicht verbarg, daß er mit Ueberwindung in die Kühle einer phantasielosen, prosaischen Welt herabsteige. Aber sie fand keinen schicklichen Vorwand, das Zimmer zu verlassen; es war noch nicht Zeit, Leo zu Bett zu bringen, der Gabriel einen Zügel um den Arm gebunden hatte und ihn über die draußen vor der Glasthür niedersteigende Freitreppe lärmend auf- und abjagte. Sie rückte deshalb ihren Stuhl näher an das Fenster, um unter dem voller hereinfallenden Abendlichte eine feurige Cactusblüthe fertig zu sticken.

„Graut Dir nicht vor der phantastischen Familie, in die ich Dich versetzt habe, Juliane?“ fragte Mainau mit halbem Lächeln nach einer kleinen Pause, während welcher er sich eine [93] frische Cigarre angesteckt hatte. „Du hast gesehen, dem Onkel sträubt sich jedes Haar auf dem Kopfe bei dem Verdachte, es könne sich ein Tropfen unseres ‚Narrenblutes‘ in seine Adern verirrt haben – er hat in seiner Art Recht, der Mann der Regeln und Formen –, und Du mit Deiner unverrückbar ruhigen, sehr vernünftigen Anschauungsweise stehst zu ihm – soweit kenne ich Dich bereits.“


(Fortsetzung folgt.)




Der neue Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses.


Rudolf von Bennigsen.
Auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Wenn man in der gegenwärtigen Session des preußischen Abgeordnetenhauses einer der zahlreichen interessanten Verhandlungen beiwohnt, so erblickt man in dem Präsidentenstuhle, den bisher der bekannte Herr von Forckenbeck mit so großer Ehre eingenommen hat, einen Mann, dessen aristokratisch stattliche Figur und intelligente Züge unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die ganze Erscheinung trägt den Typus der norddeutschen Natur und imponirt weniger durch bestechende Eigenschaften, durch glänzende Genialität, durch hinreißende Beredsamkeit, durch geistreiche Blitze, durch überraschenden Witz, als durch eine harmonische Bildung, durch praktische Tüchtigkeit und männliche Kraft, die unwillkürlich Vertrauen und Achtung fordert und verdient. Die Sicherheit und Ruhe, womit der neue Präsident die oft nur zu stürmischen Verhandlungen leitet, die Unparteilichkeit, welche er bei solchen Gelegenheiten zeigt, die Würde, die er sich und dem Hause stets zu wahren weiß, verrathen eine langjährige parlamentarische Thätigkeit, einen festen Charakter, ein bedeutendes staatsmännisches Talent.

Rudolf von Bennigsen stammt aus einem alten niedersächsischen Adelsgeschlecht und wurde am 10. Juli 1824 in Lüneburg geboren, wo sein höchst gebildeter Vater damals als Major in Garnison stand. Der Knabe genoß im elterlichen Hause eine ausgezeichnete Erziehung, die ihn vor den Vorurtheilen seiner hannoverschen Standesgenossen, die bekanntlich zu den beschränkt übermüthigsten Aristokraten zählen, glücklich bewahrte. Genügend wissenschaftlich vorbereitet, bezog er die Universität Göttingen, später Heidelberg, um die Rechte zu studiren. Obgleich er als Corpsbursche sich an einer Verbindung betheiligte, so zeigte er schon damals einen gewissen Ernst und eine ihm angeborene Zurückhaltung, die fast an Verschlossenheit grenzte. [94] Seine Commilitonen behaupteten, daß Bennigsen erst bei der zweiten oder dritten Flasche aufthaute und auch dann noch seine unerschütterliche Ruhe behauptete.

Nachdem er seine Studien beendet hatte, trat er in den hannoverschen Justizdienst. Obgleich ihm die glänzendsten Aussichten eröffnet wurden, zog er eine bescheidene, aber unabhängige Richterstellung an dem Obergerichte in Göttingen vor. Hier trat er bald mit einigen ausgezeichneten Männern in Verbindung, unter denen der berühmte Zachariä und der bekannte Abgeordnete Miquel einen großen Einfluß auf seine politische Richtung ausübten, während die reichen Hülfsmittel der Universität ihm die Gelegenheit boten, sein juristisches und staatsmännisches Wissen zu bereichern.

Im Jahre 1855 ward er von der hannoverschen Stadt Aurich zum Mitgliede der zweiten Kammer gewählt, doch versagte ihm der Justizminister zum Eintritt die erbetene Erlaubniß. Ohne sich zu besinnen, verzichtete Bennigsen auf den Staatsdienst und auf seine Richterstelle, die er ohne Pension verließ. Ihm stand seine Unabhängigkeit und der Wunsch, dem Volke zu nützen, höher, als alle Güter der Welt, als die Gunst des Fürsten, als die eigene Zukunft.

Mit der ihm angeborenen Energie und praktischen Tüchtigkeit widmete er sich der Landwirthschaft und übernahm, nachdem er einige Zeit die Oekonomie gründlich betrieben, das väterliche Erbgut Bennigsen.

Bei den Neuwahlen im Jahre 1857 mit großer Mehrheit zugleich für Danneberg und Göttingen gewählt, trat er für die letztere Stadt in die Kammer. Hier bekämpfte er an der Spitze der kleinen Opposition das verderbliche System des Ministeriums Borries, welches die im Jahre 1848 errungene Freiheit des Landes mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu unterdrücken suchte. Er begnügte sich jedoch nicht mit den hannoverschen Zuständen, mit den Verhältnissen seines engeren Vaterlandes, die er nach Kräften zu bessern und zu heben versuchte. Sein staatsmännischer Blick ließ ihn bereits im Jahre 1859 die Gefahren erkennen, welche dem zersplitterten, in sich zerrissenen Deutschland damals von einem auswärtigen Feinde drohten. Ganz von diesem Gedanken erfüllt, vereinigte er sich mit mehreren seiner bewährten Gesinnungsgenossen, um einen Mittelpunkt für die politisch-nationalen Bestrebungen zu schaffen. Mit seinem Freunde Miquel entwarf er eine Erklärung, welche gleichsam das Programm des neuen deutschen Reiches enthielt und durch die nachfolgenden Ereignisse fast wörtlich verwirklicht wurde. Schon damals forderte Bennigsen ein gemeinsames deutsches Parlament, eine starke Centralgewalt, die er der preußischen Regierung übertragen wissen wollte. Dieses historisch wichtige Programm erhielt sogleich die Unterschrift von fünfunddreißig hervorragenden, liberalen Männern.

Wenige Wochen später berief Bennigsen eine Versammlung aus allen Theilen Deutschlands nach Eisenach, welche jene bekannte, wie ein Blitz zündende Ansprache erließ. Die Wirkung war überraschend, überwältigend; durch ganz Deutschland flog von Neuem der Ruf nach Einheit und fand in allen Herzen den mächtigsten Wiederhall.

In der alten Kaiserstadt, in Frankfurt am Main, wurde der Grundstein zu dem neuen Baue gelegt, der in kurzer Zeit, wenn auch von anderen Händen, vollendet werden sollte. Am 15. und 16. September 1859 wurde unter Vorsitz von Bennigsen und im Verein mit Feodor Streit, Fries in Weimar, Schulze-Delitzsch, Unruh, Löwe-Calbe, Brater in München, Miquel etc. etc. der Deutsche Nationalverein gegründet, welcher trotz aller Hindernisse und Anfechtungen von Seiten eines beschränkten Particularismus mit bewunderungswürdiger Kraft und Ausdauer sein hohes Ziel verfolgte, den Boden vorbereitete und die segensreiche Saat ausstreute, welche erst nach Jahren die sehnlichst erwünschten Früchte tragen sollte. Dies ist und bleibt Bennigsen’s unsterbliches Verdienst, daß er zu dieser wichtigen historischen Verbindung die erste Anregung gegeben, daß er zuerst den einzig richtigen Weg zur Erlangung der deutschen Einheit gezeigt und die dahin zielende Bewegung in Fluß gebracht hat, indem er sein Ziel auf friedlichem Wege und ohne blutigen Kampf zu erringen hoffte. Muthig ertrug er die unausbleiblichen Anfeindungen der hannoverschen Particularisten, welche ihre Angriffe gegen ihn verdoppelten. Nichtsdestoweniger bewahrte er sich die Liebe und die Achtung seiner aufgeklärten Landsleute, die ihn als Vertrauensmann in die Vorsynode zur Entwerfung einer verbesserten Presbyterial- und Synodalverfassung wählten.

Obgleich Bennigsen diesen religiösen Streitigkeiten fern stand und offen erklärte, wenig oder gar nichts davon zu verstehen, so genügte ein kurzes Studium und sein scharfer Blick in wenigen Tagen, das ihm fremde Gebiet zu bewältigen und sich eine so klare Ansicht zu verschaffen, daß er seine Freunde und Gegner überraschte und das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigte.

Daß er auch in diesen kirchlichen Streitigkeiten das freisinnige Gemeindeprincip vertrat, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Hauptsächlich durch seine Bemühungen wurde die beschlossene Synodal- und Presbyterialverfassung angenommen und dadurch das bereits erschütterte System des Ministeriums Borries beseitigt.

Nach wie vor stand Bennigsen an der Spitze der hannoverschen Opposition und kämpfte gegen das neue, zwar gemäßigte, aber großdeutsch oder vielmehr österreichisch gesinnte Ministerium. Vergebens ließ er vor dem Ausbruche des Krieges im Jahre 1866 seine warnende Stimme ertönen; umsonst suchte er mit seinen Freunden die hannoversche Neutralität zu wahren. Der bethörte blinde König und die noch blinderen Räthe der Krone verschlossen diesen wohlgemeinten Mahnungen ihre Ohren und führten die unausbleibliche Katastrophe herbei, welche den Thron der Welfen und die Selbstständigkeit des Landes nach der Schlacht von Langensalza vernichtete.

Die nächste Folge dieser veränderten politischen Verhältnisse war die Bildung der nationalliberalen Partei, deren Führung Bennigsen übernahm. Mit seinen Freunden stellte er sich zunächst die Aufgabe, Deutschland in einen parlamentarischen Bundesstaat umzuwandeln, was nur mit Hülfe und im Verein mit der preußischen Regierung möglich schien. Ohne seine liberalen Grundsätze aufzugeben, glaubte er der vor allem von ihm gewünschten deutschen Einheit manche Concession machen zu müssen, wodurch er sich den Vorwurf der Vertrauensseligkeit und einer allzu großen Nachgiebigkeit gegen die preußische Regierung zuzog. Sowohl im norddeutschen Reichstag, wie im preußischen Abgeordnetenhause, zu dessen Vicepräsidenten er gewählt wurde, nahm er als Führer der nationalliberalen Partei den lebendigsten Antheil an den parlamentarischen Kämpfen, in denen er oft durch sein Wort und seinen Achtung gebietenden Einfluß den Ausschlag gab. Obgleich von jeher der entschiedenste Gegner eines beschränkten Particularismus, bewahrte er doch seinem engeren Vaterlande eine treue Anhänglichkeit, indem er der neuerworbenen Provinz Hannover ein möglichst zulässiges Maß provinzieller Selbstständigkeit zu bewahren und die gute administrative und communale Organisation zu erhalten suchte. Er wurde deshalb von den Provinzialständen zum Landesdirector gewählt und an die Spitze der Selbstverwaltung gestellt. Auch die preußische Regierung wußte die staatsmännische Fähigkeit Bennigsen’s zu würdigen und schenkte ihm ihr ehrenvolles Vertrauen.

Während des deutsch-französischen Krieges begab er sich mehrere Male im Auftrage seiner politischen Freunde nach Süddeutschland, um sich mit den dortigen Liberalen über eine gemeinsame Haltung in der deutschen Verfassungsfrage zu verständigen. Hauptsächlich seinen Bemühungen gelang es, das gewünschte Resultat herbeizuführen und die vielfachen Vorurtheile und Hindernisse zu beseitigen, wozu seine objective Ruhe und vermittelnde Natur, sowie seine hochgeachtete Persönlichkeit das Meiste beitrugen. Aus demselben Grunde wurde er im December 1870 von der preußischen Regierung nach dem deutschen Hauptquartier in Versailles berufen, um an den Berathungen über die Verträge zwischen den süddeutschen Regierungen und dem norddeutschen Bunde theilzunehmen. Nach dem Kriege widmete er sich von Neuem mit gleichem Eifer der parlamentarischen Thätigkeit sowohl im deutschen Reichstage, wie im preußischen Abgeordnetenhause, das ihn nach dem Ausscheiden Forckenbeck’s mit großer Majorität zu seinem Präsidenten gewählt hat. Auch in dieser neuen Stellung bewährt er seine ihm eigene Tüchtigkeit. Hier, wie in allen Lagen seines Lebens, leistet Bennigsen mehr, als seine Freunde und Gegner von ihm erwarteten; ein echter Deutscher, ein Aristokrat im schönsten Sinne des Wortes, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, edel, wahr und treu, im gewöhnlichen [95] Verkehr verschlossen, lebhaft in der Unterhaltung über ernste Fragen, ist er weniger geschickt zum Organisiren der Partei im Kleinen, desto trefflicher aber in der Oberleitung derselben, als Redner in der Form musterhaft, voll tiefer Gedanken und staatsmännischer Anschauungen, tiefblickend in die zukünftigen Ereignisse, niemals muthlos, sondern stets zuversichtlich auf den endlichen Sieg seiner Ideen. Hier und da wünschten früher seine Freunde wohl ein entschiedneres Auftreten, aber von Niemandem, auch von seinen Gegnern nicht, wird der Vorwurf erhoben werden, daß er jemals seiner Ueberzeugung untreu geworden.

