Die Gartenlaube (1887)/Heft 28

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[453]

No. 28.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Fortsetzung.)

Rawlston verzog den Mund zu einem Lächeln, aber es gelang ihm nicht, heiter auszusehen, und er gab den Versuch schnell auf. Er blickte sich eine halbe Minute lang rathlos in dem leeren Zimmer um; dann murmelte er eine Reihe von Flüchen vor sich hin, mit denen er „allen Unsinn“ sowie „alle verrückten Weiber“ und „alle verrückten Liebeshändel“ zum Teufel wünschte – und nachdem er auf diese Weise seinem vollen Herzen etwas Luft gemacht hatte, stieg er nachdenklich die Treppe hinunter.


Der Latona-Brunnen im Königsschlosse zu Herrenwörth.

[454] Als er über den Hof ging, sah er in der Kaffenstube am offenen Fenster das vergrämte Gesicht des langen Holländers, der hinter seinen großen Büchern saß und eifrig zu arbeiten schien.

„Der Halunke!“ sagte Rawlston vor sich hin, „sieht aus, als ob er kein Wasser trüben könnte, und hat das Geld so sicher gestohlen, wie ich hier gehe.“

Er wollte den Hof verlassen und sich auf den „Bund“ (den Hafendamm des Fremdenquartiers in Shanghai) begeben, um seine Nerven durch einen Spaziergang zu beruhigen, als ihm im Thorweg ein kleiner blasser Mann mit dunklem Vollbart und schlichtem, schwarzem, glänzendem Haare entgegentrat, der ihn mit seinen großen, klugen Augen freundlich anblickte und ihm artig lächelnd „Guten Tag“ bot.

„Seit wann sind Sie wieder hier, Herr Prati?“ fragte Rawlston.

„Ich bin in diesem Augenblicke zurückgekommen.“

„Nun, haben Sie etwas mitgebracht?“

„Ich bin ganz zufrieden. Ich habe etwa zwanzig Ballen Seide bekommen. Die Qualität ist nicht schlecht, und jedenfalls ist die Waare sehr billig.“

„Das ist recht angenehm! – Angenehme Nachrichten kommen in diesem Augenblick ganz besonders erwünscht.“

„Weßhalb gerade in diesem Augenblick?“

„Nun, wegen des verdammten Diebstahls.“

Herr Prati sah Herrn Rawlston mit seinen beredten Augen fragend an. „Von welchem Diebstahl sprechen Sie?“

„Haben Sie von der Sache noch nichts gehört?“

„Ich steige soeben aus dem Boote, Herr Rawlston. Seit acht Tagen habe ich mit keinem Menschen außer mit unseren Chinesen ein Wort gewechselt.“

Herr Prati war der italienische Seideninspektor des Hauses Rawlston & Co., ein sehr angesehener und der bestbezahlte Angestellte des Geschäftes. Er kehrte soeben von einer Reise in das Innere zurück, wo er Seideneinkäufe gemacht hatte.

„Lassen Sie sich die Geschichte von Büchner erzählen,“ fuhr Rawlston fort, „der kennt sie am besten, und seien Sie so freundlich, nach dem Essen zu mir zu kommen, damit wir noch wegen der Seide sprechen. In diesem Augenblick bin ich zu keiner Arbeit aufgelegt. Auf Wiedersehen heute Abend!“

„Ihr gehorsamster Diener!“

Herr Rawlston begab sich auf den Bund und Herr Prati in das Komptoir, wo er von seinen Genossen freundlich begrüßt wurde. Als er an Büchner’s Pult trat, das im Kassenzimmer allein stand, drückte er die Thür hinter sich zu, und nachdem er mit dem Kassirer einen freundschaftlichen Händedruck gewechselt hatte, sagte er theilnehmend: „Was ist denn das für eine Geschichte, die Rawlston soeben andeutete, – ein Diebstahl?“

Der lange Holländer blickte schwermüthig auf den kleinen Italiener hinab und antwortete: „Sie können von Glück sagen, daß Sie die ganze Sache nichts angeht.“ – Und darauf erzählte er bereitwillig die Geschichte, die seit vergangenem Dienstag all’ seine Gedanken beschäftigte. Prati hörte aufmerksam zu, hie und da die Stirn runzelnd, den Kopf schüttelnd oder die Achseln zuckend, wie das so südländische Art ist.

„Sind Sie ganz sicher,“ fragte er endlich vorsichtig, „daß der Comprador das Gold in den Schrank gestellt hat? Sie waren in Eile, so sagen Sie selbst, Sie haben die Kassenthür schnell zugeworfen. Die Chinesen sind geschickte Leute, und ich traue keinem von ihnen über den Weg.“

„Der Comprador ist seit zehn Jahren im Hause,“ antwortete Büchner verdrießlich, „und wenn er nicht ein Taschenspieler allerersten Ranges ist, so konnte er das Geld unmöglich sozusagen unter meinen Augen verschwinden lassen. Ich habe der Kasse nicht eine Viertelminute den Rücken gekehrt; ich hatte nur ein Formular auszufüllen, zehn Worte zu schreiben.“

„Wie Sie meinen,“ sagte Prati, „Sie haben vielleicht Recht. Aber wenn Sie soviel mit Chinesen zu thun hätten wie ich, so würden Sie meinen Argwohn nicht unbegründet finden.“

Büchner begnügte sich, darauf mit den Achseln zu zucken und Prati trat wieder in das Nebenzimmer zurück, wo er noch einige Worte mit den anderen Angestellten wechselte und sich sodann auf sein Zimmer begab.

Etwa eine halbe Stunde später ließ sich Frau Onslow bei Herrn Rawlston anmelden. Herr Wallice, der erste Buchhalter, ging hinaus, um der Dame höflich zu sagen, Herr Rawlston sei augenblicklich nicht im Hause. Frau Onslow erklärte darauf, sie wolle ihn erwarten, und wurde von Herrn Wallice in das Empfangszimmer des Hauses geführt, wo sie ihre große knochige Gestalt mit einem tiefen Seufzer auf einen bequemen Sessel niederließ.

