Die Gartenlaube (1878)/Heft 1

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
>>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[1]

No. 1.   1878.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



An unsere Leser.

Unsere Absicht, die neue Erzählung von E. Marlitt „Im Schillingshof“ an die Spitze dieses Jahrgangs zu stellen, wurde durch den leidenden Gesundheitszustand der Verfasserin zu unserem lebhaften Bedauern unausführbar. Wir beginnen das neue Quartal mit der bereits für den vorigen Jahrgang bestimmten und auch angezeigten Novelle von Ernst Wichert „Gebunden“ und werden nach Abdruck dieser kürzeren Erzählung noch in diesem Quartal E. Werner’sUm hohen Preis“ folgen lassen. Jedenfalls kommen im Laufe des Jahrgangs 1878 zum Abdruck die bereits angekündigten novellistischen Beiträge:

E. Marlitt,
Im Schillingshof“,
E. Werner,
„Um hohen Preis“,
Leipzig, Anfang Januar 1878.             
W. Heimburg,                             
„Lumpenmüllers Lieschen“.  Schloßgeschichte.  
Die Redaction.           


Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.[1]
1.

An einem herrlichen Juliabend spazierte eine kleine Gesellschaft den breiten Weg entlang, der hinter der reizend gelegenen Stadt Thun in die Berge hinauf führt.

Es waren drei Herren und zwei Damen.

Ich kenne sie, sie sind meine Landsleute. Der Eine der Herren, den beiden Anderen an Jahren voraus und nicht leicht zu übersehen wegen seiner mächtigen Nase und den großen, klugen, zugleich gutmüthigen Augen, ist der Gerichtsrath Pfaff, ein Junggeselle, der sich zu Hause täglich an der Actenarbeit einige Stunden „die Beine verläuft“, seine Ferien aber zu weiteren Reiseausflügen zu benutzen pflegt, wohl der einzige Luxus, den er sich gönnt. Uebrigens reist er gern „mit Familie“, das heißt mit einem jungen „Collegen“, für den er die Kosten aus seiner Tasche bestreitet. Diesmal scheint er außer dem Referendar Hell, dem schlanken jungen Manne mit dem blonden Bärtchen und der Brille, auch dessen jüngeren Bruder, den Philologen, auf seine Rechnung genommen zu haben.

Die beiden Damen gehören also eigentlich nicht „zur Familie“; sie sind nur „unterwegs angetroffen“, übrigens aber nicht nur Bekannte, sondern entfernte Verwandte des Raths. Der verstorbene Mann der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame, Oberstlieutenant von der Wehr, war sein Vetter in irgend einem Grade, den näher festzustellen schwerlich der Mühe lohnt, und das sehr junge, hochaufgeschossene Fräulein mit dem langen, aschblonden Haare unter dem breiten Florentiner, Irmgard, ist dessen Tochter und einziges Kind. Sie wurden aus Gesundheitsrücksichten auf Reisen geschickt, sind vor etwa acht Tagen in Thun angekommen und haben dort, weil ihnen das Städtchen auf den ersten Blick ungemein gefiel, für längere Zeit Quartier belegt. Am Dampfbootsplatze haben sie den Gerichtsrath mit seinen Begleitern getroffen und ihn ohne Mühe vermocht, sich einen Ruhetag in ihrer Gesellschaft zu gönnen.

Ein richtiger Ruhetag scheint’s nun wohl nicht werden zu wollen. Die Sehnsucht der beiden jungen Herren, die zum ersten Male die Schweiz und überhaupt ein Bergland sahen, waren die Schneehäupter jenseits des Sees, und am liebsten hätten sie sicher gleich Vormittags die Reise ohne Aufenthalt zu Schiff fortgesetzt, um ihnen am Abend schon ganz nahe zu sein. Nun meinten sie, sich wenigstens „im Steigen üben“ zu müssen. Sie hatten es anfangs auf der mehr ebenen Straße für ihre Pflicht gehalten, der jungen Dame Gesellschaft zu leisten, wie sie sich aber auch abwechselnd bemühten, ein Gespräch in Gang zu bringen, das Fräulein antwortete immer möglichst knapp, schien für witzige Bemerkungen gar kein Ohr zu haben, lächelte bestenfalls sehr überlegen und war offenbar nur besorgt, die Würde ihrer fünfzehn oder sechszehn Jahre in Gegenwart der Mama und des Onkels gebührend zu wahren. Vielleicht hinderte sie auch das schwarze Kleid, das sie wie ihre Mutter trug, sich der Lustigkeit zu überlassen, mit der ihre Begleiter sie vergebens anzustecken suchten.

Die Brüder hatten daher die junge Dame aufgegeben und waren bald voraus, bald hinter den Uebrigen, bald seitwärts links über ihnen auf einem steileren Richtpfade, bald rechts eine Strecke

[2] hinab nach dem Seeufer zu. So waren sie an einer Reihe hübscher Villen vorübergegangen, und noch immer schien dieselbe nicht abbrechen zu wollen, wenn schon der Raum zwischen den einzelnen Häusern allmählich breiter wurde.

„Was halten wir uns immer auf der bequemen Straße?“ rief der Referendar endlich ungeduldig. „Wie wär’s, wenn wir einmal hier links abschwenkten und auf diesem reizenden Ziegenpfade aufstrebten? Er geht noch weit über den berühmten Jägerstieg an der Spitze unserer heimischen Wolfsschlucht. Erreichen wir jene hochgelegene Wiese, so lohnt uns sicher der prachtvollste Fernblick. Was sagen Sie dazu, meine Damen?“ Er war schon eine Strecke hinauf geeilt und sprach die letzten Worte von einem vorspringenden Steine wie von einer Kanzel aus. Sein Bruder folgte ihm auf dem Fuße.

„Ja, was sagen Sie zu diesen Sausewinden, beste Cousine?“ fragte der Rath lachend. „‚Nur um’s Himmelswillen nicht auf der bequemen Straße bleiben!‘, das ist Paragraph eins ihres Reisegesetzes, aber ich muß bekennen, daß man meist gut dabei fährt, wenn man sich ihnen fügt. Heute aber steht den Damen ein Veto zu, und ich werde dafür sorgen, daß es respectirt wird.“

Irmgard sah ihre Mutter an, neugierig, was sie wohl antworten werde. Es wäre ihr gewiß gar nicht so unlieb gewesen, wenn sie zugestimmt hätte.

Frau von der Wehr schien mit einem flüchtigen Blicke die Höhe schätzen zu wollen. „Ich möchte den jungen Leuten nicht das Vergnügen verkümmern,“ äußerte sie dann mit leiser, etwas leidend klingender Stimme, indem sie ihren Arm sanft aus dem des Rathes zog. „Folgen Sie Ihren Reisegefährten, lieber Cousin! Ich setze mich mit Irmgard auf diese Steinbank, und wenn’s uns zu lange währt, gehen wir langsam voraus nach der Stadt zurück.“

„Aber warum sind wir nicht mit von der Partie, Mama?“ fiel das Töchterchen, wie sich vergessend, lebhaft ein.

Das bleiche Gesicht der Mutter wandte sich mit dem Ausdrucke der Ueberraschung ihr zu. Irmgard wurde roth, senkte die langen blonden Augenwimpern und spielte mit dem silbernen Kettchen an dem Griffe ihres Sonnenschirmes. „Ich meinte,“ erläuterte sie halb verlegen, halb ärgerlich, „weil wir sonst – wenn wir allein sind – immer die allergewöhnlichsten Wege gehen und heute einmal Gelegenheit wäre, den See von da oben … Aber wie Du willst – es kam mir nur so.“ Sie biß die Lippe mit den kleinen Zähnen, sicher mit sich selbst unzufrieden, daß sie ihren Wunsch verrathen hatte.

„Wenn Du mich allein lassen willst, liebe Irmgard …“

„Ich bleibe,“ fiel Irmgard schnell und entschieden ein, indem sie sich zugleich der Steinbank näherte.

Der Rath hüstelte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wie wär’s, verehrte Cousine,“ äußerte er lächelnd, „wenn Sie mir erlaubten, Ihnen hier Gesellschaft zu leisten? Ich gestehe, daß es mich, in Voraussicht der morgenden Strapazen, wenig reizt, dem Himmel einige hundert Fuß näher zu kommen. Das junge Volk könnte ja nach Gefallen ausschwärmen und wird sich nach einer halben Stunde leicht zu uns zurückfinden.“

Frau von der Wehr bedachte sich ein Weilchen. „Willst Du die Herren begleiten?“ fragte sie, wohl einer Ablehnung gewiß.

Sie täuschte sich. „Sehr gern, Mama,“ antwortete das Mädchen. „Ich möchte einmal da hinauf. Vom See aus habe ich auf der Höhe ein Haus gesehen, das eine wunderschöne Lage hat. Wer dort wohnen könnte! – dachte ich mir. Und vielleicht ist’s oben gar nicht so reizend. Ich meinte nur, weil es so hoch und so ganz allein steht.“

„Gut, geh’ nur!“ sagte die Mutter.

Die jungen Leute waren bald auf der Bergstiege hoch über ihnen. Der Referendar jodelte lustig.

Frau von der Wehr und der Rath nahmen auf der Steinbank Platz. „Sind da meine kleinen Junggesellenersparnisse nicht trefflich angelegt?“ fragte Letzterer, hinaufhorchend. „Diese naturwüchsige Freude an der schönen Welt! Man fängt mit der Jugend noch einmal an zu leben. Sie sollten sich rasch entschließen, beste Cousine, uns in die Berge zu begleiten. Es ist gerade die mäßigste Jahreszeit für’s Berner Oberland.“

„Das wäre nichts für mich,“ antwortete Frau von der Wehr kopfschüttelnd. „Die geringste Anstrengung ermattet mich, und meine Stimmung ist meist so wenig heiter, daß ich es für meine Pflicht halten muß, mich möglichst in die Einsamkeit zurückzuziehen.“

„Ah! Bei Ihren dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahren!“ wendete der Rath mißbilligend ein. „Aelter können Sie kaum sein. Ich denke, Sie waren siebenzehn, als Sie heiratheten – gerade halb so alt wie mein Cousin, der sich doch noch mit Recht zu den jüngeren Herren zählte.“

„Ich bin leider weit über meine Jahre alt,“ entgegnete die Dame mit einem Seufzer, der durchaus aufrichtig klang.

„Man sieht’s Ihnen doch nicht an,“ meinte der Rath, sie mit seinen klugen und freundlichen Augen wohlgefällig musternd. Man hätte ihm zustimmen müssen.

„Darf ich ein offenes Wort sprechen, beste Cousine?“ begann Pfaff nach kurzer Pause wieder, da sie nicht antwortete und halb abgewendet mit der Spitze des Schirmes Figuren in den Sand zeichnete. „Sie machen sich zu viel Gedanken über Dinge, die nicht zu ändern sind. Alles hat seine Zeit, auch die Trauer um die Todten, und wenn man noch die besten Ansprüche an’s Leben hat –“

„Lieber Herr Rath!“

„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, gnädige Frau! Ich bin nun einmal im Zuge und will meine Weisheit loswerden. Gefällt sie Ihnen nicht, so werde ich’s für keinen Verlust erachten, in die Luft gesprochen zu haben. Hier ist gerade die rechte Zeit und der rechte Ort zu einer Erörterung dieser Art. Sehen Sie, hinab über den spiegelhellen See, in die Ferne zu den himmelhohen Bergen mit dem rosigen Weiß ihrer Schneespitzen! Ist das nicht ein Anblick, der das Herz weiter macht? Wozu sich verschließen gegen die Stimme eines Freundes, der’s gut meint?“

„Sie wissen nicht –“

„Ich weiß Alles, ich bedenke Alles. Sie haben ein trauriges Schicksal gehabt. Die besonderen Umstände waren nur zu sehr geeignet, in Ihrem weichen Gemüthe Eindrücke zu befestigen, die im Augenblicke für unauslöschlich gelten konnten. Aber sind sie’s denn wirklich für alle Zeit? Sollten sie’s sein? Mein Cousin war gewiß ein braver Mann, in seiner Art ein ungewöhnlicher Mann, und ich glaube gern, daß er Sie von Herzen lieb gehabt hat, so wenig er auch zu den zärtlichen Naturen gehörte, die ihr Gefühl leicht zu erkennen geben. Er ist als der tapfere Führer seines Bataillons in dem ruhmreichsten Kriege, den je die deutsche Nation geführt hat, auf dem Schlachtfelde von feindlichen Kugeln getroffen worden und nach schweren Leiden in Ihren Armen gestorben. Er hatte nach seinem einzigen Kinde verlangt, und Sie hatten Irmgard mitgenommen. Die sehr beschwerliche Reise durch Feindesland, immer mit der Befürchtung zu spät anzukommen, die Sorge um das Kind, der Anblick der Schlachtfelder, das traurige Wiedersehen im Feldlazarett, der Abschied … Weiß ich Alles? Bedenke ich Alles? Aber es sind Jahre darüber vergangen, und Sie sind zu jung, um für immer mit dem Leben abzuschließen. Wozu noch heute und selbst hier auf der Reise dieses schwarze Kleid, das recht absichtlich an das Betrübliche erinnert – wozu?“

Frau von der Wehr hatte sich vorgebeugt und mit dem Schirm einen kleinen Stein hin- und hergeschoben. Eine Thräne fiel auf die schwarze Spitzenmanschette an ihrer Hand. „Das schwarze Kleid ist mir nicht mehr ein Traueranzug –“ sagte sie leise.

„Und was sonst?“ fragte der Rath. „Darf ich’s wissen?“

„Es ist ein Kleid, das mich der beschwerlichen Aufgabe überhebt, täglich darauf zu denken, wie ich mich kleiden soll – es harmonirt durchaus mit meiner Stimmung, kommt meinem Bedürfniß entgegen, von dem heiteren Schwarm der Menschen gemieden zu werden, ist wirklich in Allem eins mit mir.“ Die schöne Frau seufzte schwer. „Sie können mir das nicht nachfühlen. Mein ganzes Leben …“

„Sprechen Sie sich aus!“ bat der Rath, als sie zögerte.

Sie schüttelte den Kopf. „Brechen wir ab davon! Ich erkenne Ihre gute Absicht an, mir eine Wohlthat zu erweisen – es steht nur nicht in meiner Macht …glauben Sie mir, es steht nicht in meiner Macht, sie anzunehmen. Sie können mich nicht verstehen.“

„Gut! ich dringe nicht weiter in Sie. Aber muß denn auch Irmgard empfinden wie Sie? Ein so junges Geschöpf … es ist unnatürlich. Warum geht auch Irmgard noch immer schwarz gekleidet?“

[3] „Es ist durchaus nicht meine Anordnung. Ich habe im Gegentheil alle meine Bemühungen angewendet – schon ein Jahr nach dem Tode des Vaters – sie zu einem Wechsel zu vermögen. Vergebens! Sie berücksichtigen nicht die besondern Umstände und die ganz eigene Natur des Mädchens. Mein Mann liebte seine einzige Tochter mit einer Zärtlichkeit, die sonst, wie Sie sehr richtig bemerkten, seinem Wesen fremd war. Seine soldatische Rauhheit, sein heftiges Aufbrausen, seine Strenge – nie äußerten sie sich gegen Irmgard; kein Wunder, daß ihm sein Kind eine schwärmerische Neigung entgegenbrachte. Während seiner Abwesenheit im Felde betete Irmgard stündlich für ihn – die Aufregung machte sie krank. Und dann die Nachricht von seiner tödtlichen Verwundung, die ihr nicht vorenthalten werden durfte, die Reise, der Anblick seines Krankenlagers, der letzte Kampf – er beschäftigte sich in den Stunden vor seinem Tode nur noch mit ihr, küßte sie wieder und wieder, hielt ihre Hand, als er hinüberging. Irmgard kann das nicht vergessen, und sie leidet auch nicht, daß man’s in Vergessenheit bringen will. Sie hat in sich religiöse Vorstellungen ausgebildet, die ihr eine Art von geistigem Rapport mit dem geliebten Todten ermöglichen, und sie würde mich für die liebloseste Seele halten, wenn ich hier Widerspruch versuchen wollte. Sie hat ein tiefes, aber auch verschlossenes Gemüth; es ist sehr schwer, durch Erziehung auf sie zu wirken, und nun in einem Alter, in dem von unserem Geschlecht die Mahnung zur Vernünftigkeit auch von den gutartigsten Naturen als ein Eingriff in das Allerheiligste der Idealwelt abgelehnt zu werden pflegt. … Lieber Cousin, ich bekenne mich gern als eine sehr schwache Mutter, aber hier würde auch eine strengere nichts ändern.“

Während so über Irmgard gesprochen wurde, stieg sie hinter den Brüdern her mit sicheren Schritten den ziemlich steilen Felsenpfad hinan. Die Bergwiese zog sich in einem langen, nicht sehr breiten Streifen um den dahinter höher aufstrebenden Fels hin. Ein guter Weg durchschnitt sie der Länge nach; er gewährte wahrscheinlich an einer anderen Stelle einen viel bequemeren Auf- und Abstieg. Auch hier fehlte es nicht an Häuschen, die zur Aufnahme von Fremden bestimmt sein mochten. Sie gingen an mehreren derselben vorüber. Und dort weit ab – nahe dem Felsvorsprung, auf den ein neuer Zickzackweg führte, dessen Windungen im Sonnenlicht sich scharf in die graue Masse zeichneten – lag auch die kleine Villa, anscheinend das letzte Haus. Es war wohl schon im vorigen Jahrhundert gebaut worden und nicht mehr im besten Stande. Das Wasser aus den zerbrochenen Rinnen hatte die Wände geschwärzt; über einem Eckfenster war die Wölbung eingesunken; die Stuckverzierung hatte sich hier und dort gelöst. Man hätte den Raum für unbewohnt halten können, wenn nicht zwei Fenster innen mit weißen Leinentüchern halb verhängt gewesen wären, eine Vorrichtung, die durchaus Jemand voraussetzte, der zu gewissen Tageszeiten die zu dreiste Sonne abhalten wollte. Uebrigens stand die Thür weit offen, wie zum Eintritt einladend.

Die Reisenden hielten ein Weilchen vor der Terrasse. Man hatte sich ein Ziel gesetzt und interessirte sich nun auch für dasselbe. Da sich Niemand an den Fenstern blicken ließ, wurden die jungen Herren dreister, schritten die Stufen hinauf und blickten in den offenen Flur, dann bald auch rundum durch die kleinen Scheiben in die inneren Gemächer hinein. Während Irmgard stehen blieb, verschwanden sie hinter der Rückseite des Hauses und tauchten an der entgegengesetzten Ecke wieder auf. Der Referendar zuckte sehr bezeichnend die Achseln, indem er zugleich die leeren Hände zeigte, und sein Bruder rief hinüber. „Keine Menschenseele! Das ganze Haus wie ausgestorben. Nicht einmal ein dienender Geist zu bemerken, den man zur Entschuldigung seiner Neugierde um ein Glas Wasser bitten könnte. Treten Sie nur dreist näher, mein Fräulein!“

„Aber ist denn da irgend etwas Bemerkenswertes zu sehen?“ fragte Irmgard.

„Vielleicht doch! In dem großen Zimmer, das schon ein kleiner Saal genannt werden kann, hat ein Maler sein Atelier aufgeschlagen. Es steht auch ein Bild auf der Staffelei, dessen Gegenstand man aber von außen nicht gut erkennen kann. Es scheint eine Thiergruppe vorstellen zu sollen.“

Dem Fräulein machte das einsame Haus nun erst recht den Eindruck des Geheimnißvollen. Ihre Phantasie arbeitete schon lebhaft, und es war ihr zu Muthe, als ob da irgend ein kleines Abenteuer erlebt werden müßte. Sie trat nun ebenfalls näher.

