Die Gartenlaube (1884)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[141]

No. 9.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Frieda hatte Besuch von ihrer Schwester Lili, einer kleinen brünetten Dame, nicht so hübsch wie die junge Frau; aber sie konnte so herzhaft lachen, und sie verstand es noch besser als Frieda, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen.

Frau von Ratenow behauptete, sie sei ein neumodischer Flederwisch, und es sei gut, daß sie sich mit Annie Cramm angefreundet hätte, es wäre ein ganz passendes Gespann. Aber trotz der vielen Zerstreuungen, welche die Damen vorhatten, Fräulein Lili fand sich immer zur Theestunde bei der „lieben, reizenden“ Frau von Ratenow ein; sie hatte so gern alte Damen und Herren, zu gern, und sie würde sich nie in so einen Jungen verlieben können. Die Männer so um die Fünfzig herum, die seien ihr die liebsten, und wie interessant für eine junge Frau, einen alten Mann zu haben! Es war sehr drollig, wenn sie so etwas vortrug; auch Frau von Ratenow hatte wider Willen lachen müssen:

„Er muß aber viel Geld haben, Lili, wie?“

„Natürlich, liebstes, bestes Tantchen; entweder viel Geld, oder er muß mindestens Excellenz sein, commandirender General oder dem Aehnliches.“

Und der Bennewitzer kam so unendlich oft jetzt, und Tante Ratenow war entzückter als je von ihm. „Else, er ist ein hochanständiger Charakter!“ – Und Frieda hatte stets ein süßes Lächeln für ihn und Lili schlug die Augen mit den langen Wimpern noch einmal so langsam und schwer auf, wenn sie mit ihm sprach. Es war ein förmliches Wettrennen, wenn sein mit Rappen bespannter eleganter Wagen in den Hof rollte. Tante Ratenow ging ihm würdevoll bis auf den Flur entgegen, und Frieda stand schon mit Lili auf der Treppe, und Herr von Hegebach kam allen Ernstes in Verlegenheit, weil er nicht wußte, ob er in das lauschige Boudoir der jungen Frau oder in Tante Ratenow’s ehrwürdiges Zimmer treten sollte; jedenfalls aber zog er die Gesellschaft ganz vollzählig nach, er mochte seine Schritte nach links oder rechts lenken.

Und Else stand scheinbar außerhalb dieses Kreises, und dennoch wußte sie unleugbar, daß sie immer mehr und mehr in den Mittelpunkt gedrängt wurde. Immer und immer wieder suchte sie jede Handbreit des mit Gewalt ihr abgezwungenen Terrains wieder zu gewinnen; unbewußt hingen ihre Augen wie um Erbarmen flehend an dem energischen Antlitze der Tante; immer und immer zog sich ihr junges Herz wie das eines erschreckten Kindes vor dem Blicke zweier dunkler Männeraugen zurück, und immer weiter verlor sie einen Fußbreit ihres sicheren Bodens nach dem andern.

Heute früh hatte ein herrliches Bouquet auf ihrem Geburtstagstische gestanden in Tante Ratenow’s Stube, und die große Visitenkarte daran nannte den Geber; auch ein Brief von Tante Lott, der guten alten Tante Lott, war da. Moritz hatte ihr die Hand gedrückt und eine hübsche Briefmappe aus rothem Juchten gebracht, und dann hatten die Kinder jubelnd an ihr gehangen. Lili und Frieda waren auch erschienen, Letztere mit allerhand Schleifen und sonstigem „Takelzeuge“, wie Tante Ratenow es nannte, und ein blaßblaues Schleifchen hatte die alte Dame ihr wieder zurückgegeben mit der Bemerkung, die sei wohl nur aus Versehen darunter gekommen und stamme jedenfalls aus Frieda’s Toilettentisch, wie die Nadel beweise, die noch daran stecke.

Ach, und Else war so müde; es war ihr ganz egal, ob Frieda ihre alten Sachen mit einschmuggeln wollte; sie war ja doch ein armes Mädchen, und warum sollte sie da nicht abgelegte Schleifen tragen? Sie hatte für diesen „süßen Unsinn des Lebens“, wie Moritz die kostbaren Tändeleien seiner schönen Frau zu nennen beliebte, kein Geld; es war ja am Ende nur natürlich; Frieda meinte es nicht böse. – Ach, wenn man weiter nichts von ihr verlangt hätte!

Tante Ratenow hatte ihr heute früh erzählt von ihrem Geburtstage und wie traurig das Alles gewesen, wie seit jener Zeit der Papa ein finsterer einsamer Mann geworden, und daß sie ihm gesagt: das Kind werde noch ein Segen werden für ihn, ein großer Segen.

„Und das liegt in Deiner Hand, Else!“ hatte sie hinzugefügt.

Das junge Mädchen auf dem stillen Gottesacker erhob sich plötzlich; es war wieder das eisige entsetzliche Gefühl über sie gekommen. Hastig schritt sie den Weg entlang; sie sah nicht, wie die Sonne so golden schien, wie ihre Strahlen in den Tröpfchen funkelten, die an den zarten Blättern der Sträucher zitterten – überall Frühling, überall junges Grün und lustiges Vogelgezwitscher, selbst der alte Thorthurm hatte sich ein schwankes lichtgrünes Zweiglein auf sein ehrwürdig Haupt gesteckt.

Sie hatte schier fieberglühende Wangen, als sie in das Zimmer des Vaters trat. Sie wollte sich an ihn wenden, er haßte ja den Bennewitzer, er würde ihr erlauben, unter seinen Schutz zu flüchten, wenn –. Der alte Herr hatte beide Fensterflügel geöffnet, die Zeitung lag vor ihm auf dem Tische, und neben der kalten Pfeife stand ein halbgeleertes Weinglas.

[142] „Papa, ist Dir nicht wohl?“ fragte Else.

„O ja, Kind! Nur das Athmen, der Husten – jetzt ist es schon viel besser, Du magst die Fenster wieder schließen; ich kann keine Aufregung mehr vertragen, und der Tag heute –“ Er reichte ihr die Hand hin, und einen Augenblick hielt er mit festem Drucke die schmale Hand in der seinen.

„Zieh’ nur die Gardine auch zusammen, die Sonne scheint so stechend herein, Else; und dann – vielleicht macht es Dir eine Freude; das Kästchen dort hat Deine Mutter immer auf dem Nähtische gehabt, und da hat sie alle die kleinen Jäckchen und Mützchen drin liegen, die sie für Dich nähte. Ich hab’s immer aufgehoben, Else – nimm es mit. Siehst Du, es war so nett, wenn sie davor saß; es war doch eine Lichtzeit in meinem Leben – das kommt Alles wieder an solchem Tage! Einmal, da war sie ausgegangen, um Weihnacht war es, und da sagte sie nachher, als sie wieder am Nähtische saß, und ihre braunen Augen sahen mich so lustig an: ‚Hegebach, ich habe so ein prächtiges Schaukelpferdchen gesehen beim Sattler Lehmann –‘ Ja, Else, wenn ich Dir hätt’ ein Schaukelpferd kaufen dürfen, dann wäre Alles anders!“

Das Mädchen senkte den Kopf. Immer das alte Lied!

„Und dann, Kind“ – er schob ihr das Mahagonikästchen hin mit dem einfachen Neusilberschilde oben und dem Namenszuge der todten Mutter, „dann – – ich habe die Klage gegen den Bennewitzer zurückgenommen.“

„Papa!“ Es klang wie ein Schreckensruf.

„Ja, Kind. Soll ich denn nicht? Du hast mir ja oft gesagt, ich hätte kein Recht dazu.“

„Ja, Papa, verzeihe mir –“ sie sprach es fast hoffnungslos.

„Und nun will er sich versöhnen mit mir, Else; es sollte eine Ueberraschung für Dich sein, Kind, sie wollen mich heute mit dem Wagen hinaus holen lassen, wir sollen dort zusammen essen, bei der Ratenow nämlich; aber ich, ich weiß nicht, Else, ob es geht; ich kann Aufregungen nicht mehr vertragen und, siehst Du, es ist so eine alte Antipathie, es ist gar nicht so leicht; ich weiß wohl, daß ich es Deinetwegen thun muß, aber –“

„Papa! Um Gotteswillen nicht meinetwegen!“ bat das Mädchen, erbleicht bis in die Lippen. „Wer sagte Dir das?“

„Die Ratenow, Kind, und sie hat Recht, ja sie hat Recht!“

Else sprang vom Stuhl empor, sie versuchte zu sprechen.

„Sei nicht böse, Else, daß ich es verrathen habe, ich bin doch auch wieder so froh. Siehst Du, Kind, es ist ein schreckliches Gefühl für einen Vater, der sein Kind zurücklassen soll in der Welt, ohne Alles und Jedes.“

„Lieber, lieber Papa!“ Ihr blasses Gesicht bog sich zu ihm herunter, „ich fürchte mich nicht, gewiß nicht, und Du lebst noch und Du wirst noch lange leben, und ich darf bei Dir bleiben, Papa. Ich kam mit dieser Bitte hierher, Papa.“

„Mach’ mich nicht weich, Else! Mich hat das Alles so mitgenommen und die Siethmann ist so unfreundlich und so laut, ich –“

Er stöhnte plötzlich auf und griff nach der Brust. „Diese dummen Beängstigungen – es ist ja gut, daß Alles so kommt – für Dich, Else! Du weißt gar nicht, wie es einsam und kalt und fürchterlich im Leben sein kann, sonst wärst Du nicht so muthig. Dir hängt der Himmel noch voll lauter Rosen.“

Sie schwieg wie erstarrt; sie wußte nur, daß sie nun Keinen mehr hatte, der sie verstand. In diesem Augenblicke stürzte die Siethmann in höchster Aufregung herein. Die Gnädige von der Burg und der Bennewitzer Herr kämen die Treppe herauf!

Also doch! Der alte Mann in seinem Stuhl wechselte jäh die Farbe. „Geh in’s Nebenzimmer, Else, Du brauchst nicht zu sehen, wie –“

Sie ging durch die schmale Tapetenthür in das Zimmer der Mutter und stand plötzlich der Frau von Ratenow gegenüber.

„Wir sind hierher gekommen, Else – zu Hause haben jetzt die Wände Ohren, die Lili ist überall und nirgends, und sie braucht nicht Alles zu hören. Ich weiß nicht, wie dieser Irrwisch dazu kommt, um Hegebach so herumzuscherwenzeln, es ist ja wohl Mode jetzt, den Männern die Cour zu machen.“ Und sie setzte sich in ihrem schweren schwarzseidenen Mantel auf den Stuhl am Fenster und löste sich die Hutbänder.

„Gott bewahre, ich glaube, die Siethmann hat eingeheizt!“ fügte sie dann hinzu.

Ja, es war eine Luft zum Ersticken hier, das meinte auch das blasse, mühsam athmende Mädchen dort. Von nebenan klang die sonore Stimme des Bennewitzer so versöhnend, so mild, und die alte Dame hier spielte so gelassen auf der Fensterbank mit der großen wohlgepflegten Hand. Es lag ein Ausdruck hoher Befriedigung auf ihrem Gesichte.

„Guck’, Else,“ sagte sie, „in dieser Sopha-Ecke lagst Du vor neunzehn Jahren und schriest ganz erbärmlich. Ja, wenn man Alles vorher wissen könnte, ich hätte Dich nicht so schweren Herzens in die Arme genommen.“

„Was meinst Du, Tante?“

„Ja, meine Deern, es ist wunderlich in der Welt, der liebe Gott hat so seine Wege im Zickzack, es kommt Alles wieder in’s Gleiche. Was ich meine? Ei, geh doch, Else, Du bist kein Mädchen von gewöhnlichem Schlage, die bis zuletzt zimperlich thut; ich weiß es, daß diese Deine Frage eine unberechtigte ist, weil Du Dir die Antwort im Stillen ganz haarklein selbst geben kannst. Und wenn Du dies mit Deinem klaren Menschenverstand thust, so mußt Du sagen: ‚Gott sei Dank, daß es soweit ist! Die alte Tante Ratenow war zwar immer recht gut mit mir, aber es ist doch noch etwas Anderes, sein eigner Herr zu sein, es war doch eben immer nur ein Sich Schicken und Fügen in allerhand Launen, ein Nothbehelf; und mein alter Vater, der soll nun auch noch ein paar frohe sorgenfreie Tage haben!‘ Nicht wahr, Du altes Gör?“

„Tante, ich bitte Dich!“ stöhnte das junge Mädchen.

„Und sieh mal, Kind, er ist so gut, er ist so kindergut, er ist wirklich ein reizender Mensch! Ich will Dir gestehen, Else, wie ich es hörte – Du warst noch in der Pension damals – daß er seine Söhne verloren, da dachte ich so – heirathen wird er wieder, und dann dachte ich, das wäre doch ein Fingerzeig vom lieben Gott, wenn Du ihm gefallen solltest, Else. Ich hab’s dann so kommen sehen, so nach und nach, mit herzlicher Freude, und – na, jetzt ist er drinnen, Else, und fragt bei Deinem Vater an. Komm mal her, altes Gör, so ganz nahe heran; meinst Du, ich hätte den Trödel mit Deinem hübschen kleinen Lieutenant nicht bemerkt? I, Else, da wär’ ich ja nicht auch jung gewesen! Lieutenants, Kindchen, die sind recht nett zum Tanzen für Euch Mädels – zum Heirathen aber gehört mehr als ein paar blitzende Augen und blanke Epaulettes! Else! Wie kann man nur so verstarrt aussehen! Else – aber Else!“

Das Mädchen war niedergesunken, und hob die gefalteten Hände zu ihr empor.

„Tante, Tante, hab’ Erbarmen!“ schluchzte sie mit thränenlosen Augen, „ich will Alles thun, ich will – ich will – ich kann nicht!“

„Grundgütiger Himmel!“ Sie faßte das Mädchen um die Taille und hob sie empor. „Else, nimm Dich zusammen! Es steht mehr auf dem Spiele als eine Mädchenlaune; hüte Dich vor: ‚Ich kann nicht!‘ mein Kind. Es giebt ernste, schwer ernste Dinge in der Welt, die man nicht ansehen soll durch ein gefärbtes Glas; eines langen, langen Lebens Wohlfahrt schließen sie ein. Es soll kein Sprung sein in ein Rosenbeet, es soll ein ernster Schritt sein, gethan mit ehrlichem Willen, mit redlichem Herzen. – Mir, mein Kind, mir wäre es gut ergangen, hätte ich nicht einen so vernünftigen Vater gehabt. Meinst Du, ich hätte mir gerad dell Friedrich Ratenow ausgesucht? Nein, Else. Ueber beide Ohren war ich verliebt in einen ganz, ganz armen Schlucker von Candidaten, der meine Brüder zu dressiren hatte. Ich war ein keckes Ding und sagte es meinem Vater, als der Ratenow um mich angehalten. Jesus, Kind, da hättest Du sehen sollen! Ehe ich mich umblickte, war der Candidat aus dem Hause, und ich hatte Ratenow’s Ring am Finger. Ich hab’s nie bereut. Und was willst Du? Jeder Prinzessin geht das so! Nein, nein, Else, jetzt bist Du vernünftig!“

Sie strich über den blonden Kopf, der so still an ihrer Brust lag. „Nicht wahr, Du bist vernünftig?“

„Nicht jetzt, Tante! Gieb mir Frist, ich bitte Dich!“ flehte das zitternde Mädchen. „Ich muß erst ruhiger werden – Du mußt mir dies Eine zugestehen, Du mußt!“

Sie sprach das Letzte förmlich leidenschaftlich. Die alte Dame sah es ein, sie konnte das erregte Mädchen nicht weiter bedrängen.