Die genannte Dame, die Frau eines angesehenen amerikanischen Kaufmanns, war in der Fremdenniederlassung wegen ihrer Wohlthätigkeit und Herzensgüte beliebt und wegen ihres seltenen Rednertalents gefürchtet. Wer immer mit ihr zusammentraf, mußte sich darauf gefaßt machen, eine längere Abhandlung aus ihrem Munde über diese oder jene Frage, die Moral oder das allgemeine Wohl betreffend, zu vernehmen. Hatte sie nun aber gar Veranlassung, sich mit Jemand über einen von ihm begangenen Fehler oder etwas, was sie für einen solchen hielt, auszusprechen, so war sie sehr ermüdend, und ihre Opfer verschwanden gewöhnlich gänzlich zerknirscht aus ihrer Nähe und gingen ihr sodann während der nächsten Wochen mit ängstlicher Scheu auf weite Entfernung aus dem Wege. Aber das kümmerte Frau Onslow nicht. Sie betrachtete es als eine Pflicht, alle Sünder, mit denen sie zusammentraf, zu belehren und zu bekehren, und ob dies den Unglücklichen gefiel oder nicht, war ihr vollkommen gleichgültig. – Nachdem sie etwa fünf Minuten ungeduldig gewartet hatte, klingelte sie und beauftragte den eintretenden Diener, einige Boten auszusenden, um Herrn Rawlston zu suchen und diesem zu melden, Frau Onslow warte in seiner Wohnung, sie habe ihm eine wichtige Mittheilung zu machen. Der gut geschulte Diener that, wie ihm geheißen, und einer der Ausgesandten hatte das Glück, seinen Herrn in der Nähe des Hauses anzutreffen und Frau Onslow’s Bestellung schnell ausrichten zu können. Rawlston begab sich darauf eiligen Schrittes zu ihr, denn er vermuthete, sie werde ihm Nachrichten von seiner Schwester bringen.




2.

Als James Rawlston in den Salon trat, nickte ihm Frau Onslow finster zu und bedeutete ihm durch eine stumme Gebärde, auf einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Rawlston wußte genau, was ihm bevorstand, und ließ sich ergeben auf den ihm angewiesenen Platz nieder. Darauf trat eine Pause ein, während deren Frau Onslow ihren Wirth unter majestätischem Heben und Senken des belockten Hauptes vom Kopf bis zu den Füßen und von den Füßen bis zum Scheitel musterte. Rawlston ertrug diese Untersuchung mit anscheinender Ruhe, öffnete und schloß langsam die Augen, zerrte an seinem Schnurrbart und begann endlich, um seine Unbefangenheit ganz klar zu machen, mit den Fingern beider Hände einen Marsch auf den Lehnen seines Sessels zu trommeln.

„Verhalten Sie sich ruhig!“ brach Frau Onslow zornig hervor.

Rawlston sah seinen Besuch mit einem Blick von unten an. Er hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Humor, und Frau Onslow fing an, ihn trotz seiner üblen Laune zu erheitern. Unwillkürlich zuckte es ihm um Augen und Mund, und er war sich bewußt, zu lächeln.

„Lachen Sie nicht, höhnen Sie nicht, Sie … Mann!“

Das Onslow’sche Wörterbuch war reichlich versehen mit wohltönenden, salbungsvollen Worten, aber zur Aeußerung ihres Unwillens fehlten der Frau kräftige Ausdrücke. – „Mann“ war Alles, was sie zur Niederschmetterung ihres Gegners finden konnte. Das Wort verfehlte die beabsichtigte Wirkung. Rawlston’s Mund wurde im Gegentheil breiter, die Augen kleiner, und bald konnte kein Zweifel mehr darüber obwalten, daß er lachte – daß er es wagte, Frau Onslow auszulachen. Das war der guten Dame, ihres Wissens wenigstens, noch niemals vorgekommen. Sie wurde dunkelroth.

„Es giebt hier nichts zu lachen, Herr! Es handelt sich um das Glück eines edlen Wesens, welches das Unglück hat, Ihre Schwester zu sein! Lachen Sie nicht! Hören Sie! Schämen sollten Sie sich!“

Das wirkte ganz anders. Rawlston’s Gesicht wurde sofort ernst und er sagte verdrießlich:

„Meine liebe Frau Onslow, es ist nun das dritte oder vierte Mal, daß ich heute hören muß, ich sollte mich schämen. Das gefällt mir nicht! Mit aller Achtung, die ich einer Dame [455] schuldig bin und Ihnen bereitwillig zolle, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich ganz entschieden den Wunsch hege, es möge ausschließlich meinem Ermessen überlassen bleiben, ob und worüber ich mich zu schämen habe. Bestehen Sie darauf, darüber Betrachtungen anzustellen, so bitte ich um die Erlaubniß, mich entfernen zu dürfen. Mein Haus ist das Ihrige, aber ich mag mich auch bei Ihnen nicht schlecht behandeln lassen. Sie entschuldigen gütigst …"

Er erhob sich, aber er hatte nicht die Absicht, zu gehen; denn es lag ihm am Herzen, von seiner Schwester zu hören; und um die Unterredung nicht abzubrechen, beging er den Fehler, dieselbe durch eine Frage fortzusetzen:

„Worüber sollte ich mich denn schämen?“

Dies öffnete endlich die verschlossenen, zum Ueberfluthen gefüllten Schleusen der verheerenden Onslow’schen Beredtsamkeit. Rawlston verstand zunächst kaum, was ihm gesagt wurde: so überwältigend drang der Wortschwall auf ihn ein. Er blickte hilflos von rechts nach links und vom Fußboden nach der Zimmerdecke; dann sank er in den Sessel zurück, legte beide Hände auf der Brust zusammen, stützte das Kinn darauf und versuchte, den Inhalt des ihn umwogenden Wortgetöses zu erfassen. Es gelang ihm endlich, den Faden zu finden, und nun kam Klarheit in seine verwirrten Sinne. „Worüber er sich schämen sollte?“ Frau Onslow nahm nicht Anstand, es ihm klar und deutlich zu sagen. War nicht Edith ein edles Wesen von vollkommener Herzensgüte, hellem Verstande, makelloser Reinheit? War sie nicht jung, schön, reich, klug, gut – Alles in sich vereinigend, was ein Mädchen liebenswürdig machen kann? War sie nicht seine, James Rawlston’s, leibliche Schwester? Hatte sie je in ihren Pflichten dem Bruder gegenüber gefehlt? War sie nicht ganz auf ihn angewiesen, und hatte er dies nicht böswillig verkannt, indem er sie, die alleinstehende Jungfrau, in rauher Weise aus ihrem Heim, seinem Hause verstoßen hatte?

Rawlston schlug laut die Hände zusammen und blickte gen Himmel, als erwarte er eine höhere Einmischung, die ihn gegen diese böse und falsche Anklage schützen sollte.