R.





Ein bairischer Schwärzer.


Vor wenigen Jahrzehnten noch war das wilde Wettersteingebirge, die Grenze zwischen Baiern und Tirol, der Schauplatz einer Art von Romantik, welche immer mehr und mehr ausstirbt. Noch finden Diejenigen, welche von Mittenwald oder Partenkirchen aus in die erhabenen Einöden des Rainthales, der oberen Leutasch, in die Felsenwüsten des Kalkgebirges vordringen, in ihren Reisehandbüchern an manchen Stellen angegeben, daß hier und dort ein Schwärzersteig über die steilen Jöcher führe. Solche finden sich zum Beispiel angegeben in einiger Entfernung von dem wunderbaren Wasser der Blauen Gumpe, bei der Lockhütte, von wo früher die Schwärzer über die gewaltigen Schutthalden des Hundsstalles oder über die Wände, die sich zwischen dem Teufelsgrate oberhalb der Rainthaler Schrofen hinziehen, nach Tirol hinübergestiegen sind. Es giebt aber deren in Wirklichkeit noch viel mehr, als diese Bücher angeben.

Eines Tages befand ich mich in Gesellschaft eines alten Leutaschers, dessen Name wegen der untenstehenden Geschichten der Mitwelt verschwiegen bleiben soll, bei der eben erwähnten Lockhütte, zu welcher wir über das sogenannte „Teufelsg’saß“ herübergestiegen waren. Schon unterwegs hatte er mich auf verschiedene Stellen aufmerksam gemacht, die ihm aus der Zeit seiner Jugendabenteuer her im Gedächtnisse geblieben waren. Doch die Anstrengung des scharfen Anstieges, den ich überhaupt nicht Jedem empfehlen möchte, hemmte die Redseligkeit des nunmehr schon ziemlich bejahrten Burschen. Erst nachdem wir das Frauenalple im Rücken hatten, gewann er mehr Athem.

Als wir aber unten dort rasteten, wo das aus dem oberen Rainthale kommende Wasser sich mit den Wellen der Partnach vermengt und der mitgebrachte Wein die Zunge löste, da wurden die alten Erinnerungen lebendig, nahmen Gestaltung an, und im Angesichte des eben überkletterten Felsgrates entstanden die Umrisse der Skizze, welche hier dem Leser vorgeführt wird.

Heutzutage wird deshalb nicht mehr über diese hohen Jöcher geschmuggelt, weil kein Zoll hoch genug ist, um durch dessen Ersparniß die Leute zu solcher Mühe und Lebensgefahr anzuspornen. Was man heute schmuggelt, geht meist an der Landstraße hin und besteht aus Kleinigkeiten, für die sich kein Mensch einem größeren Abenteuer unterzieht: einigen Päckchen Feigenkaffee, ein paar Kistchen Cigarren, einem Pack groben Tuches, einem Fäßchen mittelmäßigen Tiroler Weines. Damals aber, als mein Leutascher noch jung war, gab es Zölle, die allerdings so hoch waren, daß sie die Lust am Gewinne herausforderten. Zu Mittenwald hat sich manches Haus, welches den Schmugglern ein sicheres Obdach bot, durch den damaligen Schleichhandel eine gewisse Wohlhabenheit erworben.

Vor Allem waren es Seidenwaaren, welche die bairische Zollgesetzgebung mit einer unverhältnißmäßigen Abgabe belastete. Diese Seidenwaaren konnte man in dem mit Italien zusammenhängenden Tirol damals um die Hälfte von Dem kaufen, was man in Baiern dafür zu zahlen hatte. – Auch die sechs Burschen, welche eines Tages vor einer Reihe von Jahren auf dem nämlichen Pfade heraufstiegen, den ich heute mit manchem heimlichen Ach- und Wehrufe überklettert hatte, schleppten theure Seidenwaaren mit sich. Bald stiegen sie keuchend die jähen Wände an, bald rasteten sie, und das nicht selten, denn eine solche Last schier lothrecht aufwärts zu schleppen, hält Niemand lange aus. Wenn sie rasteten, entfernten sich immer Zwei von ihnen und setzten sich in verschiedener Richtung nieder, um nach allen Seiten hin ausspähen zu können. Die Anderen aber thaten sich abwechselungsweise bei Speck, Brod, Branntwein und bei einem Pfeifchen Tabak gütlich. Die Gewehre, welche sie bei sich trugen, versteckten sie während einer Rast immer in den nächstgelegenen Büschen.

„Die Kropfglocken“ – diesen Spitznamen führte damals mein Gewährsmann – besaß ein ziemlich gutes Fernrohr und schaute damit in der Richtung gegen die enge Schlucht des sogenannten Scharnitzthales und darüber hinweg bis gegen die oberen Häuser der Leutasch hinab. Manchmal kam es ihm wohl vor, als ob er einige verdächtige Gestalten hinter großen Steinen sich bewegen sähe. Er machte seine Genossen darauf aufmerksam, diese aber behaupteten, es sei eine Täuschung des Nebels, welcher in dunkeln Ballen über das feuchte Gestein hin- und herzog. Im Uebrigen fühlten sie sich ein paar Zollwächtern gegenüber durch ihre Bewaffnung und Zahl vollständig sicher. Ueber die steilen Schneehänge, die sie hüben wie drüben an- und abzusteigen hatten, ging es langsam, bedächtigen Schrittes, Schritt für Schritt hinüber, denn nichts wäre für sie verderblicher gewesen, als wenn sie eine Lawine, wie man im Gebirge sagt, „angetreten“ hätten.

Es wurde ihnen aber bald klar, daß Dasjenige, was sie hinter den Steinblöcken sich hatten bewegen sehen, keine schwanken Nebelschatten gewesen waren. Denn plötzlich krachte es hervor und „die Kropfglocken“ hatte zwei Schüsse im Leibe, den einen an der linken Hand, den andern am linken Fuße. Doch fühlte er sofort, daß kein Knochen zerschmettert war. Auch ein anderer Genosse, der „Duxer Neuner“, blutete stark.

Doch derlei Abenteuer waren nichts Ungewöhnliches und das Benehmen der Schmuggler in einem solchen Falle vorgesehen. Sie liefen langsam in der nämlichen Reihenfolge, in welcher sie vorwärts geschritten waren, zurück, so daß der Vorderste der Letzte und der Hinterste der Erste wurde. Die beiden Verwundeten nahmen sie in die Mitte und führten sie so weit, bis sie außer Tragweite der vorhin abgeschossenen Gewehre waren. Dann erst wurden die Wunden untersucht, während sich Zwei mit Gewehren hinter einigen Steinblöcken aufstellten, um die etwa herannahenden Zollwächter abzuhalten. Die Wunden erwiesen sich als Streifschüsse und ziemlich ungefährlich. Sie wurden, so gut es ging, verbunden, dann aber Rath gehalten, was im Angesichte der drohenden Gefahr zu thun sei. – Die Schmuggler waren darin einig, daß sie verrathen worden seien und zwar von ihrem eigenen Zuträger. Sie erinnerten sich, daß sie ihm den Botenlohn von dem letzten Gange her schuldig geblieben seien. Der Mann versuchte deshalb sein Glück mit den Zollwächtern. Nach der Anzahl der Schüsse, welche auf sie abgefeuert worden waren, schien es, als ob die Zollwächter ihnen um das Doppelte überlegen seien. Es konnte also von einem weiteren Fortschreiten auf diesem Wege nicht mehr die Rede sein. Denn die Verwundeten waren nicht mehr kampffähig, und so geschwächt konnten sie dem Trupp der Zöllner nicht gegenübertreten.

Nach ihrer Berechnung konnten die Feinde, welche vom gegenüberliegenden Hange aus geschossen hatten, unter zwei Stunden nicht zur Stelle sein. Es wurde deshalb zwischen zwei Felsen unter vielen Schwierigkeiten ein Feuer angemacht. Die Verwundeten hatten einen Anfall von Schüttelfrost; sie hatten auch seit langer Zeit nichts Warmes mehr genossen, und einige Pflege war deshalb unumgänglich nothwendig.

Mittlerweile wurde es dunkel, und die ausgestellte Wache meldete durch den nachgeahmten Schrei eines Raben, daß die Verfolger herannahten. Obwohl es schon dunkel war, bemerkten die Schmuggler doch, daß jene ihre Körper nicht einem möglichen Feuer aussetzten, sondern fortwährend springend hinter den Blöcken Deckung suchten.

Die Schmuggler hätten indessen, auch wenn sie sich frei gezeigt hätten, schwerlich auf sie geschossen. Es war überhaupt nicht ihre Art, durch unnützes Blutvergießen Verfolgungen im größten Maßstabe auf sich zu ziehen. Als ihnen überdies nach einer weiteren Viertelstunde von ihrer Wache gemeldet wurde, [96] daß die Zollwächter nicht mehr vorrückten, so vermutheten sie, daß jene am Ende ihres Muthes angelangt und gesonnen seien, für jetzt in gedeckter Stellung zu verbleiben.

Nach langer Berathung beschlossen sie, ihren Weg nunmehr auf der entgegengesetzten Seite fortzusetzen. Er war zwar um ein Beträchtliches weiter, auch mußte er durch tiefen Schnee gebahnt werden, aber es blieb ihnen in der That nichts Anderes übrig, wenn sie nicht die theuren Waaren und die Verwundeten zurücklassen wollten. Aber selbst wenn sie den schwierigen Gang auf den Schneefeldern versuchten, befanden sie sich deshalb doch nicht außerhalb der Gefahr feindlicher Kugeln, denn es war nicht so dunkel, daß sich die schwarzen Gestalten nicht deutlich von der weißen Fläche abgehoben haben würden. Um das zu vermeiden, zog Jeder aus der Umhüllung, in der die Seidenwaaren staken, ein großes Leinentuch und schlug es sich in der Art eines Plaids um den Leib. So waren sie Alle weiß eingehüllt und konnten vom Schnee nur schwer unterschieden werden. Ehe sie den Marsch antraten, wurde dem Feuer noch eine Menge Nahrung zugeschleppt, damit die Grünröcke glauben sollten, sie blieben hier über Nacht und bereiteten ihnen einen Hinterhalt.

Zu einem Kampfe hätten es die Verwegenen nicht mehr kommen lassen dürfen; denn abgesehen von der Noth, die sie mit den Verwundeten hatten, waren bei dem Schneewaten Munition und Gewehre naß und unbrauchbar geworden. Die Flucht gelang ihnen, obwohl sie oft mit Sack und Pack tief in den Schnee hineinstürzten und dadurch naß und starr wurden. Auch ging ihnen auf diesem Wege mancher nothwendige Gegenstand verloren.

Endlich erreichten sie einen Thalboden und luden in einem alten Bergmannsstollen den Inhalt ihrer Bündel ab. Obwohl rings herum Schnee lag, hatten sie doch von einem Auffinden dieses Stollens durch unberufene Lauscher nichts zu fürchten. Man konnte ihre Spuren deshalb nicht entdecken, weil aus dem Stollen ein Wässerlein herausfloß, das niemals zufror, ringsherum auf mehrere Hand breit den Schnee wegleckte, keine verrätherische Kruste trug und also die Schritte Derjenigen, die in ihm selbst auf- und abwärtsgingen, Niemanden verrieth.