Auch die Thür nach dem Atelier war unverschlossen. „Zu stehlen ist da in der That nicht viel,“ bemerkte der Jurist, als sie Umschau hielten. In der Nähe des Fensters, jetzt hinter den Vorhang zurückgeschoben, stand die Staffelei; auf den Stühlen in der Nachbarschaft lagen allerlei Mal-Utensilien, auf einem Tische Blätter von verschiedener Größe mit Umrißzeichnungen. An den Wänden waren unregelmäßig Oel- und Aquarellskizzen mit Nägeln befestigt. Auf einem kleinen Tische unter dem in die Wand eingelassenen Spiegel stand eine große Cigarrenkiste ohne Deckel neben kleinen Figuren von Gyps und Bronze; es lagen darin beschriebene Zettel, Karten und dergleichen Papiere, die natürlich nicht näher in Augenschein genommen wurden.

Das Bild stellte eine Viehheerde dar, die bei heranziehendem Gewitter unter einem Felsvorsprunge Schutz suchte und den Platz schon von einer Gesellschaft vorsichtiger Reisender mit ihrem Führer besetzt fand, die hier im Trockenen den Regen vorüberziehen lassen wollten. Der Schreck der wunderlich costümirten Damen und andererseits das Stutzen und Ausweichen der schönen Thiere, das neugierige Vorschauen des alten Hirten und das ärgerliche Zuspringen eines kleinen zottigen Hundes, der sich für berufen hielt, den Seinigen Platz zu schaffen, war mit großer Lebendigkeit und Naturtreue ausgedrückt und zugleich recht humoristisch zur Erscheinung gebracht. Jede einzelne Figur gab zu Aeußerungen der Bewunderung Anlaß. „Das Bild wäre ich im Stande, auf dem Rücken bis in die Heimath zu schleppen,“ versicherte der Referendar, und Irmgard, die mittheilsamer geworden war, erklärte mit Kennerblick: der das gemalt habe, sei ein Künstler von Gottes Gnaden; sie hätte sich’s gleich gedacht, daß hier aus der einsamen Höhe kein ganz gewöhnliches Menschenkind hausen könne.

„Schade, daß uns seine interessante Bekanntschaft entgeht!“ meinte der Philologe.

„Nach seinem Bilde zu schließen, ein recht gemüthlicher Mann!“ bemerkte der Referendar dazu. „Aber es wird Zeit zu gehen.“

Irmgard zögerte. „Sollen wir uns nun so fortstehlen?“

„Wir haben uns ja ohne Erlaubniß eingeführt, mein Fräulein.“

„Umsomehr hätten wir Grund, auf gute Art zu erkennen zu geben, daß wir unsere Visite abgestattet haben.“

Der Referendar lachte. „Sie wollen, daß wir als wohlerzogene Europäer auch in dieser Kunsteinsiedelei keine Regel des gesellschaftlichen Anstandes unbeachtet lassen. Ja – ein Fremdenbuch liegt nicht aus; ich würde mit Vergnügen einen Namen eintragen, von dem noch Niemand weiß, ob er nicht einmal hochberühmt werden wird.“

„Sie haben doch eine Visitenkarte bei sich?“

„Ich –? Nein, wahrhaftig nicht. Zu Hause im Frack–“

Irmgard sah ihn ein wenig über die Achsel an. „Aber ich,“ betonte sie scharf im Gefühl ihrer Ueberlegenheit. „Ich weiß nur nicht, ob es sich schicken würde …“

„Aber warum sollte sich’s nicht schicken, höflich zu sein? Das ist ein sehr guter Gedanke! Kneifen Sie ohne Bedenken die vorschriftsmäßige Ecke Ihres Kärtchens ein und deponiren Sie dasselbe in diesem Cigarrenkasten, der zur Aufnahme von dergleichen Artigkeiten bestimmt zu sein scheint!“ Er zog sein Taschenbuch hervor, schrieb etwas hinein und riß die Seite aus. „Ich finde mich auf diese Weise mit meinen gesellschaftlichen Pflichten ab.“

„Das könnte genügen,“ wendete die junge Dame ein, das gestickte Täschchen mit den Visitenkarten unentschlossen in der Hand hin- und herwendend.

„Nein, das gilt nicht,“ rief der Referendar. „Ziehen Sie sich nicht zurück! Wir haben dieses kleine Abenteuer nun einmal gemeinsam bestanden und müssen nun auch gemeinsam aus diesem Cigarrenkasten heraus unsere Aufwartung machen.“

„Wer weiß, was er sich dabei denkt …“

„Ja – wenn Sie nicht den Muth haben, ihn denken zu lassen, was er will –“

„Ah! den Muth –?“ Sie zog die Schultern auf „Gut! ich thu’s.“ Sie warf das Kärtchen zu seiner Bleifederschrift.

Die Herren klatschten Beifall. Es schallte laut in dem großen, langen Gemache, von dem eben die letzten Strahlen der Sonne schieden. Irmgard sah sich scheu um und schritt nach der [4] Thür. „Nun aber rasch zurück und gerade aus hinunter!“ bat sie, „die Mutter wartet gewiß schon; bergab geht’s auch ohne Pfad.“ Während sie noch am Rande den passendsten Abstieg suchten, näherte sich auf dem Wiesenwege eine alte Frau dem Hause. Sie trug einen Korb am Arme, aus dem der Hals einer Flasche und das Blattwerk von Gemüse hervorschaute. Hinter ihr ging ein Knabe, der ein breites Weidengeflecht auf dem Kopfe balancirte, in dem sich Fische befanden. Sie sahen sich nach den Reisenden um, sprachen sie aber nicht an und verschwanden hinter dem Hause, zu dem sie wahrscheinlich gehörten.

In hellem Lachen ging’s hurtig bergab. Die auf der Steinbank hatten indessen schon verabredet, zu Wasser nach der Stadt zurückzukehren. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche des Sees. Nicht weit unter ihnen am Ufer lagen Böte. In wenigen Minuten waren sie erreicht.

Der Referendar ließ dem Schiffer nicht lange die Ruder; er wollte ihm beweisen, daß er auch „vom Wasser etwas verstehe“. Und wie man nun so auf leichtem Kahne über das weiche Naß hinglitt, eine rothgoldige Furche ziehend, und mit wonnigem Behagen die feuchtkühle Luft athmete und zu den leuchtenden Berghäuptern aufschaute, an denen die Schattenlinie höher und höher stieg, fing der Eine und Andere an etwas zu summen. Die Töne stimmten zusammen, und ohne Verabredung wurde eine bekannte Melodie vernehmbar. Die Ruder hoben und senkten sich im Tacte dazu.

Oben hinter den Fenstern der einsamen Villa ließ sich ein Lichtschein bemerken. Irmgard, die sich an ihrer Mutter Schulter gelehnt hatte, zuckte wie erschreckt. Sie hätte ihre Visitenkarte gern wieder in ihrem Täschchen gehabt.

2.

Der Maler war aus den Bergen zurückgekehrt, nicht lange nachdem seine alte Haushälterin mit dem Mundvorrath für die nächsten Tage eingetroffen war und ein Herdfeuer angefacht hatte, um ein frugales Nachtmahl zu bereiten.

Ein kleiner Bursche, in der Kleidung eines Sennhirten, trug ihm ein Reißbrett und den Malkasten. „Du kannst es morgen früh wieder abholen,“ sagte er ihm beim Abschied. „Ich bin mit eurer Lisi und ihrem prächtigen Kälbchen noch lange nicht fertig. Mindestens noch drei Tage brauch’ ich. Und Deiner Schwester lange Zöpfe und rothe Backen müssen auch auf das Bild – sag ’s ihr nur!“

Er war draußen stehen geblieben, während der Knabe sein Gepäck im Zimmer absetzte, nahm den breitrandigen Strohhut ab und trocknete die hohe kahle Stirn. So weit sich’s in der Dämmerung erkennen ließ, war er ein Mann in den Vierzigern, knochig und sehnig, ein recht struppiger, dazu ungleich beschnittener Bart umlief das Kinn; die dunkeln Augen lagen tief unter den vorgewölbten Stirnknochen. Er ging um’s Haus herum, klopfte an’s Fenster der Küche und rief hinein. „Ich bin zurück, Ursel. Ist meine Suppe bald fertig?“ – „Bald, Herr Werner,“ war die Antwort. Das Feuer flammte heller auf.

Der Maler zündete eine Cigarre an, lehnte sich mit der Schulter gegen den Pfosten der offenen Hausthür und blickte über den See hinaus. Eben ließ sich von dort her die Melodie der „Loreley“ vernehmen. Er zuckte mitleidig die Achseln. „Glückliche Menschen,“ murmelte er, „die nicht wissen, was es bedeuten soll, daß sie traurig sind. Sie wundern sich über ihre Traurigkeit und singen sie weg. Wenn die Wellen Schiffer und Kahn verschlungen haben, ist ihnen wieder leicht um’s Herz. Sie zahlen ihr Fährgeld und trotten vergnügt weiter. Närrisches Volk!“

Ursel rief ihn zum Essen. Er verzehrte sein frugales Mahl mit gutem Appetit und begab sich bald zur Nachtruhe.

Am anderen Morgen war Werner früh auf und beschäftigte sich mit dem Bilde auf der Staffelei. „Es fehlt doch der rechte Zug von Heiterkeit,“ sagte er, „den so etwas haben muß. Grimassen – Grimassen! Licht und Schatten thun’s nicht allein und das ‚treu nach der Natur‘ ebenso wenig. Wenn … ja, wenn! Pah! es wird auch so seinen Abnehmer finden. Fort damit, sobald die Farben getrocknet sind! Robert braucht Geld.“

Werner dachte an den Sohn seiner Schwester, den er unterstützte.

Als er dann vor dem Spiegel Toilette machte, das spärliche Haar über der knochigen Stirn glättete und den wilden Bart kämmte, fiel sein Blick zufällig auf den Kasten und seinen Inhalt von Papieren. Er hob das oberste Blättchen auf und las: „Hugo Hell, Tribunals-Referendarius – dankt für den unerwarteten Kunstgenuß.“ Werner wiegte verwundert den Kopf hin und her, und der Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Hugo Hell? Ich erinnere mich nicht … Aber gleichviel – er hat mein Atelier mit seiner Gegenwart beglückt und das Bedürfniß gehabt eine Spur seines Daseins zurückzulassen. – Ah! auch eine zierliche Visitenkarte.“

Der Maler hob sie auf und stutzte. „Von der Wehr?“ Er ließ die Hand über Stirn und Augen gleiten und sah wieder auf die Karte. „Von der Wehr – es steht da. Aber nicht Elisabeth von der Wehr – Irmgard. Vielleicht …“ er athmete schwerer – vielleicht ihre Tochter. Die Jahre vergehen rasch, wenn man sie nicht zählt. Ihre Tochter! Ich kann sie mir nur nicht vorstellen als – Mutter einer erwachsenen Tochter. Elise – das jugendliche Gesichtchen – die zierliche Gestalt … Werner schüttelte den Kopf; sein Blick fiel in den Spiegel. „Aber der da – der sieht heut auch anders aus. Die Stirn kahl, die Haut fahl …“ Er öffnete mit einem Schlüssel die Schieblade des Tisches und hob ein Bild in Medaillenform heraus. „Das konnten sie mir nicht nehmen – das war mein künstlerisches Eigenthum. So sah ich Dich – und so wirst Du in meiner Erinnerung leben bis an’s Ende meiner Tage.“

Er blickte mit dem Ausdruck innigster Betheiligung auf das Bild. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, das Gesicht wurde milde und freundlich. Nun hielt er die kleine Visitenkarte mit der zierlichen Namensunterschrift neben das Medaillon, als ob er beide vergleichen wollte, lächelte und schüttelte wieder den Kopf. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. „Wozu das – wozu? Es ist ja alles vorbei – längst vorbei. Es kommt nie mehr wieder. Wenn wirklich ihre Mutter … aber nein! Diese da ist’s doch nicht. Die Frau eines … was weiß ich? Die Mutter dieser jungen Dame, die ihre Visitenkarte – mir –“

Sein Gedankengang schien unterbrochen zu werden. „Mir“ – wiederholte er wie aufmerkend mit ganz anderer Betonung. Er behielt Bild und Karte in den Händen und schritt im Zimmer auf und ab. „Warum ließ sie mir diese Karte zurück? Wußte sie –? Sollte ihre Mutter ihr gesagt haben –? Aber wie konnte ihre Mutter meinen Aufenthalt erkunden? Niemand kennt mich hier, Niemand weiß … Unmöglich, ganz unmöglich! Ein zufälliges Zusammentreten der Namen – nichts weiter.“

Werner verschloß das Bild wieder. Das Blättchen mit der Bleifederschrift zog jetzt seine Aufmerksamkeit mehr als vorhin auf sich. „Referendar Hell – der hat sie jedenfalls hierher begleitet. Vielleicht der Bräutigam. … Was geht’s mich an? Neugieriges Touristenvolk, das sich hierher verirrte und …“

Ursel kam und meldete, daß der kleine Senne schon auf ihn warte.

„Ist gestern Jemand hier gewesen?“ fragte er.

Die Alte besann sich. „Wohl möglich, Herr Werner! Als ich aus der Stadt zurückkam, begegnete ich hier oben zwei Herren und einer jungen Dame.“

„Zwei Herren?“

„Wie ich sage. Sie wollten eben den Berg hinab und schienen mir vom Hause her zu kommen.“

„Der Eine der Herren war noch ein junger Mann –?“

„Der Andere auch.“

„So – so! Und die Dame?“

„Ja, beschreiben kann ich sie nicht; sie trug ein schwarzes Kleid …“

„Ein schwarzes Kleid … so, so! Ein schwarzes Kleid …“

„Kann der Martin nach dem Malkasten kommen?“

„Noch nicht, Ursel; ich bin noch nicht fertig; ich habe noch … ich werde ihn rufen.“

Der Maler lief unruhig durch das Zimmer. „Ein Zufall! Warum ein Zufall? Und was ist ein Zufall? Eine Verkettung von Umständen, deren Zusammenhang uns kurzsichtigen Menschen dunkel erscheint. Wenn man’s Schickung nennt … Vielleicht ist’s eine Schickung. Der Name mahnt –“

„Er blieb am Fenster stehen und drückte die Stirn gegen die Scheiben. Woran? An verlorenes Liebesglück, an eine zerstörte Jugend, an ein Leben voll Qual und Pein in der Entsagung. Daran! Nein, ich will nicht noch einmal Thorheit!“

(Fortsetzung folgt.)
[5]

Ludwig Barnay als „Mark Anton“.
Originalzeichnung von Adolph Neumann.

[6]
Ein Tribun der Bühne.
(Mit Abbildung.)

Die Leidensgeschichte des Hamburger Stadttheaters und seiner Directoren hat ein Ende erreicht, seitdem Director Pollini das restaurirte Theater übernommen und wieder der Theilnahme des Hamburger Publicums nahe gerückt hat. Die Gagen, welche dieser unternehmungslustige Director zahlt und deren Höhe an einem anderen deutschen Stadttheater nicht entfernt erreicht wird, haben es ihm möglich gemacht, erste Kräfte für sein Institut zu gewinnen, und unter diesen nimmt Ludwig Barnay im Schauspiel den hervorragendsten Platz ein.

Fast dreißig Jahre sind verflossen, ohne daß im Theater am Dammthor ein Darsteller der entschiedene und gefeierte Liebling des Publicums geworden wäre; dreißig melancholische Jahre, in denen, besonders in Schauspielvorstellungen, das Parquet des großen Hauses oft eine klaffende Oede aufwies, sodaß man bequem die Nummern der einzelnen Sitze lesen konnte, die Glücksnummer der Direction aber war nirgends zu finden. Ja es gab eine Zeit, wo Hamburg, die zweitgrößte deutsche Stadt, fast gar keine classischen Stücke zu sehen bekam. Selten versuchte die gutgeschulte Lustspielmuse des Thaliatheaters sich an einem deutschen Trauerspiel; das Stadttheater selbst hatte kein Schauspielpersonal. Vor dreißig Jahren freilich war es anders; da gab es in Hamburg einen Künstler, der später die Direction übernahm und dieser Last erlag; Jean Baptiste Baison, Liebling des Hamburger Publicums, erfreute sich eines weitreichenden Rufes in Deutschland. Leider raffte den Künstler der Tod hinweg, mitten unter den wachsenden Erfolgen einer Laufbahn, die noch lange nicht abgeschlossen schien.

Seit Baison’s Zeit hat kein Schauspieler des Stadttheaters sich gleicher Beliebtheit erfreut wie Barnay, der wiederum, um mit Wallenstein zu sprechen, „in die hohlen Lager Menschen sammelt.“ In der That, während es früher kein besseres Mittel gab, um das Publicum des Stadttheaters zu verscheuchen, als die Aufführung einer ernsten Tragödie, sind jetzt alle Räume des Stadttheaters gefüllt, wenn Barnay als Uriel Acosta oder in einer classischen Rolle auftritt, und nicht einmal, sondern sechs-, sieben- bis achtmal wird ein solches Stück vor vollen Häusern aufgeführt. Der gute Mittagstisch und das Verdauungsfieber der Hamburger Patricier, welches jahrelang als das unüberwindliche Hinderniß der Blüthe der Classicität im Stadttheater angesehen wurde, erweisen sich jetzt auf einmal als eine Mythe. Das darstellende Talent Ludwig Barnay’s hat die schönen Tage Jean Baptiste Baison’s wieder herbeigezaubert.

Noch steht Barnay im frischesten Mannesalter; er sieht noch eine glänzende Zukunft vor sich. Da er bisher keiner Art von theatralischer Manier verfallen ist, sondern seine Aufgaben nach besten Kräften künstlerisch rein heraus zu gestalten sucht, so ist auch ein weiterer Fortschritt seines Talentes nicht ausgeschlossen; denn er hat sich eben die Freiheit der Bewegung gesichert, während viele hochbegabte Darsteller sich in Manieren festrennen, die keine Fortentwickelung mehr gestatten und allmählich ihr Talent zu Grunde richten.

Ludwig Barnay wurde am 11. Februar 1842 zu Pest in Ungarn geboren, wo sein Vater als städtischer Beamter lebte. Obwohl von anerkannter Tüchtigkeit, ging dieser doch nicht ganz in seinem Berufe auf: es fanden in seinem Hause oft kleine künstlerische Soiréen statt, wo sich Dilettanten in musikalischen und declamatorischen, ja schauspielerischen Leistungen versuchten. Hier trat auch zuerst Adolf Sonnenthal auf, dessen rasche glänzende Künstlerlaufbahn später so verlockend auf den jungen Barnay wirkte. Natürlich gingen diese Anregungen für den phantasievollen Knaben nicht verloren: die Neigung für die Bühne wurde sehr früh in ihm lebendig. Kein regelmäßiges Studium lenkte ihn davon ab; der junge Barnay schwankte zwischen dem Bureaukraten und dem Kaufmanne, schrieb Acten ab und führte Bücher; dazwischen spielte er mit gleichgesinnten Freunden Schauspiel und schrieb sogar schon Theaterrecensionen, eine literarische Thätigkeit, die in Deutschland sehr oft der unreifsten Jugend zufällt. Schon im Herbste 1857 verließ der fünfzehnjährige Barnay heimlich das väterliche Haus, um in Wien unter Sonnenthal’s Leitung den Kosinsky in den „Räubern“ zu studiren. Auf den Wunsch des Vaters setzte er indeß seine Studien am Polytechnikum fort. Dann wurde er wieder Buchführer in Pest und 1859 in Kaschau. Doch die Neigung zum Theater war unüberwindlich, und Barnay wandte sich demselben jetzt entschlossen zu, ohne auf die väterlichen Abmahnungen zu hören.