„Ich Edith verstoßen! – Aber Frau Onslow, FrauOnslow! Edith war es ja, die gegen meinen Willen davonlief, die mir drohte, aus dem Fenster zu springen, wenn ich sie daran verhindern wollte.“

„Sehr richtig, ganz richtig!“

Frau Onslow wäre nicht die stets siegreiche Wortkämpferin gewesen, wenn ein Bischen erbärmlicher Logik sie erschüttert hätte.

„Sie erwarteten wahrscheinlich, daß Edith ruhig mit anhören sollte, wie Sie ihren künftigen Gemahl beschimpften.“

Rawlston war Frau Onslow nicht gewachsen; er folgte gehorsam, wohin sie ihn führte.

„Frau Onslow, gestatten Sie mir zwei Worte.“

„Ich höre Sie seit einer Stunde an, ohne Sie zu unterbrechen.“

„Liebe Frau Onslow, es ist unmöglich. daß meine Schwester sich mit einem Manne verlobe, der unter dem Verdacht steht, eine Veruntreuung begangen zu haben.“

„Wer verdächtigt ihn? – Sie! Das ist ja eben das Schändliche!“

„Sie irren sich. der Polizei-Inspektor hat den Verdacht ausgesprochen.“

„Und Sie haben sich diesen Verdacht sofort angeeignet. Es ist empörend!“

„Aber, gnädige Frau!“

„Wie lange kennen Sie Herrn Büchner?“

„Seit sechs Jahren.“

„Haben Sie jemals Ursache gehabt, an seiner Ehrlichkeit zu zweifel?“

„Nein.“

„Und ein Polizeimensch, der die Welt nur von der schwärzesten Seite kennt, der überall Diebe und Mörder wittert, der Herrn Büchner nie gekannt hat und der plötzlich, Gott weiß weßhalb! Ihr Vertrauensmann geworden ist, Ihr intimer Freund so zu sagen – der verdient mehr Glauben als Ihre eigene, durch lange Jahre befestigte, persönliche Erfahrung von der Ehrenhaftigkeit eines unbescholtenen Mannes? O Herr Rawlston! Ist das edel? Ist das gerecht? Ist das nicht im Gegentheil abscheulich ungerecht? Einen Menschen des Diebstahls zu zeihen, einfach weil keine materielle Möglichkeit vorliegt, daß er den Diebstahl begangen habe! Was spricht denn gegen Herrn Büchner? Daß er in Ihrem Hause wohnt, daß er den Kassenschlüssel besitzt. Wohnen Sie nicht auch hier, besitzen Sie nicht ebenfalls einen Schlüssel zur Kasse? Weßhalb richtet des Polizisten Verdacht sich nicht auf Sie?“

„Das wäre Unsinn!“

„Ja, das wäre Unsinn, in der That! Das Andere aber, die Verdächtigung eines unbescholtenen Mannes, wissen Sie, was das ist? – Eine Schlechtigkeit!“

„Gnädige Frau, ich fürchte, wir werden uns auf diese Weise nicht verständigen.“

„Daran habe ich vom ersten Augenblick an verzweifelt. Auch bin ich deßwegen nicht gekommen, sondern nur, um einen Auftrag meiner jungen Freundin auszuführen.“

„Und der wäre?“

„Ihre Schwester wünscht, daß unter meiner Leitung gewisse Sachen zusammengepackt werden, deren sie bedarf, um sich bei mir häuslich einrichten zu können.“

Rawlston dachte einen Augenblick nach. An eine sofortige Versöhnung mit seiner Schwester war nicht zu denken; ihr Charakter und seine Gefühle für sie schlossen den Gedanken aus, sie zwingen zu wollen, gegen ihren Willen in seinem Hause zu bleiben. Edith würde bei Frau Onslow, in der sie eine mütterliche Freundin erblickte, wohl aufgehoben sein. Die Sache würde zu mancherlei Gerede Veranlassung geben; aber daran war nun einmal nichts zu ändern.

„Wie meine Schwester wünscht und Sie befehlen,“ sagte Rawlston ruhig. „Aber eine Bedingung muß ich stellen. Edith darf mit Herrn Büchner nicht zusammentreffen. Ich verbiete es ausdrücklich!“

„Das verbieten Sie, Herr Rawlston? Und mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf? – Sind Sie Edith’s Vormund? Sie ist einundzwanzig Jahre alt, soviel ich weiß, und ihre eigene Herrin. Sie haben jedes Recht über das arme Kind verloren, ich aber lasse mir keine Vorschriften von Ihnen machen und übernehme allein die Verantwortlichkeit für das, was Edith in meinem Hause thun und lassen wird.“

„Sie wollen also einen Bruch zwischen zwei Geschwistern herbeiführen, die stets in Frieden und Eintracht zusammen gelebt hatten. Es ist nicht christlich, was Sie da thun.“

„Ueber meine Christenpflichten brauche ich mich von Ihnen, Herr Rawlston, nicht belehren zu lassen; darüber werde ich mich mit meinem Gewissen verständigen!“

Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte nun ihren Höhepunkt erreicht.

„Ihr gehorsamster Diener!“ sagte Rawlston und verließ das Zimmer mit einer Verbeugung. Er war Amerikaner, und seine Erziehung machte es ihm verhältnißmäßig leicht, der älteren Dame gegenüber die gesellschaftlichen Formen unter allen Umständen zu wahren. – Frau Onslow fand dies ganz in Ordnung und wußte dem höflichen Mann keinen Dank für seine Mäßigung. Bitterböse entfernte sie sich, um Ediths Auszug aus dem „ungastlichen“ Hause so schnell wie möglich zu bewerkstelligen.

Während sie damit beschäftigt war, setzte Rawlston, in einem Zustande großer Aufregung, ein kurzes Schreiben an Herrn Büchner auf. Dem unglücklichen Kassirer wurde darin in dürren Worten gesagt, die Herren Rawlston & Co. verzichteten für die Zukunft auf seine Dienste. Er werde deßhalb ersucht, die von ihm geführten Bücher und den Kassenbestand im Laufe des Tages an Herrn Waltice abzugeben.