„Ich will Dir etwas sagen, Kind, mach’ einen Spaziergang, es ist noch Zeit vor Tische.“ Sie ging hinüber und holte des Mädchens Hütchen und Mantel. „So, mein Deern, und Gott befohlen!“

[143] Sie ging, sie lief förmlich. Es war doch wenigstens frische Luft; und vor ihr lag das weite, weite Land, und noch trug sie ein Hoffen in der Brust, noch fühlte sie Kraft, es gegen die ganze Welt zu vertheidigen. Sie dachte an das kleine stille Dörfchen in Thüringen, an das schmucke Kirchlein und an die Leute, die so friedlich unter einander lebten; sie sah Schwester Beaten’s gutes Gesicht unter dem kleinen Herrnhütermützchen so deutlich vor sich – es gab doch noch einen Fleck, wohin die Stürme des Lebens nicht reichten.

Sie war dann doch zu Hause, ehe sie sich’s versah; es war ihr ganz recht, daß der Diener sagte, gnädige Frau und Fräulein seien ausgegangen. Sie begann die Treppen hinauf zu schreiten, dann wandte sie sich plötzlich um.

„Wo ist der Herr Baron?“

„In seiner Stube, gnädiges Fräulein.“

Sie kam wieder herunter und klopfte an eine Thür.

„Herein!“ rief es.

„Moritz, darf ich eintreten?“

„Aber Else, ich bitte Dich – natürlich!“

„Ich wollte Dich etwas fragen, Moritz.“

„Gern, Else. Aber komm, wir wollen in den Garten.“

Sie sah ihn verwundert an, er war so eigenthümlich, so wie verlegen.

„Wie Du willst, Moritz.“

Sie gingen durch den Gartensaal und wanderten den sonnigen Mittelweg auf und ab. Es roch wundersüß nach Veilchen und über ihnen zirpten die Staarw in hellen langgezogenen Tönen; es war ein köstliches Fleckchen Erde, dieser alte heimliche Burggarten.

Else nahm plötzlich den einfachen grünen Fächer vor die Augen.

„Moritz,“ begann sie, „habe ich Dir etwas gethan?“

„Nein, mein altes gutes Kind!“ erwiderte er weich.

„Ich dachte es; Du bist so anders zu mir seit einiger Zeit.“

Er sah sie an, wie sie mit gesenkten Augen neben ihm ging. Was war aus dem frischen reizenden Mädchen geworden!

„Moritz!“ Es war der alte kindliche Ton. „Muß ich das thun, was sie Alle wollen; muß ich es?“

„Müssen? Nein, Else, aber es wäre vielleicht gut, wenn Du es wolltest.“

„Ich kann nicht, Moritz.“

„Else!“ Er blieb stehen und faßte nach ihrer Hand. „Denke nicht an Bernardi mehr,“ sagte er in seiner treuherzigen guten Art, „warte nicht auf ihn; sieh unsereins vergißt so etwas. Du mußt nicht glauben, daß er sich so abgrämt, wie Du, Kleine; Du kennst das Leben noch nicht.“

Sie sah ihn wieder an mit den traurigen Augen und eine feine Röthe stieg in das blasse Gesicht.

„Ich denke noch oft an ihn, Moritz, das kommt ganz ohne daß ich es will; aber gehofft habe ich vom ersten Augenblick an nicht mehr; ich weiß zu gut, daß ein Abgrund, so ein großer, großer Abgrund zwischen uns ist. Ich meine nur, ob ich – aber Du verstehst mich wohl nicht, Moritz? Ich habe meinen Onkel nicht ein bischen lieb, nicht ein bischen – so, wie man den lieb haben soll – der –“

Sie stotterte, brach ab und wie in Purpurgluth getaucht stand sie vor ihm, und langsam und schwer rannen die Thränen unter den gesenkten Wimpern hervor.

Freilich verstand er sie, aber durfte er es denn? Was sollte aus ihr werden? Er konnte ihr ja nicht einmal ein weiteres Asyl bieten, wenn sie den Bennewitzer refüsirte. Seine Mutter würde ihr bitter zürnen, und Frieda? Sein häusliches Glück stand auf dem Spiele – es klang lächerlich, aber die kleine Frau war eifersüchtig, wirklich und wahrhaftig, und sie zeigte es bei jeder Gelegenheit. Else zwar ahnte es nicht in ihrem reinen Kindersinn, und sie sollte es auch nicht wissen.

Er schwieg noch immer.

„Else,“ sagte er endlich – und er fühlte, wie banal es war, was er sprach – „mach’ Dir das Leben nicht so furchtbar schwer; sieh einmal“ – und er begann wieder zu wandern, die Hände auf dem Rücken, „man wird älter und ruhiger, man denkt so ganz anders in späteren Jahren über Herzensgeschichten und Neigungsheirathen – ja, was wollte ich gleich sagen – Elschen, ich würde es mir doch noch überlegen.“

Sie antwortete nicht, und trocknete die Thränen. „Nun dann, Moritz, so bitte ich Dich wenigstens um einen Gefallen, ersuche Tante Ratenow, daß sie nur heute – nur heute keine Entscheidung von mir verlangt. Und Du, Moritz, verzeihe, daß ich Dich fragte.“

Sie wandte sich um und ging zurück. Sie nahm den Weg durch den Flur; im Gartensaal hatte sie Frieda’s Stimme gehört, und die Klänge eines Walzers schallten in ihr Ohr. Lili spielte wohl, wie es ihre Art so war, ein paar Tacte, um gleich darauf wieder etwas anderes vorzunehmen. Dann saß sie aber in ihrem Stübchen am Fenster. Nun hatte sie Keinen mehr hier, nun stand sie ganz allein; Alle waren böse auf sie, weil sie eine gesicherte Zukunft, eine behagliche Existenz, die beneidete Stellung einer reichen jungen Frau verschmähte – aus einem Grunde, der so lächerlich für die Welt, so heilig ernst für ein reines Frauenherz. Aber der Papa! der alte einsame Papa! sagte eine Stimme in ihrem Innern, die einzige, die sich gegen ihr Denken erhob. Dann schoß siedendheiß die Röthe der Scham in ihr bleiches Gesicht. „Nein,“ sagte sie halblaut, „ich habe ihn nicht lieb, ich betrüge ihn und mich.“ Sie kannte die Welt draußen nicht mit ihren Dornenpfaden, die ein einsames armes Mädchen gehen muß; aber so entsetzlich konnte es doch nicht sein, als wenn sie – sie sprang empor und das nervöse Schauern überkam sie wieder. Hastig griff sie nach einem Buche und blätterte darin. Dann blieben ihre Augen an einem Gedichte hängen:

<powm>„Die Mutter sprach: Lieb Else mein, Du mußt nicht lange wählen! Man lebt sich in einander ein, Auch ohne Liehesquälen; So Manche nahm schon ihren Mann, Daß sie nicht sitzen bliebe, Und fühlte sich im Himmel dann; Und Alles ohne Liebe.“</poem>

Sie lächelte schmerzlich und klappte das Buch zu; und auf ihre gefalteten Hände beugte sich der Kopf hinunter und sie weinte zum ersten Male nach langer Zeit wie ein Kind, wie ein armes verlassenes Kind. Und die Stunden vergingen; draußen webte die Frühlingsdämmerung in den knospenden Bäumen, und der Mond warf seinen matten Schein in die Stube des jungen Mädchens, und sie saß noch immer so. –

Aus dem Salon herauf klang Musik, Fräulein Lili spielte Clavier, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Andern blieben ja so ewig lange in Tante Ratenow’s Zimmer, und die alte Dame hatte in höflichster Weise sogar bitten lassen, Fräulein Lili möge nicht herüber kommen. Es war unausstehlich langweilig heute. Zumal das Diner mit dem Bennewitzer, der fast kein Wort gesprochen und nur immer die eine Bewegung mit der Hand über seinen dunklen Bart gemacht hatte; und vorher diese Familienscene bei Cramm’s; Annie als glückliche Braut, stets wie eine Gliederpuppe, und daneben der Lieutenant von Rost, der so unendlich gleichgültig dabei aussah, als ginge ihn die ganze Geschichte eigentlich gar nichts an. Die einzige wirklich Gerührte war Mama Cramm gewesen, denn des Papa’s Laune schien mehr aus den silberhalsigen Flaschen im Eiskübel zu stammen, als aus Entzücken über den Schwiegersohn. Lili hatte gleich, nachdem das erste Erstaunen vorüber war, sich aus dem intimen Kreise beurlaubt, natürlich mit der Erlaubniß, das frohe Ereigniß überall erzählen zu dürfen.

Draußen im Vorzimmer hatte sie in echt militärischer Weise gefragt: „Annie, wann ist denn die Bombe geplatzt? Seit wann überhaupt ist die Absicht vorhanden gewesen? gemerkt hat man bis jetzt doch noch nichts.“ Und Annie war erröthet: „O, es ist schon eine längere Neigung, aber Papa wollte immer nichts davon wissen.“

„Wie grausam!“ Lili hatte sich das Lachen verbeißen müssen. „Aber nun?“

„Ach Lili, ich wäre gestorben ohne ihn.“

„Herrje!“ hatte der Schelm verwundert ausgerufen. „Na, da will ich aber nicht länger stören. Sag, Annie, nicht wahr, er heißt doch von Rost?“

„Ja, von Rost.“ Die Antwort war etwas schnippisch ausgefallen.

„Adieu, Annie!“ Sie war, mit Mühe das Kichern verbeißend, davon gelaufen, um die große Neuigkeit zum Diner nach Hause zu bringen, und da gab es nur verstimmte Gesichter, und außer Frieda Niemand, der der Sache Interesse entgegentrug.

(Fortsetzung folgt.)


[144]

Ländliches Fest in Schwaben. Nach dem Oelgemälde von E. Kurzbauer.
Photographie im Verlage von F. Hanfstängl in München.

[145] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[146]

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.


I.


Der sehnsüchtige Ruf nach der „guten alten Zeit“, der gerade jetzt wieder häufiger vernommen wird, ist durchaus nichts Neues. Auch erklärt sich diese Erscheinung auf sehr natürliche Weise aus dem Gange des menschlichen Lebens selbst, wie er zu allen Zeiten war und zu allen Zeiten sein wird. Für viele, ja, man kann wohl sagen, für die meisten Menschen ist das tägliche Leben ein beinahe ununterbrochener „Kampf um’s Dasein“. Auch wer nicht eigentlich Noth leidet, ist doch von Sorgen und Mühen, von Anstrengungen und Entbehrungen selten ganz frei. Da ist es denn kein Wunder, wenn so Mancher sich aus dieser mühe- und sorgenvollen Gegenwart heraus gern in einen Zustand versetzt, den seine Phantasie ihm als einen von solchen Mühen und Sorgen, wenigstens vergleichsweise, freien vorspiegelt, sei es, daß er den Spuren Chamisso’s folgt, wenn dieser singt: „Ich träume als Kind mich zurücke“, oder daß er das thut, was Schiller in den Versen an deutet: „Es reden und träumen die Menschen viel von besseren künftigen Tagen.“ In beiden Fällen ist es weniger der Gegenstand des „Träumens“, als das „Träumen“ selbst, was dem Menschen ein glückliches Vergessen der Gegenwart bereitet, ungefähr so, wie der wirkliche Traum uns in eine andere Welt versetzt, als die, in der wir wachend uns befinden. Erscheint uns doch in unserm eigenen kleinen Leben das Vergangene meist in einer gewissen verklärenden Beleuchtung, entweder weil das hinter uns liegende Schwere nicht ebenso auf uns drückt, wie das gegenwärtige, oder weil die glückliche Ueberwindung von Leiden und Sorgen uns eine gewisse Befriedigung hinterläßt. Dieses Gefühl überträgt dann leicht der Einzelne von sich auf die ganze Gattung.

Diese psychologische Beobachtung stimmt uns duldsam gegen die Lobredner einer sogenannten „guten alten Zeit“, weil wir sehen, daß dieselben nur einer allgemeinen menschlichen Eigenthümlichkeit oder, wenn man will, Schwäche ihren Tribut zollen; aber sie gebietet uns zugleich Vorsicht in Bezug auf die Urtheile, welche aus einer solchen Stimmung heraus einestheils über die Vergangenheit, anderntheils über die Gegenwart gefällt werden. Schon der erwähnte Umstand, daß es zu allen Zeiten Schwärmer für eine frühere Zeit und Tadler der Gegenwart gegeben hat, muß uns gegen eine derartige rückwärts gewendete Lebensauffassung argwöhnisch machen, denn wir können vermuthen (und die Erfahrung bestätigt dies), daß, wenn den Jetztlebenden die Zeit ihrer Eltern und Großeltern als eine bessere erscheint, es diesen Letzteren ebenso gegangen sein wird.

Jedenfalls ist eine solche Schwärmerei viel weniger tadelnswerth, als jener leider heutzutage so verbreitete und fast zu einer Art von Modekrankheit gewordene Pessimismus, der nirgends, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart noch in der Zukunft, etwas findet, was ihm das Herz erwärmen und die Seele füllen könnte.

Bedenklich wird die Anpreisung der „guten alten Zeit“ erst dann, wenn sie verbunden ist mit einer ungerechten Bemäkelung oder Verdammung der Gegenwart, und wenn sie sich versteigt zu der Forderung einer Wiederherstellung früherer Zustände oder einer Zurückschraubung der Gegenwart in eine abgethane, überlebte Vergangenheit.

Wir sind nicht so blind eingenommen für die Gegenwart, nicht so befangen in dem Gedanken, „wie wir’s so herrlich weit gebracht“, daß wir nicht gern bereit sein sollten, zu einer unparteiischen Vergleichung der heutigen Zustände mit früheren die Hand zu bieten. Zu dem Ende wollen wir eine möglichst unbefangene, auf Thatsachen gegründete Umschau halten über alle wichtigeren Gebiete unseres öffentlichen und unseres Culturlebens, um zu erkennen, ob wirklich das „Sonst“ so viel besser war als das „Jetzt“.

Wir beginnen mit dem umfassendsten dieser Gebiete, dem Reiche. Hier haben wir es leicht, denn wo in allen den verflossenen Jahrhunderten fände sich ein Zustand des deutschen Reiches, dem wir nicht den gegenwärtigen als einen nicht blos ebenbürtigen, sondern in den wichtigsten Beziehungen überlegenen mit Stolz und Zuversicht gegenüberstellen dürften? Mit wie glänzenden Namen auch unsere älteste deutsche Kaisergeschichte prangen, wie kraftvolle Persönlichkeiten sie aufweisen möge, einen Heinrich I. und Otto den Großen, einen Heinrich III. und Friedrich Barbarossa, dennoch war unter keinem selbst dieser unstreitig tüchtigsten der alten Beherrscher Deutschlands der Gesammtzustand des Reichs und der Nation auch nur annähernd ein so befriedigender, wie heutzutage unter unserem ehrwürdigen Kaiser Wilhelm I.