Aber auch den Fall angenommen, es wäre ein Unkundiger in den finsteren Schacht hineingerathen, so wäre er ohne Zweifel ertrunken oder über einen Absturz im Innern hinabgefallen. Der Stollen zieht sich nämlich zuerst eben und wagrecht in den Berg hinein, endet aber an einem sehr tiefen und breiten Schacht, der ganz und gar mit Wasser ausgefüllt ist. Wer hier nicht Bescheid weiß, kann unmöglich darüber hinwegkommen. Seitwärts an der Felsenwand liegt etwa zwei Fuß unter dem Wasser versteckt ein an Ketten wohl befestigter Baumstamm. Der Uneingeweihte sieht ihn nicht, wer ihn aber kennt, der vermag ganz gut auf ihm fortzuwaten.

Am anderen Ufer des Schachtes, welches einige Klafter weit entfernt ist, zieht sich der Stollen wieder weiter und zwar in eine sehr geräumige Höhle hinein. Diese Höhle ist vollkommen trocken, weil die aus dem Berg abtriefenden Wasser in dem Schacht ihr Bett gefunden haben. Die Höhle war also zum Aufbewahren der Päcke um so mehr geeignet, als das Weiterschaffen von da in gesicherte Unterkunftsörter als eine Kleinigkeit betrachtet werden konnte.

Noch Mancherlei wäre anzuführen von nächtlichen Schmuggelfahrten, die über den Eibsee hin veranstaltet wurden, von Kämpfen im Wald und in den hohen Felsklippen. Doch würde das Alles hier zu weit führen, und ich beschränke mich darauf, nach den Mittheilungen meines Gewährsmannes ein Bild von dem schließlichen Schicksale eines der Hauptunternehmer dieser Züge, nämlich des oben erwähnten sogenannten Duxer Neuner, zu entwerfen.

Da steht am Bergabhang ein altes Holzhaus inmitten von Feldern. Oberhalb der Zäune zieht sich ein ansehnlicher Wald, mit Felsblöcken untermischt, von Schluchten und Gräben durchzogen, hin. Es ist das eine Gegend wie gemacht für Rehe, Füchse, Hasen, Marder und – Wildschützen. Man hat von hier eine sehr hübsche Aussicht auf die hohen Kalkschrofen, aber auch die Staffage macht keinen unangenehmen Eindruck. Aus einem Felsenbrunnen sprudelte helles Wasser; zwei Kühe standen im Stalle; Schweine und Hühner trieben sich vor dem Hause herum. Dem Anscheine nach waltet hier ein glücklicher Hausstand. Die Thür ist verschlossen, aber die sichtbaren Fußtritte deuten darauf hin, daß der Bewohner oder letzte Besucher des Hauses bergauf in den Wald gegangen ist.

Nach dem Stand der Sonne muß es etwa vier Uhr Nachmittags, das heißt Melkzeit, sein. Wir werden deshalb im Schatten des blühenden Holunderbaumes nicht lange zu warten haben, bis irgend Jemand zur Bedienung des Viehes erscheint. In der That kommt hinter dem Feldsaum her ein Mann von mittlerem Alter geschritten. An der Thür angekommen, öffnet er dieselbe mit einem sogenannten Züngl und verschwindet im Hausgang. Bald darauf kehrt derselbe mit einem Melkseiher und einem mit Kleien gefüllten Geschirr zurück. Die Thiere werden gefüttert, gemolken; die schäumende Milch wird in’s Haus gebracht. Dieser Mann ist kein Anderer als der „Duxer Neuner“, der sich von seinem Geschäft zur Ruhe gesetzt und in diesem versteckten Winkel angesiedelt hat. Er ist aber unbeweibt geblieben, wie viele unserer Gebirgsbauern, die dennoch ihren eigenen Haushalt führen.

Bald darauf erscheint auf dieser Bühne ein Schicksalsgenosse, nämlich „die Kropfglocken“ in eigener Person. Welches die Beziehungen dieses Letzteren, der sich aus seinen Unternehmungen weniger erübrigt hat, zu dem klugen Ersteren waren, das werden wir sofort sehen.

„Neuner, ich möcht’ einen Hochwurzenen (Branntwein);“ sagt er zum alten Gefährten, der unter die Thür getreten ist. „Aber echt muß er sein, und das Gährfaßl darf nicht zu nah’ beim hinteren Thürl draußen (das heißt beim Brunnen) gestanden haben. Verstehst Du mich? Zahlen möcht’ ich ihn schon, zuerst aber verkosten.“

Der „Neuner“ begrüßte den Ankömmling freundlich und brachte bald ein großes mit Enzian-Branntwein gefülltes Glas. Aus diesem goß er in ein Kelchgläschen und reichte es ihm zum Versuchen.

„Doch geh’ herein!“ setzte er hinzu, „die Sonne ist heiß, und bei der Hitze könnte es leicht den Geist austreiben.“

Da ich den Leser nicht in die Dialekteigenthümlichkeiten der Leutascher einweihen kann, so berichte ich hochdeutsch und in indirecter Redeform über die stattgefundene Unterredung und ihre Folgen.

Der „Neuner“ sagte, es gehe ihm da heroben in seiner Einsamkeit recht gut. Wenn ihm die Zeit zu lang würde, ginge er in den Wald, machte Fallen, finge Füchse, Dachse, Marder und was ihm sonst unterkäme. Er hätte zwar auch ein Schießgewehr, doch das gebrauchte er nur im Nothfalle und ginge nicht gern damit aus. Denn beim Schießen würde man leicht entdeckt, und überdies hatte der Neuner mehrmals eine Ursache gehabt, sich vollständig ruhig zu verhalten und so wenig als möglich von sich sprechen zu machen, damit nicht alte Geschichten wieder aufgerührt würden. Doch löste der Einsiedler vom Wildpret so viel, als er von seiner kleinen Besitzung gewann, insbesondere vom Rauchwerk. Das trug er in’s Oberinnthal hinunter, wo er für diese Felle seine sicheren Abnehmer hatte. Damit aber, wenn er einmal in eine Untersuchung von Seiten der neugierigen Gerichte geriethe, seine Werkstätte nicht entdeckt werden sollte, so hatte er sich einen versteckten Ort für diese seine Thätigkeit ausgesucht. Dort wurde den eingefangenen Thieren die Haut abgezogen und dieselbe gedörrt. Diejenigen, welche verfrüht eingefangen wurden, räucherte er eben dort selbst, damit das Pelzwerk keinen Schaden nähme. Das Fleisch wurde von ihm in gesottenem, gebratenem oder geräuchertem Zustande gegessen. An ein Auffinden dieses Versteckes durch Späher war nach des Neuner Behauptung in keiner Weise zu denken.

„Die Kropfglocken“ wurde, wie man begreift, sehr neugierig und bat den Genossen, ihm diese absonderliche Oertlichkeit zu zeigen. Der aber wollte davon durchaus nichts wissen. Er würde, sagte er, keine ruhige Stunde mehr haben, wenn er wüßte, daß noch ein Anderer sein Geheimniß kenne, und überdies habe er gelobt, niemals irgend Jemanden in dieser Beziehung zu seinem Vertrauten zu machen.

„Die Kropfglocken“ aber antwortete ungefähr so: „Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, so finde ich es. Und ich entdecke zuversichtlich diese Gegend, wenn nicht im heurigen Jahre, so im nächsten.“

Der Neuner wußte zwar aus ihren gemeinschaftlichen Schmugglerabenteuern, daß seinem Genossen ein sehr feiner Spürsinn [97] zugemuthet werden könne, aber in Anbetracht der Verstecktheit seiner Werkstätte und Vorrathskammer fühlte er sich so sicher, daß er unbedenklich auf eine von diesem vorgeschlagene Wette, bei welcher es sich um den Werth einer Kuh handelte, einging. Zum Schlusse dieses Besuches zeigte er seinem Gaste die verschiedenen Räumlichkeiten des Hauses, gleichsam, als wollte er ihm andeuten, daß er hier nichts zu suchen habe, und ihm so die Arbeit des Nachspürens abkürzen.

Trotz vielen Suchens fand „die Kropfglocken“, dem das Auffinden des Versteckes so zu sagen eine Ehrensache geworden war, in der Umgebung nichts, als einen engausgetretenen Fußsteig im Schwarzbeeren- und Alpenrosengestrüpp, der aber kreuz und quer im Walde und zwischen den Felsblöcken herumführte und an dem weder Anfang noch Ende zu erkennen war. Der alte Schmuggler beschloß deshalb, den ersten Schnee abzuwarten, um auf Fußspuren zu kommen. Als im Spätherbste die Gegend weiß geworden war, ging er wieder in den Wald und fand Fährten in allen Richtungen, die sich an vielen Stellen kreuzten und aus denen er ebensowenig klug zu werden vermochte, wie aus dem Fußpfad im Sommer. Schon gab er die Wette für verloren, als er bemerkte, daß gegen einen Punkt hin die Fährten hin und wieder zurückgingen. Es war dies allerdings an mehreren Stellen wahrzunehmen, doch erschienen hier die Spuren häufiger als sonstwo und viel mehr ausgetreten. Eine Fährte führte zu einem alten Baumstamm hin, den wahrscheinlich einmal der Blitz getroffen hatte, denn er war seines Wipfels beraubt und mehrere Aeste, die von ihm abstanden, waren halb verkohlt. Vor diesem Baum, in der Entfernung weniger Klafter, zog sich eine niedrige Felswand hin. Es waren Spuren menschlicher Füße auch zwischen dem Baum und dem Felsen zu sehen. Am Felsen entdeckte „die Kropfglocken“ allerdings ein kleines Bett aus Moos, dieses konnte aber selbstverständlich nur im Sommer benutzt werden. Ueberdies waren die Spuren zwischen Fels und Baum viel weniger ausgetreten. Was konnte auch ein Mensch im Winter an dieser Wand zu schaffen haben?

Der Baum zeigte bei näherer Besichtigung einige dicke, dürre Stümpfe von abgebrochenen Aesten. Auf diesen kletterte der Schmuggler empor und entdeckte nun, daß der Stamm, der mehr als eine Klafter im Durchmesser hatte, inwendig ausgehöhlt und oben mit einem Brette verschlossen sei. Bei diesem Anblicke wurde er der Ueberzeugung, daß er vor der Lösung des Räthsels stehe.

Er drückte an dem Brette, welches den Deckel der Baumhöhlung vorstellte, herum. Plötzlich neigte sich derselbe senkrecht um seine aus einem durchgesteckten Stücke Holz bestehende Achse. Hinabschauend sah er sofort eine Leiter, die im Innern des Baumes befestigt war. So sehr ihn diese Entdeckung freute, so wenig getraute er sich, sie sogleich zu verfolgen. Er spähte vorsichtig umher, ob ihn Niemand gesehen habe, und beschloß, die Untersuchung auf die Nacht zu verschieben. Denn er fürchtete, daß „Neuner“, wenn er ihn hier überraschen würde, von seiner Leidenschaftlichkeit so weit hingerissen werden könne, daß er im Stande wäre, sich an dem Eindringling zu vergreifen.

Als es dunkel geworden war, verfügte er sich mit einer Laterne zu dem Baume. Auch hatte er eine Waffe mitgenommen, um sich gegen „Neuner“ vertheidigen zu können, falls dieser ihn ertappen und angreifen sollte. Er öffnete das Brett, stieg auf der Leiter hinab und erreichte, auf dem Erdboden angekommen, einen Schlüpfgang, der so eng war, daß sich ein Mensch mit Mühe durch ihn hinabwinden konnte. Zwei oder drei Klafter tiefer aber wurde er breiter und führte, nunmehr in Felsen ausgehauen, um die Felswand herum. Nachdem er, auf- und absteigend, einige Krümmungen zurückgelegt hatte, mündete er in eine Höhle, deren Anblick vollständig dem eines Zerwirkgewölbes glich. Da hingen Rehe, Hasen, Füchse, Fleischstücke, Keulen in einem vom Räuchern ganz und gar geschwärzten Raume. Aber auch Schmelztiegel, Schlacken, Geschirre, Bleierze, wie man sie an vielen Stellen im Wettersteingebirge findet, lagen herum. In der Mitte stand ein Windofen, zum Schmelzen eingerichtet.

„Die Kropfglocken“ wollte nunmehr auch entdecken, wohin der Rauch aus diesem Laboratorium abgeleitet werde und wo Gang und Höhlung endigten.

Was die letzte Frage anbelangt, so war sie bald entschieden. Es gab keine Fortsetzung mehr. Der Rauch aber schien durch zerklüftetes Felsgestein seinen Ausweg zu finden. Denn als der Schmuggler sich eine Pfeife ansteckte, merkte er an dem Luftzuge, der den Tabaksqualm nach einer gewissen Richtung trieb, daß sich irgendwo Oeffnungen befinden mußten.