Nachdem Rawlston diesen Brief geschrieben hatte, schloß er ihn in sein Pult ein. Er wußte, daß damit die Aechtung Büchner’s unterzeichnet war, und er zauderte, das Schriftstück abzusenden. Er saß eine Weile grübelnd da. Büchner war ihm sechs Jahre lang als ein treuer, zuverlässiger Diener seines Hauses erschienen. Vor einer Woche noch hatte er ihn, wenn auch nicht mit Freuden, denn er wollte für seine Schwester höher hinaus, so doch artig und höflich als seinen zukünftigen Schwager begrüßen wollen; und nun wies er ihm die Thür wie einem Unwürdigen. – Frau Onslow’s Worte fielen ihm ein: sollten die sechs Jahre persönlicher Erfahrung von Büchner’s Charakter nicht schwerer wiegen als das Urtheil des Polizeibeamten? – Er wurde immer nachdenklicher. Alles, was in seiner Natur vornehm war, sträubte [456] sich dagegen, einen Schritt zu thun, der Büchner zu einem Unglücklichen machen mußte. Er nahm den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal durch. Sinnend sah er sodann zum Fenster hinaus. Da erblickte er den langen Holländer, der schnellen, entschlossenen Schrittes über den Hof ging und sich dem Arbeitszimmer näherte, in dem Rawlston soeben dessen Schicksal erwog. Gleich darauf wurde heftig angeklopft.

„Herein!“

Die Thür öffnete sich und Büchner trat hastig in das Zimmer und an den Tisch, an dem der überraschte Kaufmann saß.

„Herr Rawlston,“ sagte Büchner – seine Stimme zitterte und hatte einen heiseren fremden Klang – „Herr Rawlston, Sie glauben, ich hätte Ihnen das Geld gestohlen? … Ich? … Herr Rawlston, das ist eine Niedertracht!“

Der Amerikaner war ein Mann aus guter Familie, der bei seinen Mitbürgern in hohem Ansehen stand und an schlechte Behandlung nicht gewöhnt war. Er gehörte nicht zu denen, die sich leicht einschüchtern lassen, und er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Beweise persönlichen Muthes gegeben. Wenn er trotzdem bei dem neuen Schimpf nicht in die Höhe fuhr, oder nach californischen Sitten, die ihm keineswegs fremd waren, – denn er hatte eine Zeit lang in Nevada gelebt – nach dem Revolver griff, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, so erklärte sich dies dadurch, daß sein Vertrauen zu der Ansicht des Polizei-Inspektors im Laufe des Tages erschüttert worden war und er sich kurz vorher gefragt hatte, ob es nicht Unrecht von ihm gewesen sei, seinen Verdacht so bestimmt auszusprechen, wie er es gethan. Aber er war nicht der Mann, der eine Beleidigung, selbst wenn er sie eingestandenermaßen hervorgerufen haben mochte, ruhig hinnahm. Er erhob sich. Er war nicht so lang wie der Holländer, aber er war von stattlicher Gestalt, und wie er sich emporreckte und den Kopf zurückwarf, erschien er eben so groß wie der gebeugte Mann vor ihm.

„Es ist nicht meine Schuld,“ sagte er ruhig, „wenn ein schwerer Verdacht auf Ihnen haftet. Möglicherweise ist es auch nicht die Ihrige. Dann ist es Ihr Unglück. Aber das werden Sie durch Schimpfen nicht besser machen.“

„Wie dürfen Sie sich unterstehen,“ fuhr Büchner auf, „Anderen gegenüber einen unbegründeten Verdacht zu äußern, der mich entehrt!“

„Ich habe nur mit meiner Schwester gesprochen; das war mein Recht und meine Pflicht.“

„Sie haben auch mit Anderen gesprochen, leugnen Sie nicht!“

„Ich leugne nichts. Ich habe in der That auch mit Frau Onslow gesprochen, aber gegen meinen Willen. Sie war von meiner Schwester zu mir gesandt, um mit mir zu sprechen. Sie sind augenblicklich sehr erregt, und ich begreife das, aber wenn Sie fähig sind, eine Minute ruhig nachzudenken, so werden Sie sich sagen müssen, daß ich unter den obwaltenden Umständen meiner Schwester mittheilen mußte, ich könne meine Zustimmung zu ihrer Verlobung mit Ihnen augenblicklich nicht geben. – Ich verzeihe Ihnen das Wort, das Sie gegen mich gebraucht haben; denn ich kann heute keine Rechenschaft dafür von Ihnen fordern. Und damit sei die Sache nunmehr abgethan!“

„Sehr wohl,“ sagte Büchner ingrimmig, „die Sache sei abgethan – aber nur vorläufig! Der Tag wird kommen, da ich Rechenschaft von Ihnen fordern werde. Ich verlasse das Haus heute Abend. – Wem soll ich die Kasse übergeben?“

„Bedenken Sie wohl, was Sie thun, Herr Büchner. Es ist vielleicht in Ihrem Interesse besser, wenn Sie ruhig im Hause bleiben, so daß alle Welt sieht, ich habe Ihnen mein Vertrauen nicht entzogen.“

„Wie können Sie es wagen, so zu sprechen!“ stieß Büchner zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. „Haben Sie nicht bereits gesprochen? Ist Ihr Verdacht nicht in diesem Augenblick Stadtgespräch?“

„Ich habe mit Niemand gesprochen, als mit meiner Schwester. Wenn diese und Frau Onslow reinen Mund halten wollen, so ist nach außen hin an Ihrer Stellung nichts geändert.“

„Nein“ sagte Büchner, „ich darf nicht wieder mit Ihnen zusammentreffen, es wäre gefährlich für Sie – lebensgefährlich.“ Er ballte die mächtigen Fäuste und schüttelte sie, und dabei nahm sein Gesicht einen furchtbaren Ausdruck an, und sein ganzer Körper bebte. – „Wem soll ich die Kasse übergeben?“

„Herrn Wallice. Aber es ist Ihr Wille; Sie verlassen mich.“

Darauf antwortete Büchner nicht mehr, sondern machte kurz Kehrt und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Am Postschalter.

Praktische Winke für Jedermann.

Unter den Postsachen, die ich heute Morgen empfing, befand sich ein Brief, dessen Handschrift und Ausgabestempel mir unbekannt waren.

Beim Durchlesen erkannte ich, daß der Brief, dessen am Schlusse genannter Absender mir völlig fremd war, nicht für mich bestimmt sein konnte. Nochmals betrachtete ich die Aufschrift des Briefumschlages. Dieselbe trug in deutlicher Schrift meine Adresse „Ingenieur Müller“. Diese Adresse aber war im Adreßbuche nur einmal vertreten und ein Ingenieur meines Namens hier am Orte, wie ich sicher wußte, nicht weiter vorhanden. Sonderbar! Was sollte ich mit dem Briefe anfangen? Ein solcher Fall war mir bisher noch nicht vorgekommen.