Jetzt begannen seine Wanderjahre mit den tragikomischen Erfahrungen junger Künstler bei den kleinen umherziehenden Gesellschaften. Unter dem Namen Lacoom trat Barnay zuerst in dem später schlachtenberühmten Städtchen Trautenau in Böhmen auf: er spielte in Töpfer’s „Zurücksetzung“ den Baron Heeren und machte ein Fiasco, das bei den bescheidenen Ansprüchen des Trautenauer Publicums doppelt in’s Gewicht fallen muß. Er wurde von jetzt ab vorzugsweise zum Hinaustragen von „Tischen und Sesseln“ verwendet, wozu ihn seine noch von Pest mitgenommene anständige Garderobe besonders befähigte. Die Gesellschaft spielte später in Braunau auf Theilung, und der junge Künstler erhielt auf seinen Antheil für die zwei Sommermonate Juni und Juli fünf Gulden einundfünfzig Kreuzer. Doch seine Verhältnisse nahmen bald einen glänzenden Aufschwung: er wurde von dem Director Lederer in Mährisch-Weißkirchen mit einer monatlichen Gage von vierundzwanzig Gulden als erster Held und Liebhaber engagirt und spielte schon damals Ingomar, Essex und ähnliche Rollen.

Eine Zeitlang abenteuerte er auf den kleinen Bühnen in Mähren und Oesterreichisch-Schlesien umher: da rief ihn ein Brief der Mutter, die eine Versöhnung mit dem Vater anbahnen wollte, nach Pest zurück. Dieser aber wollte den Komödianten nicht sehen; da faßte der Sohn den kühnen Entschluß, unter seinem wirklichen Namen am Pester Theater aufzutreten, um so vor den Augen des Vaters zu beweisen, daß er diesem Namen als Künstler Ehre machen werde; er spielte am 1. Juni 1861 den Fürsten Leopold in Hersch’s „Annaliese“ und zwar mit schönem Erfolg. Man beglückwünschte den Vater, und dieser söhnte sich endlich mit dem Sohne aus und billigte den Wunsch desselben, der Bühne treu zu bleiben.

Jetzt beginnt die regelmäßige Theaterlaufbahn Barnay’s, die allerdings nicht weniger nomadisch war, als die Streifzüge des jungen Wanderkomödianten. Er war in Pest engagirt, in Graz, in Riga, mehrmals und am längsten in Mainz, von 1863 bis 1864 und dann wieder von 1865 bis 1867. In diese Zeit fallen auch ein Gastspiel am Münchner Hoftheater und ein Debüt am Burgtheater, bei welchem das scharfe Gepräge seines Spiels die Anerkennung Laube’s fand, doch dieser brauchte einen gefühlvollen jugendlichen Liebhaber, einen Romeo, und dazu eignete sich der Künstler wenig.

Im Jahre 1868 kam Barnay nach Leipzig: es war damals die Blüthenepoche des Stadttheaters; das neue Haus wurde eingeweiht; von nah und fern strömte stets ein zahlreiches Publicum in die Räume des neuen Kunsttempels. Eine Clara Ziegler, Rosa Link, Laura Herzfeld und andere Kräfte ermöglichten die Aufführung großer Tragödien, z. B. der Hebbel’schen „Nibelungen“, in würdiger Weise. Barnay spielte den Hagen und interessirte in dieser Rolle, wie früher als Tell, als Essex, als Orestes, durch seine energische Darstellungsweise, die aber noch nicht von Ueberhastungen, von übersprudelnden Kraftäußerungen frei war. Sein Talent läuterte sich in den späteren Engagements in Weimar, Frankfurt am Main, Hannover, wo ein Conflict politischer Art sein dauerndes Engagement verhinderte, am meisten aber durch seine Mitwirkung bei den Kunstreisen des Meininger Hoftheaterensembles, deren glänzender Mittelpunkt er war. Der gemessene und abgecirkelte Stil dieser Darstellungen ist ganz dazu angethan, geniale Auswüchse zu beschneiden und die Künstler auf sorgfältige Herausmeißelung des Details hinzuweisen. Der Schiller’sche Vers: „Ich mag es gern, wenn auch der Becher überschäumt“, hat hier keine Gültigkeit. Mit dem Engagement am Hamburger Stadttheater begann für Barnay eine Sphäre regelmäßiger und bedeutender Wirksamkeit; erfolgreiche Gastspiele in Leipzig, am Berliner Nationaltheater und an anderen Bühnen erweiterten den Kreis derselben und sicherten ihm in Deutschland wachsenden Ruhm.

[7] Barnay hat das angeborene Feuer, welches keinem darstellenden Talente von Bedeutung fehlt, aber er hat jetzt gelernt, es maßvoll zu beschränken, während früher der wilde Lavafluß sich oft über die Schranken ästhetischen Maßes hinweg ergoß. Sein „Othello“ beweist die Leidenschaftlichkeit, zu der sein Talent alle Mittel besitzt, aber sie geht nur da zum Fieberhaften, zum Ueberschwänglichen fort, wo die Situation es verlangt. Maßvolleres Feuer beseelt seinen „Essex“ und „Uriel Acosta“; energisch giebt er den letzten Lord, mit aufflackernder Gluth den düsteren Denker. Gerade solche Charaktere mit überwiegender Reflexion sind seinem Naturell sehr entsprechend, am meisten diejenigen, die einen elegischen Grundton haben.

Er ist ein Meister der Rhetorik: darum bevorzugt er auch die Römertragödien, in denen die Beredsamkeit des Forums sich voll ergeht. Den „Volkstribun Gracchus“ Wilbrandt’s, ein Trauerspiel, gegen welches sich die norddeutschen Bühnen lange sehr spröde zeigten, hat er nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Theatern zur Geltung gebracht. Dieser Tribun, der zugleich ein Gefühlsmensch ist, der von der Pietät gegen den getödteten Bruder fast noch mehr bestimmt wird, als von den revolutionären Ideen und von dem Bestreben, die Besitzverhältnisse Roms umzugestalten, findet in Barnay einen vorzüglichen Darsteller, dessen Naturell gerade für diese Aufgabe in seltener Weise geeignet ist. Als Volksredner im ersten Acte schlägt er nacheinander die verschiedensten Töne an, die im Herzen der Quiriten ein Echo finden, und bewährt sich als Meister kunstvoller Steigerung, in der Hauptscene des dritten Actes aber entfesselt er den ganzen Sturm der Leidenschaften in der eigenen Brust und in den Herzen des römischen Volkes.

Jene feinere Beredsamkeit, welche durch künstliche Gruppirung der Thatsachen und durch ihre ironische Beleuchtung wirkt, bewährt er in der Rolle des Mark Anton. Das Bild des Künstlers als Mark Anton, das wir bringen, da dasselbe die meiste Portraitähnlichkeit gestattet, zeigt uns das interessante Profil, den ausdrucksvollen Kopf, das seelenvolle Auge, die ihm eigen sind und ihn besonders zur Darstellung geistig bedeutender Rollen befähigen.

Dies ist die Signatur seines Talentes; Barnay war nie für lyrische Liebhaber geschaffen und hat in derartigen Rollen in seiner Studienzeit nur halbe Erfolge errungen, aber interessante Charakterköpfe entweder von classischem Adel oder mit dem Gepräge düsterer Melancholie und zersetzender Reflexion sind seine Domäne. Ja, auch scharf charakteristische Aufgaben weiß er zu bewältigen. Das hat sein König Heinrich der Achte in „Katharina Howard“ bewiesen.

Wenn wir Barnay als darstellenden Künstler schildern, so erschöpft solche Schilderung durchaus nicht seine Wirksamkeit für die deutsche Bühne. Nicht blos als Mark Anton und Cajus Gracchus bewährt er seine glänzende Rhetorik; er ist auch außerhalb der Bühne ein begabter Redner von seltenem Fluß und hinreißender Inspiration und außerdem mit der Feder nicht minder gewandt als mit dem Worte. Diese glänzenden Vorzüge hat er in den Dienst einer guten Sache gestellt und zur Hebung seines eigenen Standes verwendet. Schon in Mainz gründete er zu solchem Zwecke mit gleichgesinnten Genossen den „Rütli“, einen Schauspielerbund, dessen Zweck Wahrung der Standesehre und Streben nach echter erhöhter Erkenntniß der Kunst, ihrer Ziele und Musterbilder war; eine Filiale des Mainzer „Rütli“, der Baseler, ernannte Barnay zu seinem Ehrengenossen. Immerhin blieben diese schönen Bestrebungen an engere Kreise gebannt: es war in erster Linie Barnay’s Verdienst, denselben eine Ausdehnung über das ganze Deutschland hinaus zu sichern, eine Genossenschaft zu gründen, deren Mitgliederzahl jetzt nach mehreren Tausenden zählt. Sein Werk vorzüglich war die Einberufung des Bühnencongresses in Weimar; er wirkte mit Wort und Schrift, mit dem ganzen Feuergeiste, der ihm eigen ist, als unermüdlicher Agitator für denselben. Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, die an der Stätte unserer classischen Dichtung an der Ilm gegründet wurde, muß ihn als ihren intellectuellen Urheber betrachten. Sein „Offener Brief“ in der Leipziger Theaterchronik, welcher die Betheiligung der Schauspieler an der bevorstehenden Sitzung des deutschen Bühnenvereins und die Erweiterung desselben zu einem „Allgemeinen deutschen Bühnencongreß“ verlangte, warf den Funken in’s Pulverfaß. Er zündete in ganz Deutschland; als Herr von Hülfen, an den jener Brief gerichtet war, die Erfüllung dieses Verlangens auf Grund der Statuten des Bühnenvereins ablehnen mußte, veranlaßte Barnay die Bildung eines provisorischen Comités zur Einberufung eines „Allgemeinen deutschen Bühnencongresses“. In Kassel wurde mit den gleichstrebenden Collegen von ihm das Programm der allgemeinen Zwecke des Bundes entworfen, am 17. Juli 1871 der erste allgemeine Bühnencongreß in Weimar eröffnet, von mehr als hundert Schauspielern besucht, und am 18. Juli die Genossenschaft constituirt. Die Stimmung war eine gehobene und weihevolle; in würdiger und begeisterter Weise sprach Barnay am Eingange der Fürstengruft zu Ehren der Dichter, denen die darstellende Kunst die höchsten Impulse verdankte. Ueber ein Theaterconcessionsgesetz, ein Disciplinargesetz, allgemeine Contractsformulare, einen allgemeinen „Pensions- und Hülfsverein“ wurde in diesen Tagen verhandelt, und vieles ist seitdem in’s Leben gerufen worden, was damals Gegenstand der Berathungen war. Barnay’s Verdienste um das Zustandekommen der Genossenschaft wurden im Jahre 1872 durch eine Adresse mit viertausend Unterschriften deutscher Schauspieler anerkannt, darunter die gefeiertsten Namen wie Emil Devrient, Ernst Possart und Andere.

Auch sonstige Auszeichnungen wurden dem hochbegabten und edelstrebenden Künstler zu Theil: er wurde zum Ehrenmitgliede des vielgepriesenen Meininger Hofschauspieles ernannt. Emil Devrient hinterließ testamentarisch dem würdigen Jünger das goldene Vließ, das er als „Egmont“ getragen,

„Ein golden Vließ, das keines Fürsten Gunst
Und kein Capitel um die Brust ihm hängt,“

ein golden Vließ, womit der Künstler den Künstler ehrte, ein scheidender Grande der deutschen Kunst den aufstrebenden Nachfolger.

Rudolf Gottschall.





Die Rheingauer Glocken.

Wo’s guten Wein im Rheingau giebt,
Läßt man den Mund nicht trocken.
Drum, wer ein schönes Tröpfchen liebt,
Beacht’ den Klang der Glocken!
Merk’, ob du hörst den vollen Baß,
Ob dünn und schwach der Ton summ’!
Wo edle Sorten ruh’n im Faß,
Da klingt es: Vinum bonum!
     Vinum bonum! Vinum bonum!

Doch wo die Rebe schlecht gedeiht,
Muß man die Aepfel pressen;
Da wird gar klein die Seligkeit
Dem Zecher zugemessen.
Der Trank ist matt; das Geld ist rar.
Man spart’ an Glock’ und Klöppel -
Und von dem Thurm hört immerdar
Man Eins nur: Aeppelpäppel!
Aeppelpäppel! Aeppelpäppel!

Mein Sohn, wo du den Ton vernimmst,
Da kann dein Herz nicht lachen,
Da rath’ ich, daß du weiter schwimmst
In dem bekränzten Nachen,
Doch wo das Baßgeläut’ erscholl,
Da kehre nicht, mein Sohn, um,
Da labe dich, der Andacht voll,
Und singe: Vinum bonum!
     Vinum bonum! Vinum bonum!

Emil Rittershaus.
[8]
Nächtliches Treiben im Wasgenwald.[2]
Von August Becker.

Nördlich von Weißenburg und Bergzabern, am Ausgang eines der schönsten Wasgauthäler, zwischen Kastanienhainen und Weinbergen in Wiesen gebettet, liegt das vor mehr als zwölfhundert Jahren von dem Merovinger Dagobert gegründete Kloster Klingenmünster, von König Dagobert’s sagenhafter Residenz Landeck und der aussichtreichen Madenburg überragt – meine Heimath. An alten Ueberlieferungen und Sagen ist hier kein Mangel; wir Kinder lauschten athemlos den Mägden beim „Läufeln“ und „Kernen“ der Wallnüsse und in der „Kunkelstube“. Den Eindrücken solcher Rockenphilosophie suchte mein Vater dadurch entgegen zu wirken, daß er uns besonders in finstern, stürmischen Adventnächten aufforderte, ihn an die verrufensten und unheimlichsten Stellen des Ortsbannes zu begleiten, die zumeist an den Grenzen der Gemeindemark lagen. So zogen wir denn in düsterer Winternacht aus, nicht um das „Gruseln“ zu lernen, sondern um es vielmehr zu verlernen, strichen die Mordhöhl entlang zum Horst, um vielleicht dort einen Nachtwisch – das ist Irrlicht – tanzen zu sehen, überschritten die alte Brücke an den hohlen Weiden vorüber, wanderten nach der Galgenhöhe hinan, in welche die gemiedene „Bubenstube“ sich wie eine Schlucht der römischen Campagna einsenkt, um dann über den einsamen, hochgelegenen Kirchhof auf dem Kreuzstein heimzukehren. Oder wir wanderten gebirgeinwärts bis in’s unheimliche Büffelsthal am Abtskopf, bis in den Röxelgrund des wilden Jägers am Treitelsberg und weißen Felsen, oder auch zu dem geheimnißvollen, halbversunkenen Thurmstrunk von „Walastede“ am Heidenschuh hinan, wo im Lenz die Maiglöckchen am duftigsten blühten. Mag sein, daß mir von diesen Nachtwanderungen zeitlebens eine gewisse Vorliebe für Oertlichkeiten der Sage geblieben; damals kam es mir nicht unerwünscht, wenn der seltsame Spaziergang bei allzu schlimmem Wetter sein Ziel schon im alten „Stift“, und zwar in einer traulichen, an die Sacristei angebauten Wirthsstube fand.

Einmal aber hatte mich mein Vater zu einer Holzversteigerung nach einem der kleinen Gebirgsorte mitgenommen, welche sich in den Gründen des Abtswaldes von Klingenmünster verstecken. Es war unversehens Abend geworden, der Heimweg auf der Straße über Bergzabern allzuweit um, so daß wir den Rückweg durch den Abtswald einschlugen; denn obgleich Gewölk die Mondsichel verdeckte, war es doch nicht sehr dunkel, der Boden trocken, etwas gefroren. Trotz der frostigen Adventnacht hatten wir uns bis zum Schweden-Anger hinan warm gestiegen. Nun aber führte auf der Waldhöhe der bequeme, weiß überreifte Rasenweg, dann und wann nachtduftige Ausblicke auf die Felssäulen und Grate des Gossersweiler Thals öffnend, fast eben weiter über den Schmeisenborn zur Halde des Abtskopfes und zum „Hollabild“, von wo der Weg sich allmählich an den Steinbrüchen vorüber in das heimathliche Thal von Klingenmünster senkt.

Wir waren jedoch noch lange nicht so weit gekommen, als sich die Nacht mit einem Mal verfinsterte und zugleich ein seltsames Sausen und Brausen über den Bergwald hinging, ein Schwirren und Rauschen um den hohen Abtskopf, ein Pfeifen und Johlen in der Luft, das wir um so weniger zu erklären vermochten, als wir selbst keinen Luftzug spürten und das dürre Laub im Gehege neben uns sich nicht rührte. Auch die Edeltannen an unserm Wege standen völlig unbewegt; keine Nadel regte sich in deren dunkeln Fahnen über uns. Nur der leichte Schneefall, welcher seit einigen Minuten begonnen hatte, dauerte an, aber so leise, schwach und ruhig, so sanft und sacht, daß man ihn unmöglich mit dem auffälligen, geisterhaften Geräusch in Verbindung bringen konnte, das noch immer Berg und Thal erfüllte, jedoch, während wir stehen blieben und horchten, allmählich abnahm und in luftiger Ferne versauste.

„Vater, ein Licht!“ unterbrach ich die athemlose Stille, mit der wir noch immer dem fernverwehenden Tosen lauschten. Ich hatte in der Dunkelheit einen Feuerschein bemerkt.

„Wohl möglich,“ antwortete aufathmend mein Vater. „Unten im Waldkessel liegen die Häuser von Blankenborn.“

„Nein, es bewegt sich dort am finsteren Hang; es kommt näher.“

„Dann kommt wohl Jemand mit einer Laterne noch durch den Wald. Ich sehe übrigens kein Licht,“ sagte der Vater. „Gehen wir weiter!“

„Es ist ausgelöscht,“ bestätigte ich, fand aber Anlaß, sofort hinzuzufügen: „dort ist es wieder, und noch eins, noch zwei, drei, vier, fünf Lichter – ach, sieh doch, noch viele!“

Wirklich tauchten am Berghang eine Anzahl Lichter auf; dann verschwanden sie, um mit so hellem Glanze wieder aufzuleuchten, daß der Vater befremdet stehen blieb und der wunderlichen Erscheinung mit forschendem Blicke folgte. Sie bewegten sich langsam in der Richtung gegen uns her, und schon konnte man einzelne Baumstämme unterscheiden, an welchen der Lichtschein beleuchtend vorüberglitt oder hinter welchen er dahinschwebte. Es war ein höchst seltsamer Anblick.

„Sind es Nachtwische, Vater?“ fragte ich mit schauernder Lust.

„Wenn die Flamme steter brennte und doch die Lichter nervöser hin und her zuckten, würde ich sie auch für Irrlichter halten,“ war die Antwort. „Weißt Du was, Kind,“ fing dann mein Vater nach einer längeren Pause wieder an, die in der nächtlichen Oede des Bergwaldes etwas Beängstigendes für mich hatte, „wenn es nur nicht Zigeuner oder Schmuggler sind – aber die gehen nicht mit Laternen und nicht so weit in’s Land herein. Wahrhaftig, ich glaube, es sind Böhämmerschützen – Ja, gewiß sind es Böhämmerschützen, die von Bergzabern über den Hexenplatz herüberkommen. Warum fiel mir nicht gleich die Böhämmerjagd ein!“

Böhämmerschützen! Böhämmerjagd! – Man muß in der Umgebung der Böhämmerstadt Bergzabern geboren sein oder doch einmal dort gewohnt haben, um zu begreifen, in welche Aufregung ich gerieth. Fast hätte ich laut gejauchzt, denn das Glück, einer Böhämmerjagd beizuwohnen, hatte ich bis dahin nur im Traume genossen. Ist es doch keine gewöhnliche, Jahr für Jahr wiederkehrende Jagd; sie ist oft nur nach einem Zeitraume von Jahrzehnten möglich, und es gehörte zu meinen frühesten, halbverwischten Erinnerungen, daß auch einst der Vater mit ausgezogen und mehrere Nächte mitten im strengen Winter ausgeblieben war. Nur mit Gewalt vermochte er mich jetzt abzuhalten, dem nahenden Lichterschwarm entgegenzueilen. Indeß gestaltete sich die Scene in der schneienden Adventnacht stets romantischer. Deutlicher traten die weißen Stämme der Edeltannen im Fackelglanz hervor; immer röther glühten die Kienflammen in den eisernen Pfannen durch die Finsterniß und warfen zitternde Lichtstreifen mit rosigem Schimmer bis zu uns her, während dunkle Gestalten, gleich Lanzen führenden Wilden oder mit Rückkörben belasteten Sclaven, im glührothen Schein der Fackelträger lautlos auftauchten.