Was unserem heutigen Kaiserthume einen so unbestreitbaren Vorzug vor allen seinen Vorgängern sichert, das ist der breite und feste nationale und volksthümliche Unterbau, auf dem es ruht. Die ehemaligen deutschen Kaiser waren auf den guten Willen ihrer Vasallen angewiesen, von denen jeder naturgemäß nach möglichstem Machtbesitze für sich und nach möglichster Unabhängigkeit vom Reiche strebte – unser heutiges Kaiserthum hat die tiefsten Wurzeln seiner Kraft in der Zustimmung und Mitwirkung der ganzen Nation und ihrer gesetzlichen Vertretung im Reichstage. Nur sich selbst würde eine heutige Reichsregierung es zuzuschreiben haben, wenn dieses wirksamste Mittel einer kräftigen Einheitsgewalt ihr versagte. Unser heutiges Kaiserthum verzichtet auf den zweifelhaften Ruhm eines „Schirmvogtes der Kirche“, aber es braucht eben deshalb auch, sobald es nur will, streng in den Grenzen seiner weltlichen Befugnisse sich haltend, keine Eingriffe in diese seitens einer kirchlichen Macht zu dulden. Nach außen begehrt unser heutiges Kaiserthum nicht den gleißenden Schein einer angeblichen Oberherrlichkeit über fremde Länder oder der Einmischung in ihre Geschicke; zufrieden mit der ehrenvollen und angesehenen Rolle, welche die öffentliche Meinung von ganz Europa freiwillig ihm anweist, ist es selbstlos bemüht, den maßgebenden Einfluß, der dadurch ihm zufällt, im Interesse des Friedens, der Gerechtigkeit und der Wohlfahrt des eigenen, aber auch der andern Völker zu verwerthen.

Mag also immerhin auch in unserem jetzigen deutschen Reiche noch nicht Alles so sein, wie Mancher wünscht oder träumt, daß es sein sollte, so müßte doch Der ein schlechter Kenner der Geschichte sein, der unsere heutigen, im Innern wohlgeordneten, nach außen gesicherten, auf der freien Mitwirkung der Nation beruhenden öffentlichen Zustände vertauschen möchte mit irgend einer früheren Periode des deutschen Reichs, selbst in seiner besten Zeit, geschweige denn in jener Zeit des Verfalles, von dem Goethe seine Studenten in Auerbach’s Keller singen läßt: „Das liebe heil’ge röm’sche Reich, wie hält’s nur noch zusammen?“ oder mit dem deutschen Bunde trostlosen Angedenkens.

Die Vorstellung von einem „patriarchalischen“ Verhältnisse zwischen Fürst und Volk, womit man so gern eine frühere Zeit schmückt, hat jedenfalls etwas Anmuthendes. Allein auch hier geht es uns leicht wie in vielen andern Dingen: wir sehen in der magischen Beleuchtung einer zum Theil fernen Vergangenheit nur die Lichtseiten und nicht auch die Schatten. Unter den früheren deutschen Landesherren zählt gewiß mit Recht zu den besten, wohlmeinendsten, volksthümlichsten im 16. Jahrhunderte „Vater August“ von Sachsen, im 18. Karl August von Weimar. Und doch bestand unter „Vater August“ in Sachsen jenes grausame Gesetz, wonach ein Wildfrevel (selbst wenn er vielleicht nur aus Nothwehr von dem armen Landmanne begangen war, dessen Fluren das übermäßig gehegte Wild verwüstete) beim ersten Male mit Staupenschlag, im Wiederholungsfalle mit harter Arbeit in den Bergwerken oder mit Galeerenstrafe gebüßt wurde! Und doch war auch der Freund Goethe’s, Karl August, so sehr von der „noblen Passion“ der Jagd eingenommen, daß selbst dieser sein von ihm hochgeschätzter Vertrauter und Minister Goethe noch nach fast zehnjährigem innigen Verkehre nur schüchtern seinen fürstlichen Freund daran zu erinnern wagte, wie schwer das Land unter dem hohen Wildstande leide! Es war eben damals in den herrschenden Kreisen eine allverbreitete und als selbstverständlich betrachtete Ansicht, daß Land und Volk nur um des Fürsten willen da sei, daß jede Beschränkung, die der Fürst seinen eigenen Launen und Leidenschaften auferlege, jede Wohlthat, die er seinen Unterthanen erweise, von diesen wie eine unverdiente Gnade mit gerührtem Danke hingenommen, das Gegentheil wie ein unabwendbares Geschick [147] ertragen werden müsse. Daher erregte es in der öffentlichen Meinung einen so großen Jubel, in den höfischen Kreisen aber eine so schlecht verhehlte Mißempfindung, als Friedrich der Große und seinem Beispiele folgend Joseph II. öffentlich erklärten, daß sie das Verhältniß zu ihren Völkern ganz anders auffaßten, als die meisten ihrer fürstlichen Zeitgenossen, als sie anerkannten, daß der Fürst nicht blos Rechte, sondern vor Allem Pflichten habe, als sie sich „Diener des Staats“ und „Verwalter des Volkes“ nannten. Welch trauriges Armuthszeugniß war es doch für jene ganze Zeit, daß man es als einen besonderen Vorzug der Regierung Friedrich’s II. rühmen mußte: „es gebe Richter in Berlin“, das heißt unabhängige und unparteiische Richter, welche nöthigenfalls auch gegen Mächtige und Vornehme die Unschuld in Schutz nähmen! Wie „patriarchalisch“ ging es doch zu in jenen vielen deutschen Ländern, wo mißliebige Persönlichkeiten durch einen einzigen Federzug des Fürsten auf die Festung geschickt und – ohne Urtel und Recht – zu vieljähriger, wohl gar lebenslänglicher Kerkerhaft verdammt wurden! Wie „patriarchalisch“, wenn Landesväter ihre Landeskinder als Kanonenfutter an die Engländer verkauften, um die aufstrebende Freiheit der nordamerikanischen Colonien zu ertödten! Wie „patriarchalisch“, wenn der Despotismus solcher kleinen Tyrannen womöglich noch überboten ward von dem Despotismns eines weithin gebietenden Präsidenten oder Amtmanns, wie das Schiller in „Kabale und Liebe“, Iffland in seinen „Jägern“ mit grellen, aber leider nur zu wahren Farben geschildert haben!

Und selbst bei den besten Absichten, ja trotz eifriger Anstrengungen einzelner wohlwollender Regenten war und blieb der ganze damalige Gesellschaftszustand mit einem schweren Makel behaftet, mit dem Makel der persönlichen und wirthschaftlichen Unfreiheit des zahlreichsten Bestandtheils der Bevölkerung, des ganzen ehrenwerthen Bauernstandes. Wahrhaftig, wenn nichts Anderes unserem Jahrhundert ein Anrecht verliehe, auf den Namen eines vorgeschrittenen gegenüber früheren Jahrhunderten, schon dieses Eine würde dazu genügen: die Befreiung der kleinen ländlichen Bevölkerung von den Fesseln und Lasten des Feudalunwesens und die Herstellung einer allgemeinen Gleichheit der Stände vor dem Gesetze!

Das Gemeindewesen, das städtische wenigstens, ist ein Glanzpunkt des deutschen Mittelalters. Wer möchte nicht mit freudiger Genugthuung zurückblicken auf jene großen, blühenden Gemeinwesen, welche einst der Stolz Deutschlands im In- und Auslande waren? – auf jenes Nürnberg, von dem Aeneas Sylvius in seiner „Germania“ rühmt, daß seine Bürger „besser wohnten, als die Könige Schottlands“; auf jenes Straßburg, die Bildungs- und Wirkensstätte so vieler bedeutender Geister; auf jenes Mainz, das seines Reichthums wegen „das goldene“ genannt ward; auf jenes Köln, welches ganz allein der Heeresmacht des jungen Königs Heinrich widerstand, als dieser sich wider seinen Vater, den Kaiser Heinrich IV., empörte; endlich auf jene großen Städtebündnisse, das rheinische, das schwäbische, um deren Gunst und Bundesgenossenschaft Fürsten und Adel warben, vor Allem auf jene seegewaltige Hansa, welche mit ihren Kriegsschiffen die Ostsee beherrschte, die skandinavischen Reiche zittern machte, dänische Könige ein- und absetzte und mit ihren Factoreien von London bis Nowgorod den Handel aller nordeuropäischen Länder beherrschte? Wenn irgend eine, so möchte, scheint es, diese Zeit der Macht und Blüthe deutschen Bürgerthums als eine wirklich „gute“ zu rühmen sein. Nur schade, daß dieser eine helle Glanz so viele und so dunkle Schatten neben sich hat! Nur schade, daß das deutsche Kaiserthum, statt sich auf die starke und nachhaltige Kraft des freien Bürgerthums zu stützen, gegen dasselbe Partei nahm für den Adel und die Fürsten, denen dieses Bürgerthum und seine Macht ein Dorn im Auge war! Nur schade, daß deutsche Kaiser so gänzlich ihr eigenes und das Interesse des Reiches vergessen konnten, daß sie, wie ein Friedrich II. von Hohenstaufen und ein Karl IV. von Luxemburg, Verbote erließen gegen die Bündnisse der Städte unter einander und gegen die Uebersiedelung der vom Adel gedrückten Landbevölkerung in das freimachende Weichbild der Städte!

Unser heutiges Gemeindewesen aber, und nicht blos das städtische, sondern auch das ländliche, ist nicht mehr, wie damals, ein nur auf sich angewiesenes, von den maßgebenden Factoren des Staatswesens angefeindetes Element; es ist ein organisches Glied unseres Reichs- und Staatskörpers, welches dieser sorgsam hegt und schirmt und welches dafür wieder ihm immer neue befruchtende Kräfte zuführt. Wir haben auch nicht für unsere Städte ähnliche innere Krebsschäden zu fürchten, wie die, an denen jene einst so blühenden Gemeinwesen im alten Deutschland krankten und theilweise zu Grunde gingen. Es giebt heutzutage keine selbstherrlichen, sich selbst ergänzenden Magistrate mehr; es giebt nicht mehr jene schroffen Gegensätze von Patricierthum und Handwerkerthum, an deren leidenschaftlichen, oft gewaltthätigen Parteikämpfen mehr als eine Stadt sich verblutete. Der Grundsatz bürgerlicher und politischer Gleichberechtigung, der freilich manchem Anhänger der „guten alten Zeit“ ein Gräuel ist, verhindert die Unterdrückung der einen Classe durch die andere, und die friedliche Ausgleichung der Ansichten zwischen Regierenden und Regierten in den geordneten Formen öffentlicher Debatte behütet uns vor ähnlichen gewaltsamen Ausbrüchen schwer gedrückter Bevölkerungen, wie sie damals so häufig waren.

Treten wir aus den weiten Räumen des öffentlichen Lebens herein in die engen des Hauses und der Werkstatt! Nirgends mehr, als hier, klagen die Lobredner der Vergangenheit über das Verschwinden einer besseren alten Zeit, und doch ist nirgends mehr als hier Vorsicht geboten in Prüfung der Berechtigung solcher Klagen. Es ist wahr, das deutsche Gewerbe und insbesondere das Kunstgewerbe stand im Mittelalter theilweise auf einem Höhepunkte, von dem es später tief herabsank und zu dem es erst jetzt wieder mit rühmlichem Eifer emporstrebt. Mit einer von schmerzlichem Beigeschmack nicht freien Bewunderung blicken wir auf die kunstvollen alten Arbeiten, mit denen einst ein Nürnberg, ein Augsburg und andere deutsche Städte den Weltmarkt versorgten und beherrschten, Arbeiten, die für das heutige Geschlecht zur Nachahmung anspornende, aber noch immer nicht gänzlich erreichte Muster sind. Allein unsere Rückwärtsstreber auf wirthschaftlichem Gebiete irren, wenn sie meinen, diese Blüthe deutschen Kunstgewerbes sei das Erzeugniß jenes beschränkten und beschränkenden Zunftgeistes gewesen, den sie so gern uns als einen Segen für unser Handwerk anpreisen möchten.

Das deutsche Zunftwesen zeigt uns im Laufe seiner Entwickelung eine doppelte Seite: eine befreiende und eine beschränkende. Bei ihrer Entstehung und noch eine längere Zeit hindurch hatten die „Einigungen“ oder Innungen der Handwerker in den Städten lediglich den Zweck und die Wirkung, die bis dahin unfreien hörigen Handwerker zu freien, selbstständigen Bürgern zu erheben, auch wohl ihnen eine gewisse Gleich- oder Mitberechtigung neben dem Patriciat zu erringen. Beides gelang, das Erstere dauernd, das Andere wenigstens theilweise oder zeitweilig, und das Gefühl dieser selbsterrungenen persönlichen und wirthschaftlichen Freiheit, der berechtigte Stolz des Bürgers und Meisters auf die eigene Kraft – das war es, was den damaligen deutschen Gewerbtreibenden einen höheren Schwung gab, dem Gewerbe selbst aber neben andern mitwirkenden günstigen Umständen jene Gediegenheit und jene Vollkommenheit der Ausführung verlieh, die wir heut noch bewundern.

Aber sonderbar! Selbst aus jener Zeit kräftigster Entfaltung des deutschen Gewerbes in den großen Reichsstädten ertönen fast wörtlich genau dieselben Klagen über erdrückende Concurrenz im Handwerk, über leichtsinniges Sichherandrängen zur Meisterschaft, über Pfuscherei und Verschleuderung der Waaren, die wir heut so oft mit Bezug auf unsere jetzigen Zustände hören müssen. Ein wohlbekannter Sittenschilderer des 15. und 16. Jahrhunderts, der Verfasser der satirischen Dichtung: „Das Narrenschiff“, Sebastian Brant, der in Straßburg, einem Hauptsitze kräftigen und blühenden Bürgerthums, lebte und schrieb, hat eines der vielen Bilder, in denen er die Thorheiten und Schwächen seiner Zeit geißelt, überschrieben: „Das Gesellenschiff“. Darin nun heißt es:

„Kein Handwerk steht mehr in sei’m Werth;
Es ist all’ übersetzt, beschwert.
Jeder Knecht Meister werden will,
Deß’ sind in allem Handwerk viel.
Mancher zur Meisterschaft sich kehrt,
Der nie das Handwerk hat gelert (gelernt).
Einer dem Andern nimt das Brod,
Und bringt sich selbst damit in Noth.
Weil man die Arbeit giebt gering,
So sudelt man jetzt alle Ding.“

[148] Sollte man nicht meinen, man hörte eine der vielen landläufigen Reden auf einem unserer gewerbfreiheitsfeindlichen Handwerkertage? Jedenfalls zeigt dieses Beispiel recht schlagend, wie ganz anders derartige Zustände in der Nähe aussehen, als aus der Ferne!