Nachmittags hatte ich im Postamte zu thun. Ich nahm den Brief mit mir. Nach Erledigung meines eigentlichen Geschäfts legte ich dem mir seit lange wohlbekannten Beamten am Schalter unter Mittheilung des Sachverhalts den von mir an der Seite aufgeschnittenen, für mich aber offenbar nicht bestimmten Brief vor.

„Einen Augenblick!“ sagte der Beamte, indem er in ein anstoßendes Zimmer ging, „sehen Sie sich inzwischen nochmals recht genau die Unterschrift des Absenders und dessen etwa beigefügte Adresse an!“

Kaum hatte ich dies gethan, als auch der Beamte mit Licht und einer Stange Siegellack wieder zurück kam. „Bitte nun zunächst Namen und Adresse des Absenders auf der Rückseite des Briefumschlages niederzuschreiben, dann aber hinzuzufügen: ‚Brief ist nicht für mich bestimmt,‘ oder: ‚Inhalt betrifft mich nicht‘ und diesen Vermerk zu unterschreiben.“

Das Verlangte war rasch ausgeführt. Der Sekretär nahm nun den Brief an sich, legte einen in der Mitte gefalteten Papierstreifen um die aufgeschnittene Seite des Umschlages und siegelte – nicht etwa das Postsiegel, sondern meinen Ring mit geschnittenem Stein als Petschaft benutzend – auf Vorder- und Rückseite den Streifen Papier auf den Umschlag, auf diese Art einen völlig sicheren Verschluß herstellend.

„Wenn Sie jetzt noch einen Augenblick sich gedulden wollen, so können Sie sogleich erfahren, ob hier vielleicht doch noch ein Namensvetter existirt, welcher der eigentliche Empfänger des Briefes sein könnte.“ Mit diesen Worten schickte der Sekretär jetzt einen Unterbeamten mit einer mündlichen Bestellung sowie mit einem den Namen des Briefempfängers enthaltenden Zettel zum nahegelegenen Einwohnermelde-Amt. „Vielleicht,“ sagte er dann, „ist der Brief überhaupt nicht nach hier, sondern nach einem ähnlich lautenden Orte bestimmt. Dergleichen kommt öfter vor, als man denken sollte. Sehen Sie nur dies gedruckte und zum Verkaufe an das Publikum bestimmte Heft; es enthält auf 28 Seiten nichts als die Namen – nebst den betreffenden unterscheidenden Bezeichnungen – von gleich- oder ähnlich lautenden Postorten. Eben weil aus einer mangelhaften und ungenauen Adressirung der Briefe etc. sich erfahrungsmäßig schon unzählige Male erhebliche Nachtheile für das Publikum ergeben haben, hat die Postverwaltung, um dem abzuhelfen, dieses Heft als Hilfsmittel für die richtige Adressirung herstellen lassen. Leider wird von diesem Hilfsmittel noch nicht in dem erwünschten Umfange Gebrauch gemacht. Altena und Altona, Ansbach und Anspach, Cappeln und Kappeln, Eisleben und Eilsleben, und viele Hunderte von derartigen Ortsnamen bezeugen es, wie leicht bei undeutlicher Handschrift oder unrichtiger Schreibweise ein beispielsweise an Herrn Bäckermeister Böhme in Altona bestimmter Brief nach Altena verschlagen werden kann. Existirt dort nun, was doch wahrlich nichts besonders Auffälliges sein würde, auch zufällig ein Bäckermeister

[457]

Vulkan-Insel.
Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch gezeichnet von A. v. Roeßler.

[458] Böhme, so erhält dieser selbstverständlich den Brief. Aus dem Inhalte des Briefes wird der Altenaer Empfänger zwar bald ersehen, daß der Brief nicht für ihn bestimmt und daher nach Wiederversiegelung mit entsprechendem Vermerk versehen der Post zurückzugeben ist. Leider wird jedoch, wie erfahrungsmäßig feststeht, ein solches, wie man glauben sollte, selbstverständliches Verfahren der Rückgabe fremden Eigenthums keineswegs immer beobachtet. Es giebt Menschen von einer solchen Gemüthskälte oder im günstigsten Falle geistigen Beschränktheit, daß sie in Fällen dieser Art, ohne eine Regung des Mitleids mit dem Geschädigten zu empfinden das für den Letzteren vielleicht werthvolle Stück Papier zum Pfeifenanzünden benutzen.“

In diesem Augenblicke brachte der zum Meldeamte geschickte Bote dem Sekretär den Zettel zurück. Der Beamte warf einen Blick auf das Papier und las: „Ingenieur Müller, in der Maschinenfabrik des Herrn R. beschäftigt, vor 3 Tagen hier gemeldet, wohnt …straße Nr. 18.“

„Damit,“ meinte der Beamte, „wird vermuthlich das Räthsel seine Lösung und bald auch der Brief seinen richtigen Empfänger gefunden haben. Ich werde das Weitere sogleich besorgen und freue mich, daß dieser Fall regelrecht erledigt wurde, während in so manchen ähnlichen Fällen ohne Verschulden der Post Briefe in unrechte Hände gerathen, um nie wieder zum Vorschein zu kommen, und dann vom Absender ganz kaltblütig die Schuld der Post aufgebürdet wird, ‚bei der der Brief wohl verloren gegangen sein werde‘.“

„Ist mir gleichfalls lieb,“ erwiederte ich, „daß in diesem Falle die Sache ihre Erledigung gefunden haben dürfte, wie aber, frage ich Sie, Verehrtester, wird es in den voraussichtlich noch öfters eintretenden künftigen gleichartigen Fällen mit der Briefbestellung gehalten werden? Wie Sie wissen, wohne ich hier seit sechs Jahren. Ohne daß eine Wohnungsangabe nöthig wäre, die auch kaum jemals stattfindet, gelangten bisher alle meine Briefe sicher in meine Hände. Lassen aber die Korrespondenten meines unbekannten Herrn Kollegen nun auch Straße und Hausnummer fort, wie sollen dann die Briefträger es anfangen, den richtigen Empfänger herauszufinden?