„Die Kropfglocken“ führte sich eine geselchte Rehkeule zu Gemüthe und übernachtete auf Moos in seines Freundes Speisekammer. Als er diesem am nächsten Tage den Verlust seiner Wette ankündigte, war der „Neuner“ anfänglich sehr bestürzt. Bald aber faßte er die Sache von der vernünftigeren Seite auf und machte seinem alten Gefährten den Vorschlag, zu ihm zu ziehen und fortan das Geschäft gemeinschaftlich mit ihm zu betreiben.

So geschah es auch. Beide „arbeiteten“ fort bis zu „Neuner’s“ Tode. Dann setzten Alter und andere Verhältnisse dem Betrieb ein Ende. Das Häuschen wurde verkauft und von der romantischen Sippe sind nur der alte Knabe und die Erinnerung übrig geblieben.

Heinrich Noé.




Amerikanische Unsterblichkeitspolicen.


Um wahrhaft großartige Freigebigkeit kennen zu lernen, muß man nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika kommen. Kein Land der Welt hat so viele öffentliche Wohlthäter aufzuzählen, wie gerade das, welches wegen seiner rastlosen Dollarjagd, wegen seines crassen Materialismus am meisten verrufen ist. Fast jede größere amerikanische Stadt hat ihren speciellen Wohlthäter, wie im Mittelalter jede europäische ihren Schutzheiligen hatte, und man könnte ein dickes, interessantes Buch über die zahllosen Vermächtnisse schreiben, welche fast allenthalben im Lande zum Besten der Volksbildung und Jugenderziehung, der Armen und Kranken bestehen. Man ist hier bereits so daran gewöhnt, reiche Leute einen Theil ihres Vermögens wohlthätigen Zwecken überweisen zu sehen, daß es förmlich auffällt, wenn ein reicher Mann stirbt, ohne diesem Brauche in seinem Testamente Rechnung getragen zu haben, und die kleineren Legate sind thatsächlich schon so zahlreich, daß Vermächtnisse unter fünfzigtausend Dollars kaum noch besonders beachtet werden.

Wie hier zu Lande der reiche Mann erst mit dem Millionär anfängt, so auch der öffentliche Wohlthäter, welcher auf Nachruhm Anspruch machen will. Wer die amerikanischen Philanthropen in einem kurzen Journal-Artikel vorübergehend erwähnen will, der darf thatsächlich nur die nennen, welche halbe und ganze Millionen verschenkten, und diese bilden bereits eine stattliche Reihe. New-York hat seinen Astor, Cooper und Stewart; der New-Yorker Eisenbahnmagnat Vanderbilt hat zwei Hochschulen seiner Religionssecte mit je fünfhunderttausend Dollars dotirt, was ihn übrigens durchaus nicht hinderte, seinen nächsten Angehörigen, denen der Bankerott drohte, jede Hülfe hartherzig zu versagen; Philadelphia hatte seinen Girard, Boston seine Warrens, Hoboken seinen Stevens, St. Louis seinen Mullanphy, Washington seinen Smitshon und seinen Corcoran; am glücklichsten ist jedoch Baltimore, es hat nicht weniger als drei Millionen-Wohlthäter und dabei noch Etwelche in Aussicht. Von diesen Baltimorer Philanthropen soll hier speciell die Rede sein; ihre Namen sind: John Mac Donogh, George Peabody und Johns Hopkins.

Von diesen drei Männern hat bis jetzt nur Peabody einen europäischen Namen, resp. einen Weltruhm. – Man wird sich noch recht wohl des Aufsehens erinnern, welches vor einigen Jahren die Nachricht hervorrief, daß der in London lebende amerikanische Banquier George Peabody Millionen auf öffentliche Stiftungen zum Zwecke der Volks- und Jugendbildung verwendet habe; das Staunen der Welt dürfte jedenfalls noch etwas wachsen, wenn sie erfährt, daß Peabody in Baltimore, derjenigen Stadt, welche das mit 1,400,000 Dollars dotirte Peabody-Institut besitzt, zwei Pairs hat, die es ihm gleich gethan, und von denen Einer jenes großartige Werk durch weit [98] glänzendere Vermächtnisse noch um ein Bedeutendes übertroffen hat.

Der erste Wohlthäter der Stadt war John Mac Donogh, Stifter des nach ihm benannten landwirthschaftlichen Instituts, welches im October vorigen Jahres in der Nähe von Baltimore eröffnet wurde und in welchem eine Anzahl armer Knaben eine vortreffliche landwirthschaftliche Ausbildung erhalten. Die Zöglinge dieser Anstalt, die mit circa fünfhunderttausend Dollars dotirt ist und jährlich etwa dreißigtausend Dollars aufzuwenden hat, werden während eines vierjährigen Cursus in Allem, was ein gebildeter amerikanischer Oekonom wissen muß, unentgeltlich unterrichtet, außerdem beköstigt und gekleidet, und wenn sie das Institut verlassen, wird für ihr weiteres Fortkommen in väterlicher Weise gesorgt. John Mac Donogh wurde gegen 1780 in Baltimore geboren und wandte ach 1806 als junger Abenteurer nach New-Orleans, um dort sein Glück zu machen. New-Orleans war damals für die östlichen Städte des Landes, was in den dreißiger Jahren Cincinnati, in den vierziger Jahren Texas und Californien, in den fünfziger Jahren Chicago war und heutzutage etwa Duluth oder Omaha ist – der Sammelplatz aller speculativen jungen Leute und problematischen Existenzen des Ostens. Wer in New-York, Boston, Philadelphia oder Baltimore einen dummen Streich gemacht hatte, ging nach der jungen Stadt am unteren Mississippi, um dort Lethe zu trinken und ein neues Leben anzufangen; wer ein kleines Vermögen rasch vermehren wollte, ging nach Louisiana. Unter letzterer Classe von Leuten war auch John Mac Donogh von Baltimore, der wohlerzogene Sohn achtbarer Eltern.

Ein glücklicher Zufall hatte dem jungen Menschen sechstausend Dollars in die Hände gespielt, und mit dieser Summe begann er seine Operationen. Kaum war das Feld einigermaßen sondirt, so kaufte Mac Donogh in der sogenannten Red-River-Gegend eine Strecke werthlosen Landes, natürlich für ein Butterbrod. Der junge Speculant sprach von Stund’ an von Nichts weiter, als von seinen prachtvollen Besitzungen, und nachdem er verschiedene Scheinverkäufe an einen Baltimorer Freund gemacht, gelang es ihm wirklich, einem angesehenen Kaufmanne eine Parcelle seines Landes zu einem ziemlich hohen Preise aufzuschwatzen. Sobald dieser Verkauf bekannt wurde, kauften auch Andere von ihm; seine Transactionen gewannen immer größeren Umfang, und im Jahre 1821 belief sich sein Vermögen bereits auf fünfzehn Millionen Dollars. Mac Donogh war ein Einsiedler und Sonderling, der seine Bedürfnisse auf das geringste Maß beschränkte; da er von Jugend auf für einen Weiberfeind galt, so glaubt man, daß er nie mehr als Ja und Nein mit einem weiblichen Wesen gesprochen habe. So einsam und im eigentlichen Sinne des Wortes freundlos er gelebt hat, starb er auch. Sein Testament machte den als Geizhals bekannten Mann berühmt. Der größte Theil seines Vermögens war der Regierung zum Zwecke der Volkserziehung vermacht; zahlreiche Legate zeigten den Sonderling im grellsten Lichte; nur eins mag hier Erwähnung finden. Mac Donogh, ein medicinischer Autodidakt, bildete sich ein, ein großer Heilkünstler zu sein. Eines Tages kaufte er eine französische Novelle, in welcher der Schriftsteller Leon Gozlan eine neue Heilmethode verfocht. Diese fand den Beifall des Millionärs. Der Novellist, welcher weder als Schriftsteller noch als Heilkünstler den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen vermochte, lebte 1852 elend und arm in Paris und sah einem trostlosen Alter entgegen. Eines Tages suchte ihn der amerikanische Consul von Havre de Grace auf und fragte, ob er der Verfasser jener Novelle sei. Die Frage wird bejaht. „Dann haben Sie in Amerika zehntausend Dollars geerbt, welche Summe Ihnen die Firma Albrecht und Compagnie auszahlen wird,“ sagte der Consul, und die Zukunft des Schriftstellers war sicher gestellt. Der Testator war Mac Donogh.

Das schönste Vermächtniß erhielten jedoch die Städte Baltimore und New-Orleans. Ueber dasselbe schreibt Mac Donogh in seinem Testamente: „Dieser Plan, welchen mein Geist, ohne Zweifel auf höhere Eingebung, entworfen hat und welchen ich jetzt nahezu vierzig Jahre lang mit mir herumtrage, geht dahin, große Besitzungen, Bauplätze in Städten und Häuser zu erwerben, und die Erträge dieser Güter zur Ausbildung armer Kinder zu verwenden. Diese Besitzthümer werden mit der Zeit unzweifelhaft solche Revenuen abwerfen, daß mit denselben die Ausbildung aller armen Kinder in Maryland und Louisiana, sowie noch vieler unbemittelten Kinder anderer Staaten in unserer glücklichen Union bestritten werden kann. Um dieses zu bezwecken und in’s Leben zu rufen, habe ich ein breites und tiefes Fundament gelegt, große Grundflächen in und bei New-Orleans aufgekauft, so daß, wenn gut verwaltet, in künftigen Jahrhunderten deren Revenuen bei der beständigen Ausdehnung der Stadt, welche bestimmt ist, eine der größten und volkreichsten Städte der Welt zu werden, allein jährlich sich auf Millionen belaufen werden. Wenn deshalb Diejenigen, welche nach mir kommen, und welche diese Güter, welche ich aufzuhäufen bestrebt war, zu verwalten haben, darnach trachten, dieselben mit derselben Treue, mit welcher ich gewirthschaftet, zu vermehren und productiv zu machen, dann wird in der That einmal ein förmlicher Berg des Reichthums daraus werden, der noch ungeborenen Geschlechtern durch Jahrhunderte zum Segen gereichen muß.“

Leider sind diese frommen Wünsche des guten Mac Donogh nicht ganz in Erfüllung gegangen und seine praktischen Winke schlecht befolgt worden. Das New-Orleanser Vermächtniß ist nämlich bis auf die Lumperei von fünfundzwanzigtausend Dollars von den Politikern gänzlich gestohlen worden. Die Stadt Baltimore hatte einen kostspieligen Proceß mit New-Orleans zu führen, ehe sie ihr Legat erhielt. Auch hier versuchten die „öffentlichen Diebe“, wie man in den Vereinigten Staaten die Politiker nennen muß, an diesen reichen Fond zu gelangen, um denselben zu reduciren. Er ist jedoch glücklicher Weise sicher gestellt worden. Da die Anstalt kaum zwei Drittel der Zinsen jährlich verzehrt, so kann der Fond mit der Zeit immer noch auf eine Million gebracht werden.

Peabody’s Leben und die Geschichte seiner zahlreichen Stiftungen setze ich als bekannt voraus; es sei nur bemerkt, daß der Banquier der Stadt, in welcher er seine Jugend verlebte und den Grund seines immensen Vermögens legte, stets ein liebevolles Andenken bewahrte, welches er in dem nach ihm genannten Institute verewigte. Dasselbe war anfangs mit fünfhunderttausend Dollars dotirt, erhielt aber später, da die Curatoren sich scheuten, mit einem so geringen Einkommen – wie die Zinsen des obigen Fonds – das Institut in Wirksamkeit treten zu lassen, noch fünfhunderttausend Dollars, und als endlich im Jahre 1866 die Eröffnung stattfinden konnte, bei welcher der Stifter persönlich anwesend war, gefiel ihm das Werk dermaßen, daß er es abermals mit vierhunderttausend Dollars beschenkte. Das Institut enthält eine gewählte Bibliothek, in welcher die classischen Originalwerke aller Culturvölker von den Kings der Chinesen, den Vedas der Inder bis zu Ulfilas’ Bibel und Goethe’s Faust in den besten Ausgaben zu finden sind. Die Bibliothek, welche fortwährend vermehrt wird – wobei man den Wünschen Derjenigen, welche sie frequentiren, in der liebenswürdigsten Weise Rechnung trägt – hat in allen Centralplätzen des Buchhandels, in Leipzig, London, Paris und New-York ihre Agenten, welche derselben beständig neue Schätze zuführen. In der Person des Herrn Dr. Uhler besitzt dieselbe einen umsichtigen und gewissenhaften Custos.