Verhielt es sich nun schon so zu jener Zeit, wo nachweislichermaßen das deutsche Handwerker- und Bürgerthum in vollster Kraft dastand, wo die Zusammenschließung der Gewerbe in Zünften noch weit mehr eine befreiende und anfeuernde, als eine beschränkende und lähmende Wirkung übte, wie vollends dann, als diese letztere Wirkung in den Vordergrund trat, als gegen den Verfall des Bürger- und Handwerkerthums man Rettung suchte in einer immer mehr verschärften Absperrung der Gewerbe gegen einander und Ausschließung jeder Mitbewerbung junger, rüstigerer Kräfte! Und welches waren die Wirkungen dieser Gebundenheit der Gewerbe? Darüber belehrt uns der treffliche Kenner vaterländischer Zustände, Justus Möser, wenn er klagt: „Alle deutsche Waare hat dermalen etwas Unsolides.“

War es denn aber auch etwa ein für die Gesammtheit heilsamer Zustand, wenn noch bis vor etwa 30 Jahren in Leipzig, einer Stadt von damals schon mehr als 60,000 Einwohnern, nur 32 Bäcker und nur 4 Apotheken das Recht hatten, die Bedürfnisse des Publicums zu befriedigen? Oder wenn in der baierischen Residenz München gewisse Eßwaaren (die sogenannten Kräpfel oder Pfannkuchen) nicht zu haben waren, weil die Bäcker zwar das Privilegium hatten, den Teig, nicht aber auch die, nur den Conditoren zustehende Fülle zu bereiten? In dem Archiv der Kramerinnung zu Leipzig liegen ungefähr 700 Actenstücke: davon handeln wohl 600 von nichts als von Streitigkeiten dieser Kramerzunft bald mit den Schneidern, bald mit den Tuchmachern, bald mit den Apothekern, mit den Italienern etc. – über angebliche Verletzungen ihrer „Privilegien“. Da wird durch alle Instanzen hindurch processirt um ein paar Loth Seide, welche ein Schneider unbefugter Weise, soll verkauft haben! Da dauern einzelne solche Processe nicht blos Jahre, sondern Jahrzehnte! Da übersteigen die Kosten des Streites den Werth des Streitobjectes oft um das Drei- und Vierfache! Da wird eine kostbare Zeit der Innungsvorstände, der Obrigkeit, der Gerichte, ja bis hinauf zu den höchsten Landesbehörden, in solchen Streitigkeiten verschwendet! Oder war es etwa dem Handel, und der Landwirthschaft förderlich, wenn wegen des Leipziger Stapelrechts der Wollproducent seine Wolle nicht direct dem Fabrikanten in der nächsten Stadt, verkaufen, sondern sie erst 10, 12 Meilen weit nach Leipzig fahren und der Fabrikant sie erst wieder von dorther beziehen mußte, wobei die Spesen 20, 25 oder mehr Procent der Waare verschlangen; wenn der Elbhandel brach lag, weil alle Güter nur auf den vorgeschriebenen Straßen über Leipzig vertrieben werden durften?

Ein anderes vielbeliebtes Thema unserer mit der Gegenwart unzufriedenen Fanatiker der Vergangenheit ist die angeblich größere „Familienhaftigkeit“ früherer Zeiten. Auch auf diesem Gebiete ist mit allgemeinen Redensarten und vorschnell aus einzelnen Vorgängen gezogenen Schlüssen viel gesündigt worden: Wir sind gewiß weit entfernt, unsern Altvordern den Ruhm schmälern zu wollen, daß im großen Durchschnitt ihr Familienleben ein gesundes, wohlgeordnetes, inniges gewesen sei. Zu allen Zeiten war, dem Himmel Dank, in Deutschland „das Haus“ der sichere Hort, wohin sich deutsches Gemüth, deutsche Ehrbarkeit, deutsche Treue flüchteten, so oft in anderen Kreisen des Lebens diese edelsten Güter verkümmert oder gar verschwunden schienen. Aber wir bestreiten es, daß nicht auch noch heut das „deutsche Haus“ in der Mehrzahl der Fälle diesen alten Ruhm bewahre. Ja wir sind so kühn, zu behaupten, daß mindestens gegen die letzten Jahrhunderte (das 17. und 18.) gerade hierin ein zweifelloser Fortschritt eingetreten ist.

Man bedenke, unter Anderem nur das Eine: wie sah es damals mit dem Familienleben in der sogenannten „guten“, das heißt vornehmen Gesellschaft, namentlich aber an den Höfen aus? Man lese nur die zahlreichen Memoiren aus jenen Kreisen selbst (gewiß unverdächtige Zeugnisse!), mit ihren sehr offenherzigen Schilderungen der dort herrschenden Ansichten und Sitten – die Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Bayreuth, die Memoiren des Herrn von Pöllnitz, die Saxe galante, die Briefe der Lady Montague, und man wird ein ganz anderes Bild erhalten, als das einer im Punkte der Sittlichkeit „guten“ Zeit. Und selbst in vielen Kreisen des Bürgerthums, wenigstens des wohlhabenderen, stand es damit kaum besser. Wie die höfischen Kreise sich über die bürgerliche Moral hinwegsetzen zu dürfen glaubten, so nahmen auch die „Honoratioren“ oder „Patricier“ in den großen Städten ein ähnliches Privilegium der Leichtfertigkeit für sich in Anspruch, indem sie meinten, die strengere Sitte, namentlich auch des Hauses, sei höchstens für den kleinen Bürger, den Handwerker, gut genug. Besonders Leipzig hatte in dieser Hinsicht in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht den besten Ruf. Goethe, der bekanntlich 1765 bis 1768 hier studirte, spricht in Briefen an Freunde von „dem verfluchten Leipzig, wo ein junger Mann so schnell wegbrennt wie eine Pechfackel“. Der berüchtigte Bahrdt, dessen Jugend um zehn Jahre später fällt, erzählt Dinge, die uns merkwürdige Begriffe von dem Familienleben dieser Stadt in damaliger Zeit geben. Zahlreiche Flugschriften, wie „Leipzig im Profil“, „Leipzig im Taumel“, „Leipziger Allerlei“,: „Vertraute Briefe über Leipzig“, „Freie Anmerkungen über Leipzig, Berlin und Prag“ etc., malen dieses unerquickliche Bild mit großem Behagen weiter aus, und selbst die wenigen Gegenschriften, welche Leipzig in Schutz nehmen, wissen kaum etwas Anderes anzuführen, als daß es hier nicht schlimmer sei, als in anderen großen Städten. Von Wien gesteht Karoline Pichler, eine geborene Wienerin, daß es dort erst im 19. Jahrhundert mit der Sittlichkeit etwas besser geworden, und von Hamburg weiß Friedrich Perthes, der in seinen jungen Jahren (zu Ende des 18. Jahrhunderts) dort lebte, auch nicht, viel Tröstlicheres zu melden.

Prüfen wir, wodurch es in diesem Punkte besser geworden ist, so werden wir auf eine Wahrnehmung geführt, die freilich den meisten Lobrednern der „alten Zeit“ in ihren Kram wenig paßt. Offenbar nämlich war es das Erstarken der öffentlichen Meinung und das sich immer mehr ausbreitende Bewußtsein allgemeiner Gleichheit, was jenen „noblen Passionen“ der vornehmeren und wohlhabenderen Classen einen heilsamen Dämpfer aufsetzte.




Fürst und Kanzler.
Ein Capitel aus der dänischen Geschichte.

Ein junger Fürst, der die Jahre der Mündigkeit noch nicht erreicht hat, steht am Sterbebette seines ersten Rathgebers, des treuen Meisters, der ihn in der schweren Kunst des Regierens unterwies, ihm Ziel und Wege bereitete, und von dem er nun die letzten Worte weiser ehrlicher Mahnung empfängt. Und der Jüngling sieht und weiß, daß in der nächsten Stunde der beredte Mund verstummt, die leitende Hand erstarrt – ist das nicht ein Act, der unsere menschliche Theilnahme noch weit mehr in Anspruch nimmt, als die damit verbundene politische Bedeutung?

Einen solchen Moment aus der reichen Geschichte seines Heimathlandes hat der dänische Historienmaler Professor Karl Bloch in Kopenhagen in dem nebenstehenden Gemälde „Christian IV. am Sterbebette seines Kanzlers Niels Kaas“ versinnbildlicht.

König Christian IV. von Dänemark steht in Folge seiner Theilnahme am Dreißigjährigen Kriege auch unserem Gedächtnisse nahe, wenn er dabei auch durch die leuchtende Gestalt seines königlichen Nachbars Gustav Adolf von Schweden etwas in den Schatten gestellt wird.

Als sein Vater, der König Friedrich II., im Jahre 1588 starb, war Christian erst elf Jahre alt. Bis zu seiner Volljährigkeit wurde ein Regentschaftsrath eingesetzt, an dessen Spitze der Reichskanzler Niels Kaas stand. Er war schon der erprobte Rathgeber des verstorbenen Königs gewesen. Alles, was in den letzten siebenzehn Jahren von Friedrich’s Regierung nach außen und innen von irgend welcher Wichtigkeit unternommen ward, das hatte er veranstaltet und vermittelt. Er war denn auch die Seele [149] des neuen Regentschaftsraths. Durch seinen Einfluß vermochte er die verwittwete Königin Sophie, auf ihr natürliches Recht als Regentin zu verzichten, denn Frauenregiment dünkte ihn ein gefährliches Regiment, zu leicht offen der Laune und Intrigue. Die Königin zog sich in edler Resignation ganz zurück auf ihren Wittwensitz im Schlosse Nykjöbing.

Christian IV. von Dänemark am Sterbebette seines Kanzlers Niels Kaas.
Nach dem Oelgemälde von Professor Karl Bloch.

Wie an der Wiege großer Menschen immer gern die Sage sitzt und ihre geheimnißvollen Zeichen in deren Zukunftstafeln einträgt, so berichten auch die alten Chroniken von einem mystischen Wunder, das der Geburt des jungen Königs voranging. Ein Meerweib, erzählen sie mit ernsthafter Geberde, „oben Jungfrau, unten Fisch“, erschien, als die Königin gesegneten Leibes war, einem Bauer in Samsöe und befahl ihm, zum Könige zu gehen und ihm zu künden, daß die Königin diesmal mit einem Prinzen niederkommen werde, der in der Welt einer der ansehnlichsten Könige werden würde. Der Bauer that also, wie ihm gesagt, und brachte die Offenbarung zu des Königs Ohr. „Mag nun der Bauer,“ fügt Ludwig Holberg in seiner „Dänischen Reichshistorie“ zu dieser Erzählung hinzu, „entweder aus Einbildung oder Interesse also geweissagt haben, so kann man doch von ihm sagen, daß er richtig geweissagt hat, weil der Ausgang erwies, daß dieser junge Prinz einer der größten und berühmtesten [150] Könige geworden ist, so jemals auf dem dänischen Throne gesessen haben.“

Der junge Christian war aufgeweckten Geistes, lernte leicht fremde Sprachen und widmete sich mit besonders regem Eifer dem Studium der Schifffahrtskunde und Schiffbaukunst, indem er in früher Weisheit einsah, daß die Macht und Größe seines Reichs, dessen ganzer Lage nach, auf dem Meere zu suchen sei. Er erlangte auf diesem Gebiete eine solche Sachkunde, daß er die Risse zu den Schiffen, die er mit den aufgesammelten Schätzen seines Vaters bauen ließ, selbst anfertigte.

Auch in seinem Urtheilen und Handeln zeigte der König frühzeitige Spuren erwachter Selbstständigkeit. So berichten die Quellen namentlich von einem charakteristischen Ereignisse auf dem Reichstage zu Kopenhagen im Jahre 1591, welchem der König an der Seite seiner Räthe beiwohnte. Dort kam unter andern Sachen auch eine Anklage zur Verhandlung, in welcher der junge Peter Skram zu Woldborg die drei Söhne eines angesehenen Edelmannes Friis beschuldigte, daß sie ihn auf offener Straße in Viborg mit entblößten Schwertern meuchlings überfallen und ihm die rechte Hand abgehauen, sowie die linke gelähmt hätten. Die Angeklagten waren mit einem großen Anhange ihres im Lande weit verbreiteten Geschlechts erschienen, und unter den urtheilenden Reichsräthen wurde die Meinung laut, daß man die Sache, um es mit einem so mächtigen Geschlechte nicht zu verderben, und weil der Verletzte doch nur ein Bürgerlicher sei, gelind ansehen oder ganz vertuschen möchte. Schon schien es, als ob die ganze Versammlung dieser Meinung beiträte, als plötzlich sich der junge, damals erst vierzehnjährige Prinz erhob und mit fester Stimme an die Versammlung die Frage richtete, ob nicht das Gesetz ausdrücklich bestimme, was auf eine solche Unthat zu geschehen habe? Als ihm hierauf der Kanzler Niels Kaas erwiderte, daß nur in dem Gesetzbuche für die Provinz Schonen sich eine Bestimmung fände, daß, wer einem Leibeigenen die Hände abhaue, drei Mark (!) Strafe zu zahlen und den Verletzten zu entschädigen habe, dies Gesetz aber auf die anderen Provinzen und insonderheit auf den Ort Viborg keine Anwendung erleide, weil eine jede derselben ihr eigenes Recht habe, da erwiderte der Prinz, daß eine Uebelthat gestraft werden müsse, sie möge geschehen sein, wo sie wolle, und fällte dann kraft eigener Macht das Urtheil, daß die Verbrecher in jene Strafe zu nehmen und für ehrlos zu achten seien.

„Dieses Urtheil,“ bemerkt hierzu unser biederer Gewährsmann, „welches der junge König mit solchem Ernste aussprach, jagte dem ganzen Rathe einen solchen Schrecken ein, daß Niemand den Mund aufthun und etwas darwider einwenden kunnte, und man sähe hieraus deutlich, was dieser junge König im Schilde führte und daß er ein trefflicher Regente werden würde.“

Eine weitere That früher Selbstständigkeit war sein Besuch Tycho de Brahe’s. Dieser berühmte Astronom, der Nachfolger des Copernicus und der Meister und Lehrer Kepler’s, lebte, ganz in seine Forschungen versenkt, auf dem einsamen Felseneilande Hven, das der König Friedrich II. ihm angewiesen und mit einem Thurme und Castell, der Uranienburg, zur Beobachtung der Sternenwelt versehen gatte. Tycho de Brahe war von dem Adel des Landes, dem er selbst angehörte, wegen seiner gelehrten Studien, die man für unstandesgemäß und unnütz hielt, noch mehr aber, weil er sich mit einem schlichten Bauermädchen seines Heimathsdorfes verheirathet hatte, verachtet und verfehmt.

Das Vorurtheil gegen diese Mißheirath war so stark, daß selbst unser vielfach aufgeklärter und einer späteren Zeit angehöriger Chronist Holberg dieselbe für ganz unanständig erklärte, es aber doch unternahm, dieselbe zu entschuldigen und zwar unter Anderem aus dem Grunde, weil Tycho de Brahe, nachdem er im Zweikampf seine Nase verloren hatte, eine von Messing und Silber componirte Nase trug und es für ihn doch „mißlich gewesen wäre, mit solch einer metallenen Nase ein adliges Fräulein zu bekommen“.

Der junge Fürst kehrte sich indeß nicht an diese Acht. Er hielt sich zur Nährung seines Wissensdrangs mehrere Tage bei dem Gelehrten auf, ließ sich von ihm seine Instrumente vorlegen und über seine mannigfachen Forschungen und Entdeckungen belehren. Beim Scheiden hing er ihm als Ausdruck seiner Verehrung eine goldene Gnadenkette um und nahm dafür das Geschenk eines Himmelsglobus an.

Diese ostensible fürstliche Anerkennung schürte den Haß des Adels gegen den abgefallenen Genossen noch heftiger. Die Verfolgungen nahmen immer größere Ausdehnung an, und der Prinz besaß nicht die Macht, sie zu unterdrücken. Tycho de Brahe sah sich genöthigt, dem undankbaren Vaterlande den Rücken zu kehren. Er ging nach Deutschland, wo ihn Kaiser Rudolph II. als einen ihm „vom Himmel geschenkten“ Mann empfing und ihm in Prag ein eigenes Haus gab.