Schweigend griff der Beamte nach einem in seiner Nähe liegenden Buche, schlug es auf und sagte, indem er auf einen kurzen Satz zeigte: „Ihre Frage ist leicht beantwortet; § 5 der Postordnung, die für die Beziehungen zwischen Post und Publikum maßgebend ist, besagt: ‚In der Aufschrift müssen der Bestimmungsort und der Empfänger so bestimmt bezeichnet sein, daß jeder Ungewißheit vorgebeugt wird.‘

Diese Ungewißheit besteht fortan aber thatsächlich bei allen hier ankommenden Briefen, die ohne Vornamen oder Wohnungsangabe lediglich die Adresse des Ingenieurs Müller tragen; folglich bleibt der Postbehörde, sofern die Herren Namensvettern, was, wie meistens, so wohl auch in diesem Falle geschehen wird, sich nicht gütlich über die Sache verständigen, gar nichts Anderes übrig, als die ungenau adressirten Briefe mit dem Vermerk: ‚Welcher von zwei Empfängern gleichen Namens?‘ nach dem Ausgabeort zurückzuschicken.“

„Unangenehme Aussichten in der That!“ konnte ich nicht umhin, zu bemerken. „Vielleicht könnnnten Sie,“ wandte ich mich an den Beamten, „in dieser Beziehung mich mit gutem Rath unterstützen.“

„Es ist gar nichts weiter zu machen,“ war die Antwort, „als Mittheilung der Sachlage an die betheiligten auswärtigen Korrespondenten und Aufforderung, künftig Vornamen (falls dieser nicht etwa auch übereinstimmt) und Wohnung anzugeben. Zugleich aber, da nicht darauf zu rechnen ist, daß diesem Ersuchen auch regelmäßig Folge gegeben wird, muß Ihr neu angekommener Herr Kollege veranlaßt werden, eine beglaubigte Erklärung hier einzureichen, welcher zufolge er damit einverstanden ist, daß bezüglich aller, lediglich an ‚Ingenieur Müller‘ adressirten Postsendungen Sie als der berechtigte Empfänger gelten. Die Sendungen, von denen Sie nach Handschrift und Ausgabeort annehmen, daß Ihr Kollege der Empfänger sei, würden Sie dann diesem kurzer Hand zuzustellen haben. Selbstverständlich steht auch nichts im Wege, daß umgekehrt Sie Ihren Namensvetter bevollmächtigen.“

Ich dankte dem gefälligen Beamten für die erhaltene Auskunft, wollte aber doch die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, womöglich noch über einen letzten Punkt Klarheit zu erlangen. „Was aber,“ fragte ich, „würde mir geschehen sein, wenn ich den für meinen Kollegen bestimmten unrichtig an mich gelangten Brief widerrechtlich zurückbehalten, vielleicht sogar vernichtet hätte?“

„Die Frage ist nicht so ohne Weiteres zu beantworten,“ entgegnete der Sekretär, „da hier Alles davon abhängt, ob Sie im ‚guten Glauben‘ den Brief als für Sie bestimmt ansehen oder aber ob Sie das Bewußtsein haben bez. bei gewöhnlicher Ueberlegung haben müssen, der Brief gehöre Ihrem Namensvetter und sei nur durch Irrthum oder Zufall in Ihre Hände gelangt. Im ersteren Falle wird Ihnen selbstredend Niemand etwas anhaben können; daß aber der letztere, mit empfindlicher Strafe (Verletzung fremder Geheimnisse und bez. Unterschlagung §§ 246 und 299 des R. St. G.) bedrohte Fall vorliegt, das müßte Ihnen jedenfalls bewiesen werden, und ein solcher Beweis ist unter den obwaltenden Verhältnissen, namentlich sofern es sich nur um einen gewöhnlichen Brief ohne Einlage von wichtigen Schriftstücken oder Werthsachen handelt, wohl meistens nicht leicht zu führen.“

Dem Beamten nochmals meinen Dank sagend, begab ich mich jetzt vom Postamte direkt zur „Ressource“ in der Hoffnung, dort vielleicht Gelegenheit zu haben, meinen Namensvetter und Kollegen zu treffen, dessen Chef ein eifriger Besucher der Gesellschaft war und sicher nicht verabsäumen würde, seinen neuen Ingenieur baldigst dort einzuführen.




Meine Hoffnung hatte mich getäuscht. Nur einige wenige alte Bekannte waren am „Räsonnirtische“ versammelt. Ich setzte mich zu ihnen und unterließ nicht, meinen Beitrag zu den Kosten der Unterhaltung durch Mittheilung meiner heutigen „Briefgeschichte“ zu liefern. Inzwischen hatten sich noch einige neu hinzugekommene Herren dem Kreise angeschlossen und wurden nun bald in bunter Reihe „interessante Fälle“ aus der postalischen Praxis der Herren vorgetragen.

„Schändlich,“ sagte der Kommerzienrath, „schändlich, welches Pech ich ’mal wieder gehabt habe. Schickt da meine Frau vor ein paar Monaten ihrer Schwester durch die Post scherzeshalber zwei Flaschen ihres selbstbereiteten Johannisbeerweins. Die Verpackung, das will ich zugeben, mag wohl nicht gerade besonders solide gewesen sein, kurz, die Flaschen zerbrechen unterwegs und der rothe Saft durchdringt unter Anderem auch ein Packet mit einem weißen Atlaskleide. Viel Aerger und Schererei dieserhalb gehabt, meine Herren, und das Ende vom Liede – habe gestern dem Eigenthümer des Kleides 160 Mark Schadenersatz bezahlen müssen. Theurer Wein das, nicht wahr?“

„Das ist ja ärgerlich genug,“ meinte der Herr Kreisrentmeister, „aber doch eine Kleinigkeit gegen den Verdruß, den neulich mein Bruder in Folge seiner Unkenntniß der Posttaxen gehabt hat. Mein Neffe also will sich verheirathen, der Schwiegervater ist Gutsbesitzer auf dem Lande, der Hochzeitstag ist festgesetzt; alle Vorbereitungen sind getroffen und Gäste – wir waren auch dabei – schon Tags zuvor versammelt. Mein Bruder, der erst am Hochzeitstage eintreffen konnte, schickt am Tage vorher noch eine für den Standesbeamten nothwendige Bescheinigung an diesen per Post ab. Damit aber ja keine Verzögerung eintritt, schreibt mein Bruder die sofortige Eilbestellung des Briefes vor, frankirt natürlich den Brief, klebt für Bestellung noch eine 50-Pfg.-Freimarke extra auf und steckt den Brief wohlgemuth in den Postbriefkasten. Der Eilbote mit dem Briefe kommt Abends ins Regenwetter und auf grundlosen Wegen am Bestimmungsorte an, der Standesbeamte jedoch feiert mit der Hochzeitsgesellschaft Polterabend und ist nicht zu Haus. Seine Frau aber, etwas beschränkt und geizig, verweigert die Bezahlung des vom Ueberbringer geforderten Botenlohnes von 1 Mark. Der Bote steckt ruhig seinen Brief wieder bei und wandert den beschwerlichen Weg zum Postamte zurück. Als nun mein Bruder am andern Morgen kommt, wartet der Standesbeamte schon mit Ungeduld auf die noch fehlende Bescheinigung. Die Sache klärt sich jetzt, allerdings in höchst unerwünschter Weise, auf. Ein reitender Bote wird schleunigst zum Postamte geschickt, um den Brief wo möglich zurückzubringen. Jedoch vergebens, der Brief ist bereits wieder nach dem Ausgabeorte gesandt. Die standesamtliche Trauung wie auch die Hochzeit müssen in Folge dessen verschoben werden, einzelne Gäste können nicht bis zum folgenden Tage, an dem das telegraphisch beorderte Schriftstück zum zweiten Male einging, warten und reisen ab; kurz, die Festfreude war aufs Gründlichste gestört, und weßhalb das Alles? Nun einfach, weil mein Bruder nicht beobachtet [459] hatte, daß für frankirte Eilbestellungen aufs Land schon seit Jahren ein fester Satz von 80 Pfg. besteht und die Zahlung geringerer Beträge (durch Aufkleben von Freimarken) als überhaupt nicht geschehen betrachtet wird. Hätte mein Bruder statt 50 Pfg. 80 aufgeklebt, so wäre die gänzlich kostenfreie Bestellung erfolgt, auch für den Fall, daß die Postkasse einen doppelt so hohen Botenlohn hätte bezahlen müssen.“