Das Institut zerfällt in drei Hauptabtheilungen. Nämlich außer der Bibliothek, welche im Winter noch für gediegene Vorlesungen in englischer, deutscher und französischer Sprache über wissenschaftliche oder schöngeistige Themata zu sorgen hat, besteht bereits eine Musikschule, die sich wohl mit der Zeit den stolzen Namen Conservatorium erwerben wird. Dieselbe steht unter Leitung des jungen dänischen Componisten Asger Hamerik. Ein Cyklus classischer Orchesterconcerte wird jeden Winter unter der Aegide dieses Zweiges bei dem nominellen Entrée von fünfzig Cents geboten. Sobald der neue Anbau vollendet ist, wird auch eine Abtheilung für bildende Künste in’s Leben treten; das Institut hat schon eine Anzahl von Kunstwerken erworben, so daß der Anfang zu einer Glyptothek und Pinakothek thatsächlich vorhanden ist.

Jetzt zu dem dritten großen Wohlthäter der Stadt, dem Manne, der Peabody übertroffen hat. – Bis vor Kurzem lebte hier ein alter Quäker, Namens Johns Hopkins, der bereits seit einem Menschenalter für den reichsten Kaufmann der Stadt gelten mußte; dabei machte er stets den Eindruck, als ob er seine Kleider beim Trödler kaufe, und wer ihn nicht kannte, der hätte versucht sein können, ihm ein Almosen anzubieten. Der [99] Mann galt für außerordentlich sparsam, sogar geizig, und als vor drei oder vier Jahren eines Morgens eine Zeitung berichtete, daß der alte Hopkins beabsichtige, zwei ebenso großartige Institute zu stiften wie das, welches Peabody’s Namen trägt, lachte Jedermann über den vermeintlichen Witz, denn in der ganzen Stadt konnte sich Niemand erinnern, daß der Millionär jemals etwas zu verschenken gehabt habe. Obgleich der Mann bereits hoch in den Siebenzigern stand, arbeitete er noch rastlos an der Vermehrung und Verwaltung seines ungeheuren Vermögens weiter, baute und kaufte Magazine und war in den Bureaustunden unfehlbar in seiner alten Spelunke von Comptoir zu finden.

Am 24. December vorigen Jahres starb er nach kurzer Krankheit, und als am zweiten Weihnachtstage sein Testament bekannt wurde, fand sich’s, welch herrliches Weihnachtsgeschenk der alte Hopkins der Stadt gemacht hatte. Der Nachlaß des Millionärs wird auf zehn Millionen Dollars veranschlagt; davon erhalten seine Blutsverwandten, etwa sechszehn an der Zahl, circa zwei und eine halbe bis drei Millionen. Der Testator verordnet, daß eine Universität gegründet werde, welche seinen Namen tragen und welcher sein vor der Stadt gelegener Landsitz Clifton, zweihundertdreißig Acker groß, mit einem prachtvollen Schlosse zufallen soll, ferner daß auf einem andern ihm gehörigen Platze ein großes Hospital erbaut werde, in welchem Kranke aller Nationalitäten unentgeltlich Aufnahme finden. Beide Anstalten sind in Bausch und Bogen von vornherein mit sechs Millionen Dollars dotirt und erhalten außerdem noch Alles, was in seinem Nachlasse vorgefunden wird und worüber in dem Testamente nicht speciell verfügt ist. Die Curatoren des Hospitals haben mit diesem Institute eine Schule für Krankenpflege zu verbinden und außerdem ein Waisenhaus für Negerkinder zu errichten. Die Universität soll nach dem Willen des Stifters eine der ersten Hochschulen der Welt werden; jedenfalls wird sie die reichste sein.

Verschiedene andere Wohlthätigkeits- und Erziehungsanstalten der Stadt erhalten noch Legate von zehn-, respective zwanzigtausend Dollars. Sollte einer seiner Verwandten sich beikommen lassen, dieses Testament zu bestreiten, so fällt der ihm ausgesetzte Antheil der Universität und dem Hospitale zu.

Hopkins wurde 1795 als der Sohn unbemittelter Bauersleute im Staate Maryland geboren und kam 1812 nach Baltimore, wo er in dem Engrosgeschäfte eines Onkels eine sehr untergeordnete Stelle erhielt, in welcher er sich zum tüchtigen Kaufmanne heranbildete. Im Jahre 1818 etablirte er ohne jegliches Capital, außer seinen unbedeutenden Ersparnissen, mit einem andern jungen Manne, der ebenfalls nichts weiter als den guten Willen mitbrachte, die Firma Hopkins und Moore. Der Onkel verschaffte dem jungen Hause limitirten Credit, und dasselbe arbeitete sich mühsam empor. Als Moore im Jahre 1822 austrat, nahm Hopkins zwei oder drei Brüder auf, und die Firma hieß fortan Gebrüder Hopkins. Im Jahre 1844 zog sich der Chef als Millionär aus dem Hause zurück und lebte seitdem nur seinen großartigen Speculationen. Fast die Hälfte aller großen Magazine im Geschäftstheile der Stadt war sein Eigenthum; in dieser Gegend kaufte er fortwährend Häuser auf, verkaufte aber nie eins wieder; an Stelle der alten Baracken, welche den früheren Handelsfürsten, den Pattersons, Ollivers, Parrishes, O’Donnells etc. dienten, ließ er solide Bauten aufführen, die heute thatsächlich unbezahlbar sind.

Dabei hatte er ein scharfes Auge für gute Actien; er war außer dem Staate Maryland und der Stadt Baltimore der bedeutendste Actionär der „Baltimore-Ohio-Bahn“, dieses großen Monopols, welches, wie der fabelhafte Polyp, mit seinen Riesenfängen die halbe Welt umspannt; überhaupt existirte kaum ein profitables Unternehmen, an dem der alte Hopkins nicht interessirt gewesen wäre. Wie Mac Donogh und Peabody, war auch er ein Junggeselle, doch konnte man ihm nicht gerade nachsagen, daß er, wie der Erstere, ein Weiberfeind gewesen wäre; er hütete sich aber, sein Lebensschiff mit dem in Amerika kostspieligen Ballaste einer Gattin zu beschweren.

Durch und durch Geschäftsmann, kannte er während seines langen Lebens keine Freude und keinen Genuß, als gewinnbringende Arbeit; er war Director zahlreicher Gesellschaften, aber in keiner derselben eine Null oder Drohne; allenthalben arbeitete er unermüdlich mit, sei es im Finanzausschusse einer jener Titanen-Corporationen, in deren Bureaus in Wallstreet, am Exchange-Place oder Camdenstraße über Krieg und Frieden in West-Indien oder Central-Amerika entschieden wird, oder deren Launen der alten Welt nach Belieben den Brodkorb höher hängen, sei es im Directorium einer Bank, welche die locale Discontorate feststellt; an allen diesen Orten war sein Wort von Gewicht, wenn nicht gar maßgebend und entscheidend. Welch ein umsichtiger und fernblickender Financier er war, zeigen die genauen Bestimmungen seines Testaments. Sogar aus den Auslassungen dieses Instruments ließe sich dies nachweisen. Hierfür nur ein Beispiel.

Als vor etwa vier Jahren die Bauwuth in der mittleren Stadt herrschte, sah sich auch Hopkins veranlaßt, etwas zur Verschönerung dieses Stadttheils zu thun, zumal keines seiner Waarenhäuser und Magazine auf Eleganz Anspruch machen kann. Er ließ deshalb in der Nähe der Post ein prachtvolles Gebäude aus Marmorquadern im venetianischen Stile aufführen, welches ihm über dreihunderttausend Dollars kostete. Das Haus heißt wegen seiner Aehnlichkeit mit dem berühmten Palaste der Lagunenstadt „der Rialto“. Natürlich decken die Miethen der verschiedenen Räumlichkeiten kaum ein Procent Zinsen des Baucapitals. Jedermann war gespannt, welche Verfügung in dem Testamente über diesen Prachtbau getroffen war, derselbe ist jedoch mit keiner Silbe erwähnt und fällt jetzt dem Stiftungsfond zu. Der praktische Geschäftsmann muß diese Auslassung selbstverständlich finden; war der Bau doch eine „schlechte Speculation“, die sich niemals bezahlen wird; warum noch Zeit und Tinte daran verschwenden?

Dies ist in kurzen Zügen die Geschichte der drei wohlthätigen Junggesellen Baltimores; sie haben sich einen Platz neben den größten Philanthropen aller Zeiten und Völker erworben. Im Lichte ihrer Generosität wird das Wort „fürstliche Freigebigkeit“ zur hohlen Phrase.

Fragt man sich nach der Ursache dieser eigenthümlichen Erscheinung von Männern, welche ihr kolossales Vermögen, anstatt es von lachenden Erben verjubeln zu lassen, zum Segen vieler Generationen in solchen ruhmwürdigen Stiftungen als beredte Denkmäler für die Nachwelt hinstellen, so ist die einfache Erklärung: es geschah aus Menschenliebe, vielleicht ungenügend, und wenn man der Sache auf den Grund geht, geradezu eine falsche. Weiß man es doch zu wohl, daß diese Männer im Leben gewöhnlich steinhart waren, und wie manchen edeln Zug man auch von dem Einen oder Andern erzählen mag, so ist es doch nichtsdestoweniger Thatsache, daß sie in der Regel mit der Herzlosigkeit des Wucherers „auf ihrem Scheine bestanden“ und ihren Geldinteressen alles Andere unterordneten.

Hier muß noch eine andere Ursache zu Grunde liegen, und man wird wohl das Richtige treffen, wenn man sagt: es ist eben in Amerika Mode geworden, solche Institute zu dotiren, gerade wie es unter den Karolingern, unter den Saliern und Staufen in Deutschland Mode war, Kirchen und Klöster auszustatten, und wie es in den Tagen der Reformation Sitte wurde, Universitätsstipendien zu stiften. Seitdem Girard und Astor sich durch solche Stiftungen die Unsterblichkeit erkauften, während jetzt schon weit reichere und bedeutendere Zeitgenossen jener beiden Kaufleute vergessen sind, ist es in Amerika stark in Aufnahme gekommen, sich durch die Versicherungssumme von einer halben oder einer ganzen Million eine Unsterblichkeitspolice zu erwerben.

Indem wir hier das Kind beim rechten Namen nennen, soll durchaus nicht angedeutet werden, daß wir deshalb die Wohlthaten weniger hoch achten. Ehre den Männern, welche ihren sauer erworbenen und ängstlich zu Rathe gehaltenen Mammon auf solche Weise durch Jahrhunderte hindurch segenbringend wirken lassen! Es mag himmlisch sein, ein Diadem auszuschlagen, göttlich ist es jedenfalls, die Bevölkerung einer Stadt zur Erbin seiner Millionen zu machen und in dem Bewußtsein zu sterben, ganzen Geschlechtern zum Segen gelebt und gewirkt zu haben. Welch sonderbare Heiligen diese Millionenwohlthäter auch im Leben mitunter gewesen sein mögen, die Nachwelt wird ihre Namen stets mit Dank und Achtung nennen, und die Geschichte wird ihnen einen Platz neben den Edelsten und Besten ihrer Zeit anweisen.

Eduard Leyh.[WS 1]
[100]
Die künftige Residenz des Papstes.


Die neuerdings durch die Presse gehenden Nachrichten von einer beabsichtigten Uebersiedelung des „Gefangenen des Vaticans“ nach Malta, und einer Verlegung der Papstwahl von Rom nach La Valetta, Nachrichten, welche von Zeit zu Zeit immer wiederkehren, veranlassen uns zu den folgenden historischen Mittheilungen über diese Insel der kreuzgeschmückten Ritter, und wir glauben, daß unser Aufsatz gerade jetzt, wo die Blicke Aller sich auf’s Neue gen Malta wenden, auf das Interesse der Leser rechnen darf.