Dieses Schicksal wäre Tycho de Brahe sicher erspart geblieben, wäre nicht der Reichskanzler Kaas schon am 29. Juni 1594 gestorben, denn dieser galt als ein Freund der Gelehrten und Förderer wissenschaftlicher Lehren und war zugleich selbst ein Mann reicher Kenntnisse. Er war ledig geblieben, um sein ganzes Ich einsetzen zu können für die Interessen des Reichs. Als er in seinem sechzigsten Jahre sein Ende nahen fühlte, ließ er den jungen Prinzen kommen, unterrichtete ihn über den Zustand des Reichs und belehrte ihn, welcher Fürsten Freundschaft er suchen sollte. Seinem Vater habe er, so war seine Rede, auf dessen Todtenbette versprechen müssen, daß er sich mit allem Fleiße und aller Treue bemühen wolle, die königliche Krone auf des Sohnes Haupt zu bringen. Der Tod rufe ihn eher ab, als der Prinz die Jahre der Mündigkeit erlangt habe. So sei er außer Stande, sein Versprechen zu erfüllen. Hierauf übergab er dem Prinzen den Schlüssel zu dem Gewölbe, in welchem die Kleinodien des Reichs, Krone, Scepter, Schwert und Reichsapfel seit König Friedrich’s Tode verwahrt lagen.

„Weil mich Gott,“ fügte er dann nach des Chronisten Zeugniß mit brechender Stimme hinzu, „jetzt von dieser Welt hinwegnehmen will, so will ich diesen Schlüssel an niemand Anderes als an Eure königliche Majestät ausliefern. Nehmet also die Reichskleinodien von Gott selbst, und wenn die Zeit kommt, so traget Eure Krone mit Ruhm und Ehren; regiert das Scepter mit Weisheit und Gnade; führt das Schwert mit Gerechtigkeit und haltet den Apfel mit Rath und Fürsichtigkeit.“

In der Umgebung des Königs befanden sich bei diesem Acte die übrigen Räthe der Regentschaft: Jürgen Rosenkranz (der auf dem Bilde dem Könige zunächst Stehende), Peter Güldenstern, der Reichsmarschall, der Reichsadmiral Peter Munk, der Schatzmeister Christoph Valkendorf und als Fünfter der Oberst Jürgen Sufeldt.

Als er das einundzwanzigste Jahr erreicht hatte, wurde der Prinz unter glänzenden Festen als König Christian IV. gekrönt. Er hat das Vermächtniß des sterbenden Kanzlers treu erfüllt und sein Reich zu Macht und Ehren gebracht. Nur in dem Kampfe gegen die katholische Liga war er unglücklich. Nach der Niederlage bei Lutter am Barenberg drängten ihn die vereinigten Heere von Wallenstein und Tilly über Holstein hinaus bis an die äußersten Marken von Jütland. Doch erhielt er in dem Frieden von Lübeck diese Provinzen nicht blos zurück, sondern wußte sich auch von den Kriegskosten frei zu machen.

Er widmete von da an seine ganze Kraft der Hebung seines eigenen Reichs. Sein rastloses Streben ging dahin, die Macht und den Reichthum der Städte zu heben, ein Nationalheer, namentlich eine Flotte zu schaffen, das Volk aufzuklären, den Gerichten Unabhängigkeit, dem Rechte eine sichere Grundlage zu geben. Zur Förderung dieser Zwecke nahm er sich die Leute, wie er sie fand. Geist und Genie galten ihm dabei mehr als ein Adelsbrief. Um Ordnung in die Gesetzgebung zu bringen, welche sich in einer Unzahl von Gesetzbüchern verzettelt fand, von denen sich die einzelnen oft widersprachen, auch vielfach in unverständlicher Sprache geschrieben waren, ernannte er eine Commission gelehrter und rechtschaffener Männer. „Von nun an,“ waren des Königs eigene Worte, „soll das Recht nicht mehr im Schafte des Spießes stecken, sondern auf der Wagschale der Gerechtigkeit liegen.“

Vor Allem aber ging sein Streben auf die Förderung von Handel Und Schifffahrt, auf die Gründung von Colonien.

So wenig auch die Gunst der Kriegsgöttin ihm zur Seite stand, denn auch ein zweiter Krieg mit Schweden endete für ihn ohne Glück, war er doch persönlich voll Muth und kühner Tapferkeit. Seine rege Thätigkeft umfaßte das Größte und das Kleinste. So war er auch seiner Kinder eigner Hof- und Lehrmeister.

Die Historiker erzählen von ihm, er sei für Dänemark das gewesen, was Ludwig XIV. für Frankreich war.
Fr. Helbig.     

[151]

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Ja Festei – um Gotteswillen –“ stammelte das Mädchen, als sie den Freund so erregt daher kommen sah, „was is denn?“

„Nannei – Nannei,“ hastete es in stockenden Worten von dem Munde des Jägers, „zwei – zwei Adler hab’ ich ausg’macht! Mein Gott – da wenn ich ein’ derwischet – wär’ das a Glück!“

„Wär’ das a Glück!“ seufzte Nannei erleichtert auf und schlug die Hände zusammen.

„Ja, ja – weißt – wie ich vor a zwei Stund’ über’n Grat vom Schneiber ’nüberg’stiegen bin; da hab’ ich’s auf amal dersehen – alle zwei – drunten unter die Wänd’ – da sind’s allweil um einander gestrichen über’m Sand. Mit ei’m Rucker hab’ ich mein Spectif auf’zogen – ja – und da hab’ ich’s nachher ganz genau vermerkt, daß da drunten am Sand an abg’fall’ne Gamsgais liegt, halbert schon von die Adler verhackt und derrissen. Da hab’ ich aber nachher gleich auf- und z’samm’packt und bin davon – hint’ ’nunter am Schneiber und durch’n Sigerethgraben daher – ich sag’ Dir’s – so bin ich meiner Lebtag noch nie net g’rennt.“

„Mein Gott – geh – komm’ nur g’rad a bißl ’rein in d’Hütten,“ jammerte Nannei, „bist ja ganz verlechznet, und kaum an Schnaufer hast!“

„Na, Deandl, na, jetzt kann ich mich net verhalten!“ eiferte der Jäger. „Weißt – jetzt muß ich nur g’schwind ’nunter in d’Ramsau und muß mir von mei’m Oberförster a Legeisen vertlehnen[1] – und weißt – in der Nacht muß ich wieder ’rauf, weil es Eisen vor der Tagslichten schon liegen muß.“ Tief Athem schöpfend, faßte er die Hand des Mädchens. „Nannei – um Eins is mir’s recht unlieb, daß ich morgen in der Fruh net da bin. Weißt – ich hätt’ Dir halt so gar viel gern Glück g’wunschen – zu Dei’m Namenstag.“

Nannei erröthete bis unter die Haare. „Schau – das freut mich schon recht. Aber – woher weißt es denn, daß morgen –“

„No – ich hab’ halt nachg’schlagen in mei’m Jagdkalender, bis ich ihn gefunden habe, den heiligen Annentag. Mußt halt nachher heut’ schon anhören, was ich Dir Alles wünsch’ – natürlich – alles Gute – und – und – natürlich G’sundheit vor Allem, und daß auch Dein Mutterl gesund bleibt, und daß Dei’m Vieh nix g’schieht – und – und nachher – ja – alles Gute halt, alles Gute, weißt!“

„Ich dank’ Dir schön, Festei, ich dank’ Dir schön!“ betheuerte Nannei herzinnigen Tones, indem sie mit beiden Händen die braune Rechte des Jägers schüttelte. „Was Ei’m so gut g’wunschen is, das muß ja unser Herrgott derfüllen! G’wiß wahr! Und schau – weil’s in der Stund’, wo ei’m aus gutem Herzen ’was g’wunschen wird, gar a starke Kraft hat, wann Du ei’m ’was dagegen wünschen thust – sixt – so wünsch’ ich Dir jetzt gleich, daß Du morgen alle zwei Adler mit einander fangst!“

„Na, Nannei – na, na – z’viel därf man net verlangen, sonst b’scheert ei’m unser Herrgott gar nix! Ich wär’ ja schon z’frieden mit ei’m Einzigen!“

„Ja, wann ihn nur kriegen thätst! Schau – so a Freud’ hätt’ ich!“

„No – und ich erst! Aber weißt, da heißt’s jetzt blos zur richtigen Zeit bei’m Zeug sein! B’hüt Dich Gott also, Nannei, b’hüt Dich Gott!“

„B’hüt Dich Gott, Festei! Und Waidmanns Heil für morgen! Waidmanns Heil!“

„Ich dank’ Dir schön!“

Ein Händedruck – und hastigen Schrittes eilte der Jäger dahin, an der Senkung des Weges noch einmal zurückwinkend mit der Hand und mit lächelndem Nicken.

„Mein Gott, mein Gott, wann er ihn nur kriegen thät’!“ seufzte Nannei, als sie in die Hüttenstube zurückkehrte und sich wieder an die Arbeit machte.

Vielleicht konnte sie diese Freude vom lieben Herrgott erbeten – so dachte sie, während sie emsig schaffte und werkte – und mit raunenden Lippen sprach sie ein Vaterunser um das andere vor sich hin. Dann fiel ihr bei, daß wohl auch die Mithülfe eines Heiligen der Sache förderlich sein möchte. Da sie aber von Sankt Hubertus keine Kunde hatte, kam ihr lange kein Heiliger in den Sinn, „der bei so ’was gut sein könnt’.“ Schließlich dachte sie an den heiligen Antonius. Der ist zwar gewöhnlich nur für’s Finden gut – wer da beim emsigen Suchen eines verlorenen Gegenstandes recht andächtig vor sich hinbetet:

„O heiliger Antoni, Du kreuzbraver Mann,
Ich bitt’ Dich herzinniglich, führ’ mich daran!“

der sucht gewiß nicht vergebens!

Aber der Verdienst von so einem Adler wäre am Ende doch auch nur gefundenes Geld, dachte Nannei, änderte deshalb mit vielem Scharfsinn das bekannte Sprüchlein für den vorliegenden Fall, und da klang es denn mit leisen Worten immerzu von ihren Lippen:

„O heiliger Antoni, Du kreuzbraver Mann,
Schau doch, daß der Festei den Adler kriegen kann!“

Mit diesem Sprüchlein ging sie zur Ruhe, dieses Sprüchlein nahm sie mit hinein in Schlaf und Traum – und es huschte wieder von ihren Lippen, da sie des Morgens erwachte. – Durch das kleine Fenster ihrer Schlafkammer guckte schon die helle Sonne.

Rasch ermunterte sich Nannei und sprang vom Lager. Ihr Erstes war, daß sie ihr krankes Dschapei begrüßte. Dann ging sie, frische Luft zu schöpfen – und erblaßte förmlich vor freudigem Schreck, als sie an die Holzklinke der Hüttenthür einen großen Strauß frischblühender Alpenrosen angebunden fand. Mit zitternden Händen löste sie die Schnur und drückte das Gesicht in die Blumen. Es war ihr ein Bedürfniß, die Freude, die in ihrem Herzen lachte, einem lebenden Wesen mitzutheilen, und wenn das auch nur ihr Dschapei wäre. So eilte sie zurück in die Stube und rief dem Thiere jubelnd entgegen:

„Ja schau nur g’rad – Dschapei – schau nur – schau, was ich ’kriegt hab’! Jetzt hat er halt doch noch an mich ’denkt – und in der Nacht! Ich sag’s halt – der Festei! Das is halt Einer!“

Sie holte ein blechernes Trinkgeschirr herbei, füllte dasselbe mit Wasser, gab die Blumen darein und stellte sie an das Fensterchen.

Und hundertmal bei der Arbeit, der sie nun oblag, wandte sie ihre Blicke den Blumen zu.

Sie hatte viel zu schaffen; denn neben der alltäglichen Mühe mußte sie heute die Butterballen und Käslaibe, den Almgewinn der letzten Woche, zurecht legen, da sie gegen Mittag den Knecht des Almbauern erwartete, der die ganze Zeit her an jedem Sonnabend gekommen war, um „abzutragen“.

[152] So verging ihr der Vormittag auch rascher als gewöhnlich, und später als sonst kam sie heute an den Herd, um ihr einfaches Mittagsmahl zu kochen. Recht sehr verwunderte sie sich über das lange Ausbleiben des Knechtes.

Als sie einmal vor die Hütte trat, um auf den thalwärtsführenden Steig hinunter zu spähen, schlug der Hall eines fernen Schusses an ihr Ohr.

Am Ende hat der heilige Antonius geholfen! dachte Nannei klopfenden Herzens; denn der Richtung des Halles nach zu schließen, mußte der Schuß in der Gegend des Schneibers gefallen sein.

Wie sie dann wieder bei ihrer Arbeit stand, so eine Stunde später, hörte sie plötzlich vor der Hütte das Klirren eines Bergstockes und das Klappern schwerer Schuhe. Sie eilte über die Schwelle und sah vor sich am Steige den alten Wofei stehen, mit der Kraxe über dem Rücken; murmelnd und mit den Händen fuchtelnd, spähte er hinüber nach der Höhe des Gejaidberges.

„Ja Wofei – wie kommst denn Du daher?“ rief Nannei den Alten an, der beim Klange ihrer Stimme mit wackelndem Kopfe emporfuhr und ein stotterndes Gelächter hören ließ.

Müden und langsamen Ganges schlurfte Wofei über die Steine einher und starrte dem Mädchen mit gläsernen Augen entgegen:

„Abtragen – weißt – abtragen – abtragen.“

„Du? Und abtragen? Ja warum kommt denn der Knecht net?“

„Arbeit – weißt – Arbeit – hat er g’sagt – der Bauer – jetzt gehst! Ich? Na – nie net – kann’s net dermachen d’Steiner – weißt – d’Steiner! So? Gar is – gar is nachher – aus und gar – kein Verdienst mehr – gar nix – kein Geld – no also – da mußt halt – weißt –“

„So – setz’ Dich nur daher auf’s Bankl und thue Dich ausrasten. Ich bringe Dir gleich ’was z’essen,“ sagte Nannei und nahm die Kraxe mit hinein in die Hüttenstube. Wie sie da am Herde stand, um die Pfanne mit den reichlichen Schmarrenresten, die sie für den Knecht warm gehalten hatte, von den Kohlen zu nehmen, ging hinter ihr die Thür.

„Was is denn? Warum bleibst denn net draußen?“ sprach sie mit leisem Unwillen den Alten an, der in scheuer, gedrückter Haltung vor ihr stand. „Draußen in der Sonne is ja viel schöner, als daherinn in der dumpfigen Stuben.“

„Na – na – draußen net – da net –“ stotterte Wofei und schlich der Herdbank zu, „was siehst denn draußen – g’rad allweil den Berg da! Herinn bei Dir – da g’fallt’s mir besser – schöne Sennerin –“. Und mit einem blöden Kichern duckte Wofei bei diesen Worten den Kopf zwischen die Schultern. „So schön bist – ja g’rad wie die ander’ – mein’ schier – weißt – mein’ schier, Du bist’s – ja – stolz halt – gelt – stolz – weißt, jeder is halt net wie der ander’ – hihihihi!“

„Jetzt wann noch lang so dalket daher redst, nachher därfst mir net herinn bleiben!“ zürnte Nannei und schob dem Alten die Pfanne auf die Herdbank. „Da – iß lieber und sei stad!“

„Recht hast – nix reden – gar’ nix – na – gar nix – hihihihi!“ Kichernd krümmte Wofei den Rücken, zog die Pfanne näher zu sich heran, griff mit allen Fingern in die Speise und schob davon ganze Hände voll unter den borstigen Schnurrbart.