„Ja, ja, meine Herren,“ ergriff jetzt ein hypochondrischer alter Junggesell, der Herr Rentier und frühere Buchhändler Meier, das Wort, „man sollte wirklich kaum glauben, welche Unkenntniß in Betreff der postalischen Einrichtungen nicht etwa bloß beim großen Publikum, sondern selbst in der Geschäftswelt herrscht. Kurz ehe ich im vorigen Jahre mein Geschäft aufgab, ging von außerhalb von einem unbekannten Kunden eine Bestellung auf ein kleines, aber werthvolles Buch bei mir ein. Ich beauftrage meinen Gehilfen, das Buch einzupacken und gegen Nachnahme, aber versichert, abzusenden. Als ich später den Posteinlieferungsschein verlange, bekomme ich einen solchen der nur über den Nachnahme-, nicht aber auch über den Werthbetrag lautet, und dabei stellt es sich denn heraus, daß mein Gehilfe, sonst ein sehr tüchtiger junger Mann, irrthümlicher Weise geglaubt hat, die Nachnahme sei so gut wie eine Werthangabe und müsse die Post auch im Verlustfalle in Höhe der Nachnahme Ersatz leisten. Solche Unkenntniß bei einem Geschäftsmann sollte wirklich nicht vorkommen.

Auch zu Nutz und Frommen der Herrschaften, die etwa eine Badereise beabsichtigen sollten, will ich noch rasch einen Beitrag liefern. Wie die Herren vielleicht wissen, halte und lese ich nur die sonst wenig verbreitete . . . Zeitung. Im vorigen Sommer wurde ich krank. Kaum bin ich wieder auf den Beinen, so schickt mich auch schon Dr. K. Hals über Kopf nach Kissingen. Dort angekommen fällt mir ein, daß ich vergessen hatte, mir meine Zeitung nachsenden zu lassen. Ich schreibe sofort an das hiesige Postamt, bekomme aber – unser früherer so gefälliger Postmeister war, wie Sie wissen, kurz zuvor versetzt – mittels portopflichtiger Dienstsache (10 Pfg. Porto) die amtliche Benachrichtigung, dem Antrage auf Ueberweisung einer Zeitung sei die verordnungsmäßige Gebühr in Höhe von 50 Pfg. beizufügen. Was blieb mir Anderes übrig, als schleunigst per Postanweisung 50 Pfg. Gebühr hierher zu schicken, worauf ich denn endlich nach einigen Tagen, und nachdem ich acht Tage lang meine gewohnte Lektüre hatte entbehren müssen, meine Zeitung erhielt.

In diesem Jahre glaubte ich natürlich Bescheid zu wissen und nahm mir vor, recht vorsichtig zu sein. Ich wollte nach Karlsbad gehen, vorher aber meiner Schwester in Dresden einen kurzen Besuch machen. Bevor ich also von hier abreise, schreibe ich an das Postamt, trage meine Bitte vor und lege eine 50-Pfennigmarke als Gebühr in den Brief. Was meinen Sie aber wohl, was ich auf dem Postamte in Karlsbad, wohin ich mich nach Ankunft gleich begab, vorfinde? Wahrhaftig wieder ein unfrankirtes Schreiben von unserem Postmeister – kostete aber 20 Pfennig – worin mir mitgetheilt wird, daß die Gebühr für Ueberweisung einer Zeitung nach Oesterreich 1 Mark betrage und ich daher gefälligst noch 50 Pfennig nachsenden möge. Na, der Aerger! Und was mich noch am meisten verdroß, war der Umstand, daß ich bis dahin geglaubt hatte, in Folge meiner langjährigen Praxis in Postsachen völlig Bescheid zu wissen. Was, Sie lachen, meine Herren? Ich glaube, Sie sind im Unrecht, wie ich Ihnen sofort beweisen werde. Wer von den verehrten Herren weiß denn etwa, daß z. B. ein Geldbrief mit der Aufschrift ‚An Frau X Y für Fräulein N. N. in Z.‘ als unbestellbar behandelt werden muß, weil die Postordnung für solche Fälle ganz bestimmte, alle anderen ausschließende Bezeichnungen vorschreibt, nämlich: ,An A zu erfragen bei B oder abzugeben bei B, im Hause des B, wohnhaft bei B, logirt bei B, per Adresse des B‘? Oder wer weiß, daß es den Postanstalten durchaus verboten ist, Briefe, die ihnen, wie es öfters vorkommt, unter Umschlag von andern Orten mit dem Ersuchen um Abstempelung und Weitersendung nach dritten Orten zugesandt werden, diesem offenbar auf Täuschung des Empfängers berechneten Ansinnen gemäß zu behandeln? Oder wem von den Herren ist bekannt, daß es seit Kurzem gestattet ist, Briefe mit Nachnahme postlagernd unter Buchstaben oder Ziffern zu versenden, oder, daß bei Briefen nach Ländern mit heißem Klima ein Verschluß mittels Siegellack verboten ist?