Kaum dürfte es einen zweiten Ort auf unserer Erde geben, der so von der Vergänglichkeit der Völker und ihrer Macht predigte, wie die kleine Insel Malta, die, von der Gluth afrikanischer Sonne beschienen, als weißglänzender Fels aus den schäumenden Wogen des Mittelmeeres auftaucht. Hier war es, wo vor mehr als dreitausend Jahren, als die Geschichte zu dämmern begann, das see- und handelskundige Volk der Phönicier festen Fuß faßte, hier saßen Griechen und Römer, denen im Sturm der Völkerwanderung Vandalen, Gothen und die Byzantiner folgten, bis das nach Westen strömende Volk der Araber, vor jetzt gerade tausend Jahren, sich auf Malta niederließ und ihm den Grundstock seiner heutigen Bevölkerung verlieh, bei der in Sprache, Sitten und Gebräuchen, nur nicht in der Religion, das arabische Wesen noch jetzt das Uebergewicht behauptet. Doch nicht genug mit diesen kaleidoskopisch wechselnden Völkerschaften! Als achte Nation traten die sicilischen Normannen hinzu, welche die Insel unterwarfen und ihrerseits abgelöst wurden durch den Johanniterorden, der aus Malta das feste, ruhmgekrönte Bollwerk schuf, an dem die Macht der Türken zerschellte, der den Namen des kleinen Eilandes weltberühmt machte, so daß, wo von ausdauernder Opferfreudigkeit, von todesmuthiger Vertheidigung ein Beispiel aufgestellt werden soll, das kleine Eiland in erster Linie genannt zu werden verdient. Vor Napoleon’s Macht sank auch Malta, mit ihm der Johanniterorden dahin und die Insel wurde französisch – seit dem Untergange des gewaltigen Corsen flattert aber dort Englands stolzes Banner, und die blondhaarigen, blauäugigen Söhne Albions herrschen jetzt über die Insel, welche vor ihnen zehn andere Völker besaßen. Und England hat guten Grund, daß es sich hier festgesetzt und den Felsen gleichsam mit Kanonen gespickt hat; denn hier ist seine bedeutendste Dampferstation im Mittelmeer; hier ankert die Panzerflotte, die von dem ewig drohenden Gespenst der orientalischen Frage in diese Gewässer gelockt wurde; hier wird der Ueberlandweg nach Indien, Englands kostbarstem Kleinod, bewacht. Was Wunder, daß das große Inselreich weit über dritthalb Millionen Thaler jährlich darauf verwendet, den wichtigen Punkt zu erhalten, und daß hier auch in Friedenszeiten mehr als sechstausend Mann garnisoniren!

Wer mit dem Dampfer sich dem sonnengebadeten Eilande nähert, um in die Marsa, den großen Hafen, einzulaufen, Dem wird es durch die zahllosen Forts und Festungsmauern sofort klar, daß nur übermenschliche Anstrengungen den heutigen Besitzer aus diesen trotzigen Wällen zu vertreiben vermögen. Dort oben leuchtet mit Thürmen und Zinnen das berühmte Castell Sanct Elmo, hier links am Eingange des Hafens das von Doppelbastionen gegürtete Ricasolifort; dort starren die Mauern des Borgo di La Sangle auf weit vorspringender Felsenzunge mit ihren Schießscharten uns entgegen, und hinter diesen imposanten Fortificationen steigt malerisch, dicht gedrängt in stolzem Amphitheater, die Stadt La Valetta mit ihren Palästen und Schlössern terrassenförmig empor, grell den Lichtstrom der afrikanischen Sonne von ihren weißen Häusern zurückwerfend, daß er weit herausleuchtet in das blaue Meer.

Wir landen und treten durch das Thor, welches den Namen des Großmeisters Lascaris führt, in die Stadt. Ist es nicht, als ob die ganze Levante sich hier ein Stelldichein gegeben habe? Wer kennt die Völker, nennt die Namen? Von Afrikas heißer Küste kam der schwarze Sohn der Wüste und der schlanke Berber herüber. Die griechische Inselwelt sendet ihre schlauen Söhne in der reichen Fustanella. Der dunkeläugige Italiener kreuzt sich mit der blonden britischen Rothjacke, und Frankreichs leichtblütige Kinder treffen auf die würdigen Gestalten der Türken. Ein babylonisches Sprachgewirr schwirrt durcheinander, und fast ist es, als hätten alle Nationen, die hier einst weilten, ihre Vertreter zurückgelassen, um dem Forscher eine ethnographische Musterkarte vor Augen zu führen.

Doch lassen wir die Menschen von heute, steigen wir hinauf in die Stadt und erfreuen wir uns an den Erinnerungen der Vergangenheit, an der Stein gewordenen Geschichte, die auf Schritt und Tritt uns entgegenblickt! Zwischen stolzen, reichverzierten Palästen mit orientalischen Balconen sind wir auf steilen Treppen hinaufgelangt zur Strada reale. Sie ist die Hauptpulsader des Verkehrs und durchschneidet die Stadt ihrer ganzen Länge nach, während neben ihr noch zehn andere, gerade und schöngelegte Parallelstraßen hinlaufen. Nur in diesen Längenstraßen, die auf dem Rücken des Berges liegen, vermag man zu fahren, während in den kleinen, aber höchst malerischen, sie im rechten Winkel durchschneidenden Quergassen nur Fußgänger sich bewegen können; so sehr steigen sie auf und ab. Doch das ist gerade, was La Valettas Bauart nicht einförmig erscheinen läßt, ein Eindruck, den sonst unwandelbar alle nach der modernen quadratischen Schablone gebauten Städte hervorrufen.

Am Giorgioplatze, nach dem wir, von Wißbegierde getrieben, zuerst uns begaben, liegt der Palast der Großmeister, von dem aus die tapferen Führer des geistlichen Ritterordens gleich souverainen Fürsten ihre Befehle ertheilten. Das Gebäude zeigt eine lange, drei Stockwerk hohe Façade mit massivem Thurme, bewahrt aber im Innern nur noch wenig, was an die alte Zeit erinnert; denn heute ist es Wohnung des englischen Gouverneurs, der es nach Möglichkeit modernisirt hat. Aber nicht weit davon treffen wir auf die altehrwürdige Kathedrale des heiligen Johannes, im Aeußeren wohl ein schwerfälliger Bau, aber durch den Inhalt geeignet, uns ganz zurückzuversetzen in jene großen Tage, als hier im frommen Gebete, angethan mit dem kreuzgeschmückten Mantel, die muthigen Ritter sich zum Siegen oder Sterben vorbereiteten. Der Marmorboden des kühn gespannten Domes ist gepflastert mit den Grabsteinen der muthigen Kämpen für den christlichen Glauben, die hier zur letzten Ruhe eingingen. Da liegen sie friedlich beisammen, Männer aus deutschem, französischem und spanischem Blute, die alle zu einem Zwecke sich zusammenfanden, für eine Idee fochten. Unten in der Krypta aber, wo schauerliche Grabesluft uns entgegenweht, ruhen, abgesondert von den übrigen, die größten Meister, die dem Orden vorstanden: La Valette und Villiers de l’Isle Adam.

Doch nicht hier in der Gruft, sondern draußen in der freien Natur lernen wir ihre Großthaten kennen, wenn wir den Blick über die Stadt mit ihren Kuppeln, Thürmen, Terrassen, Wällen und Bastionen schweifen lassen. Außer dem Elmoschloß, welches ein geschlossenes Ganze mit furchtbaren, mit den Felsen verwachsenen Doppelbastionen und vierfacher, den Hafen vertheidigender Batterienreihe bildet, schützen noch andere, nicht minder starke Befestigungen diesen Hafen, der einen Theil der britischen Panzerflotte beherbergt. Fünf Felsenzungen springen nämlich gegenüber der Stadt in die Marsa vor und bilden auf diese Weise vier Seitenhäfen, die rings von Forts und Batterien geschützt sind, so daß kein Zollbreit Landes unvertheidigt daliegt.

Der innerste dieser Häfen trägt den Namen des Großmeisters La Sangle, während Jean de la Valette es vorbehalten blieb, seinen Namen der Hauptstadt zu geben, welche er nach der denkwürdigen Vertheidigung des S. Angeloschlosses gegen Mustapha-Pascha anlegte und die heute, von Tag zu Tag an Bedeutung zunehmend, mit ihren Vorstädten neunzigtausend Einwohner zählt. Von heißer Luft überweht, ist sie, in der Fahrbahn der Dampfer gelegen, die das Mittelmeer kreuzen, eine der Pforten des Orients, ein Punkt von hoher strategischer Wichtigkeit, über den der britische Leu schützend seine Pranken hält, wie über Gibraltar, Perim, Aden, Singapur, Hongkong und die vielen anderen festen Plätze, von denen seine Flotten auslaufen, um das Wort wahr bleiben zu lassen: Britannia, rule the waves (Britannia, beherrsche die Wogen)!

[101] 

Ansicht von La Valetta auf Malta.

[102] Ob die bisher noch unverbürgte Mittheilung von der in Aussicht genommenen Uebersiedelung des Pio nono nach La Valetta Wahrheit werden, ob der Vertreter Petri hinter dem mit Kanonen gespickten Felsenbollwerk Malta’s eine sicherere Stätte für seinen päpstlichen Stuhl und im Schatten der britischen Fahne ein sanfteres Ruhekissen für sein heiliges Haupt finden wird – die Zeit wird es lehren.




Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben.


Auch eine Jubiläums-Erinnerung von Fritz Rödiger.


(Schluß.)


Ueber Jena, Dornburg, Camburg,
Zogen die Hussiten vor Naumburg;

Ueber Rohda, Lob’da, Wöllnitz – zogen wir, in sothanen prosaischen Stunden aus dem Reim fallend, vor Jena, das unvergeßliche Saal-Athen. In Wöllnitz mußte Halt gemacht werden, um von diesem bekannten strategisch wichtigen Punkte aus die Laufgräben weiter zu eröffnen. In Wöllnitz kamen wir in frühester Stunde an, die grünbelaubten Weinberge, von denen der Student so erbarmungslos singt –

daß sie uns den Magen zwicken
und den Strumpf zusammenflicken –

hoben sich lachend aus dem Morgengrauen heraus, das die alten Exkneipen, Burgen und Bierstaatsresidenzen noch in gemüthlichen Nebel hüllte. Hoch droben liebäugelte schon mit den ersten Sonnenstrahlen der weltberühmte Paukplatz, wo ich gar manchmal mitgewaltet als Zuschauer, Zeuge, Secundant oder als Paukant, und wo wir öfter von dem „verfluchtesten Kerl“ unter allen Pedellen, dem dicken Kahle, im Schweiß unseres Angesichtes noch weiter aufwärts getrieben wurden, umpanzert von unbefriedigtem Blutdurst und Paukwichs. – Beim Burgvogt aller Burgvögte jener Zeiten, „bei Häring“ (ein wahrer Häring für alle Katzenjammer der Herren Studenten) – stiegen wir ab. – Von da holten uns am Abend, nachdem wir dem berühmten Wöllnitzer, das zwischen Reben aus Malz und Hopfen als Broyhan trefflichst gedeiht, alle Ehre angethan hatten, einige mir befreundete Burschenschafter nach Saal-Athen. In der alten, ewig jungen Musenstadt hielten wir uns vom 3. bis zum 10. August auf, theils bei den Germanen, theils bei den Teutonen, deren alter Mitbegründer ich war, versteckt, aber nicht sonderlich, denn bald wußte es fast die ganze Studentenschaft, daß abermals sächsische Maikäfer herumschwirrten. Hier erwartete ich, um studentisch zu reden, vom väterlichen Hause meinen Reise-„Wechsel“, um nach Einnahme dieser Ladung sobald wie möglich mich aus dem verführerischen Hafen hinaus bugsiren zu lassen auf die weite, unbekannte See des Lebens. Wir waren hier nur allzu sicher, so daß Blankmeister sogar unter der Maske eines Vehmrichters einen Umzug durch die Stadt mitmachte. Die hohe Stadtpolizei selbst, ein alter Commilito, hatte uns zugesichert: sie würde sofort einen väterlichen Wink geben, wenn „Etwas los wäre“. Hier nahm ich auch von treuen und lieben Seelen, die meine Sturmjahre zu allen Zeiten lieblich umblühen werden, wie wunderbare Märchenrosen aus „Tausend und einer Nacht“, schwerbeklommenen Abschied. „Es war bestimmt in Gottes Rath!“ – So schwanden die Tage rasch dahin, und als ich mich gehörig herausstaffirt hatte und Tags zuvor der berühmte Polizeianzeigermann Eberhardt von Dresden, laut Polizeibericht eines alten Jenensers, in Saal-Athen angekommen war, ohne etwas von uns zu merken, nahm ich von meinem Genossen Blankmeister Abschied, dessen beflügelter Kiel mit einigen Mecklenburgern hinab in die Ostsee segelte, um in Amerika sagenklangartig wieder aufzutauchen. Seine weiteren Abenteuer und Lebensläufe sind mir bis auf den heutigen Tag unbekannt geblieben. Er hat mir, seinem Befreier, nicht eine einzige Nachricht zukommen lassen.

In der Nacht vom 10. auf den 11. August wanderte ich mit dem Germanen Ferdinand Becker, stud. med., durch das Thor der alten Musenstadt.