Es war ein phantastischer, malerischer Anblick in der schwarzen Nacht des Bergwaldes, wie die stumme Jagd geräuschlos nahte, der schweigende Trupp sich vertheilte, die Fackeln ihren Glanz auf die hohen Tannenwedel fallen ließen und Einzelne ihre Waffen – lange Blasrohre – emporhoben, um sie sofort an die Lippen zu setzen, wenn das unsichtbare Wild seine Spur verrathe. Jetzt trat mein Vater mit mir vorsichtig so weit vor, um in dem Zunächststehenden einen Bürger von Bergzabern zu erkennen und von ihm erkannt zu werden.

„Nun, wie geht die Jagd, Herr Kramer?“

„Schlecht!“ lautete die Antwort, die ebenso gedämpft gegeben, wie die Frage leise gestellt wurde. „Schlecht, Herr Becker. Noch keine Feder. Man möchte die Krenk kriegen. Kein Schwanz läßt sich mehr sehen. Alles ließ sich gut an. Kaum aber tickt Einer von uns mit dem Blasrohr drüben am Benzenteich in die Tannen, geht der Teufel los – futsch! Die ganze Heerde in die Luft. Sie müssen ja den Lärm gehört haben.“

Also ein Flug Böhämmer hatte das mächtige Schwirren und Sausen um den Abtskopf hervorgebracht, das wir uns nicht zu erklären vermocht hatten.

„Jetzt dürfen wir lange herumtappen, bis wir eine Feder spüren,“ fuhr der unmuthige Böhämmerschütze verdrießlich fort.

[9]

Leon Gambetta.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[10] „Wir haben nie Glück auf dieser Seite, und überhaupt – ’s ist nicht viel mehr mit der Böhämmerjagd. Die Viecher riechen förmlich ’s Blasrohr schon von Weitem.“

„Vorwärts,“ murrte mahnend ein Anderer. „Noch ist die 'Hohe Tanne' und 'Weidenboll' abzusuchen. Dann fertig für heute. Ueber’s Münsterer Thal hinaus gehen wir diesmal nicht.“

Und der ganze Schwarm, Fackel-, Korb- und Blasrohrträger, brach das vergebliche Suchen an der Stelle ab und wanderte weiter. Wir sahen lange dem abenteuerlichen Zuge nach, wie die Leuchtpfannen durch den Wald blitzten, verschwanden, wieder auftauchten und in wunderbarem Effect die Tannenkronen bestrahlten, um dann, ein wandelndes Feuer um das andere, hinter dem Bergkamm unterzutauchen.

Wie gern wäre ich ihnen gefolgt! Der Vater jedoch schüttelte das Haupt. Die Böhämmerschützen, meinte er, fänden für heute keine Beute und dürften die Jagd aufgeben, nachdem sie ihr Wild durch irgend welche Unvorsichtigkeit verscheucht hätten. Der „Flug“ müsse mindestens über’s Thal nach den Röxelhalden am Treitelsberge oder noch weiter, über den Hundsfelsen und Leberstein nach dem Rehberge gegangen, vielleicht in die Buchenwälder des Trifels eingefallen sein. Zudem stob jetzt der Schnee stürmischer auf dem hohen Bergjoch und wirbelte, während wir weiter eilten, nachgerade so heftig, daß das Rauschen der Mühlen im tiefen Klingthale uns als Gruß der Heimath traulich herauf klang.

Als ich später mit dem Schulränzchen auf dem Rücken täglich nach dem Progymnasium Bergzaberns wanderte, fand sich Gelegenheit genug, mit der nächtlichen Jagd bekannter zu werden.

Die Böhämmer-Metropole Bergzabern liegt an der Stelle altrömischer Bergschenken – tabernae montanae – vor einem Vogesenpasse, zwischen dessen frische, üppige Waldhänge sich die Mühlen seines Westends malerisch hineindrängen. Noch wird das von zwei Rundthürmen flankirte Schloß bewohnt, der Wittwensitz der Wittelsbacher von Zweibrücken, in welchem die große Landgräfin Henriette eine hoffnungsvolle Jugend verlebte und in schöner Natur zu ihrem edlen Fürstenberufe heranwuchs. Noch zeigt das alte Wasgaustädtchen, neben anderen interessanten Renaissancehäusern, den „Engel“, einen malerischen, mit Erkern, Kuppeln und vorragenden Drachenhäusern versehenen Bau im barocken Geschmacke des holländischen Schiffsstyles. Geburtsort eines Reformators und des alten Kräuterkenners Tabernämontanus, sowie mehrerer in der politischen Welt bekannter Männer neuerer Zeit, hat es in der Zeitgeschichte schon öfter lebhaft von sich reden gemacht, ist aber im Lande selbst am bekanntesten wegen seiner Böhämmerjagd.

Wenn die Felder bestellt sind, der Wein gekeltert ist und im kühlen Keller gährt, verlegen sich Bergzaberner Bewohner gegen den Winter hin auf Vogelkunde, ein Zug, den sie mit den Thüringern gemein haben und der nirgends in der Pfalz so hervortritt, wie hier. Die tiefen, frischen Laubforste der oberen Mundat, welche einst der Abtei Weißenburg gehörten, begünstigen diese Liebhaberei, und des Städtchens eigener Wald hat noch schöne, ursprüngliche Bestände von Edeltannen, in welchen mitten im Winterschnee der Kreuzschnabel brütet und auf Leimruthen gefangen wird. Allein dieser Vogelsang tritt völlig vor dem Leben zurück, das in der Wintersaison des stillen Wasgaustädtchens bei Ankunft der Böhämmer herrscht. –

Nicht alljährlich, sondern nur, wenn die Bucheckern gerathen, in sogenannten „Büchelmastjahren“, welche mit guten Weinjahren und nachfolgendem strengerem Winter zusammenzufallen pflegen, kommen nämlich aus dem höchsten Norden zur Zeit des Vorwinters ungeheuere Schaaren von Zugvögeln in die Waldschluchten des Wasgaues hinter Bergzabern, weiden am Tage die Forste ab und gehen zur Nachtruhe in die hohen Tannenwipfel der Berge. Die Züge sind manchmal so stark und dicht, daß sie die Sonne verfinstern. Wo sie einfallen, erfüllt ihr Geschrei Berg und Thal. Nun eilen aufpassende Boten in die Stadt mit der aufregenden Kunde: „Die Böhämmer sind da.“

Frohe Botschaft! Alt und Jung, Reich und Arm, Beamter und Handwerker rüstet sich zur lang ersehnten nächtlichen Jagd. Die Leuchtpfannen werden hervorgeholt, denn das seltene Waidwerk findet bei Fackellicht statt; der Kienspahn wird in die Rückkörbe gefüllt, die bereit gehaltene übliche Waffe – ein fein gearbeitetes, neun bis zehn Fuß langes Blasrohr – zur Hand genommen, die Kugeltasche umgehängt. Hat man sich doch längst schon mit dem nöthigen Geschosse versehen, kleinen Lehm- und Lettenkugeln, die in eigenem Werkzeuge geformt und – etwas getrocknet – durch das Kugeleisen gerieben werden, um ihnen die nöthige Rundung und Glätte zu geben.

So vorbereitet und ausgerüstet, zieht man in freudiger Erwartung gegen Anbruch der Nacht truppweise hinaus in die beschneiten und bereiften Bergwälder, deren Schlüfte bald von wandelnden Feuern leuchten. Es gilt, die Böhämmer im Schlafe zu überrumpeln und dabei jedes Geräusch zu vermeiden. Denn nicht der Fackelschein, der die Vögel nur blendet, sondern der unvorsichtige Laut stört und schreckt sie auf, dem strengstens vorgebeugt werden muß, wenn diese stille Jagd ohne Pulver gelingen soll.

Endlich ist der Schlummerplatz der Vögel entdeckt. Alle Aeste und Zweige der Baumkronen biegen sich unter der Last dicht neben einander sitzender Böhämmer. Die Kienspahnflammen aus den Feuerpfannen der Fackelträger beleuchten weithin im Walde eine reiche Ernte. Denn die unglaubliche Menge der Vögel erinnert in der That an die Züge der Wandertauben in Nordamerika.

Jeder „Schütze“ hat seinen Fackelträger und seinen Rückkorbträger, welcher letztere den Kienspahn in den Wald und die Jagdbeute heimschleppt. Während nun die beiden Theilnehmer in athemloser Spannung harren, nimmt der Schütze sein Blasrohr an die Lippen, richtet die Waffe nach dem nächsten Vogel, pustet hinein, – von der Lehmkngel getroffen, sinkt der Böhämmer lautlos zur Erde. Indeß die Rückkorbträger die Beute sammeln, erlegen die Schützen nun Stück für Stück auf dieselbe stumme Jagdweise. Die Vögel kommen ihnen dabei in wunderlicher – aber verbürgter – Gepflogenheit entgegen. Fühlen nämlich die Böhämmer auf ihrem luftigen Sitze die entstandene Lücke, wenn einer aus ihrer dichten warmen Reihe herausgeschossen wird, so rücken sie dumpf und leise zwitschernd, wie im Traume, zusammen, um zur Bequemlichkeit des Jägers die erkältende Lücke wieder auszufüllen. Der Böhämmerschütze kann also gelegentlich von demselben Standpunkte aus Vogel um Vogel herunterblasen und, ohne sich weiter zu bemühen, oft viele Dutzende von seinem Platze aus erlegen.

Dazu gehört freilich sicherer Blick, kräftige Lunge, gute Waffe und Uebung. Ein einziger Fehlschuß kann die ganze stille Jagd verderben. Selbst eine gutgezielte Kugel kann das Wild an falschem Orte treffen oder am harten Ast zerschellen. Ein böser Umstand! Ist nämlich ein Böhämmer nicht so getroffen, daß er gleich todt von der Tanne sinkt, so flattert er ängstlich oder flößt einen durchdringenden Schrei aus. Dieser Alarmruf weckt die Schlummernden zum allgemeinen Aufbruch. Nun rauscht und braust und schwirrt und lärmt es aus den hohen Baumwipfeln in die nachtschwarze Luft; das Böhämmervolk saust dahin, als ob der Gott des Sturmes selbst durch die Schluchten des alten Wasgenwaldes johlend wüthe. Dann ist für diese Nacht, oft auch für die nachfolgenden Nächte, keine Beute mehr zu hoffen. Der eine flüchtige Schwarm weckt durch seinen lärmenden Abzug die übrigen, im weiten Gebirge zerstreuten „Flüge“, und fort zieht das Volk der Böhämmer zu Millionen in entlegenere Forste.

Daraus läßt sich ein Schluß machen, wie verpönt ein Flintenschuß im Gebiete der Böhämmerjagd ist. Als zu meiner Jugendzeit dereinst einer der angesehensten Bürger von Bergzabern jagdlustig unter die Böhämmer feuerte, kam es nächtlicher Weise fast zu Mord und Todtschlag im Walde. Behauptet man doch, daß die Böhämmer nicht wieder nach Gegenden kommen, in welchen ihnen einmal mit Pulver und Blei zu Leibe gegangen worden. In der That ließ sich in einem besonders reichen Vogeljahre kein Böhämmer mehr in den Bergwäldern hinter Klingenmünster sehen, nachdem der Förster sein Gewehr in einen das Thal überstreichenden Flug abgeschossen, während die Forste hinter Bergzabern eine gesegnete Ernte boten. Und gerade dem ausschließlichen Gebrauche des Blasrohrs bei dem seltsamen Waidwerke wird es zugeschrieben, daß sich diese nordischen Streuner in der Umgebung des Wasgaustädtchens mit Vorliebe niederlassen, weil die überlebenden Böhämmer von so geräuschloser Jagd nichts inne zu werden pflegen, also ahnungslos wiederkommen. Möglich, daß sie sich auch von der Waldlandschaft angezogen fühlen, die im Winter Aehnlichkeiten mit ihrer nordischen Heimath bieten mag.

[11] Ein Lieblingsschlummerplatz der Böhämmer ist die sogenannte „Peternell“, ein langer, von Erzschachten durchhöhlter, mit Edeltannen bewachsener Berg, der hinter der Stadt das waldfrische, reizende Wiesenthal keilförmig spaltet. Sein Felsenrücken trägt noch Spuren versunkenen Gemäuers, welches die Ueberlieferung zum Castell einer altrömischen Jungfrau Petronella macht. Sie soll der Stadt den Wald geschenkt und sonst Gutes gethan haben. Die Geschichte weiß nichts von der geheimnißvollen Dame, deren Geist noch den Berg umschwebt. Weiter oben am Gebirge, im „Dompeter“ bei Molsheim, der ältesten, vorkarolingischen Kirche des Elsasses, zeigte man lange den jetzt nach Straßburg gebrachten Sarg einer heiligen Petronilla, der angeblichen Tochter des Apostels Petrus. In Wahrheit hatte in dem Sarge jedoch eine edle Römerin, Terentia Augustola, geruht. Ob nun die Sage an diese Thatsache angeknüpft hat oder nicht: Petronella, welche dem Lieblingsberge der Bergzaberner ihren Namen hinterlassen hat, ist die Schutzpatronin der „Böhämmer“, wie die Bewohner des Städtchens selbst im Pfälzer Volkswitz getauft worden sind. Ihre eigenthümliche Jagd beschränkt sich jedoch bei weitem nicht auf die „Peternell“ und deren nächste buchenreiche Umgebung, sondern dehnt sich manchen Winter oft wochenlang über das ganze Waldgebirge aus, wobei die Schützen am Tage schlafen, wo sie ein Lager finden, und zur Nachtzeit dem Waidwerke obliegen. Das sind so beschwerliche und aufreibende, wie aufregende Jagdzüge.

Nun könnte man fragen, ob neben der Lust am Ungewöhnlichen die nächtliche Böhämmerjagd auch eine Beute liefere, welche diese Mühseligkeiten lohne. Das ist einigermaßen der Fall. Der Böhämmer ist ein zwar kleiner, aber feiner Braten und wird nicht selten als Krammetsvogel verspeist; sein Fleisch ist von ähnlichem, pikant bitterlichem Geschmacke, wie das aller Vögel, die sich mit ölhaltigen Früchten und Nadelholzsamen mästen. Es ist im Herbste so fett und zart, daß man beim Rupfen Acht haben muß, die Haut nicht mit abzuziehen. Man könnte den feisten Vogel als Thranlicht verwenden, was in Lappland – woher er zu uns kommt – auch geschehen mag. Mit gebratenen Kastanien ist er den Feinschmeckern in Bergzabern ein leckeres Reizmittel zum Trunke des „Neuen“. In guten Böhämmerjahren wird er sogar zum Handelsartikel und als Leckerbissen weit verschickt.

Lange galt selbst in der Pfalz die Böhämmerjagd für eine Fabel, welche in Bergzabern ersonnen worden, um den „Finkenfang“ zu beschönigen. Man leugnete sogar die Existenz des Böhämmers, der in keiner Naturgeschichte vorkomme. Und in der That hat bis zur Stunde noch kein Naturforscher im übrigen Deutschland der merkwürdigen Erscheinung irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt. Ueber Art und Namen des Vogels gab es im Böhämmerlande selbst verschiedene Meinungen. Die Einen erklärten das Wort „Böhämmer“ für die verdorbene Aussprache von „Buchammer“, da man den Vogel auch einzeln und haufenweise mit anderen Ammern im Winter vor die Dorfscheunen kommen sah. Andere deuteten den Namen auf seine Herkunft aus den böhmischen Wäldern und schrieben „Böheimer“. In Altbaiern heißen die Jäger den Seidenschwanz, der ebenfalls aus dem skandinavischen Norden kommt, „Böheimerl“. Galt doch Böhmen – auch bei Shakespeare – als Heimath alles Fabelhaften oder Geheimnißvollen, dessen Ursprung man nicht kannte. Und noch sind den Franzosen die streunenden Zigeuner „Bohémiens“.

Mag dem nun sein, wie ihm wolle, unser Böhämmer ist kein Czeche, seiner Nationalität nach eher ein Schwede, nach Gestalt und Zeichnung keine Ammer, sondern ein ausgesprochener kräftiger Fink, als solcher auch im übrigen Deutschland nicht unbekannt. Kurz, es ist der Bergfink (Frigilla montifringilla), der in den skandinavischen Wäldern, hoch oben am Sulitelma auf den Kjölen, bei den Lappen und Finnen oder in Jämtland nistet und brütet, im Spätherbste nach Deutschland wandert und im Frühlinge wieder über das Kattegat in seine nordische Heimath zieht. Dem Buchfink ähnlich, doch gröber und größer, ohne Gesang, ist er nicht ganz so schön gezeichnet, der Rücken dunkel, Brust, Schulter und Vorderleib rostgelb, die Querbänder auf den Flügeln weiß – ein starker, bissiger, wilder, gefräßiger Patron. Einzeln oder truppweise treibt er sich zur Winterzeit in deutschen Bergwäldern und Bauernhöfen umher, heißt bald Tannenfink, bald Wald- und Mistfink oder auch Gägler, kommt bis in die Schweiz und soll – nach Tschudi – im Emmenthale sogar brüten. Ueber die Alpen jedoch geht er nicht; selbst deren niedrigste Paßeinsenkungen scheinen dem feisten Gesellen zu hoch.

Seinen Hauptwanderzug, der in schneereichen Wintern aus unermeßlichen Schaaren besteht, nimmt er, zwischen Rhön und Vogelsberg hindurch, in die oberrheinische Ebene, zur buchengrünen Haardt, vorzugsweise in die Laub- und Tannenforste des pfälzischen Wasgau bei Bergzabern, von hier bei strenger Kälte wohl auch weiter, über Lothringen die Saône hinunter in’s Rhonethal, zum kleinern Theil über die Ardennen nach Frankreich hinein „an der Loire grünen Strand“. So folgt und traut er mehr den minder hohen Waldgebirgen, welche in ihrem schönen Wechsel von Laub- und Nadelforst leckeres Mahl und bequeme Ruheplätze, dabei dem fettfaul gewordenen Vogel leichte Uebergänge bieten. Alle diese Bedingungen vereinigt der vielfach zerklüftete Wasgenwald hinter Bergzabern; kein Wunder, daß hier der „Böhämmer“ am liebsten einkehrt. Die Hochvogesen meidend, erfolgt sein Heimzug auf derselben Route, wobei nochmals Mast und Rast im Pfälzer Wasgau gehalten wird, um nach üppigem Gelage bei schwindendem Schnee nach dem Norden zu ziehen, ohne die im Schlafe verlorenen Genossen zu vermissen. So sah man bei Epinal und Luneville ungeheure Züge mit dem Südwest tagelang über die Felder weiter streichen, um noch auf der Heimkehr am gewohnten Orte einzukehren zur Weide und Nachtruhe.

Heute kennt man nun den Böhämmer und dessen Jagd in der ganzen Pfalz. Nach Professor Medicus in der „Bavaria“ ist der wunderliche Vogel jetzt so volksthümlich geworden, daß ihm ein vielgebrauchter bildlicher Ausdruck entlehnt ist. In jedem pfälzischen Wirthshaus laden nämlich die Sitzenbleibenden, wenn Abends solide Gäste nach Hause gehen, sich gegenseitig ein, zu „böhämmern“, nämlich zusammen zu rücken, um die Lücken so gemüthlich auszufüllen, wie die Bergfinken, wenn sich ihre Reihen lichten. Selbst die Franzosen in Weißenburg, deren Jagdgebiete mit denen von Bergzabern in der Mundat an der Lauter zusammenstießen, kannten den Vogel, hielten ihn jedoch für einen Wallonen und nannten ihn pinçon d’Ardennes.