In aller Sorgfalt, und doch in möglichster Eile, begann Nannei die Kraxe mit den bereitgelegten Vorräthen zu beladen. Wie sie damit zu Ende war, schnürte sie die Last mit einer starken Leine an das Holzgestell und prüfte dann die Festigkeit ihres Werkes durch heftiges Rütteln.

Da plötzlich fuhr sie lauschend auf – was war das aber auch ein fröhlicher Juhschrei, der von der Höhe des Rauhenkopfes hernieder in die Hütte hallte!

„Jesses – da kommt er!“ jubelte Nannei und eilte der Thür zu.

Hinter ihr aber klang ein klirrendes Poltern – Wofei hatte die Pfanne zu Boden geworfen – und da stand er schon vor ihr, die Augen aufgetrieben wie von verzehrender Angst, umklammerte mit beiden Händen ihren Arm und wimmerte, am ganzen Leibe schlotternd:

„Na, na – net – ich bitte Dich – sag’s ihm net, daß ich wieder dag’wesen bin – gewiß wahr – ich komm’ nimmer – g’wiß – g’rad sag’s ihm net –“

„Laß mich aus – laß mich aus – Du wilder Kerl Du!“ rief Nannei, welcher ganz unheimlich zu Muthe ward, und mit Gewalt versuchte sie ihren Arm aus Wofei’s krallenden Händen zu winden.

„Sag’s ihm net – sag’s ihm net –“

„Was hast denn, Du Narr – der thut Dir ja nix!“

„Ja, ja – g’schlagen hat er mich, weil Du’s g’sagt hast – g’schlagen – ich bitt’ Dich, sag’s ihm net –“

Mit Ringen und Zerren war es Nannei gelungen, sich aus Wofei’s Händen zu befreien, und da der Alte unter angstvollem Gewimmer des Neuen nach ihrem Arme haschte, stieß ihn das Mädchen mit beiden Fäusten von sich und sprang über die Schwelle.

Hastigen Fußes um die Hütte biegend, eilte Nannei dem Steige zu, über welchen der Jäger einhergestiegen kommen mußte – und da bannte nun ihren Schritt ein Anblick, dessen Freude das unheimliche Gedenken an den eben erlebten Auftritt in ihrem Herzen gänzlich erlöschen machte. Sie hätte jubeln mögen – und brachte kein Wort über die Lippen; sie stand nur, mit zitternd gefalteten Händen, und blickte den Steig empor, über welchen Festei gemachen und achtsamen Schrittes herniederstieg, entblößten Hauptes, die Büchse vor der Brust, mit gehobenen Händen quer über dem Nacken den Bergstock tragend, an dessen jeglichem Ende ein mächtiger Adler hing. Dem Jäger voran am Pfade sprang mit fröhlichem Bellen der Teckel, und ab und zu im Sprunge sich wendend, knurrte er mit wichtigthuendem Gebahren zu den zwei riesigen Vögeln auf, deren kraftlos niederwankende Schwingen die moosigen Steine streiften. Nun stand er vor ihr – auf seinen Lippen lag ein glückliches Lächeln, die Wangen strahlten, und aus seinen Augen leuchtete ein freudiger Waidmannsstolz.

In beiden Händen den Bergstock mit seiner gefiederten Last hoch emporhebend über das Haupt, lachte Festei:

„Nannei, Nannei, was sagst jetzt! Han – da schaust!“

„No also – no also,“ stammelte das Mädchen, „schau – jetzt hat er halt doch geholfen, der liebe Herrgott – und der heilige Antonius – weißt – gestern hab’ ich ’bet’ dafür den ganzen Nachmittag und bis in d’Nacht ’nein.“

„Is wahr! Und schau, da kann’s auch blos Dein Beten g’wesen sein, das geholfen hat,“ rief der Jäger, und der feste Glauben an diese Worte sprach aus seinen Blicken, „weißt – sonst wär’s ja gar net zum denken, daß ich a so a fürchtig’s Glück g’habt hätt’!“

„Ja geh – so verzähl’ doch!“

„Ja, Nannei, Alles – Alles! Aber komm’, jetzt geh’n wir z’erst in d’Hütten ’nein!“ Bei diesen Worten senkte er den Bergstock und ließ von ihm die beiden Adler auf die Erde gleiten.

„Geh, Festei, geh – laß mich ein’ tragen!“

„Ja, Deandl, ja, nimm Dir ein’!“ Lachend zog Festei seinen Hut aus der Joppentasche und stülpte ihn keck über’s Haar. Dann hob er den zweiten Adler von der Erde und so gingen sie Seite an Seite der Hütte zu, darin der Teckel rastend schon bei dem Dschapei auf der Decke lag.

Als Nannei durch das Fenster in die Stube guckte, war kein Wofei und keine Kraxe mehr zu sehen.

[153] „Ahan – es scheint, er hat sich aus’m Staub gemacht!“ lachte sie.

„Was!“ brauste der Jäger auf. „Is er ’leicht bei Dir dag’wesen?“ Festei dachte bei diesen heftigen Worten an die frischen Spuren eines Männertrittes, die er auf einem Sandgefälle am Hundstod wahrgenommen.

„Ja, wen meinst denn Du?“ frug Nannei, verwundert ob dieses Tones.

„No – den von Saalfelden!“

„Ah na – Gott sei Dank – den hab’ ich mit kei’m Auge net g’sehen! Aber weißt – der Wofei, der is dagewesen – der Alte, weißt, der beiem Auftreiben den Karren ’zogen hat. Und aufg’führt hat er sich wieder – ganz verrückt! Ja – weißt, was er gesagt hat: Du hättst ihn so geschlagen, weil ich Dir ’was verrathen hätt’ von ihm!“

„Ich? Den g’schlagen? Hab’ ihn ja g’rad erst an einzigsmal g’sehen.“

„Ja, ja – weißt – bei dem is’ halt nimmer ganz richtig.“ Und Nannei rieb zu diesen Worten mit den Fingern ihre Stirn.

„Das habe ich selbigsmal schon g’merkt!“ lachte Festei.

Da betraten sie die Stube. Nannei ließ den Adler zu Boden fallen; Festei legte den seinen daneben, kniete vor den beiden Vögeln auf die Erde und zog aus der Brust eines jeden die längste, schönste und wolligste Flaumfeder.

Nun sprang er wieder auf die Füße, legte die beiden weißen Federbäumchen sorgsam an einander und reichte sie lächelnd dem Mädchen hin.

„Da Nannei – nimm! Die g’hören Dein – die zwei! Schöner kann ich Dir ’s net geben, weil ich’s schöner net g’funden hab’.“

Nannei erschrak förmlich; mit beiden Händen schob sie das Geschenk zurück, während es von ihren Lippen sprudelte:

„Na Festei, na, na, na – gewiß net! Schau – freuen thut’s mich schon, wann mir a Federl schenkst – aber gewiß net wegeln Hochmuth, daß ich auch ein’s auf’m Hütl hab’ – na, blos weil’s von Dir is und von Deine Adler. Aber schau, ich bin ja lang schon z’frieden, wann mir ’s kleinste schenkst und ’s schlechteste, das an gar kein’ Menschen net verkaufen kannst. Aber die zwei net – für so zwei Stammerln kriegst ja g’wiß a zwanzig Mark!“

„Und wann ich tausend krieget, und hunderttausend und noch viel mehr – die zwei sollst Du haben und sonst kein Mensch!“

„Na, Festei – na – na!“

„Nannei – schau – wann Du’s net nimmst – g’wiß wahr – nachher kannst mich schon verzürnen – und sixt – kein’ Wörtl red’ ich mehr mit Dir!“

„Jesses na! Da – da muß ich’s freilich nehmen!“ stammelte Nannei und griff mit hastigen Fingern nach dem rührsamen Flaume – und da sie die selten schöne Hutzier nun in Händen hielt, brach ihr doch die helle Freude aus den Blicken.

Im Uebermaß dieser Freude vergaß sie völlig, Festei ein Wort des Dankes zu sagen. Der aber dachte gar nicht an Dank; mit glücklichen Augen sah er zu, wie Nannei eilends ihr Hütchen holte, wie sie mit zitternden Händen den Flaum hinter die grünen Schnüre schob, wie sie den geschmückten Hut auf die vollen Zöpfe drückte und schmunzelnd in einem winzigen Spiegel sich besah.

„No – no – da wann ich ’nunterkomm’ in’s Thal,“ so plauderte das Mädchen überfröhlichen Tones vor sich hin, „da muß ja jetzt die reichste Bauerntochter an völligen Neid auf mich kriegen! Und d’ Leut’ – mein – die werden reden – und ’leicht sagen’s gar, ich hätt’ schon an Schatz, der mir’s g’schenkt hat, und – –“ Da plötzlich verstummte sie mitten im Worte, und dunkel schoß ihr das Blut in die Wangen. „Ich bin aber doch schon a recht hoffärtige Dingin!“ sagte sie leise und schritt mit gesenkten Blicken in die Kammer, um den jetzt so kostbaren Hut zu verwahren.

Als sie nach langer Weile wieder in die Stube znrückkehrte, schritt sie dem Herde zu, mit den hastigen Worten: „Gelt, Festei – jetzt wirst an rechten Hunger haben! Aber wart’ nur, jetzt kriegst nachher gleich ’was, und ganz ’was gut’s!“

Festei war so eigen schweigsam geworden – und Nannei hätte die Geschichte des Adlerfanges wohl kaum sobald erfahren, würde sie den Jäger nicht mit bittenden Worten an sein Versprechen gemahnt haben.

„Weißt – das war fein a tüchtiger Marsch, heut’ in der Nacht, da ’nunter und wieder ’rauf,“ begann er. „Aber ich hab’ mir denkt, was am Spiel is, und so hab’ ich’s z’wegen ’bracht, daß ich um a zwei in der Fruh schon droben war am Sand unter’m Schneiber. No – dasselbige Gams, das hab’ ich bald g’funden g’habt, und wie am Himmel d’ erste Lichten auf’zogen is, hab’ ich’s Eisen g’legt. Nachher bin ich fort – ’nüber in’s G’jaid – da hab’ ich mir a schöns Platzl ausg’sucht und hab’ mich niederg’legt, damit ich mich tüchtig ausschlafen könnt’. Wie ich derwach’ und schau auf d’ Uhr, da is’ schon auf a zwei z’ Mittag zu’gangen. Jetzt hat’s mich gleich ’nüber ’trieben – ja – und wie ich in d’ Näh’ vom Eisen komm’, da hab’ ich schon a fürchtig’s Reißen und Fludern[2] g’hört – und wie ich so ’nausschau durch d’ Latschen am Sand – weißt, ich hab’ g’meint, d’ Freud’ bringt mich um – da is der Adler schon dring’hängt im Eisen mit alle zwei Fäng’! Den hab’ ich Dir aber so geschwind beim Krawattl g’habt! Und weißt – wie ich g’rad so damit umhantir’, da schau ich im Zufall gegen d’ Höh’ – ja, ich hab’ g’rad g’meint, ’s ganze Blut steht mir ab – da streicht der ander’ schon daher über d’ Rothleitenschneid’. Mit ei’m Satz war ich drin in die Latschen, hab’ stad mein’ Büchsen herg’richt – und nach einer Weil’ – da war der Adler schon da, hat sich a bißl verhalten in der Höh’ – und nachher is er aber schon ’reing’fallen auf’s Gams, ich hab’ g’meint, er derhaut sich selber. Da kracht’s aber schon bei mir – g’rad hing’rissen hat’s ihn am Sand – a paar Rackler[3] noch hat er ’than – nachher is er dag’legen, maustodt.“

„Das war freilich a Glück!“ lachte Nannei. „Ich sag’s ja – der heilige Antonius – über den geht halt nix!“

Nun aßen sie mit einander; dann steckte Festei sein Pfeifchen an, Nannei that den Rest ihrer Arbeit, und dazu plauderten und lachten sie, bis es Nacht geworden war.

Da mit einem Male hob der Jäger lauschend den Kopf – und auch der Teckel mußte ein verdächtiges Geräusch vernommen haben, denn knurrend fuhr er vom Lager auf und sprang mit lautem Bellen der geschlossenen Thür zu.

„Was is denn da draußen?“ murmelte Festei, öffnete die Thür, den Hund zurückdrängend, umschritt die Hütte und horchte hinaus in die Nacht.

Da war alles stille; ab und zu nur tönte die Glocke einer der Kühe, die um die Hütte her im Grase lagen.

Festei aber dachte an die frischen Trittspuren, die er droben am Hundstod im Sande wahrgenommen hatte.

Er kehrte in die Stube zurück, und da frug ihn Nannei:

„Was war’s denn? Han?“

„Mein – wird ’leicht a Hirsch g’wesen sein, der vorbeig’wechselt is. Aber es is g’rad gut, daß ich aufg’standen bin – [154] weißt, es is schon spät in der Zeit – und ’s Schlafen thut uns all’ zwei recht noth!“

Er hängte die Büchse um die Schulter und schob die gekreuzten Fänge der beiden Adler wieder über den Bergstock.

„Machst aber a rechtes Gesicht auf amal!“ schmollte das Mädchen. „Was hast denn? Han, Festei! Ich hab’ Dir doch ’leicht nix ’than?“

„Na, Deandl, na! Gewiß net! Aber schau – weißt – ich bin halt recht müd’.“

„Geh! No schau – da will ich Dich nachher freilich nimmer verhalten, so lieb mir’s gewesen wär’, wann noch a bißl ’plauscht hättst mit mir!“

So nahmen sie mit festem Händedruck und einem herzlichen „Gute Nacht“ von einander Abschied – und wieder blieb Nannei auf der Schwelle stehen, bis sie droben im Jägerhäuschen die Thür poltern hörte.

Eine geraume Weile verging – dann öffnete sich diese Thür wieder, vorsichtig und leise – und lautlosen Schrittes stieg Festei durch die Nacht hernieder.

(Fortsetzung folgt.)




Eine Volksschauspielerin.