„Bemooster Bursche zog’ ich aus, Adje!“

An der Oelmühle und an andern Mühlenrädern „im kühlen Grunde“ vorüber, wo Anno 1844 ein liebliches Röschen und Bäschen gewohnt hat, die berühmte Schnecke empor auf das classische Ilm-Athen los. Es war eine freundliche Sonntagnacht. In den Schenken an der Heerstraße „tönte Geig’ und Clarinette“, wie Lenau singt, allein wir kehrten nicht beim nächsten und nicht bei einem Wirthshaus ein.

Wir pilgerten ruhig unsere Straße; auf meine Seele lagerte sich eine ganze Welt von Erinnerungen, denn wir wandelten auf historischem Boden, in doppelter Beziehung. War ich auch Voigtländer von ganzer Seele, so war doch Thüringen, das schöne, sagenreiche und classische Thüringen, das Land meiner Väter. Viele Dörfer und Namen dieser Gauen wanden sich wie Blumenkränze um die Erinnerungen meiner frühesten Jugend. In Thüringen, welches ich heute durchzog, flüchtigen Fußes und vaterlandslos, wohnte als stattlicher Bauer vor etwa zweihundert Jahren mein ältester durch Kirchenbücher erreichbarer Ahnherr auf freiem Hofe; ihm folgte manch kräftiger Stammhalter bis herab zu meinem Vater, der abermals in Tiffurth und Zwätzen seine Lehrjahre bestanden, in Jena seine Studien gemacht hatte und 1813 auch von hier aus, als freiwilliger Reitersmann, für das deutsche Vaterland

Mit Friedrich Wilhelm’s Macht
Gezogen in die Leipz’ger Schlacht –

und noch in manche Schlacht und in manch Scharmützel von 1813 bis 1850 für Freiheit und Einheit des deutschen Vaterlandes. Meine Mutter war die älteste Tochter Klinger’s, des Hofgärtners der Großherzogin Amalie in Tiffurth bei Weimar, der unsterblichen Mutter des unsterblichen Herzogs Karl August. Ueber sie waren, als achtjähriges Kind, die furchtbaren Kriegsdrangsale von 1806 bis 1812 dahingebraust, mit fürchterlicher Wucht vor Allem die Folgen der Schlacht bei Jena, auf deren Schauplatz wir soeben dahinschritten. Ihr Vater gehörte zu den Freunden Frankreichs jener Tage, die dem verführerischen Rufe: „Krieg den Palästen, Friede den Hütten!“ vertraut hatten, bis sie dreimal geplündert, verarmt und elend, ohne Hütte, dem Kriegs- und Hungertyphus unterlagen, um mit Heine, dem Bewunderer jener Tage, ausrufen zu können:

„Du hast mich zu Grunde gerichtet –
Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“

Meine Mutter hatte aber auch noch die Abendsonnentage der glorreichen Dichterheroenzeit Ilm-Athens und Tiffurths gesehen und konnte sich recht wohl an die meisten hervorragenden Persönlichkeiten, selbst an Schiller, noch erinnern, und Wieland wohnte eine Zeit lang in ihres Vaters Hause; ebenso an Goethe, Herder, kurz an alle die Günstlinge der Musen ihrer Zeit, sowie vor Allem an Karl August, den Herzog ohne Furcht und Tadel. Sie sämmtlich waren Zeitgenossen und unvergängliche Bilder ihrer Kindheit. Sie sah noch die zauberischen Schäferspiele und Komödien im Parke zu Tiffurth mit eigenen Augen an, in denen die Gnomen und Bergmännlein durch die goldglänzenden Büsche und Wipfel schlüpften, Elfen und Wassernixchen sich auf den krystallenen Fluthen der Ilm schaukelnd wiegten, Sirenengesänge, Aeolsharfen und Zaubermusik aus weiter, weiter Ferne die lauschende Seele durchhauchten, Blitze zuckten, Donner rollten, Bauer, Edelmann und Prinz in Eintracht mit Prinzessin, Edelfräulein und Bauerdirne auf dem grünen Plane dahinwalzten. Diese Erlebnisse ihrer Kinderjahre durchwoben wie lichte und liebliche Blumensterne ihr ganzes, langes Leben, und all diese hundert Erzählungen und Erinnerungen hatten sich auch in meine Seele tief eingeprägt, denn „auch ich war in Arkadien geboren“. Auch ich hatte als Knabe und als Student unter dem Schatten flüsternder Riesenlinden den Manen jener unsterblichen Sänger des deutschen Volkes gelauscht, indeß die Wellen des Dichterflusses zu meinen Füßen dahinrollten, die eine große Zeit und deren Träger geschaukelt, gespiegelt und gebadet hatten. –

[103] Die alten Buchen des Webichtwäldchens bei Weimar mit allen ihren gemeinen, Silber- und Goldfasanen, ein Bild der Welt, grüßten mich als alten Bekannten, denn auch „in diesen heil’gen Hallen“ hatte ich als Knabe, an der Hand meines Onkels und meiner Tante frisches Waldleben genossen und zum ersten Male ein Hoftheater und darin das „Tausendschönchen“ gesehen, eine Zauberoper aus älterer Zeit, dieselbe würde mir längst entschwunden sein, wenn nicht darin der Hauptheld, ein zwerghafter Jägersmann, die kleinen „Gernegroße“ aller Zeiten in Wort und Bild auf’s Trefflichste persiflirt hätte. Er und nur er hatte Alles gedacht, vorausgehen, erfunden und gethan, und mit hoher Selbstbefriedigung sang er der Welt sein schönstes Lied mit dem ewigen Refrain:

„Denn in der Stadt
Nennt man mich nur
Den Riesen Goliath.“ –

In Weimar verließ mich mein treuer Begleiter, und ich besuchte Tante, Vettern und Bäschen. Die treue Tante und zwei Bäschen – ich hatte sie, wie so viele herzige Freunde meiner Jugend, zum letzten Male gesehen. Die Tante war eine dichterische, ideale Seele, von kleinbürgerlichen Verhältnissen in eine Lebensbahn gedrängt, die sie hohen Muthes wandelte, doch war sie, als Spiegelbild und spätes Echo jener frühen Dichter- und Künstlerzeiten ihrer Heimath, zu Höherem geboren. Ob sie glücklicher geworden wäre? – Sie ruhe sanft auf jenem weiten Friedhofe Weimars, auf welchem eine große Zeit begraben liegt. Sie, die stille, bescheidene Frau, gehörte ihr geistig an wie Wenige.

Bald jedoch drängte mich ein lieber freundlicher Verwandter, ein Hofbeamter der vierziger Jahre, möglichst rasch „zum Städtle hinaus“. Er hatte nicht ganz Unrecht, denn leicht konnte es dem Telegraphen einfallen, mich auf der Vetternstraße zu überraschen. Wir wanderten selbander hinaus auf ein einsames Dörfchen, das schon in der Nähe von Erfurt, dem Gärtnerparadiese, liegen mußte, denn es war gewürzig reich umkränzt von langen und breiten Feldern, von Coriander, Hirse, Mohn, Raps, Hanf, Flachs, kurz von einem wahren Meere von Handelspflanzen. Hier suchten wir bei einer freundlichen Lehrerfamilie behagliches Nachtquartier. Ich galt als ein Verwandter meines Vetters, als irgend ein Jäger aus Kurpfalz – – aber statt allein zu bleiben, trafen gleichzeitig noch mehrere Lehrer ein. Es mußten Ferien sein. Unter Anderen war auch ein redseliges Haus dabei, der, alle Hochachtung vor seiner Pädagogik vorbehalten, ein ganz vorzügliches Jägerlatein sprach.

Dieser Herr Lehrer erzählte uns beim Morgenkaffee mit allen möglichen Ausschmückungen meine Fluchtgeschichte, da er soeben aus dem obern Voigtlande ankam. Im Anfange glaubte ich, er kenne mich und wolle sich einen Spaß mit mir machen; allein bald erkannte ich, daß er auf eigene Faust fabelte. Man hatte uns in tiefer Nacht mittelst langer Himmelsleitern, die man an die Frohnveste gelegt, herausgeholt. Wer die „Man“ waren, wußte er nicht, wahrscheinlich ein Corps Böhmen aus den böhmischen Wäldern. Bei alle dem Eindringen über Gärten und Hofmauern und bei allem Einbringen von fürchterlich langen Feuerleitern – denn das Dach war sehr hoch – hatte Niemand etwas gehört. Der gute Dichter ahnte nicht, daß er dem Helden seines Romanes gegenüber saß; denn er fügte mir noch die Versicherung bei, daß er den Rödiger von Jena her ganz gut kenne. Mir machte dies natürlich viel Spaß; mein Hofmann saß dagegen sichtlich auf Kohlen.

Die Gesellschaft begleitete mich noch eine Strecke hinaus in die bäuerlichen Gewürzparadiese; dann wandelte ich allein zum Vetter Anton nach Gebesee, und von dort ließ mich der Vetter mit zwei fetten Ackergäulen nach dem 1866 so viel genannten Langensalza kutschiren. Meine Mutter hatte als Jungfrau einige schöne Jahre in dieser Stadt zugebracht, Grund genug, ihr ebenfalls einige Stunden zu widmen. Dort sah ich auch zum ersten Male Ulanen, jene preußische Reiterschaar, die in dem Kriege von 1870 und 1871 eine so glänzende Rolle gespielt hat.

Ein Langensalzaer Fiaker rumpelte mich glücklich nach Eisenach hinein. Ich war von Jena aus in den „Rautenkranz“ gewiesen. Dort sollte ich alte und sichere Freunde treffen. Ja wohl! Alte Freunde traf ich dort schon, allein mit der Sicherheit schien es mir so, so.

An der Speisetafel erschienen zu meiner Rechten und Linken zwei alte gute Freunde von ehedem, dermalen aber total umgesattelte Burschenschafter, der eine davon, Schmid von Jena, vulgo Flez – noch hängt sein sprechendes Portrait über meinem Clavier – Polizeisecretär und aus puren Reactionsgelüsten katholisch geworden. Beide kannten mich natürlich, wie ich sie, auf der Stelle. Von dem Andern, Förster mit Namen, fürchtete ich nichts. Von Flez merkwürdiger Weise Vieles; obgleich ich gerade in Jena mit Flez, wo er eine bedeutende Rolle in unserem Verbindungsleben spielte, sehr intim war und ihm in Kneipe, Versammlung und Mensur stets auf’s Tapferste secundirt hatte. Allein mir kam dabei der verflixte Becker aus Chemnitz nicht aus dem Sinn, der seinen ehemaligen Studiengenossen Heubner ja auch verrathen hatte, und dabei erschien mir Flez merklich unruhig und unangenehm berührt zu sein; kurz, ich zog mich so rasch wie möglich zurück, durchschlenderte aber doch noch einige Gassen, da ich mich ja doch so wie so in Flezens Hand gegeben sah; sobald ich aber auf einen öffentlichen Platz heraustrat, stand merkwürdiger Weise Freund Flez, gar nicht fern, mir gegenüber. Und doch – es ist zum Lachen heute – wagte Keiner den Anderen anzureden. Ich sah Gespenster, und ihn hinderte seine Stellung, und wahrscheinlich mehr noch seine Wandlung, sich mir zu nähern. Darauf besuchte Flez die Schweiz und erzählte daselbst einem unserer gemeinsamen Freunde selbst dieses Abenteuer und lachte, wie ich heute, über unser „kindliches“ Benehmen. Der Mann soll längst schon „zur großen Armee“ einberufen worden sein.

Es scheint, daß es, wie damals, so auch heute noch, wie ein Beispiel im reformirten Zürich andeutet, zur Taktik der Ultramontanen gehört, auch auf protestantischen Universitäten Proselyten zu suchen und zu machen; denn neben Schmid sind noch zwei „Burschenschafter“ jener Tage und jenes engeren Kreises von Jena her mir bekannt geworden, die heute zu den Säulen der Unfehlbarkeit zählen.

Bald genug schüttelte ich den Eisenacher Staub von den Füßen und zog mich, wieder zu Fuß, unter der Wartburg herum, hinein in tiefe und frischgrüne Waldreviere, dann durch prächtige Walddörfer und über fruchtbare Waldwiesen, bis ich nach einigen Stunden abermals in der Nähe einer meiner Vetterstationen anlangte.