Bergzabern ist und bleibt aber die Böhämmermetropole. In den letzten „Vogelwintern“ kamen fremde Jagdliebhaber und Neugierige dahin, um bei Schneefall und Fackelschein in die Schlüfte des Wasgenwaldes nach Bohämmern auszuziehen, unter seltsam beleuchteten Felsgruppen zu rasten, Scenen, wie ich sie in „Hedwig“ geschildert, zu erleben oder auch nur bei dem trefflichen „Neuen“ des weinreichen Städtchens[3] von alledem gemütlich zu plaudern. Denn die Böhämmer bilden dann winterlang den ausschließlichen Gesprächsstoff. Hier ist die seltsame Jagd altherkömmlich und waidmännisch ausgebildet worden. Wo jedoch ihre Anfänge liegen, darüber schweigt die Geschichte. Allein die ursprüngliche Art und Weise dieses Waidwerks, Ausrüstung, Waffe und Geschoß deuten auf hohes Alter. Vielleicht haben schon Otfried’s Klosterbrüder so in der Mundat nach Böhämmern gejagt. Blasrohr und Lehmkugel müssen der Handfeuerwaffe vorausgegangen sein, haben vielleicht zu deren Erfindung geführt, da der Luftdruck bei beiden die treibende Kraft bildet.

Immerhin darf man sich von der Wirkung solchen Geschosses keine zu geringe Vorstellung machen. Zwischen dem langen, äußerst accurat, solid und fein gearbeiteten, mit kleiner Seele versehenen, achteckigen hölzernen Hinterlader von Bergzabern und dem, was man anderwärts Blasrohr nennt, ist ein Unterschied, wie zwischen einem Lefaucheux und einer alten Radpistole. Für die Vogelwelt ist es die gefährlichste Waffe. Sehe ich heute solche halbwüchsige Bursche mit dem langen Rohr im Freien, dann jammern mich die kleinen Sänger. Erinnere ich mich doch der Zeit, wo wir Jungen selbst, in Ermangelung von Lehmkugeln, mit unreifen Weinbeeren den kräftigen Wendehals und Neuntödter vom Kastanienbaum schossen und sogenannte Stechbolzen halbzolltief in’s Zielbrett trieben. Die Wirkung läßt sich darnach ermessen. Lehmkugeln, mit welchen die Böhämmer erlegt werden, bleiben zumeist im Fleische stecken und finden sich beim Zerlegen des Bratens. Wenn sich Böhämmerschützentrupps einander in’s Gehege kommen ober einer dem andern Eins aus Jux versetzt, erprobt sich zuweilen gegenseitig die Trefffähigkeit der Waffe.

[12] Ueberhaupt büßt dieses seltene und seltsame Waidwerk in der Jagdleidenschaft seinen stillen Charakter manchmal ein, wenn sich einzelne „Partien“ treffen und um strittige Interessen rechten. Dann setzt es wohl auch lärmenden Streit im winternächtigen Wasgenwald ab. Wären die Böhämmer nicht gar so dumm, dann könnten sie bei ihrer Heimkunft von den niedrigen Fichtenstrünken oben in Finnmarken beim Mitternachtssonnenlicht den rennthiermelkenden Lappenmädchen etwas vorpfeifen von Blaslanzen führenden Jünglingen „südlich am Rhein“ – wie die Edda sagt – die lungenkräftig und stark sind im Blasen und Schreien, wie denn die Bergzaberner von je zu den ärgsten „Pfälzer Krischern“ zählten. Im Ganzen halten sie jedoch streng auf Zucht, Schützengeist und Ehre bei den nächtigen Jagdzügen. Dies ist auch durchaus nöthig; übrigens ist selbst bei größter Vorsicht das Glück oft nicht günstig, der ganze Aufwand von Zeit und Mühe vergeblich. Denn die Böhämmer haben ihre Launen und vereiteln zuweilen alle Voraussicht. Dennoch läßt der Jagdeifer nicht nach, so lange überhaupt noch ein Erfolg zu erwarten ist.

Die erforderliche Anstrengung, Ausdauer, Uebung und Vorsicht, die am geringsten Versehen oder Zufall scheitern kann, erheben solche Jagd zum edleren Sport, der den wackeren Bürgern des pfälzischen Wasgaustädtchens wohl ansteht. Das Eigenthümliche, Ursprüngliche derselben, Zeit, Oertlichkeit, Ausrüstung und Ausführung geben ihr stets den Reiz der Neuheit und machen sie zur ersehnten Unterbrechung der winterlichen Eintönigkeit kleinstädtischen Lebens. Mit dem Fackellicht aber fällt noch ein besonderer romantischer Schimmer auf die nächtige Böhämmerjagd im Wasgenwald.




Das wissenschaftliche Martern lebendiger Thiere.


Um die Lehre von den Lebensthätigkeiten des thierischen Organismus zu begründen und durch analoge Schlüsse auf die Lebensfunctionen des Menschen zu übertragen, pflegen die Physiologen bekanntlich schon seit längerer Zeit Thiere bei lebendigem Leibe zu seciren, das heißt, lebende und in Bewegung befindliche Organe bloßzulegen. Dabei wird nicht allein dem betreffenden Thiere dieser oder jener Körpertheil geöffnet und nach der Bloßlegung das lebende Innere beobachtet, sondern es werden auch durch alle möglichen mechanischen, chemischen und physikalischen Reize die einzelnen Organe in eine höhere Lebensthätigkeit versetzt. Die jedesmalige wissenschaftliche Technik, welche an solchen „Versuchsthieren“ geübt wird, nennt man eine „Vivisection“. In den Bereich dieser Thätigkeit gehören aber nicht allein blutige Eingriffe, sondern auch Experimente chemischer Natur, in Form der Einverleibung von Arzneien und Giften. Aus solchen Versuchen wird in vielen Fällen ein Nutzen, erstens für das Wissen, in zweiter Linie auch für Wohl und Gesundheit des Menschen erzielt.

Es ist in den jüngsten Jahren mannigfach die Frage aufgeworfen worden, ob dem Menschen überhaupt das Recht zustehe, außer zu seinen Nahrungszwecken, Thiere zu tödten, und ob es zu gestatten sei, an Thieren die erwähnten Vivisectionen vorzunehmen, besonders solche, welche nicht direct einen Nutzen für das Leben und die Gesundheit des Menschen in Aussicht stellen.

In England bildete sich vor zwei Jahren gegen die bezügliche Thätigkeit der Physiologen eine sehr lebhafte Agitation, welche in der sogenannten Vivisections-Bill des englischen Parlamentes ihren Ausgangspunkt gefunden hat. Jenes Gesetz belegt mit Strafen bis zu hundert Pfund Sterling oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten jede Uebertretung der Bestimmungen: daß „schmerzhafte Experimente am lebenden Thiere nur in der Absicht unternommen werden dürfen, durch neue Entdeckungen das physiologische Wissen oder dasjenige Wissen zu fördern, welches zur Rettung oder Verlängerung des menschlichen Lebens oder zur Linderung menschlichen Leidens nützlich ist“; zweitens „dürfen solche Experimente nur an registrirten Stellen, und von Personen, welche die gesetzliche Licenz besitzen, vorgenommen werden“; drittens „muß das Thier während des ganzen Versuchs bis zur Gefühllosigkeit narkotisirt sein“; viertens, „falls der Schmerz voraussichtlich nach dem Erwachen fortdauern würde, oder das Thier ernstliche Verletzungen erlitten hat, muß es noch vor dem Erwachen getödtet werden“; fünftens „darf der Versuch nicht als Illustration medicinischer oder sonstiger Vorlesungen“ und sechstens „nicht zum Zwecke der Erlangung manueller Geschicklichkeit angestellt werden“.

In Ausnahmefällen können unvermeidliche Experimente an lebenden Thieren in Vorlesungen gezeigt werden, wozu aber eine besondere Regierungsermächtigung nöthig ist. Ebenso darf in Ausnahmefällen gegen einzuholende Erlaubniß ein Thier auch ohne vorherige Betäubung vivisecirt werden und zwar dann, wenn der Zweck des Versuches durch die Narkotisirung vereitelt würde. Dagegen dürfen schmerzhafte Versuche an Hunden und Katzen, außer wenn die gesetzliche Bescheinigung mit Specification der Gründe gegeben ist, nicht angestellt werden. Der übrige Inhalt der Bestimmungen bezieht sich nur auf Aeußerlichkeiten. Die englische Vivisections-Bill war das Resultat vielfacher Bemühungen der englischen Thierschutz-Vereine. Auch in Deutschland gehen die Vereinigungen, welche die gleichen Zwecke im Auge haben, damit um, dem auf den Universitäten und in den physiologischen Laboratorien überhandnehmenden Vivisectionsbrauch auf gesetzlichem Wege Fesseln anzulegen. Wenn wir uns die englische Gesellschaft betrachten, welche die Entrüstungsmeetings in’s Leben gerufen hat und welche sich immer noch bestrebt ein Verbot aller hierhergehörigen wissenschaftlichen Methoden zu erwirken, so können wir uns des Verdachtes nicht erwehren, daß man wenigstens von dieser Seite aus nur unter dem Vorwande, armen, hülflosen Thieren Schutz zu gewähren, gegen die physiologische Wissenschaft im Allgemeinen zu Felde zu ziehen sich bemüht.

Die Physiologie ist ja die Mutter des überhandnehmenden Materialismus, welcher den Gläubigen vom Wege zum Paradiese ablenkt und ihm alltäglich ein Stück von dem Apfel der Erkenntniß des Guten und Bösen zu kosten giebt. Die fromme Gesellschaft, welcher die Zugeständnisse der englischen Regierung noch immer nicht genügten, bestand aus Theologen, hohen Adeligen und Damen aus der höchsten Gesellschaft. Es waren darunter vier Erzbischöfe, zehn Bischöfe, sieben Decane, zehn Pfarrer, ein Prinz, drei Herzöge, fünf Marquis, sechszehn Grafen, vier Viscounts, eine große Anzahl Lords, Ladies und Sirs, fünfundzwanzig höhere Officiere, fünfundzwanzig Parlamentsmitglieder und einige Doctoren der Medicin. Die Begründung dieser Leute stützt sich auf Bibelsprüche und gipfelt in dem Satze: „Eine christliche Seele soll nicht mehr von der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntniß genießen, als ihr der göttliche Weltbeherrscher zugewiesen hat.“

Es ist ganz klar, daß die mit Humanität verbrämte Agitation des englischen Pharisäismus der Wissenschaft als solcher den Krieg erklärt, denn gerade dieselben Leute, welche hier der gequälten Thiere sich annehmen, scheuen sich dort durchaus nicht, ihr Schutzprincip für die wehrlose Thierwelt in schnödester Weise hintanzusetzen. Sie schämen sich nicht, um leiblichem Genusse zu fröhnen, auf ihren Gütern Thiere durch Castration in grausamster Weise zu verstümmeln, einzig und allein, weil nach jener schmählichen Operation das Fleisch zarter, schmackhafter und fetter wird. Für die Qualen, welche die Frösche in den physiologischen Laboratorien auszuhalten haben, finden sich seitenlange Entrüstungsergüsse in den Eingaben der frommen englischen Ladies, und die Krokodilsthränen der aristokratischen Lords fließen gleich Wasserbächen über die quakenden Sumpfdemokraten. Gegen die Grausamkeiten aber, welche bei der für den Gaumen jener Gourmands bestimmten Froschschenkelbereitung begangen werden, finden sich keine Worte, und kein Gesetz ist erlassen gegen jene haarsträubenden Schindereien. Ist es doch bekannt, daß die Landleute, welche Froschschenkel zu Millionen zu Markte bringen, die eingefangenen Thiere mit der Scheere halbiren, den obern Theil des Thieres, welcher noch tagelang lebt und sogar herumhüpfen kann, wegwerfen, nachdem sie den krampfhaft zuckenden Schenkeln die Haut abgezogen haben. Die zartfühlende Lady schlürft mit süßem Behagen ein Dutzend praller Austern, nachdem ihre eleganten Fingerchen das lebende Thier im wahren Sinne des Wortes vivisecirten. Oder sollte das übliche Abreißen des „Bartes“ –

[13]

Am Ammersee. Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von Prof. Karl Raupp.

Es steht eine Weide am Ammersee.
Die taucht ihr Gezweig in die Fluthen.
„Ade, goldhaariger Schatz, ade!
Nun gilt’s für den König zu bluten.

5
Traut war es zu kosen, Boot an Boot,

Wenn die Wasser rauschten im Ammerse,
Und über ein Jahr, wer weiß, bin ich todt –
Ade nun, mein Schatz, ade!“

Sie fuhren noch einmal den See entlang

10
Wohl unter die flüsternde Weide,

Die Herzen so weh, die Herzen so bang –
sie kos’ten in Lust und in Leide.
Ab stieß er den Nachen – er schwenkte den Hut:
Da rauschten die Wasser im Ammersee.

15
„Dem König gehorcht ein Soldatenblut –

Ade nun, mein Schatz, ade!“

Und über ein Jahr ein Reitergrab
Liegt einsam auf fremder Haide.
Es neigt die Zweige darüber herab

20
Eine wilde, verwachsene Weide;

Sie seufzt in die Winde – die tragen es fort,
Und die Wasser rauschen im Ammersee:
„Dein Liebster, der schlummert am Haideort –
Ade nun, mein Schatz, ade!“

25
Eine Weide, die steht am Ammersee;

Sie taucht ihr Gezweig in die Fluthen;
Es thut wohl kein Herzeleid so weh,
Als um Liebe, um Liebe verbluten.
Nun schimmert’s herauf alabasterweiß

30
Durch die rauschenden Wasser im Ammersee:

„Goldhaarige Stirn, wir umplätschern dich leis –
Ade nun, mein Schatz, ade!“ Ernst Ziel.

[14] in Wirklichkeit sind das die Athmungsorgane des Thieres – und das halbstumpfe Austerngäbelchen den „natives“ besonders wohl tun? Prinzen, Herzöge, Earls und Lords scheuen sich nicht, zur Vertreibung der Langweile dem edelsten Genossen des Menschen, dem Pferde, im verrücktesten Sport die Beine zu zerschmettern, diesem Thiere aus angeblichen Schönheitsgründen den Schweif abzuschlagen, es zu „anglisiren“, den Hunden Ohren und Schweif zu kappen und ihnen gewisse mit der Wirbelsäule in directer Verbindung stehende Sehnenbündel auszureißen, damit der Spitz die Ruthe schön hoch zu tragen genöthigt sei. Werden nicht auf Treibjagden die Thiere des Waldes zu Tode gehetzt? Ergötzt nicht der dürre Lord sein bornirtes Gehirn an dem Todeskampfe des abgejagten Sechszehnenders? Wenn diese „haute-volée“ der Gesellschaft das fromme Mäntelchen der Humanität in der Vivisectionsfrage umzuhängen für zweckdienlich findet, warum erwirkt sie nicht vor allen Dingen ein Gesetz, welches Proceduren verbietet, die nur zum Zwecke eingebildeten Vergnügens oder leiblicher Genußsucht in Ausführung kommen?

Wir wollen mit diesen Auseinandersetzungen nicht sagen, daß wir der absolut freien Ausübung der Vivisection das Wort reden. Die Bewegung in England hatte jedenfalls das Gute, daß dem in der That blinden Fanatismus mancher Vivisectoren des Continents ein gewisser moralischer Zügel angelegt wurde. Bei allem Respecte vor der freien Forschung und deren Mitteln können wir uns des Abscheues nicht erwehren, wenn wir lesen, daß ein französischer Physiolog Brachet ein Experiment, die „expérience morale“, anstellte, um die Grenzen der Anhänglichkeit eines Hundes an seinen Herrn wissenschaftlich zu constatiren, für welche „Arbeiten“ er von der französischen Akademie mit einem Preise gekrönt wurde. Brachet quälte seinen Hund, so oft er ihn sah, auf alle erdenkliche Weise. Er zerstörte seine Augen, damit er ihn nicht erkennen könne, und da das nicht genügte, durchbohrte er das Trommelfell in beiden Ohren und füllte das innere Ohr mit geschmolzenem Wachs an. „Dann liebkoste ich das Thier,“ fährt er in seinem Berichte an die Akademie fort, „und nun, da es mich weder sehen noch hören konnte, zeigte es nicht nur keinen Zorn, sondern schien trotzdem nicht unempfindlich für meine Liebkosungen.“

Magendie, ein anderer Experimentator, schlitzte den Leib einer trächtigen Hündin auf, um zu sehen, ob sich ihre Mutterliebe auch im Momente des Todes beim Anblicke ihrer Jungen geltend machen würde. Die arme Hündin beleckte noch sterbend ihre Jungen. Bouillard, ein Dritter, durchbohrte die Stirn eines Hundes an zwei Stellen und führte ein rothglühendes Eisen in jede Hälfte des vorderen Gehirnes ein, um zu sehen, ob in den vorderen Hemisphären der Sitz des Schmerzes sei und jede weitere Schmerzäußerung von dem Thiere vermieden werden würde. Das arme Thier heulte und schrie aber, sodaß keine klaren, definitiven Schlüsse aus dem Versuche gezogen werden konnten. In neuerer Zeit gipfeln die Experimente großentheils in Zerstörungen des Rückenmarks, um zu ergründen, ob dieser oder jener Theil des betreffenden Organes diese oder jene Lebensthätigkeit regiert. Hunde werden in solchem qualvollen Zustande Wochen, ja Monate, sogar, wenn möglich, Jahre lang aufbewahrt, um zur ständigen Illustration des Gefundenen oder nicht Gefundenen zu dienen. Die Qualen, welche die Lehrer der Physiologie den Versuchsthieren in früheren Jahren auferlegten, unterscheiden sich von der heutigen bezüglichen Thätigkeit in eben dem Grade, wie sich die damalige und die jetzige Wissenschaft von einander unterscheiden. Die alte Physiologie fragte eben nur nach den „Erscheinungen“ des organischen Lebens. Wenn einem Hunde ein Loch in den Bauch geschnitten wurde, das man durch ein kleines Glasfenster verschloß, um in den Magen des Thieres hineinzusehen und dort die Thätigkeit der Verdauungssäfte zu beobachten, so wurde das Thier unter der Einwirkung des Chloroforms einmal einer unumgänglich nothwendigen Operation unterzogen, die Ränder der Operationswunde wurden zur Heilung gebracht und dann das mit der Magenfistel behaftete Thier Monate, ja Jahre hindurch zu experimentellen Zwecken am Leben erhalten, ohne im Geringsten durch Qualen bei Wiederholung des Versuches belästigt zu werden. Ein Gleiches gilt von denjenigen Experimenten, welche zum Behufe der Entdeckung der Gesetze der Blutcirculation vorgenommen wurden. Wenn einem Thiere eine größere Ader geöffnet und diese alsdann durch Gummiröhren mit den Meßapparaten des Blutdruckes in Verbindung gebracht wurde, bereiteten solche Methoden der Vivisection, nachdem die zugehörige Operation in der Chloroform-Narkose einmal vorgenommen waren, dem Thiere keine Schmerzen mehr. Die für das Thier erwachsenden Unbequemlichkeiten wirkten niemals Abscheu erregend auf das Gemüth des Zuschauers.