[„]Ein gutes Herz ist viel werth; mehr noch aber ein großes,“ sagte jüngst P. K. Rosegger in einer kritischen Würdigung der verstorbenen Künstlerin. Und er hat Recht. Josephine Gallmeyer[4] besaß ein großes Herz, ein Herz, das die Menschheit zu erfassen vermochte. Sie war mehr als eine Soubrette, mehr als ein weiblicher Komiker; sie war eine große Schauspielerin. Ihr Genie war sich dessen lange nicht bewußt. Und als sie die Kraft fühlte, auch in tragischen Rollen zu wirken, konnte sie nicht mehr die Schwierigkeit bewältigen sich des Dialekts zu entwöhnen. Im Volksstück aber und vor Allem bei unserem herrlichen Anzengruber hätte Josephine Gallmeyer jederzeit ihren Platz in glänzender Weise ausgefüllt. Sie hat das bäurische Gefühlsleben in geradezu unübertrefflicher Weise repräsentirt, weil sie die Volksseele ganz verstanden und mit unmittelbarer Naivetät wiedergegeben hat. – Mit Josephine Gallmeyer ist eine originale, vielleicht nie wiederkehrende Wesenheit, ist ein Stück der österreichischen Volkseigenthümlichkeit, ein Stück unserer Zeit zu Grabe getragen worden. Die Schauspieler sind der Spiegel ihrer Zeit. Wie das heutige Paris, das nervöse, überreizte und übermäßig verfeinerte Paris, durch eine Persönlichkeit, durch Sarah Bernhardt, am treffendsten charakterisirt wird, so war es der österreichische Volkshumor durch Josephine Gallmeyer. Und wie Sarah Bernhardt an allen Orten und auch von Denjenigen verstanden wird, die der französischen Sprache nicht mächtig sind, so wurde auch Josephine Gallmeyer selbst dort verstanden, wo man den österreichischen Dialekt nicht kennt. – Der Unverstand eines Wiener Theaterdirectors, der das Anerbieten der Gallmeyer, umsonst an seiner Bühne zu wirken, mit den Worten erwidert hat: „Es wird sich später vielleicht ein Plätzchen für Sie finden,“ kann nicht als Ausdruck einer allgemeinen Ansicht gelten. Denn Jeder, der Josephine Gallmeyer künstlerisch kannte, weiß, wie viel sie dem modernen Theater bedeutete und was demselben durch ihren Tod verloren gegangen ist. Das hat sich bei der Beerdigung der Künstlerin deutlich genug gezeigt. In so imponirender Weise ehrt eine Stadt nur das Genie. Ganz Wien hat durch die Art und Weise, wie es Frau Josephine Gallmeyer die letzte Ehre erwies, dargethan, daß man sie höher achtete, als einen weiblichen Komiker, daß man in ihr eine große Künstlerin verehrte.

Josephine Gallmeyer.

Wir sind überzeugt, daß die Gallmeyer auch für das ernste Schauspiel hätte gebildet werden können, daß sie, obgleich eine Vierzigerin, bei ihrer eisernen Energie und ihrem großen Fleiße in Kurzem auch das – Hochdeutsche hätte erlernen können. Daß ihr einmal der Versuch mißglückte, eine ernste Rolle im Salonstück zu spielen (die „Desvarennes“ im „Sergius Panin“), ist auf äußere Zufälligkeiten zurückzuführen. Sie selbst hat uns einmal die ganze Geschichte jener verunglückten Rolle erzählt. Man hat sie so lange auf den Proben corrigirt, bis sie ihre Sicherheit und ihre Natürlichkeit verlor.

„Und meine Natürlichkeit ist ja doch Alles,“ sagte sie. „Wie ich gemerkt habe, daß ich nicht mehr natürlich bin, habe ich auch gefühlt, daß ich durchfallen muß.“

Sie drückte die Ueberzeugung aus, daß – wenn ihr nochmals Gelegenheit gegeben würde, die Desvarennes zu spielen – die Rolle gewiß besser ausfallen werde. Sie wolle dem Publicum schon zeigen, daß sie auch ernst spielen könne! Es hat nicht sollen sein! –

Wer das Leben und Wirken der Gallmeyer näher betrachtet, der wird finden, daß sich trotz aller äußeren Lustigkeit, trotz allen Uebermuths doch stets ein großer künstlerischer Ernst in ihr ausgedrückt hat. „Ihr Höchstes wäre,“ sagte sie mir selbst, „dem Burgtheater anzugehören.“

Alle die Parodien tragischer Künstler, die sie in verschiedenen Possen zum Besten gab – was waren sie Anderes, als der Ausdruck eines unbestimmten Dranges nach Besserem, Höherem? Auch hierüber hat sie sich einmal mir gegenüber ausgesprochen. Es war nach dem Sensationserfolge ihrer Sarah Bernhardt-Parodie, als sie mir ihre innere Beschämung gestand, diese geniale Künstlerin parodirt, also verhöhnt zu haben. In ganz ungewöhnlichem Maße habe ihr Sarah Bernhardt künstlerisches Interesse eingeflößt; sie habe sich gewissermaßen zu ihr hingezogen gefühlt, und weil sie ihre Künstlerschaft nicht hätte erreichen können, so habe sie dieselbe parodirt.

Josephine Gallmeyer war unendlich dankbar, wenn man, ihre ganze Bühnenthätigkeit außer Acht lassend, ernste politische oder künstlerische Fragen mit ihr besprach. Sie las gern gute, ja schwierige Bücher und freute sich, über deren Inhalt und ihre Anschauung über dieselben sprechen zu können. Sie war auch kritischem Tadel über ihre Leistungen durchaus nicht unzugänglich. Einmal gastirte sie an einer Provinzbühne und wurde von dem dortigen Kritiker, dem nunmehrigen Bühnenschriftsteller A. Rosen, stark mitgenommen. Kaum hatte sie dies erfahren, so war auch schon ein Racheplan gefaßt. Einer der Mitspielenden sollte ihr am nächsten Abende ein Bouquet Rosen reichen, sie aber wollte dieselben zu Boden werfen, mit Füßen treten und sagen: „Aus Rosen mache ich mir nichts.“

Durch Zufall aber kam ihr die bewußte Kritik zu Händen, sie las dieselbe, fand, daß Vieles darin berechtigt sei, und unterließ nicht nur die Rache, sondern suchte den Kritiker auf und ward mit ihm befreundet. –

Ihr Witz war meist gutmüthig, konnte aber auch diabolisch sein. Einem mehrfach abgestraften Menschen, der ihr seine geschriebenen und gedruckten Beleidigungen überallhin nachsandte, wo sie sich just aufhielt, schickte sie einmal aus einer deutschen Stadt als Antwort eine Photographie mit der Aufschrift: „Das ist die Ansicht des hiesigen Zuchthauses. Wie das in Wien aussieht, wissen Sie ja!“ Der Schurke hat sie seitdem in Frieden gelassen.

Wenn sie ein paar lustige oder boshafte Streiche aufgeführt hatte, oder wenn sie sich zum Jähzorn hatte hinreißen lassen, trat meist eine starke Reaction bei ihr ein. Sie wurde dann wehmüthig und melancholisch; oft weinte sie sogar die heißesten Thränen. Es war ihr stets peinlich, in einer solchen Stimmung von Bekannten überrascht zu werden, weil sie fürchtete, daß man ihre Traurigkeit für Komödie halten könne.

Man hat gesagt, daß Josephine Gallmeyer bigott gewesen sei. Ich bestreite dies. Sie hat häufig mit mir über religiöse Fragen gesprochen und dabei eine seltene Unbefangenheit an den Tag gelegt. Ich lenkte das Gespräch auf Mariazell und auf Wallfahrten dorthin. Sie wußte, wohinaus ich wollte, und sagte mit tiefernstem Ausdruck:

„Darüber kann ich nicht reden! Ich geh’ nach Mariazell, weil mir meine Mutter auf dem Todtenbett ein Gelübde abgenommen hat. Das Gelübde ist mir heilig.“

So gab es einige Punkte im Leben der Gallmeyer, deren Andenken von ihrem Leichtsinn stets unberührt blieb. Unter ihren Zeitgenossen hat sie zwei Männer in geradezu frommer und ängstlicher Weise verehrt. Diese sind Hans Makart und Richard Wagner. Dem Letzteren sollte sie einst im Namen einer Corporation einen Kranz überreichen; aber, als sie dem großen Manne gegenüberstand, fand sie, die immer schlagfertige und bereite Gallmeyer, keine Worte und lief, den Kranz zu Boden werfend, wie ein verschämter Backfisch davon. Mit Makart hat sie in ihrem ganzen Leben nicht verkehrt. Oft und oft bat sie mich, ihr einmal Makart’s Atelier zu zeigen, es aber unter allen Umständen so einzurichten, daß sie dem Künstler nicht begegnen könne. „Ich wüßte mit ihm nichts zu reden.“ Wiederholt wurde eine Stunde festgesetzt, aber immer wieder wurde die Besichtigung verschoben. Sie hatte bei aller Sehnsucht doch wieder eine undefinirbare Scheu vor diesem „Allerheiligsten“. So erhielt ich im Januar 1882 eine Karte:

„Leider geht es mir schlecht; ich bitte daher den Besuch bei meinem Ideal ‚Makart‘ vorläufig zu unterlassen; ich bin jetzt zu nervös.“

An den Namen Makart knüpft sich noch ein charakteristischer Vorfall, der mir mit Josephine Gallmeyer begegnet. Es war während der letzten Internationalen Kunstausstellung in München. Sie bat mich, den Führer zu machen und ihr die interessantesten Bilder zu zeigen. Als ich sie zu dem Architekturbilde Makart’s, jenem viel besprochenen Renaissance-Palast führte, sagte sie mit fast wehmüthigem Ausdruck: „das ist Makart’s [155] Desvarennes“. Kann es eine zutreffendere Kritik über jenes Gemälde geben? – In der Mitte des Monats Januar habe ich die Künstlerin zum letzten Mal gesprochen. Sie klagte in bitteren Worten darüber, daß sie jetzt kein ruhiges Engagement in Wien finden könne und sich an Provinzbühnen ihr Brod verdienen müsse. Am nächsten Tage sollte sie in einem hiesigen Verein eine Vorlesung halten. Ich sagte ihr, daß ich zu meinem Bedauern derselben nicht beiwohnen könne. Sie bat mich, unter allen Umständen zu kommen und zwang mir schließlich das Versprechen ab. Ich begriff diese Dringlichkeit nicht. Aber sie bestand darauf und sagte:

„Wer weiß, ob ich noch einmal in Wien auftreten kann, ob Sie mich überhaupt noch einmal hören können!“

Es war in der That das letzte Mal, daß ich sie gehört.

Wien. G. Ramberg.     




Blätter und Blüthen.


Dr. A. Bernstein †. Einen treuen Freund hat uns der Tod entrissen, den Verlust eines ehrenvollen Mannes müssen wir heute betrauern. Nach schwerem, aber glücklicher Weise kurzem Leiden starb am 11. Februar Dr. Aaron Bernstein, einer der ältesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“. Schon im Jahre 1861 haben wir den „alten Bernstein“ unsern Lesern vorgeführt, da er in der Blüthe seines Lebens stand, ein unerschrockener Kämpfer für die Freiheit und die Aufklärung des Volkes. Sein Lebensbild war schon damals so gut wie abgeschlossen, der Ruhm des Pfadfinders für den politischen Leitartikel in Deutschland war ihm ebenso gesichert, wie der Ruf des Begründers eines neuen Literaturzweiges, der Popularisirung der Naturwissenschaften. Was er in den letzten zwanzig Jahren noch geschaffen, das war nur eine Fortsetzung seines früheren ersprießlichen Wirkens, ein unermüdliches Streben, den reichen Schatz der Wissenschaft den breitesten Schichten unseres Volkes zu erschließen. Zu diesem Zwecke trat er in letzter Zeit in engere Beziehungen zur „Gartenlaube“, und bot unseren Lesern das vortreffliche Charakterbild des großen Volksmannes Schulze-Delitzsch und die geistvolle Erinnerung an das helle Doppelgestirn der deutschen Wissenschaft, die „zwei Brüder“ Alexander und Wilhelm von Humboldt. In diesem Jahre beabsichtigte er die Fortschritte der Elektrotechnik in unserem Blatte zu behandeln und trug uns Pläne über neue große literarische Unternehmungen vor, denn sein rüstiger Geist ahnte nicht, daß er abberufen werde von seinem mit seltener Pflichttreue behaupteten Posten. Legen wir den wohlverdienten Lorbeerkranz auf sein frisches Grab nieder und bewahren ihm das liebevolle Andenken, das wir ihm schulden! J.     


Französischer Deutschenhaß und die italienische Riviera. Der alte, gewiß sehr verständige Ausspruch Rich. Sheridan’s, „daß es gar nichts schaden könne, wenn Jemand von dem, worüber er schreibt, auch etwas verstehe“, ist abermals von einem Schriftgelehrten unserer liebenswürdigen Nachbarn jenseits der Vogesen mißachtet worden. – Dies ist geschehen durch den als Deutschenfresser genügend bekannten Aurelian Scholl (hat der Mensch auch noch einen deutschen Namen!), der die Scene seiner Hetzjagd jetzt nach Nizza verlegt. Die dortige Ausstellung wird auch von Deutschen besucht und giebt Herrn Scholl Gelegenheit, einen angeblich an ihn eingesandten Brief zu veröffentlichen, in welchem er der ganzen französischen Nation die Belehrung ertheilt: „Die französische Regierung habe mit gewissen fremden Regierungen, um sich gemeinsam gegen das ‚deutsche Plündersystem‘ zu wehren, eine Convention zum Schutze der Fabrikzeichen abgeschlossen, an welcher die Deutschen allein keinen Antheil genommen, um um so freier die neuen Modelle stehlen und verwerthen zu können. Dies geschehe jetzt besonders eifrig von den Deutschen in Nizza.“ Von dem kleinen allbekannten Umstand, daß alle eingetragenen französischen Fabrikmarken auch in Deutschland den vollen gesetzlichen Schutz genießen, braucht Herr Scholl, der über dieses Gesetz schreibt, natürlich nichts zu wissen.

Die Hetzereien werden endlich ekelerregend. Der genannte Brief war nicht blos im Pariser „Evènement“, sondern im Nizzaer „Petit Niçot“ abgedruckt. Aber selbst bis nach Algier geht dasselbe Treiben. Ein Artikel des „Republicain Constantine“ beginnt folgendermaßen: „Kaufleute, Banquiers, Industrielle und Colonisten! Haltet die Augen offen! Eine Bande von deutschen Spionen stürzt sich auf unser theures Algier!“ Und der Schluß lautet: „Bewohner von Philippeville, Constantine, Sétif und Bougie, wacht, thut Eure Pflicht! Diese schmierigen Gesellen wagen Alles. Schon sind Algier und Oran durch ihre Gegenwart beschmutzt; heute sind wir an der Reihe. Wir stoßen den Alarmruf aus: Drauf auf die deutschen Spione! Gebe der Himmel, daß dieser Ruf nicht ohne Echo bleibt!“

Da möchte man denn doch ausrufen: „Sind denn alle Tollhäusler Frankreichs unter die Schriftsteller gegangen?“ Wir haben zu bittere Erfahrungen über die französische Nachbarschaft, um nicht noch Schlimmeres vom Fortbrennen des Haßfiebers der Franzosen befürchten zu müssen. Ihr Ludwig XIV. verheerte die ganze herrlich blühende Pfalz (1689 bis 1698), weil er sie nicht zum Eigenthum erhalten konnte, und setzte die Ausbreitung der Wüste zwischen Frankreich und Deutschland noch Jahre lang fort. Die Republikaner von 1870 vertrieben alle Deutschen, auch die eingeborenen, aus Frankreich, und heute ist jeder einzelne Deutsche dort so gut wie vogelfrei.

Und dies wird sogar auf die Bäder übertragen, die von Deutschen so stark besucht werden, auf Nizza und Mentone. Wohl mag der Geschäftsmann es nicht vermeiden können, die Chinesische Mauer der Franzosen zu übersteigen; aber wer am südlichen Meer Gesundheit und Erholung sucht, dem sollte die Einsicht und deutsches Ehrgefühl gebieten, den trefflichen Bade-Orten der italienischen Riviera den Vorzug zu geben. In Italien giebt es, Gottlob, keinen Deutschenhaß mehr, das ehemalige „Morte ai Tedeschi“ ist wie von den Mauern so aus den Herzen verschwunden. Es macht sich in der That nothwendig, daß auch die deutsche Familie in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse sich nach der deutschen Politik richte. Ein festeres patriotisches Zusammenhalten der Deutschen in Industrie, Handel und Leben ist allein im Stande, unsere feindseligen Nachbarn von ihrem selbstmörderischen Irrwahn zu curiren. F. H.     