Lange und freundlich blickte mir durch enge Waldthäler und neugierig durch die hohen Baumwipfel herab die alte ehrenfeste Wartburg nach. Sie hat im Laufe vieler Jahrhunderte viele Tausende deutscher Patrioten und Flüchtlinge kommen und gehen sehen und hat manch wackeres deutsches Herz bewirthet und beherbergt. Ihr Name ist mit den Kämpfen für Deutschlands innere Befreiung schon seit Luther’s Tagen auf’s Innigste verwachsen. Ich winkte ihr herzlichen Gruß hinüber und meine beste Entschuldigung, daß ich sie diesmal nicht besuchen könne. Sie schien dem alten gesinnungsverwandten Burschenschafter recht glückliche Reise zu wünschen. Hierauf verklärte die Sonne noch einmal auf’s Freundlichste ihr faltenreiches Antlitz und vergoldete weithin das rauschende und brausende Waldmeer, aus dem die alte deutsche Burg wie ein Zaubereiland glühend emporragte.

Bald zeigte mir ein reitender Gensdarm meinen Vetter „Förster“, denselben, den ich in jenem Lehrerkränzchen bei Erfurt vorzustellen die Ehre gehabt hatte. Den guten Reiter hielt ich im ersten Augenblicke für einen Sendling meines Polizeifreundes Flez, doch auch hierin hatte ich mich getäuscht. – Nach einiger Rast kutschirte mich der joviale „Vetter“ mit des Gensdarmen Gaul abermals zu einem lustigen Vetter und dessen Schwester, zur letzten Vetterschaft in deutschen Landen.

Ich verlebte im einsamen Dorfe Dermbach einige fidele Tage. Meine strategische Idee war – und fünfzehn Jahre später haben mir die Preußen das exact nachgemacht –, von hier aus durch Hessen oder Baiern gegen Frankfurt am Main vorzudringen, um sodann den Rhein, von Mainz aufwärts, zur Grundlage meiner nächsten Operationen gegen Frankreich zu benutzen und vor allen Dingen – Straßburg zu gewinnen.

Und dem geschah also. Von meinen nicht uninteressanten Erlebnissen in Frankfurt und auf dem Vater Rhein, der mich einen vollen Tag und eine ganze Nacht lang auf seinem geduldigen Rücken schaukelte, vielleicht ein anderes Mal.

[104] Frankreich war 1851 gerade eine solche Republik wie heutzutage. Am Hause des Präfecten von Straßburg flatterte die Tricolore blau, weiß und roth. Daß zwanzig Jahre später schon von dem berühmten Dome jener alten Stadt die deutsche Tricolore mit ihren Reformfarben wehen werde und das romanische Gelb von der Sonne der Zeit in ein germanisches Weiß umgewandelt sein würde – das hätte ich mir, gerade so wie alle anderen Leute, nicht träumen lassen, als ich beim Frühstücke im „Holländischen Hofe“ als flüchtiger Prätendent deutscher Freiheit und Einheit das erste Sendschreiben an meine Lieben und Getreuen im Heimathlande ergehen ließ, gegeben zu Straßburg, am 19. August 1851.




An Hoffmann von Fallersleben.


Zu Corvey war’s. Durch den Kastaniengang
Bin ich mit Dir des Wegs zum Schloß geschritten
Und saß gar bald bei hellem Gläserklang
In Deines blüthgeschmückten Zimmers Mitten.

5
Es lag die Flur im Julisonnenbrand,

Rheinwein in Eis. Der Mann im Silberhaare,
Er füllte unsre Becher bis zum Rand
Und sprach: „Stoß’ an! O, blieb’ es immer so!
Noch bin ich jung und meiner Jugend froh,

10
Trotz meiner vollen fünfundsiebzig Jahre.“ –


Mein alter Freund, noch keinen sah ich je,
Der so den Lenz des Daseins festgehalten.
Hin auf die Schultern floß der Locken Schnee;
Wohl lagen auf der Stirne tiefe Falten,

15
Doch von der Lippe sprühte der Humor;

Satire wußt’ den scharfen Pfeil zu spitzen,
Und tief im Herzen sproß ein Blumenflor;
Da klang’s wie eines Haidevögleins Schlag.
Mir war’s, als säh’ ich einen Maientag

20
Hervor aus Deinen blauen Augen blitzen.


Nun ist vorbei auch Deine Erdenfahrt.
Die blauen Augen hat der Tod geschlossen;
Nicht streichst Du, schelmisch lächelnd, mehr den Bart
Vergnügt im Kreise heit’rer Zechgenossen.

25
Der Zeit erlag auch Deine Riesenkraft;

Nun ward auch Dir das Todtenlied gesungen;
Du ruhst nach einer langen Wanderschaft. –
Um Deinen Hügel strahlt des Ruhmes Glanz:
Den Kranz des Forschers und des Dichters Kranz,

30
Du hast die Kränze beide Dir errungen.


Im Reich des Wissens hat Dein ernster Fleiß
Erworben längst Dir eine Ehrenstelle,
Und des Poeten grünes Lorbeerreis,
Du brachst es fast im Spiele Dir, Geselle.

35
Treuherzig, innig, wie ein Volkslied fast,

Einfach und schlicht, bar alles Phrasenschwalles,
So klingt das Lied, das Du gedichtet hast.
Hoch schlägt das Herz uns, wenn Dein Sang erschallt,
Dein „Zwischen Frankreich und dem Böhmerwald“,

40
Dein herrlich „Deutschland, Deutschland über Alles“.


Dem Vaterlande und der Freiheit schlug
In gleicher, treuer Lieb’ Dein Herz entgegen;
Den Haß der Priester und der Mächt’gen trug
Dein Haupt auf harten, langen Dornenwegen;

45
Dich machte zahm kein Pfaff’ und kein Despot:

Des Volkes Streiter war und blieb der Barde.
Du grüßtest froh der Einheit Morgenroth
Und kämpftest fort für Freiheit, Recht und Licht;
Um Herrengunst und Gnade hast Du nicht

50
Gewechselt Deine Fahne und Cocarde. –


Die Leiche birgt das Grab im Weserthal;
Verhallet ist der Klang der Sterbeglocken –
Die Stunden flieh’n; bald wird der Sonnenstrahl
Aus Deiner Gruft hervor die Blumen locken.

50
In Frieden schlaf’! Dein Tagwerk ist gethan.

Das Volk, die Wissenschaft, die Sanggenossen
Der stillen Schlummerstätte trauernd nah’n;
Sie bringen Dir dreifaches Lorbeerblatt,
Dreifachen Kranz – und Deinen Namen hat

55
In Liebe Deutschland in sein Herz geschlossen.


Emil Rittershaus.




Blätter und Blüthen.


Der „Vorschlag“ zur Orthographie-Reform in Nr. 3 der „Gartenlaube“ hat gewiß das Interesse aller derjenigen Deutschen erregt, denen es darum zu thun ist, ihre schöne Muttersprache in tadellosem Gewande zu erblicken. Gab doch die Aufnahme dieser Notiz zugleich die Versicherung, daß die „Gartenlaube“ ihre bisherige Zurückhaltung in dieser Frage aufgegeben habe und mit eintreten wolle in den bereits seit Decennien geführten, neuerdings in der Schweiz, wie im Osten Deutschlands wieder frisch auflodernden Kampf gegen ein widerliches Zopfthum, einen aus den Zeiten deutscher Schmach vererbten, von sprachkundigen Grammatikern und grämlichen Pedanten wohlconservirten Mißstand.

Daß für die Reform der Orthographie etwas gethan werden muß, kann Niemand mehr bezweifeln. Es ist hier nicht der Ort, die Mängel unserer sogenannten „Rechtschreibung“ einzeln aufzuzählen. Jeder, der sie mit vorurtheilsfreiem Blicke geprüft, stimmt Jacob Grimm bei, der sie „eine schimpfliche, die Gliedmaßen der Sprache ungefüg verkleisternde und entstellende Schreibweise“ nennt; Niemand kann leugnen, daß sie eine unwürdige Hülle für unsere herrliche deutsche Sprache, ja, daß sie mit ihrem verworrenen Regelkrame nichts als ein wüstes Gewirr von Willkür und Unsinn ist. Sie erschwert nicht nur ganz außerordentlich die Arbeit der Lehrer in den Schulen, sie wirkt auch in Folge ihrer vielen Unregelmäßigkeiten und Schwankungen verwirrend auf das schreibende Publicum ein und schreckt Viele aus den untern Volksclassen ab, nach der Schulzeit die Feder nochmals in die Hand zu nehmen. Jeder, dem die Hebung unserer Volksbildung am Herzen liegt, muß mit Hand anlegen an das Werk der Reform.

Jedoch kann ich nicht ganz der Ansicht des geehrten Herrn Einsenders der betreffenden Notiz aus Wien über die Weise der Reformdurchführung beitreten. Nach meiner Ueberzeugung darf uns eine Reform nicht von oben herab durch eine orthodoxe Commission aufgedrängt werden; sie muß vielmehr von unten herauf, aus dem Volke selbst angeregt werden. Es muß zunächst das Interesse der Lehrerwelt wie des größeren Publicums für diese Angelegenheit erregt werden. Es gilt zuvörderst, noch manches hemmende Vorurtheil zu beseitigen, das Widerstreben der „Conservativen“ um jeden Preis zu brechen und überall für das Neue bereite Bahn zu schaffen. Ist dies geschehen, dann mag die Commission mit ihren Gesetzen eintreten, dann erst kann ihr Wirken auf Erfolg rechnen.

In Schlesien ist bereits ein erster Schritt gethan. Der Pädagogische Verein zu Görlitz hatte im vergangenen Sommer beschlossen, eine orthographische Reform-Bewegung zunächst in der schlesischen Lehrerschaft anzuregen, und versandte zu diesem Zwecke gegen Ende des vorigen Jahres eine von ihm ausgearbeitete, von Professor Dr. Jacob Bucher in Luzern durchgesehene und äußerst günstig beurtheilte Abhandlung „Ueber Neugestaltung unserer Rechtschreibung“ an die einzelnen Zweigvereine (über fünfzig) des schlesischen Provinzial-Lehrervereins mit dem Ersuchen um Berathung der darin aufgestellten Thesen, von denen die drei ersten principieller Natur sind und wie folgt lauten:

1) Unsere Rechtschreibung ist als eine zum Theil ungenaue und regellose, selbst unpraktische zu bezeichnen. Es ist darum eine Verbesserung derselben anzustreben.

2) Zur Durchführung einer solchen ist das historische Princip ungeeignet.

3) Eine zweckentsprechende Orthographie-Reform kann nur unter Zugrundelegung des phonetischen (Laut-)Princips erreicht werden.

Der Verein hegt die Absicht, zunächst eine Einigung der schlesischen Lehrer herbeizuführen, dann aber auch der Sache größere Ausdehnung zu geben und das Reformwerk zu einer Angelegenheit der gesammten Lehrerwelt Deutschlands zu machen.

Es ist zu wünschen, daß das Streben der schlesischen Lehrer von der Theilnahme des ganzen Volkes unterstützt werde. Vielleicht ist es unserer Zeit, der Zeit der politischen Einigung Deutschlands, vergönnt, auch eine Einigung auf dem Gebiete der deutschen Rechtschreibung herbeizuführen.

R.


Kleiner Briefkasten.


Schr. in Mbg. Wenn Sie den vollen Abonnementsbetrag der Gartenlaube bei der Postexpedition eingezahlt haben, so ist diese auch verpflichtet, die sämmtlichen Nummern des Quartals zu liefern. Von Seiten der Verlagshandlung werden der kaiserlichen Post nicht nur einzelne, sondern stets die sämmtlichen bisher erschienenen Nummern des Quartals ausgehändigt. Dagegen ist durch eine Generalverfügung der kaiserlichen Postdirection allerdings bestimmt worden, daß bei verspäteter Bestellung die bereits erschienenen Quartalnummern nur gegen einen Portoersatz von einem Groschen ausgeliefert werden sollen. Diese kleine Strafe für verspätete Abonnementsaufgabe haben auch Sie zu zahlen, wogegen, wie bereits bemerkt, die Postbehörde Ihnen unweigerlich die sämmtlichen Nummern des Quartals auszuhändigen hat. Nachweislich auf der Post beschmutzte Exemplare haben Sie das Recht zurückzuweisen.

Breslau. Ich fühle mich bei zunehmender Kränklichkeit nicht mehr fähig, vielfache, in diesen Tagen empfangene Zuschriften gütiger Gönner und Freunde dankbar zu erwidern, und bitte um Nachsicht für den müden Alten.

Breslau, den 25. Januar 1874. Holtei.

O. M. in Chemnitz. Ihre Arbeit ist zum Abdruck nicht geeignet. Bei etwaigen weiteren Einsendungen wollen Sie durch deutlichere Schrift schonendere Rücksicht auf unsere Augen nehmen.

Flora P. in Freiberg. Richtig vermuthet!

A. in W. Recht brav, aber für die Gartenlaube nicht geeignet.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eduard von Leyh; vergl. Berichtigung (Die Gartenlaube 1874/19)