Während sich nun die alte Physiologie mit Experimenten welche die „Erscheinungen“ des organischen Lebens zu erklären suchten, begnügte, stellt die junge Wissenschaft die tiefer gehende Frage auf: „Was ist das Leben selbst, was ist die Seele?“ und da sie nach den Principien der materialistischen Weltanschauung das organische Leben und die Seelenthätigkeiten von vornherein als nichts anderes betrachtet, denn als einen mechanisch-chemischen Proceß, so durchsucht sie theoretisch die gesammte Nerven-Sphäre und das Gehirn des Menschen nach dem örtlichen Sitze der Seelenorgane – praktisch aber, da man bis heute noch nicht so weit „fortgeschritten“ ist, an Menschen Vivisectionen zu machen, durchstöbern ihre Jünger Gehirn und Nervengebilde der Thierwelt nach der bis jetzt unentdeckten Centralstätte des Lebens. Es hat übrigens schon Anatomen gegeben, welche sich nicht entblödeten, Menschen zu gleichen Zwecken zu benutzen; so der Anatom Gabriel Fallopia, ein modenesischer Edelmann, welcher zu Pisa, im Jahre 1561 zum Tode verurtheilte Verbrecher zur Vornahme von Versuchen über die Wirksamkeit der Gifte sich ausliefern ließ. Der berühmte Wiener Anatom Joseph Hyrtl knüpft hieran die sarkastische Bemerkung, „daß, wenn heute die peinliche Justiz die Missethäter als Schlachtopfer an die experimentirenden Physiologen ausböte, an modernen Fallopia’s kein Mangel sein würde“. Auch die Wissenschaft hat ihre Fanatiker.

Wir geben zu, das physiologische Studium und die Krankheitslehre können vom heutigen Standpunkte der Forschung aus der Vivisectionen im Allgemeinen nicht entbehren, aber jene sinnlosen Qualen, wie wir sie von den oben erwähnten Forschern erzählt, werden auch sicher von jedem Fachmanne, dem das Herz im Leibe noch nicht zu Eis erstarrt ist, verdammt werden. Es wird übrigens in der Mehrzahl der Vivisectionen, welche man in deutschen Laboratorien vornimmt, durch wirksame Betäubungsmittel – meist durch eine Morphiumeinspritzung in eine Vene, durch eine Dosis Chloral oder durch Chloroformirung – der erste Schmerz des Eingriffes benommen, mit Ausnahme derjenigen Fälle, in welchen eine Narkotisirung das zu gewinnende wissenschaftliche Resultat beeinträchtigen würde.

Es wird Niemandem einfallen zu leugnen, daß dem Menschen das Recht zusteht, sich der Thiere zu bestimmten Zwecken zu bedienen, sie zu Sclaven zu machen und auch sie zu Selbsterhaltungszwecken zu tödten. Zu diesen bestimmten Zwecken, welchen der Mensch das Thier zu opfern berechtigt ist, gehört – und das wird wohl auch von keinem Freidenkenden beanstandet werden – die Verwendung zu wissenschaftlichen Untersuchungen, besonders wenn aus denselben ein praktischer Nutzen für die Gesundheit und die Lebensverlängerung des menschlichen Individuums zu erwarten steht. Dagegen folgt andererseits durchaus nicht aus der Thatsache des Thierbesitzes das Recht, aus irgend welchen Gründen ein Thier zu quälen. Daß besonders in Deutschland nicht nur an physiologischen Laboratorien, sondern in vielen, mit medicinischen Instituten in Verbindung stehenden Arbeitszimmern auf das Unbarmherzigste und mitunter von durchaus unberechtigten jungen Leuten in der zwecklosesten Weise gerade Thiere, welche dem Menschen besonders nahe stehen, mißhandelt werden, ist ein offenes Geheimniß.

Das größte Contingent jener Vivisectionspfuscher überfluthet von Rußland aus die deutschen Laboratorien. Junge Halbasiaten, welche auf Kosten der „Krone“ zu wissenschaftlichen Reisen nach dem Westen geschickt werden, wühlen täglich auf deutschen Hochschulen in den Eingeweiden lebender Thiere herum, um mit viel Experiment und wenig Denken aus den Convulsionen und Verstümmelungen jener bedauernswerthen Geschöpfe Material zu einer Doctordissertation zu sammeln. Schreiber dieses erinnert sich aus seiner Universitätszeit lebhaft der Entrüstung, welche das bezügliche rohe Gebahren jener Sendlinge osteuropäischer Cultur in den Gemüthern deutscher Studenten wachgerufen hat. Es gestehen die Aerzte den Mißbrauch solchen Treibens zum Theil ganz offen, zum Theil nur dem Collegen gegenüber zu, und gar oft wird das unnöthige Eingreifen in das Leben der Thiere von dieser [15] Seite einer strengen und mißbilligenden Kritik unterworfen. Arme Thiere langsam zu Tode zu martern ist leichter, als etwas zu lernen, zu Vivisectionen sollte aber nur berechtigt sein, wer schon Alles kennt und weiß, was über das zu untersuchende Verhältniß in den Büchern steht.

Es muß übrigens schon in den ersten Decennien unseres Jahrhunderts viel Mißbrauch mit Vivisectionen getrieben worden sein; Arthur Schopenhauer, der bekanntlich ein großer Verehrer der Thierwelt war, giebt dem Unmuthe über jenes Treiben in seiner gewohnten drastischen Weise Ausdruck, indem er sagt: „In’s Volk muß die Ansicht dringen, daß es nicht Jedem freisteht, die abenteuerlichen Grillen seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Anzahl Thiere auf die Probe zu stellen, wie heutzutage geschieht, wo sich jeder Medicaster befugt hält, in seiner Marterkammer die grausamste Thierquälerei zu treiben, um Probleme zu entscheiden, deren Lösung längst in Büchern steht, in welche seine Nase zu stecken er zu faul und unwissend ist.“

Vivisectionen sind übrigens schon seit Jahrhunderten gemacht worden. Ohne sie wäre der Blutkreislauf ein unentdecktes Geheimniß geblieben; ohne sie wäre die Nervenphysiologie ein unbekanntes Gebiet und die Segnungen der Elektricitätsheilmethoden kämen der leidenden Menschheit nicht zu Gute; ohne die Vergiftungsversuche an Thieren müßten wir einen großen Theil des modernen Heilschatzes entbehren; ohne die experimentellen Fütterungsversuche würde die gesammte Lehre von den tödtlichen parasitären Krankheiten und von deren Verhütung ein unbekanntes Gebiet geblieben sein. Jedes Gesetz, welches die Vivisectionen verböte, ja auch ein solches, das den Physiologen von Fach nur in der Vivisectionsthätigkeit einschränkte, würde der wissenschaftlichen Forschung und indirect dadurch dem Wohle der Menschheit zu entschiedenem Nachtheile gereichen und die ganze Richtung der neueren medicinischen Forschungen lahm legen. Es müssen daher die zu schaffenden Bestimmungen dem zur Vivisection Berechtigten vollkommen in jeder Richtung freie Hand lassen und seinem Tacte die Wahl der nöthigen Mittel überlassen. Dem willkürlichen Viviseciren von Seiten Unberechtigter aber müssen entschieden Schranken gesetzt werden, und hier beginnt die Thätigkeit der Thierschutzvereine.

Die deutschen Thierschutzvereine sollten zusammentreten und um ein Gesetz von ungefähr folgender Fassung bei dem deutschen Reichstage petitioniren:

„Vivisectionsexperimente dürfen nur solche Personen ausüben, welche entweder als Professoren, Docenten oder Assistenten Mitglieder des Lehrkörpers einer Hochschule sind, oder welchen von einer medicinischen Facultät die ausdrückliche Erlaubniß zur Ausübung von Vivisectionen ertheilt worden ist. Die Zustimmung eines einzigen, selbst zur Vivisection berechtigten Lehrers darf nicht zur Ausführung der betreffenden Experimente berechtigen.“

Ein solches Gesetz würde das einzige Mittel sein, um den überhand nehmenden übertriebenen Vivisectionen vorzubeugen, besonders dem Theile derselben, welcher nicht zu streng wissenschaftlichen Zwecken ausgeführt wird, sondern nur zum Vergnügen und als Kitzel einer gewissen Wissenschaftelei dient.

Diejenigen Forscher, welche zum Behufe ihrer Studien experimentelle Eingriffe in das Leben der Thiere nicht vermeiden können, werden durch die Controle der öffentlichen Meinung gezwungen werden, sich eine ernsthafte Selbstprüfung aufzuerlegen, und ihre Schüler vor jeder Ueberschreitung des Nothwendigen warnen. Weiter müssen es sich die Physiologen zur Pflicht machen, in der Wahl der Versuchsthiere gewisse Grenzen inne zu halten und solche nur in den nothwendigsten Fällen zu überschreiten. Denn daß ein Hund ein höher entwickeltes Gemüthsleben besitzt, als ein Kaninchen, und letzteres wiederum in der Reihenfolge der geistigen Entwickelung der Thiere höher steht, als ein Frosch oder ein Salamander, darf sich der Berücksichtigung bei der Auswahl des Versuchsthieres nie entziehen. Zu solchen Bestimmungen aber müssen die Herren Physiologen selbst zusammentreten, wenn sie nicht den Titel der Seelenrohheit auf sich laden wollen, und müssen bestimmen, daß Hunde nur in Fällen zu vivisectorischen Experimenten benutzt werden dürfen – und diese Fälle müssen einzeln bestimmt werden – in welchen geistig niedriger entwickelte Geschöpfe durchaus nicht zur Erreichung des gesuchten Resultates ausreichen. Solche Fälle aber werden bei ehrlicher und gewissenhafter Selbstprüfung und scharfer Vorerwägung des Versuchs gewiß zu den Seltenheiten gehören. Zur Ahndung von Rohheiten gegen Thiere braucht es überhaupt keines besonderen Gesetzes, denn das deutsche Strafgesetz belegt Jeden (§ 360 pos. 13), „der in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt,“ mit Geldstrafe und Gefängniß.

In diese Rubrik fällt dann die Bestrafung derjenigen Vivisectoren ganz von selbst, welche die von den Fachgenossen gesteckten Grenzen überschreiten, über das nothwendige Maß hinausgehen und als Lieblingsopfer sich gerade dasjenige Thier heraussuchen, welches als das gemüthvollste und empfindlichste unter allen Thieren sich auszeichnet, das stets bereit ist, dem „Herrn der Schöpfung“ ein Freund und treuer Gefährte zu sein.

St.




Der Bannerträger der französischen Republik.


Im Anfange der 1860er Jahre konnte man in dem Pariser Café Procope einen jungen Mann öfter des Nachmittags mit seinen Bekannten in einer auffälligen Lebhaftigkeit politisch debattiren hören. Er hatte die Manieren eines Tribunen und behandelte voll Eifer die interessantesten Fragen der Tagesereignisse; war es nicht im Café Procope, so geschah es in einer der kleinen Rauchstuben des lateinischen Viertels, wo es an genialen Bohemiens von Paris nicht mangelte und der Löwe du quartier bereits grollend gegen die zu lange Herrschaft des Kaisers Napoleon des Kleinen Umgang hielt.

Dieser Tribun auf so bescheidenem Schauplatz hieß Leon Gambetta, war aus Cahors, wo er am 30. October 1838 geboren worden, und gehört seit 1859 zu den eingeschriebenen Advocaten von Paris. Sein scharf geschnittenes Gesicht, sein Wuchs, seine Stimme, sein Accent, seine Haltung und Geberde verriethen die italienische Abstammung nicht minder wie der Klang seines Namens.

Er war fast klein von Körper, aber untersetzt; in seiner Schulterbreite mahnte er an einen Ringer oder Athleten aus den Pyrenäen. Sein Haar war weich, glänzend, üppig und schwarz wie seine Augen, seine Gesichtsfarbe dunkelbleich und etwas bronzefarben. Der Ausdruck von großer Beweglichkeit in diesem jugendlichen und doch so energievollen, in edlen Linien ausgemeißelten Antlitz konnte so mächtig sein, daß man betroffen wurde, trotzdem eines seiner großen Augen immer starr und kalten Glanzes bleiben zu sehen, indeß das andere Feuer sprühte. Jenes unheimliche Auge war von Glas und ihm als Jüngling nach einer schmerzhaften Operation eingesetzt worden, die in Folge einer Verwundung nöthig gewesen. Von einem unbrauchbar gewordenen Stoßdegen, den er untersucht, war ihm ein Stahlsplitter in’s Auge geflogen. Doch in den Momenten der Ruhe und des Schweigens verbarg die Stärke der Lider dieses Gebrechen vollständig. Auch konnte er stundenlang unter den Freunden sitzen, ohne ein Wort zu sprechen. Einmal jedoch zum Reden angeregt, gerieth er schnell in’s Feuer und fesselte dann nicht nur durch Leidenschaftlichkeit, sondern auch durch originelle Ausdrücke und Bilder, sowie durch die feine Schärfe eines Spottes, der selbst die Freunde nicht schonte.

Die Praxis des jungen Advocaten war freilich noch so spärlich, daß man wohl sagen konnte, er lebe als armer Teufel in Paris und vermöchte nur so einfachen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wie er deren aus Gewohnheit und Neigung huldigte. Ein paar Vertheidigungen in der Provinz, ein paar unbedeutende in Paris – das war seither noch zu wenig gewesen, um sich mit seinem unleugbaren Rednertalent und seinem juristischen Wissen in größeren Kreisen bekannt zu machen. Bei der Wahlbewegung von 1863 hatte er sich allerdings schon in den Pariser Versammlungen der republikanischen Oppositionspartei hervorzuthun gewußt, doch nach dieser Agitation wurde im öffentlichen Leben wieder Alles still; er hatte keine Gelegenheit zu großen Reden [16] mehr, es war denn in den kleinen Gesellschaften, innerhalb deren er seine abendliche Muße im Kaffeehause zuzubringen liebte.

So viel Zeit ließ ihm sein Advocatenberuf, daß während der Sessionen des Gesetzgebenden Körpers wohl kein Sitzungstag verging, an dem er nicht in einer der Zuhörerlogen dem Gange der Debatten aufmerksam folgte. Die elektrische Empfänglichkeit seiner südlichen Natur zeigte sich hier in dem Ungestüm, mit dem er Partei für die behandelten Fragen nahm, sich über einen oder den andern der Redner ereiferte und von Zeit zu Zeit, ohne daß er selbst es bemerkte, Zeichen des Beifalls oder der Mißbilligung laut vernehmen ließ. Jedesmal, wenn der Präsident sich genöthigt sah, eine Mahnung zur Mäßigung an die Zuschauer auf den Tribünen zu richten, gehörte Gambetta sicherlich zu Denjenigen, welche den Anlaß hierzu gegeben hatten.

Seine Freundschaften erstreckten sich denn auch bald in die parlamentarischen Sphären, und man lernte ihn hier schätzen als einen der einflußreichen radicalen Wahlagitatoren in den Vorstädten von Paris, besonders in dem Arbeiterviertel von Belleville, wie sich dies bei verschiedenen Gelegenheiten erwies. Emil Ollivier, der auch zu seinen Freunden gehörte, hatte sich sogar wegen seiner Wahl in Paris bei ihm zu bedanken. Als er seinen Sieg darnach durch ein Diner feierte, dem auch Gambetta beiwohnte, ließ er sich über seine Absichten aus, von jetzt ab nur noch dynastische Opposition treiben, die Existenz des Kaiserreiches dagegen nicht länger bekämpfen zu wollen. Eisiges Schweigen der republikanischem Festgenossen antwortete ihm. Ollivier wurde endlich unmuthig und rief: „Wohl, wenn meine Idee Euch nicht behagt, so bekämpft sie doch! Wir werden ja dann das Weitere zusammen vereinbaren können.“

„Das ist unnöthig,“ antwortete Gambetta, indem er sich erhob, „man geht mit seinen Freunden wohl bis an die Schwelle der Wohnungen gewisser Leute, aber man geht mit ihnen nicht hinein.“ Alle standen nach diesen Worten vom Tische auf, nahmen ihre Hüte und verließen die Wohnung, um sie nie mehr zu betreten.

Der große Schlag, mit welchem Gambetta aus dieser wenig bedeutenden Stellung plötzlich in die Höhen der Berühmtheiten stieg, geschah durch die Vertheidigung zweier angeklagten radicalen Blätter von Paris zu Ende des Jahres 1868. Dieselben hatten zu einer großen Volkswallfahrt nach dem Grabe des Abgeordneten Baudin aufgefordert, der gegen den Staatsstreich Napoleon’s vom 2. December 1851 protestirt und beim Beginn des Straßenkampfes dann durch eine Kugel aus den Reihen der Truppen seinen Tod gefunden hatte. Außerdem war von jenen Journalen als eine nicht minder mißverständliche Demonstration gegen das Kaiserreich eine Subscription für ein Denkmal Baudin’s, „des Märtyrers des Rechtes und der Freiheit“, eröffnet worden. Gambetta’s Vertheidigung war eine furchtbare Kritik des Staatsstreiches, eine kühne Anklage gegen das darauf gegründete Kaiserreich, eine flammende Verherrlichung der gemordeten Republik. Ungeheuer war die Wirkung dieser Rede in Paris, in Frankreich, im Auslande, und sie galt mit Recht nicht nur als ein Meisterstück politischer Beredsamkeit, sondern auch als ein Kriegsmanifest der wieder erstarkten republikanischen Partei gegen das Kaiserthum. Es konnte daher nicht fehlen, daß bei den allgemeinen Wahlen 1869 auch Gambetta von der radical gesinnten Partei als eine neue, Zukunft verheißende Kraft auf den Schild erhoben wurde. Paris und Marseille stritten sich um ihn; er nahm für Marseille an und statt seiner wählte Paris-Belleville den Laternenmann Henri Rochefort in die Kammer.

Diese Beiden bildeten in jener von der Regierung so gefürchteten Gruppe der unversöhnlichen Republikaner in der Kammer die enfants terribles. Aber Gambetta imponirte zugleich durch die seltene Begabung als Redner, durch die Reinheit seines Idealismus, durch die Wahrheit der Ueberzeugungen, die ihn erfüllte. Er war unbestritten jetzt der Führer der radicalen Partei, die auf den Zusammensturz des Kaiserreiches, wie auf den Losbruch eines schon nahenden Gewitters wartete.

In dem Augenblick, da Sedan das Grab des Kaiserthums geworden, nahm diese Partei denn auch die öffentliche Gewalt als eine berechtigte, seither ihr vorenthaltene Erbschaft in Besitz. Gambetta drängte in der ersten Verwirrung über die Schreckensnachricht von der Capitulation der letzten großen Armee im Felde am energievollsten zu dem Entschluß, die Republik zu proclamiren, die Dynastie Napoleon für abgesetzt zu erklären und eine provisorische Regierung zu bilden, welche die „nationale Vertheidigung“ als ihr vornehmstes Ziel betrachte. Am 4. September geschah es. Als ein Triumphator zog Gambetta mit den Abgeordneten der Opposition durch die Straßen von Paris umrauscht vom Zuruf einer sich dicht herandrängenden Menge, nach dem Stadthause. Zu der hier sogleich eingesetzten Regierung, die aus elf Abgeordneten erwählt wurde, gehörte auch er als Minister des Innern. Das Kaiserreich war nicht mehr, aber die Republik, die wiedererstanden, mußte im Feuer der Schlachten und Siege erst erstarken, und das bildete den neuen Ehrgeiz dieser leidenschaftlichen Natur.