Ländliches Fest in Schwaben. (Illustration S. 144 und 145). Welch eine Fülle von Leben quillt aus der behaglichen Umrahmung dieses Bildes hervor, durch welches wir wieder einmal an Eduard Kurzbauer erinnert werden![5] Gruppe an Gruppe, und jede der Wirklichkeit abgelauscht, jede einzelne Gestalt ein eigenartiges Wesen, nicht eine einzige gleichgültige Figur, die wir an ihrem Ort ohne Schaden vermissen könnten, kurz Alles mit einander in den naturnothwendigen Beziehungen des fröhlichen Festtreibens. Es ist eine Lust, das Auge durch diese so vertraut anheimelnde Gesellschaft wandeln zu lassen.

Der Künstler hat uns zu einem der stattlichen Dörfer bei Tübingen geführt, wo auch die Städter ihr Vergnügen in der ländlichen Umgebung suchen. Rechts aus dem tiefen Waldesschatten kommen Tübinger Studenten hervor. Einer derselben hat die – Keckheit – denn als solche wird sein Unterfangen offenbar aufgenommen – die gestrenge Mama am reichbesetzten Tisch um die Gestattung eines Tanzes mit ihrem Töchterlein zu bitten. Die Antwort lesen wir der Dame aus dem Gesicht: „Das Kind sei noch viel zu jung zum Tanzen“, – während aus dem lieblichen Gesicht dieser noch Vielzujungen ein paar Augen leuchten, welche das Gegentheil versichern. Man ärgert sich über den Philister von Vater, der da nicht freundlichen Einspruch thut; aber der steht unterm Pantoffel, das sieht man ja.

Kann eine Gruppe noch sprechender vor uns stehen, als die der Kinder und der Alten im Vordergrunde? Der Bub mit den zwei Mädeln stellen sich eben zum Ringelreihen an, da hat das dicke Kind zur Rechten seine Milch ausgetrunken und will nun mitspielen. Die alte Kinderwärterin deutet dies auf’s Anschaulichste an. Der Bub wirft ihr einen recht trotzigen Blick zu, und nur der Prachtjunge auf ihrem Schooße lacht auch dem alten garstigen Gesicht urselig entgegen.

Gleich hinter der Alten fesselt uns ein Kleeblatt von Menschen, von denen Jedermann behauptet, sie schon irgend einmal gesehen zu haben: der würdige ältere Herr, der offenbar zu den Ortsgroßen gehört, das scheue Mädchen, dem er das Glas darreicht, und der Schelm zwischen Beiden mit den köstlich lachenden Augen.

Hinter’m Rücken beider Mädchen befindet sich wahrscheinlich ein Honoratiorentisch. Uns interessirt besonders der alte Herr, der, die Karten in der linken, die Pfeife in der rechten Hand, höchst angelegentlich auf die Gruppe im Vordergrund zur Linken unseres Bildes herüberblickt, wo ein Herr Verwalter oder gar ein Herr Baron das hübsche Töchterlein eines jedenfalls angesehenen Landmanns begrüßt, der mit seiner stattlichen Frau einen Tisch allein einnimmt. Währenddeß guckt unseres alten Herrn Partner an dem Tisch ihm in die Karten.

Herein in den Kreis treten soeben zwei stramme Bursche, der eine in der Jacke, der andere im langen Sonntagsrock. Was dieses entschlossene Paar hierherzieht? Man darf nur der Richtung ihrer Blicke folgen, so merkt man, daß für die zwei Mädel vor dem Honoratiorentisch die Tänzer bereit stehen.

Hinter den Beiden drängt das junge Volk auf der schmalen Treppe zum Tanzboden hinauf. Da herrscht nur Lust und Leben! Der Trompeter schmettert das Zeichen herab, das bekanntlich merkwürdiger Weise durch die Ohren direct in die Beine fährt, und nun ist kein Halten mehr, denn die Krone des Festes ist doch allweil der Tanz.

Wir haben hier nur die Hauptgruppen unseres Bildes betrachtet, aber damit ist es noch lange nicht ausgenossen. Zwischen den aufgezählten Gestalten wimmelt es noch überall im Hintergrunde und macht es uns anschaulich, daß der Festplatz sich noch nach allen Seiten ausdehnt und daß in all den Menschen derselbe Geist der Freude waltet.


  1. Zu leihen nehmen.
  2. Flattern.
  3. Zuckungen.
  4. Geboren am 27. Februar 1838 in Leipzig, gestorben am 3. Februar d. J. in Wien.
  5. Ueber den Lebensgang dieses Künstlers vergl. „Gartenlaube“ 1880, S. 19.



Barnum’s „weißer“ Elephant. (Illustration S. 156.) Ungewöhnliche Naturerscheinungen haben stets die Menschen zur Bewunderung veranlaßt und selbst die trägsten Geister zum Nachdenken herausgefordert. Sie waren oft die Quelle großer Entdeckungen und ungeahnter Fortschritte, häufiger aber dienten sie als bequeme Grundlage für die ungeheuerlichsten Anschauungen über das Wesen der Dinge und das Walten des Schicksals im Menschen- und Völkerleben. In dem Ungewöhnlichen glauben die Befangenen ein Wunder schauen zu müssen und beugen vor ihm das Knie.

Diesem allgemein menschlichen Gefühl ist es auch zuzuschreiben, daß einige asiatische Völker in selten gefärbten Thieren höhere Wesen erblickten und weißen Elephanten eine besondere Verehrung zollten, ebenso wie sie auch weißen Affen mit gewisser Achtung begegnen. Noch heute soll in Siam und Birma die Sitte bestehen, daß man solche Elephanten als heilige Thiere anbetet und ihnen den Namen „Herr“ und „König“ beilegt. Bis jetzt stand diese Thatsache in Büchern verzeichnet, ohne die Gemüther der Europäer irgendwie zu erregen, und nur eine ungeheuere Reclame konnte es zu Stande bringen, daß in den letzten Wochen ein solcher angeblich „heiliger“ und nicht einmal ganz weißer Elephant allen Völkern Europas in getreuer Abbildung vorgestellt wird, und daß selbst Gelehrte über seine „Heiligkeit“ streiten. Und wir brauchen uns über [156] diese Berühmtheit des seltenen Thieres nicht zu wundern, denn es ist ja der „König der Reclamemacher“, der Amerikaner Phineas Taylor Barnum, der für seinen „Toulong-Talong“ zahllose Agenten und Zeitungsreporter in Bewegung setzte.

Dieser erfinderische Kopf, der durch sein Werk über die Kunst, Geld zu machen, in letzter Zeit auch den Lesern der „Gartenlaube“ näher bekannt wurde, bemerkte wohl, daß die Menschen den Kolossen der Thierwelt ein großes Interesse entgegentragen, und glaubte sogar eine besondere Menschenrasse gefunden zu haben, die gerade für die Elephanten eine besondere Vorliebe zeigt und die er darum mit dem köstlichen Worte „Elephantropen“ bezeichnete. Für diese hatte er vor etwa zwei Jahren den Riesenelephanten des Zoologischen Gartens in London für eine hohe Summe gekauft und mit dem gebührlichen Pomp nach New-York gebracht. Der unermüdliche Mann war aber mit diesem Erfolge nicht zufrieden, er wollte sich selbst überbieten und seinem Publicum eines der seltensten Thiere, einen heiligen weißen Elephanten vorstellen. Er schickte einen Agenten nach Siam, welcher dort um jeden Preis von dem Könige einen solchen „Herrn“ kaufen oder borgen sollte. Nach allen in die Welt ausgesprengten Erzählungen gestaltete sich diese Reise zu einem sensationellen Abenteuer.

Barnum’s „weißer“ Elephant.

Der König von Siam, der mehrere weiße Elephanten besitzt, weist den Agenten Barnum’s mit Entrüstung zurück. Da erfährt der Abgewiesene, daß ein siamesischer Stammeshäuptling ein solches Thier besitze, und es gelingt ihm, dasselbe für den ungeheueren Preis von 100,000 Dollar zu erwerben. Mit Mühe und Noth bringt der schneidige Geschäftsmann seinen Elephanten bis nach Singapore. Aber die Siamesen wollen es nicht dulden, daß dieses „Heiligthum“ in das Land der Ungläubigen geschleppt werde, und es findet sich ein religiöser Fanatiker, der diese „Gottheit“ vergiftet und ruchloser Weise Barnum um 100,000 Dollars ärmer macht.

Aber der Schaubudenkönig läßt sich durch diesen Verlust nicht abschrecken; er posaunt in die Welt hinaus, daß er für einen zweiten weißen Elephanten 200,000 Dollars zahlen werde. Das bringt die Sache von Neuem in Fluß. Im Siam und Birma wird mit Fürsten und Königen unterhandelt, und endlich entschließt sich König Thibau von Birma, dem Amerikaner einen seiner heiligen Elephanten gegen Geld und gute Worte abzutreten. Es wird ein Contract aufgesetzt, und der reiche Mann, der den Elephanten kauft, muß sich verpflichten, für ihn mit Liebe zu sorgen und auch zwei buddhistische Priester mitzunehmen, durch deren Gebete das Königreich vor etwaigem Unglück bewahrt werden solle, wenn Toulong-Talong, so heißt nämlich der Elephant, in das „Land der Heiden“ eintreten würde.

Geduldig läßt sich nun das heilige Thier auf einen Dampfer bringen, landet glücklich in Liverpool und trifft am 18. Januar in London ein.

Die Zuschauer strömen in Massen herbei. Die Reclame verstummt, und die Kritik ergreift das Wort. Man hoffte in der That einen rein weißen Elephanten zu sehen, der bekanntlich als Albino unter seinen dunklen Stammesgenossen ein selteneres Naturspiel bildet, als bei uns zu Lande die weißen Hirsche. Aber arge Enttäuschung. Der Elephant ist nicht weiß, sondern aschgrau, er hat zwar blasse Ohren und helle Flecken am Kopf und Hals und auf dem Rücken, er hat auch weiße Nägel und hellgefleckten Rücken, er ist ein schönes, sehr seltenes Exemplar, aber keineswegs weiß. Und wenn er nicht weiß ist, so ist er auch nicht heilig, folgern die Ungläubigen und erklären die Anbetungen der buddhistischen Priester für eitel Humbug. Man schüttelt dazu den Kopf, aber geht hinein, um sich von der Färbung des göttlichen Thieres zu überzeugen, und man thut in London eben das, was Barnum wollte, man bezahlt den hohen Eintrittspreis, und wird dasselbe auch in Nordamerika thun. Der König der Schaubudenbesitzer kennt sein Publicum.


Zur Erläuterung einer Stelle in „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit (Nr. 7, Seite 115) wird uns aus Magdeburg geschrieben:

„Es wird gewiß die Leser der „Gartenlaube“ interessiren, wenn ich die Bemerkung mache, daß „die Tochter eines Eisenfabrikanten unserer Gegend, die eine Herzogin geworden war“, von der Heine in seinen von Ihnen jetzt veröffentlichten Memoiren spricht, die Gemahlin des Marschalls Soult, Herzogs von Dalmatien, eine geborene Berg aus Solingen (bei Düsseldorf) war.“



Allerlei Kurzweil.


Charade.

Weil du das erste gemieden. so muß du das zweite ertragen;
Quält doch mein Ganzes dich nun, bis du das Erste geschaut.


Auflösung des Quadraträthsels
in Nr. 8.




Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 8:

Grau, theurer Freund, ist alle Theorie.
Und grün des Lebens gold’ner Baum.



Kleiner Briefkasten.


K. von W. in Berlin. Die Zusammenstellung der berühmten Todten auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhofe in Berlin in Nr. 48 des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Man wird noch manchen Namen hinzufügen können. Werden wir doch aus Florenz auf einen solchen aufmerksam gemacht. Gleich neben dem Cantian’schen Erbgewölbe befindet sich ein anderes mit der einfachen Inschrift „Erbbegräbniß der Familie Walter“. Hier ruhen Vater und Sohn: Johann Gottlieb Walter († 1816) und Friedrich August Walter († 1826), beide hochverdient als die Stifter des Anatomischen Museums zu Berlin. Die Tochter des Letzteren, Gräfin Graziani, lebt als hochbetagte Matrone zu Florenz.

Abonnent in Hersfeld. Die in Leipzig domilicirende „Fürstl. Jablonowskische Gesellschaft der Wissenschaften“ veröffentlicht alljährlich Preis-Fragen aus dem Gebiete der Geschichte, der Naturwissenschaften, Mathematik und Nationalökonomie. Der ausgesetzte Preis beträgt in der Regel 600 bis 700 Mark und wird in der Hauptversammlung im März der besten unter den eingesandten Abhandlungen zuerkannt; auch übernimmt die Gesellschaft den Druck der Preisschrift auf eigene Kosten. Wünschen Sie eingehendere Mittheilungen, so wenden Sie sich an den Archivar der genannten Gesellschaft, Herrn Geh. Hofrath Prof. Dr. Hankel in Leipzig, Thalstraße 15c.

M. R. in F. Es ist doch nichts mit dem „Elfenspuk“. Der Vers:

„Doch Schrecken! Ihn necken noch Träume wohl?
Verschwunden ist Rehbock als Büchse sowohl!“

ist ein zu naher Verwandter des bekannten:

„Da rief der Herr von Röder:
Halt oder stirb entweder!“

E. G. S. D. in Hamburg. Ihre Anfrage wegen Ankauf einer Nähmaschine für den gewöhnlichen Bedarf einer kleinen Familie ist dahin zu beantworten, daß das System Singer für gedachten Zweck mancherlei Vorzüge besitzt. Dasselbe näht feine wie starke Stoffe und schmiegt sich den vielseitigen Anforderungen, wie sie in der Familie vorkommen, am leichtesten an, auch ist die Handhabung eine verhältnißmäßig sehr einfache, sodaß auch ungeübtere Hände mit dem Mechanismus dieses Systems zu Fache kommen können.

H. H. in Q. Sie verlangen viel. Gut angelegte Blitzableiter sind das einzige Mittel, das Ihnen helfen kann.



Inhalt: Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 141. – Die „gute alte Zeit“. Von Karl Biedermann. I. S. 146. – Fürst und Kanzler. Ein Capitel aus der dänischen Geschichte. Von Fr. Helbig. S: 148. Mit Illustration S. 149. – Dschapei. Von Ludwig Ganghofer. S. 151. Mit Illustrationen S. 151, 152 und 153. – Eine Volksschauspielerin. Von G. Ramberg. Mit Portrait S. 154. – Blätter und Blüthen: Dr. A. Bernstein †. – Französischer Deutschenhaß und die italienische Riviera. – Ländliches Fest in Schwaben. S. 155. Mit Illustration S. 144 und 145. – Barnum’s „weißer“ Elephant. S. 155. Mit Illustration. S. 156. – Zur Erläuterung einer Stelle in „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“. S. 156. – Allerlei Kurzweil: Charade. – Auflösung des Quadraträthsels in Nr. 8. – Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 8. – Kleiner Briefkasten. S. 156.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.