Er dachte, um dies zu ermöglichen an die Massenaufgebote des französischen Volks unter der großen Revolution; er dachte noch lebhafter an die Kriegskunst des zum Präsidenten der amerikanischen Republik erhobenen General Graut. Ein Jahr zuvor erst, wie wenn eine Ahnung des Kommenden, ihm Beschiedenen, ihn dazu angeregt, hatte er in der „Revue Politique“ einen glänzenden Artikel über Ulysses Grant geschrieben, sowohl um ihn als einen großen Bürger der freien Republik wie auch als einen genialen Heerführer zu verherrlichen. Wenn man heute diese seine Schilderung von Grant’s Thaten liest, muß man nicht über sie stutzen, indem man an die Rolle Gambetta’s während des Krieges von 1870 denkt? Ist es nicht wie ein Programm dessen, was er wollte, nachdem er aus einem Advocaten der Schöpfer, Lenker und Leiter, der oberste Feldherr der nationalen Vertheidigung geworden? Und so mächtig muß das Selbstgefühl, die Energie, die Idee des jungen Advocaten auf seine Regierungscollegen gewirkt haben, daß sie ihm in der That die souveräne Macht eines Dictators für die Regierung und die nationale Vertheidigung in den Provinzen übertrugen. Mit diesem Decret in der Tasche, das ihn zum absoluten Herrn Frankreichs außerhalb Paris erhob, vertraute Gambetta sich am 7. October einem Luftballon an, der ihn hintragen konnte, er wußte nicht wohin, der ihn unter dem Aufschwung zu den stolzesten Hoffnungen jählings in den elendesten und gräßlichsten Tod konnte stürzen lassen. Solch eine Großthat persönlichen Muthes eröffnete die außerordentliche Laufbahn, die er nun als Retter des Vaterlandes sich selbst gebrochen.

Bei Montdidier kam Gambetta glücklich mit seinem Ballon zur Erde. Am 9. October war er in Tours, wo er nun seine Residenz, seine Regierung, sein Hauptquartier aufschlug. Von Paris aus hatte er eine Proclamation mitgebracht, welche seine Mission den Franzosen ankündigte; sie war von allen Pariser Regierungsmitgliedern mitunterzeichnet. Sogleich ließ er sie veröffentlichen. Er sprach hier mit den Feuerworten der Begeisterung, wie einst Danton, als er das Vaterland zu befreien schwur. „Das Erste von Allem ist, Franzosen,“ hieß es darin, „daß Ihr Euch jetzt durch keine andere Beschäftigung in Anspruch nehmen lasset, als durch den Krieg, den Kampf bis auf’s Messer… Alle unsere Hülfsmittel, die ungeheuer sind, müssen wir an das Werk setzen… und endlich den nationalen Krieg feierlich erklären… Erheben wir uns in Masse – –!“

Die Worte zündeten, und bald sah man, daß ihnen die Thaten folgten. Vier Tage nach seiner Ankunft in Tours erschienen schon die ersten Organisationsdecrete Gambetta’s; die herkömmliche Avancementsliste nach Maßgabe der Dienstzeit wurde aufgehoben und freie Beförderung der Officiere nach ihren Leistungen verheißen. Es folgten Bestimmungen über die Neubildung von Armeen in allen Provinzen, über die Fortschaffung der Lebensmittel, die den Feind ernähren könnten, über die Organisation des Volkskrieges, Aufhebung und Zerstörung der Verkehrsmittel beim Nahen des Feindes. Am 2. November wurden alle waffenfähigen Männer zwischen einundzwanzig und vierzig Jahren einberufen und damit die allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Arbeiterbataillone und Freischaaren wurden ihrer Organisation überwiesen, alle Ingenieure, Architekten, Beamten, je nach Bedarf, der Landesvertheidigung zur Verfügung gestellt und endlich große Lager an elf Orten in Frankreich angeordnet.

So wuchsen denn in Wahrheit unter der kriegerischen Erregung, die sein Wort und Anfeuern verbreitete, die neuen Armeecorps, die er decretirte, wie aus dem Boden. Aus den Trümmern der eben vor Orleans geschlagenen Corps erstand die Loire-Armee, die in sechs Wochen auf 180,000 Mann gebracht war

[17] 

Suleiman Pascha.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[18] und noch eine starke Artillerie- und Cavalleriemacht besaß. In derselben Zeit formirten sich die anderen der zwölf neuen Armeecorps, die er aufzustellen befohlen und welche zusammen nahe eine halbe Million Streiter mit 1400 Kanonen gezählt haben würden. Fast die Hälfte davon stand schon im November auch wirklich im Felde, gut und schlecht, sodaß seit Gambetta’s Herrschaft täglich 5000 Mann und 2 Batterien in die Reihen rückten. Fertig zumal war auch die Armee im Norden; Freischaarenmassen sammelten sich in den Vogesen und bei Dijon; schnell schritt auch die Anlage der großartig entworfenen Uebungslager an verschiedenen Punkten Frankreichs vor. So konnte Gambetta als Kriegsminister mit Stolz auf seine Leistungen blicken, und auch die erste Waffenthat seiner Legionen wurde durch ihre moralische Bedeutung wichtig. Die Loire-Armee unter General Aurelle de Paladines verdrängte die Baiern bei Coulmiers und nahm das verloren gegangene Orleans wieder in Besitz. Fehlte dem Siege auch ein kräftiger Nachstoß, so wußte Gambetta ihn doch klug auszubeuten, um durch den Hinweis auf einen Erfolg das Vertrauen des Volkes und der jungen Armeen zu heben. Gambetta trieb nun rastlos zu Thaten, zu Angriffen an und rieb sich fast auf in dem täglichen Kampf, den er deswegen mit den ihm zu bedächtigen Heerführern zu bestehen hatte. Nach ihm wäre von der Loire aus ein Siegesmarsch seiner Truppen bis nach Paris erfolgt, um hier die Deutschen zwischen zwei Feuer zu nehmen und zu vernichten.

Aber die dazu fähigen und willigen Generäle fehlten ihm. Es kam zu keinen Fortschritten im Felde, vielmehr ging Orleans unter einer schweren Niederlage wieder verloren und an eine Entsetzung von Paris war von der Loire aus nicht mehr zu denken.

Gambetta gab in seinem Zorn darüber dem General Aurelle die Entlassung und stellte neue Hoffnungen auf den jüngeren General Chanzy. Die Organisation ging unbeirrt weiter, aber das Glück der Waffen vermochte Gambetta mit all seinen Decreten, Kriegsgerichten und Schreckensmaßregeln die er jetzt verzweiflungsvoll aufbot, nicht an seine Fahnen zu locken; Unglück über Unglück zerstörte vielmehr alle seine Pläne, wie unerschöpflich er auch immer wieder neue ersann. Selbst Bourbaki, dessen Erscheinen vor Belfort allerdings einen Moment des Bangens in Deutschland – des einzigen in diesem Kriege – hervorrief, mußte in Elend nach der Schweiz flüchten; Garibaldi wurde lahm gelegt, Chanzy nach der Bretagne gedrängt, Faidherbe bei St. Quentin zurückgeschlagen, und Paris ergab sich endlich dem Sieger.

Trotzdem wollte Gambetta den Krieg fortsetzen. Er hatte neue Pläne; er wies jeden Kleinmuth zurück und hoffte noch, das Glück sich zu erzwingen. Aber die Pariser Regierung theilte sein Vertrauen nicht und schloß Frieden. Da rief er in einem neuen feurigen Manifest das Volk auf, bei den Wahlen zur Nationalversammlung nur Abgeordneten die Stimme zu geben, welche einen „so schändlichen Vertrag“ nicht billigen würden; sodann erließ er ein Decret, welches alle Anhänger Napoleon’s, wer sie auch immer seien, für verfehmt und unwählbar erklärte. Er war nahe daran, sich zum Dictator mit alleiniger Macht aufzuwerfen, doch er widerstand dieser Versuchung und legte am 6. Februar 1871 alle seine Gewalten nieder, nun wieder ein einfacher Bürger zu werden. Er hatte in der höchsten Noth seines Vaterlandes mit einer patriotischen Energie gehandelt, die ihn damals über Alle erhob, und nach Aufbietung des Aeußersten konnte er sagen, daß er Unmögliches zwar nicht möglich zu machen vermocht, aber als ein wahrhaft „glorreicher Besiegter“, anders glorreich als der von Sedan, in die Einfachheit des Privatlebens zurückgekehrt sei.

Kein Geringerer, als ein hervorragender preußischer Militär, Freiherr Colmax von der Goltz ist es, der in seinem Buche „Léon Gambetta und seine Armeen“ demselben als Organisator und als schöpferische Genialität eine gerechte Anerkennung gezollt hat, und dieser Autorität folgten wir in der obigen Darstellung der kriegerischen Bestrebungen des tapferen Volksmannes.

Als Abgeordneter zur Nationalversammlung fiel ihm vor Allem die Aufgabe zu, die Republik gegen ihre royalistischen Gegner und clericalen Intriguanten zu schützen; denn er war jetzt das anerkannte Haupt der demokratisch-republikanischen Partei. In all den Kämpfen, welche um Sein oder Nichtsein und um die neue Verfassung der Republik geführt wurden, warf er sein gewichtiges Wort in die Wagschale. Sein Ansehen wuchs dabei durch die kluge Zurückhaltung, die er als echter Parteiführer bewies, durch die staatsmännische Mäßigung, welche er seiner eigenen Leidenschaftlichkeit anlegte und die er den Radicalen offen predigte, um die Demokratie regierungsfähiger zu machen und sie durch Ueberwindung revolutionärer Neigungen im Vertrauen des Volkes erstarken zu lassen.

In solcher Weise stützte er Thiers, nachdem dieser sich zur conservativen Republik bekannt und deren Präsident geworden war. Von dem Momente an jedoch, daß Mac Mahon in Folge royalistischer und clericaler Intriguen an seine Stelle getreten, stand Gambetta auf Wache gegen all die verkappten Gegner der Republik hinter dem „ehrlichen Soldaten“, aus dem sie sich das Werkzeug ihrer Umsturzpläne machen wollten. Er sah vor Allem in dem Ultramontanismus den Feind, den man rücksichtslos bekämpfen müsse. Spreizte sich dieser doch jetzt unter der Sonne des Mac Mahon’schen Regiments mit herausfordernder Vermessenheit; machte er doch Frankreich zu einer Domaine seines jesuitischen Treibens, riß das Schulwesen bis zu den Universitäten an sich, verhöhnte offen im Cultus des Aberglaubens den Geist gesitteter Bildung, wühlte im Volke und in der Camarilla des naivsten aller Staatsoberhäupter für einen Krieg gegen Italien und für die Wiederherstellung der weltlichen Papstherrschaft. Da riß Gambetta in der glänzendsten aller seiner Reden am 4. Mai 1877 diesem Treiben der Jesuiten und der von ihnen gewonnenen französischen Bischöfe die Maske ab. Mit einer Wucht von trefflichen Gedanken fuhr er in die schwarze Verschwörung und rüttelte die Geister zur Gegenwehr gegen diese Gefahr auf. „Los von Rom kommen! Feindschaft dem ultramontanen Pfaffenthum!“ Mit dieser Parole sammelte er in Frankreich Alle um sich, die dem schleichenden Jesuitismus nicht die Errungenschaften der Bildung unserer Zeit ausgeliefert wissen wollten. Wieder einmal hatte er das befreiende Wort gesprochen, für das ihn enthusiastischer Beifall von Millionen seines Volkes lohnte, mit dem seine Partei und auch die große Mehrheit der Nationalversammlung ihm folgten, entschlossen zur That.

Lediglich aus Erbitterung hierüber geschah es, daß Mac Mahon, von den Römlingen aufgehetzt, nun mit dieser Mehrheit brach, das Ministerium Simon zum Rücktritte zwang, die Kammern auflöste und mit dem Ministerium Broglie-Fourtou jene nach Staatsstreich riechende Vergewaltigungspolitik einschlug, die sich bekanntlich als die des 16. Mai berüchtigt gemacht hat.

Nachdem Mac Mahon derart der republikanischen Partei den Krieg erklärt und das Land aufgerufen, zwischen ihr und ihm, dem „soldat de Dieu“ zu wählen, trat Gambetta von Neuem als ein Organisator auf, diesmal nun alle republikanischen Elemente als einen Wall gegen die jesuitische Reaction zu festigen. Er proclamirte mit seinen anderen Gesinnungsgenossen als Programm der Opposition die Wiederwahl der republikanischen Abgeordneten in der aufgelösten Kammer; er legte in seinem Journale „Republique française“ die Ränke der neuen Minister dar; er hob den alten Thiers nochmals als das Haupt der republikanischen Partei auf den Schild und erklärte ihn förmlich für den Nachfolger Mac Mahon’s, der abdanken müsse, falls er sich dem republikanischen Votum des Landes nicht unterwerfen wolle. Der große Besiegte von Wörth und Sedan antwortete darauf mit den in jenen Schlachten nicht gedachten Worten: J’y suis; j’y reste — hier bin ich obenauf und bleibe es — und mit der gerichtlichen Verfolgung Gambetta’s wegen Höchstihm angethaner Beleidigung. Die Pariser Gerichte beeilten sich auch, Gambetta, der sich darauf zu vertheidigen verschmähte, zu zweimal drei Monat Gefängniß zu verurtheilen. Sein Triumph jedoch war größer, insofern die neuen Wahlen in der That der republikanischen Partei trotz aller Maßregeln und Einschüchterungen der Broglie-Fourtou’schen Regierung fast die alte Mehrheit in der neuen Kammer verschafften und Gambetta damit, zwar nur ein Parteihaupt, als Sieger über den Marschall-Präsidenten hervorging. —

Selbst der schwere Schlag, welcher gerade im entscheidenden Augenblicke der Wahlen die Republikaner durch den Tod des alten Thiers traf, vermochte einen Mann wie Gambetta nicht vom festbestimmten Wege nach seinem Ziele abzulenken. Sofort trat er für Grevy, seinen entschiedensten Kampfgenossen, auf und siegte. Die diesem Wahlsiege folgenden Zeiten des republikanischen Widerstandes gegen die ultramontanen Umtriebe unter der [19] Schleppe des Mac Mahon’schen Ehepaares übergehen wir. Der zwölfte December hat den sechszehnten Mai gerächt. „Die persönliche Regierung“ — sagt die „Magdeburger Zeitung“ am Tage des Triumphs sehr richtig — „welche sich kein civilisirter Staat, kein selbstbewußtes Volk heute mehr gefallen läßt, hat in Frankreich in ihrem obersten Vertreter den Todesstreich empfangen, und dieser Schlag hat den Clericalismus, die Landplage des modernen Europa, hundertmal empfindlicher getroffen, als der Verlust, der ihm stündlich, wie es scheint, im Vatican bevorsteht.“ — Und Gambetta, ist er mit dem Siege zufrieden? Diese Frage ist wirklich an ihn gestellt worden, und er antwortete so: „Wie sollte ich nicht zufrieden sein, da ich eine so leidige Krisis so glücklich endigen sehe? Dies ist der erste von der Legislative über die Umtriebe der persönlichen Gewalt ohne Revolution, ohne Emeute, ohne Wirrungen davongetragene Sieg. Das ist eine neue Thatsache in unserer Geschichte und gereicht den demokratischen Einrichtungen zur Ehre.“

Bei einer solchen Vergangenheit, wie sie Gambetta im Kampfe gegen den Cäsarismus für die demokratische Republik, im Kampfe „bis auf’s Messer“ für sein Vaterland, im Kampfe gegen das römische Pfaffenthum für die Freiheit des gebildeten Geistes aufzuweisen hat, bei einer solchen Gegenwart, die ihn als den staatsmännischsten und begabtesten Republikaner Frankreichs, als anerkannten Führer seiner Partei sichtbar macht — kann man da nicht glauben, ihm erschließe sich noch eine glänzende und geschichtlich bedeutende Zukunft? Wer, der Frankreichs inneren Frieden, die Beschwichtigung seiner Parteileidenschaften unter einer Republik der Ordnung und Freiheit, seine ruhige Entwickelung lauernden Prätendenten zum Trotze wünscht, stände mit seinen Sympathien nicht auf Seite des Volkstribunen und seiner Getreuen? Ueber nationale Befangenheiten hinaus wird jeder freisinnige Mann in Gambetta den Patrioten und den Streiter für die hohen Güter der Menschheit würdigen; denn solche geistigen Größen kommen allen Nationen zu Gute, mögen sie sonst für oder wider einander sein.

Schmidt-Weißenfels.


Blätter und Blüthen.

Suleiman Pascha. (Mit Abbildung S. 17.) Ueber diesen General, der in den letzten Tagen zum Oberbefehlshaber in Rumelien erhoben wurde, lauten die öffentlichen Urtheile so verschieden, wie über die meisten übrigen Feldherren der Pforte. Von seiner Vergangenheit weiß man, daß er längere Zeit in europäischen Hauptstädten und dann in Provinzial-Garnisonen gelebt, bis man, auf seine Kenntnisse aufmerksam geworden, ihn zum Lehrer und später zum Director der Militärschule in Constantinopel beförderte. Dies geschah unter dem Sultan Abdul Aziz. An der Palastrevolution, welche die Beseitigung desselben ausführte, nahm Suleiman wesentlichen Antheil. Er holte in der Nacht der Gewaltthat den Prinzen Murad aus seinem Zimmer und brachte ihn zu dem Wagen, in welchem er von Hussein Avni in Empfang genommen und zum Seraskierat begleitet wurde. Die Belohnung für diese Mitwirkung zum Thronwechsel soll seine Erhebung zum Divisionsgeneral gewesen sein. Als solcher übernahm er gemeinsam mit Mehemed Ali Pascha die Führung der Truppen gegen die Montenegriner; ihm gelang die sehr schwierige Verproviantirung der hart bedrängten Festung Riksitsch; auch seine sonstigen Unternehmungen gegen Montenegro waren von Erfolg, sodaß man den Zweck beider Generale dort erreicht sah und beiden nun ihren Kräften angemessenere Kampffelder eröffnete, indem man Suleiman Pascha an die Spitze einer Armee stellte, welche über die Balkanpässe sich mit der Donau-Armee verbinden sollte, zu deren Führer zu gleicher Zeit Mehemed Ali an die Stelle des abberufenen Abdul Kerim Pascha erhoben wurde.

Dieser Wandel im Obercommando war die Folge des Ueberganges der Russen über die Donau und ihres Vordringens über den unbewachten Balkan und bis gegen Adrianopel hin. Während Mehemed Ali von Constantinopel aus zur See nach Bulgarien eilte, ging Suleiman gegen die Russen vor. Mit seinen im Kampf erprobten und gehärteten Truppen konnte er Marschleistungen wagen, die geradezu wunderbar genannt worden sind; er schlug die Russen nicht nur zurück, sondern verfolgte sie in den Schipkapaß und setzte sich mit Mehemed Ali’s Armee in Fühlung. Bis hierher ist sein Lob ein allgemeines. Am Schipkapaß zersplittert es. Die Kampfart, die sich kaum gegen die Montenegriner bewährt hatte, den rücksichtslosen Sturm, wandte er gegen einen Feind an, der ihm mit trefflicher Artillerie gegenüberstand. Daher der ungeheuere Menschenverlust, der ihn zwei Drittel seiner Armee kostete ohne nennenswerten Fortschritt dafür. Es war dieselbe blinde Menschenschlächterei, wie die russische Heeresleitung sie vor Plewna aufführte. Vom 21. August bis 5. September rechnet man ihm 15,000 Verwundete und 5000 Todte nach. Die Verwundeten lagen tausendweise ohne Pflege umher. Suleiman selbst gestand einmal: „Wenn nicht die Aerzte vom Stafford-Hause gewesen wären, so hätte ich meine Verwundeten erschießen lassen müssen.“ Dennoch scheint er im Schipkapaß nur den Befehlen des bekannten Constantinopolitanischen „Hofkriegsraths“ gehorcht zu haben, denn trotz der Klagen Mehemed Ali’s gegen ihn geschah das für alle Welt Ueberraschendste: Mehemed Ali, der ihn vergeblich aufgefordert hatte, zu ihm zu stoßen, um mit ihm gemeinsam die Russen anzugreifen, wurde plötzlich, Anfang October, des Obercommandos in Bulgarien entsetzt und Suleiman Pascha zu seinem Nachfolger ernannt. Man soll in Constantinopel mit der „Cunctator-Strategie“ Mehemed Ali’s unzufrieden gewesen sein; er erhielt das Commando über die sogenannte Sofia-Armee.

Suleiman schlug sein Hauptquartier erst in Rasgrad, dann an vielen anderen Orten auf, telegraphirte endlos über Recognoscirungen und Vorpostengefechte und ließ in Bulgarien genau wie sein Vorgänger auf die großen Thaten warten, die namentlich in der Befreiung Plewnas, eines ausgezeichneten Generals und einer tüchtigen Armee aus der eisernen russischen Umarmung gipfeln sollten. Osman Pascha blickte jedoch vergeblich auf seinen Wällen nach Ost und West. Die Witterung, die grundlosen Wege mochten viel Schuld an der langsamen Kriegführung Suleiman’s tragen; dennoch ging bereits das Gerücht seiner Ersetzung im Commando durch Ferif Fazly – da kam ihm der Sieg bei Helena (4. December) zu Hülfe, und schon glaubte man die Russen an ihrer gefährlichsten Seite bedroht, zwischen Tirnowa und dem Schipkapaß, als der Fall von Plewna einen Abschnitt in die Geschichte dieses russisch-türkischen Krieges und der Feldherrn-Laufbahn des Suleiman Pascha brachte. So fest und hoch steht er im Vertrauen des Sultans, daß ihm nicht nur der höchste Orden des Reichs verliehen, sondern auch die wichtigste militärische Stellung bei der nothwendigen Neugestaltung des Kriegs angewiesen wurde. Denn da man das Hauptgewicht jetzt auf die Vertheidigung der Balkanpässe und Rumeliens zum Schutz von Adrianopel und Constantinopel zu legen scheint, so hat Suleiman Pascha in diesen Tagen hier den Oberbefehl erhalten. Demnach ist dieser unselige Krieg nicht zu Ende.


Der letzte Brief eines Unglücklichen. Aus einer österreichischen Stadt, deren Namen wir vorläufig noch nicht nennen, geht uns nachstehender Brief zu, den wir hiermit auf Wunsch des Einsenders veröffentlichen:

„Geehrter Herr Redacteur! Diese Zeilen kommen von einem Manne, welcher, wenn selbe von Ihnen gelesen werden, nicht mehr unter den Lebenden ist; sie sind gleichsam meine letzte Arbeit, weshalb auch nicht Egoismus, Hülfebedürftigkeit oder Rache mir die Feder führt. Diese Zeilen sollen einzig und allein eine Warnung und für jene Männer, welche bei uns in Oesterreich Gesetze machen, ein Fingerzeig sein, ob nicht etwa einer furchtbaren Epidemie Einhalt gethan werden kann, die vor mir schon Hunderte in’s Elend und in die Arme des Todes gejagt hat und nach mir wohl noch Hunderte dazu drängen wird. Ich bin Beamter einer großen Unternehmung, diene siebenzehn Jahre und habe Frau und Kinder; Letztere sind nothdürftig versorgt, und ich bin überzeugt, daß sie ihre Mutter ebenso nothdürftig erhalten werden. Eine lange Krankheit meiner Frau brachte mich dahin, bei meinem nicht hohen Gehalte Schulden zu contrahiren; weil ich Niemanden hatte, dessen Hülfe ich in Anspruch nehmen konnte, mußte ich mich an Wucherer wenden. Anfänglich waren es Leichenkosten für ein mir verstorbenes Kind, 50 Gulden gegen einen Wechsel; dann stieg die Schuld immer höher, weil ich monatlich 8 Gulden Zinsen zahlen mußte; nun fiel ich in Hände, die nicht gegen Wechsel, sondern gegen Schuldschein borgen. Diesen Leuten giebt man Schuldscheine, in denen man sich verpflichtet, ihnen 10% per Monat für das geliehene Capital zu zahlen, auch in jenem Falle, wenn man gerichtlich eingeklagt wird und die zu beziehende Gage mit Beschlag belegt werden kann. Solche Schuldscheine werden sammt den Zinsen von der Behörde anerkannt, und diese hohen Zinsen zum Capital geschlagen. Ich wurde nun vier solchen Geldgebern binnen sieben Jahren 1800 Gulden schuldig, sodaß ich jährlich 2160 Gulden Zinsen zahlen sollte, ohne daß 1 Kreuzer vom Capitale abgezahlt wäre. Da ich nur einen Gehalt von 1200 Gulden habe, so kann ich unmöglich die Zinsen, vielweniger das Capital je im Leben zurückzahlen, und ich würde, wenn man mir meine Gage beispielsweise zehn Jahre abzieht, nach zehn Jahren eine horrende Summe, das heißt viel mehr schulden als ich zur Zeit der Klage schuldig war. Dieses unmögliche arithmetische Räthsel wird vom Gesetze anerkannt und durchgeführt.

Nun besteht bei uns in Oesterreich ein Gesetz, welches vorschreibt, daß jenen Beamten, welche ein fixes Gehalt haben und Schulden halber verklagt werden, unbedingt 600 Gulden bleiben müssen, und ich wäre glücklich gewesen und hätte, nachdem die Kinder halb versorgt waren, mit meiner armen Frau fortleben können – da wurde ich wegen Lähmung des rechten Armes (was Euer Wohlgeboren aus meiner Schrift ersehen werden), hauptsächlich aber wegen der besagten Schulden pensionirt. Es besteht aber für Pensionisten kein Gesetz mit obiger Wohlthat, und von demselben Tage an, an dem ich pensionirt, beziehen die Gläubiger die ganzen Bezüge, und ich, der ich nun unfähig bin, mir anderweitig mein Brod zu verdienen, müßte als Pfründner einer kleinen Gemeinde zur Last fallen und täglich in einem anderen Bauernhause das Mitleid anflehen, denn ich bin alt und krank.

Begreifen Sie nun, hochgeehrter Herr Redacteur, wie namenlos unglücklich ich bin, und wie mir nur der eine Weg des Selbstmordes übrig bleibt? Gott verzeihe mir! Mein armes Weib! Meine armen Kinder!

Wenn Sie, hochgeehrter Herr Redacteur, diese Zeilen erhalten, liege ich bereits in einer Schlucht unserer Alpen, wo ich sicher Ruhe vor meinen herzlosen Gläubigern, denen Gott verzeihen wolle, haben werde.

Ich bin im Augenblicke ein dem Tode Ausgesetzter; ich nenne keinen

[20] Namen und auch den meinen nicht, um Niemandem in meinen letzten Stunden zu schaden und meiner Familie die Schande zu ersparen; mein einziger Trost ist der, daß vielleicht durch gütige Veröffentlichung dieser Zeilen in Ihrem Weltblatte dieses traurige Gesetz geändert und nach mir keiner mehr durch dasselbe zur Verzweiflung getrieben wird.

     Mit größter Hochachtung

Ein Unglücklicher.


Der Watte-Respirator. Es ist in neuerer Zeit mit ziemlicher Sicherheit festgestellt worden, daß viele, ja vielleicht alle epidemischen Krankheiten durch das Einathmen von zeitweilig in der Luft schwebenden vegetabilischen oder animalischen Organismen veranlaßt werden. Die Natur dieser mikroskopisch kleinen Körper ist bis jetzt noch ein Geheimniß. Aehnliches liegt bei Lungenerkrankungen, Blei- und Arsenikvergiftungen vor, da bekanntlich auch diese krankhaften Zustände oft durch das Einathmen des mineralischen Staubes und anderer von pflanzlichen oder animalischen Stoffen herrührender mikroskopischer Beimengungen entstehen.

Die Frage, wie auf die leichteste, einfachste und sicherste Weise diesem großen Uebelstande abgeholfen werden könne, ist nun ein wahres Ei des Columbus. Annähernd gelöst wird sie aber durch den von Dr. Wolf in Frankenstein (Schlesien) in der „Allgemeinen medicinischen Zeitung“ in Vorschlag gebrachten Watte- oder Baumwolle-Respirator. Da dieser in Sar’s medicinischem Almanach vom Jahre 1878 im Auszuge gebrachte Aufsatz seiner Wichtigkeit wegen in den weitesten Kreisen bekannt zu werden verdient und dieser Zweck durch keine Zeitschrift besser erfüllt werden kann, als durch die „Gartenlaube“, so erlaubt sich der Unterzeichnete, den kleinen Aufsatz hier zu reproduciren.

Der „Watte-Respirator“ des Dr. Wolf bewährt sich zur Abhaltung von schädlichen Beimengungen der Atmosphäre, insbesondere für Fabrikarbeiter, außerordentlich. Er bewirkt vollständige Reinhaltung der Nase, des Mundes, des Schlundes und der benachbarten Schleimhäute. Der Speichel, welcher in Fabriken durch den fortwährend in der Luft befindlichen Mineral- und ähnlichen Staub, ohne Anlegen eines Luftfiltrums, schon in der ersten Viertelstunde der Arbeitszeit gefärbt, zähe und verunreinigt erscheint, bleibt bei Anwendung des Watte-Respirators rein und normal, wogegen eine dichte Ablagerung der Staubtheilchen sich auf der mit einem Gazestückchen bedeckten Außenfläche der Watte zeigt, welche letztere sehr leicht durch ein anderes Stück ersetzt werden kann, sobald sie nicht mehr durchlässig ist. Der Wolf’sche Watte-Respirator muß daher als eine sehr wohlthätige Erfindung bezeichnet werden, welche bei staubigen Arbeiten allgemein angewendet werden sollte, um den Arbeiter vor vielen Unbehaglichkeiten und Krankheiten zu schützen. Die Einfachheit der Behandlung des Instrumentes ist geeignet, die Einführung desselben sehr zu erleichtern, umsomehr als der Preis desselben vom Erfinder sehr niedrig (80 Pf.) gestellt worden ist.

Watte-Respirator.

Uebrigens kann sich Jeder selbst sehr leicht ein solches Instrument verfertigen. Man nimmt ein Stückchen dünner Pappe, etwa nach beistehender Zeichnung ausgeschnitten, und biegt es nach Form des Unterkiefers. Die Größe dieses so gebogenen Pappendeckels sei eine solche, daß der Mund und der untere Theil der Nase bequem hineinpaßt. An die convexe Fläche wird ein Stück nach oben gewölbartig eingenähten oder eingeklebten und an den Bändern eingesäumten oder blos mit Gummi geklebten Flor- oder Gazestoffes angeklebt, und dieses Florstück auf der Concavseite ganz mit Watte oder Baumwolle nicht zu dick aufgefüllt. Das so construirte Instrument wird mittelst zweier Bändchen, welche man zuvor zu beiden Seiten des ausgeschnittenen Pappendeckels, wie die Figur zeigt, angebracht hat, an den Ohrmuscheln befestigt.

Und nun beherzige man die Mahnung: „sich nicht zu geniren“, das Instrument anzulegen, so lange man sich an Orten aufhält, wo die Luft, wie dies in Fabriken und Hüttenwerken nur zu häufig der Fall ist, durch schädliche mineralische Stoffe verunreinigt ist, oder, was nicht minder wichtig ist, sobald man in ein Zimmer geht, in dem Menschen mit ansteckenden Krankheiten liegen, oder wenn gefährliche Epidemien herrschen. Auf die Verwendung dieses Instrumentes in letzterer Beziehung möchte der Unterzeichnete ganz besonders aufmerksam machen, da dies im angeführten Aufsatze leider nicht geschehen ist.

Zu bemerken ist noch, daß das Athmen durch einen solchen Watte-Respirator nicht im geringsten beeinträchtigt oder erschwert wird. Der allgemeinen Anwendung dieses wahrhaft heilsamen Vorbeugungsmittels steht nur ein freilich sehr großes Hinderniß entgegen, und dieses ist die leidige Gêne (es giebt leider für diesen Ausdruck kein völlig bezeichnendes deutsches Wort) des larvenartigen Aussehens wegen, welches der Watte-Respirator allerdings hat. Doch wo es sich ernstlich um die Sicherstellung von Gesundheit und Leben handelt, sollte man sich füglicher Weise nicht geniren. In Fabriken aber, besonders in Hüttenwerken, sollte das Tragen eines solchen Respirators ein streng zu beobachtendes Gebot von Seiten der Gesundheitspolizei und des Fabrikherrn sein.

Als schlagender Beweis, daß die Baumwolle im Stande ist, auch den kleinsten in der Luft schwebenden mikroskopischen Organismen mittelst eines derartigen Watte-Respirators den Zutritt zu den Athmungswerkzeugen unmöglich zu machen, dienen die sehr interessanten Experimente, die man gemacht hat, um darzuthun, daß ohne den Zutritt der mit solchen Organismen erfüllten atmosphärischen Luft, in dem destillirten, abgekochten Wasser keine Infusorienbildung stattfindet.

Dr. E. Hlawacek.


Slade’s Ehrenrettung. Die Aufdeckung der Slade’schen Taschenspielereien vor dem Forum des gesunden Menschenverstandes rief, wie das vorauszusehen war, einen Sturm der Entrüstung im spiritistischen Lager hervor. L[...], der Impresario des amerikanischen Cagliostro, übergoß mich mit einer Spritzfluth von Schmähungen; Graf Poninski bewies dem Publicum mit Eifer, daß sein Glaube stärker sei als sein Verstand, und Herr Gregor Constantin Wittig warf mir als Fehdehandschuh eine Broschüre in der Stärke von zwei Druckbogen vor die Füße. Ja, um der Herausforderung noch mehr Wucht und Nachdruck zu verleihen, legte er die Broschüre noch einmal auf und druckte derselben die Urkunde des Taschenspielers Samuel Bellachini bei, laut welcher dem Taschenspieler Slade die Eigenschaften eines Mediums feierlichst zuerkannt werden.

Wollte ich alle diese Fehdehandschuhe auch willig aufnehmen, so fragt es sich, ob der freundliche Leser Freude hätte an solch nutzlosem Turnier, und ferner zweifle ich, ob der Leiter der „Gartenlaube“ die Spalten seines Blattes um der Kampflust spiritistischer Glaubensritter willen als Tummelplatz herleihen würde.

Ich will daher nur in Kürze Folgendes erwähnen: Abgesehen davon, daß der Physiker Böttcher, ein Mann von schwerwiegender Bedeutung auf dem Gebiete der „natürlichen Magie“, meine Ausführungen uneingeschränkt bestätigte und Slade öffentlich als Gaukler entlarvte, abgesehen davon, daß Samuel Bellachini’s Geschäftsführer mir vor Zeugen zugestand, sein Meister sei nicht durch Slade’s Taschenspielerkünste getäuscht worden, und daß er meinen Einwurf: „So hat ihn seine Servilität gegen mystisch angeflogene Aristokratenkreise zur Unterzeichnung dieser lächerlichen Urkunde bewogen,“ schweigend hinnahm, abgesehen davon endlich, daß Slade in London des Betruges überführt und von dem Gerichte als Betrüger verurtheilt wurde, frage ich: was wäre damit gewonnen, wenn ein Geist in schlechter Schrift irgend welchen Unsinn auf eine irdische Tafel zu schreiben vermöchte? Hätte der Taschenspieler Slade aber irgend eine bis heute unbekannte und ungeahnte Kraft entdeckt, nun, so würde er es jedenfalls machen wie andere ehrliche Menschen und würde sagen: Kommt, laßt uns nach den Ursachen der Erscheinung, nach dem Wesen und Zwecke derselben forschen! Statt dessen hüllt er seine gemeinen Künste in ein mystisches Dunkel und erklärt sie für die Kundgebungen überirdischer Wesen, die er als Spirits bezeichnet und von denen nach seiner Ansicht die meisten katholischer Confession sind.

Welche Blüthen aber solche übernatürliche Betrachtungen und Beschäftigungen zu treiben vermögen, beweist uns ein Wiesbadener Gymnasiallehrer, Namens Wiese. Dieser Spiritist, welcher die Jugend dem Lichte der Erkenntniß entgegenführen soll, erzählt in Atsakow’s „Psychischen Studien“ ganz ernsthaft, daß er bei einer Sitzung im Dunklen von einer Geisterhand derart gezwickt, am Schnurrbarte gerissen und durch Einbohren des scharfen Nagels der Geisterhand gepeinigt worden sei, daß er dringend um Nachlaß gefleht habe. Triumphirend erzählt er weiter, daß man an seiner Hand noch lange nachher den rothen Eindruck des scharfen Geisterfingernagels habe sehen können. Später überzeugten sich die Wiesbadener Spiritisten dadurch, daß eine Dame im Dunklen aus der Kette gerissen wurde, von dem seltsamen Umstande, daß die Geisterhand einen wollenen Aermel, der Geist also einen Rock trug. Und all diese Entdeckungen bewiesen in den Augen des Lehrers Wiese nichts weiter, als die unumstößliche Gewißheit, daß es mediumistische Kräfte gebe, welche Geister – wenn auch nur unwissende – zu citiren vermögen.

Ich bin fest überzeugt, wenn der Schalk, welcher in Wiesbaden die Rolle des Geistes spielt, die ganze Spiritistengesellschaft durchprügelt, so verkündet Herr Wiese frohlockend der Welt: Die Naturwissenschaften existiren nicht mehr, denn mir ist von Geisterhand eine Tracht Prügel zu Theil geworden. Die gläubige Spiritistengemeinde läßt in diesem Falle die erhebende Thatsache zuverlässig durch eine notarielle Urkunde feststellen.

R. Elcho.


Wieder eine praktische Erfindung von einem Deutschen in Amerika. Wilhelm Bohrer, ein namhafter Clavierlehrer in Montreal (Canada), hat einen „automatischen Clavierhandleiter“ erfunden und nach den Zeugnissen aller derjenigen Musik-Conservatorien und Clavier-Autoritäten, welchen er das Modell vorgezeigt hat, nicht nur dem Schüler, sondern auch dem Lehrer einen großen Dienst damit erwiesen. „Automatisch“ nennt der Erfinder seinen Handleiter, weil derselbe vollständig und unablässig das Spiel des Schülers überwacht und bei fehlerhaftem Daumenuntersetzen, schlechter Handhabung etc. das Spiel sofort unterbricht.

Diese immerwährende Controle, welche bis jetzt zu den peinlichsten Aufgaben des Clavierlehrers zählte und nur für die Dauer der Lection möglich war, wenn nicht die Geduld des Unterrichtenden schon vor Ablauf einer solchen Marterstunde sich erschöpft hatte, dehnt der „automatische Clavierhandleiter“ auch auf die Zeit des Selbst- und Alleinübens aus und übernimmt somit gewissermaßen die Stelle des abwesenden Lehrers. Daraus ergiebt sich von selbst, daß der Schüler durch seine auf diese Art immer rege gehaltene Aufmerksamkeit an einem Sichgehenlassen und an gedankenlosem Ableiern des ihm aufgegebenen Pensums verhindert wird, die elementaren Vorbedingungen zu einem guten Spiel am schnellsten sich erwirbt und also viel nutzlose Vergeudung an Zeit, Mühe und Verdruß, welcher überdies sehr oft zum Ueberdruß führt, sich erspart. (Eine Broschüre, betitelt „Zweck und Gebrauch des Bohrer’schen automatischen Handleiters“, ist bei J. Aibl in München erschienen.)


Kleiner Briefkasten.

M. D. in St. Ein authentisches Portrait von Osman Pascha existirt überhaupt noch nicht. Erst während der Belagerung von Plewna ist es einem Deutschen gelungen, den berühmten Feldherrn zu bewegen, sich photographisch aufnehmen zu lassen, dieses einzig portraitähnliche Bildniß ist bisher aber noch nicht veröffentlicht worden.


  1. Verf. von „Schuster Lange“.                         
    D. Red.
  2. Als ich W. H. Riehl, den bekannten Culturhistoriker, einmal fragte, warum er in seinem Pfälzer Buche nicht der „Böhämmer“ gedacht habe, ging seine Antwort dahin: man würde glauben, er wolle den Leuten etwas aufbinden.
    Der Verf.
  3. Gute „Vogeljahre“ sind auch fast immer gute Weinjahre – in Bergzabern.