Doch, bitte um Entschuldigung, der Athem geht mir aus; wenn Sie noch mehr hören wollen, muß ich nothwendig zuvor erst mal die Kehle anfeuchten. Also – wie mein Freund, der Doktor Schneidewind, alle seine Reden zu beginnen pflegt, also, da keiner der Herren mich unterbrochen hat, darf ich annehmen, daß die von mir hier vorgetragenen Bestimmangen und Einrichtungen Ihnen noch unbekannt waren. Vielleicht ist dies auch bezüglich des Folgenden der Fall!

Bei einem wenn auch nur vorübergehenden Wechsel des Wohnorts ist recht sehr zu empfehlen, die Nachsendung der inzwischen eingehenden Briefe etc. beim Postamte besonders zu beantragen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß den auf einen unbestimmten Zeitraum (‚bis auf Weiteres‘) gestellten Anträgen nach Ablauf von vier Wochen postseitig eine entsprechende Folge nur dann gegeben wird, sofern rechtzeitig ein Antrag auf Verlängerung stattfindet. Häufig kommt es vor, daß lithographirte Einladungsschreiben zu Abendessen, Hochzeiten, Jagden etc. als Drucksachen mit 3-Pfennigmarke zur Post geliefert werden, obgleich das Datum, zu welchem eingeladen wird, handschriftlich ausgefüllt ist. Aus letzterem Grunde werden solche Sendungen zur Drucksachentaxe nicht befördert, sondern dem Absender zurückgegeben. Aus ähnlichem Grunde verfehlen auch alljährlich unzählige Neujahrs- und andere Glückwunschkarten ihren Zweck, indem der Absender der Sendung außer Ort, Datum und Namen – was gestattet ist – noch vorschriftswidrig irgend ein anderes Wort hinzugefügt hat. Die aus gestempelten Briefumschlägen, Postanweisungsformularen, Postkarten und Streifbändern ausgeschnittenen Frankostempel können zur Frankirung von Postsendungen irgend welcher Art nicht verwendet werden, dagegen ist es gestattet, verdorbene gestempelte Briefumschläge gegen gleichwerthige Freimarken und eben solche Postanweisungsformulare gegen neue beim Schalter umzutauschen.

Seit Kurzem wird bei Taxirung der Telegramme der Name der Bestimmungsanstalt, wenn in der amtlichen Schreibweise bezeichnet, stets als nur ein Wort gezählt.

Halle Saale, Freiburg Breisgau, Burg Bz. Magdeburg, Königsberg Ostpreußen werden jedes als ein Wort taxirt, wogegen Halle a./d. Saale, Freiburg in Baden (oder: im Breisgau), Burg bei Magdeburg, Königsberg in Preußen jedes als drei Worte gelten. Wer also nach Orten, die eine zusätzliche Bezeichnung haben, telegraphiren lassen will, wird wohlthun, betreffs der amtlichen Schreibweise beim Annahmebeamten sich zu erkundigen.

Wer sich vor Schaden schützen will, beachte auch besonders die Bestimmung der Postordnung, wonach die Zurückgabe bereits eingelieferter, aber noch nicht abgesandter gewöhnlicher Briefe und Packete an den erfolgt, der ein von derselben Hand geschriebenes Doppel des Briefumschlages oder der Begleitadresse abgiebt. Meine Hauswirthin hat neulich aus dieser Veranlassung großen Aerger und – natürlich – noch Spott obendrein erlebt. Sie schickt Abends ihr Mädchen mit einer für eine alte Erbtante bestimmten schönen, gemästeten und gleich zum Braten fertig gemachten Gans zur Post. Das geschwätzige Frauenzimmer trifft an der Straßenecke eine Freundin und vertieft sich in ein Gespräch. Unterdessen entwendet ein Dieb die auf dem Packete steckende Begleitadresse. Als das Mädchen dies später entdeckt, läßt sie sich von meiner Wirthin, der sie erzählt, der Wind habe die Adresse entführt, nochmals eine Adresse schreiben und liefert dann das Packet richtig ab. Erst nach vierzehn Tagen, als die liebe Tante gar nichts von sich hören läßt und Nachforschungen angestellt werden, ergiebt sich dann, daß ein Unbekannter kurz nach dem Mädchen am Schalter erschienen ist und – sich durch die Adresse von gleicher Hand ausweisend – im angeblichen Auftrage der Absenderin den leckeren Martinsvogel zurückverlangt und natürlich auch erhalten hat.

Nun, meine Herren, damit für heute genug, ich könnte Sie leicht in dieser Art noch länger unterhalten, aber wozu? Morgen haben Sie’s ja doch wieder vergessen. Manches von dem, was hier heute Abend besprochen ist, sowie noch vieles andere postalisch Interessante finden Sie in den ‚Post- und Telegraphennachrichten‘, die an jedem Postschalter für 15 Pfennig zu haben sind. Wer aber hat für solche Sachen Geld übrig? Wäre auch Verschwendung; dafür trinkt man ja doch lieber ein Glas Bier. Nun, nichts für ungut, meine Herren, wünsche guten Abend!“

  Eisleben. W. P. 


[460]

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa.“

V. Längs der vorher ungekannten Nordostküste. a. Von Vulkan-Insel bis Berlinhafen.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).

Unsere bisherigen Reisen mit dem Dampfer „Samoa“ erstreckten sich von der Milne- bis zur Astrolabe-Bai, auf einen Küstenstrich von nahezu 600 Seemeilen. Es blieb daher innerhalb unseres deutschen Gebietes nur noch die Strecke von Kap Croissille bis zur Humboldt-Bai übrig, gegen 350 Meilen so gut als unbekannter Küste, der am meisten unbekannte Theil von Neu-Guinea überhaupt. Die besten Karten verzeichneten ausgedehnte Strecken nur punktirt und ungefähr 16 Namen; das war Alles!

Anfang Mai (1885) verließen wir Mioko-hafen mit gespannten Erwartungen. Jedenfalls sollte und mußte der Versuch, jene Küste besser kennen zu lernen, gewagt werden, um der kleinen „Samoa“, ihrer Mission entsprechend, neben gewaltigen Kriegsschiffen einen bescheidenen Platz unter den Erforschern Neu-Guineas zu sichern. Wir hatten zwar keine Kanonen und im Ganzen nur 18 Mann an Bord; aber wir kannten die Eingeborenen bereits zur Genüge, um uns ihretwegen keine Sorge zu machen.

Einen westlichen Kurs steuernd, sichteten wir in der Frühe des dritten Tages bereits die Vulkan-Insel mit dem mächtigen gegen 5000 Fuß hohen Pik, dessen in Wolken gehülltes Haupt noch nicht den thätigen Vulkan erkennen lies. Nach und nach tauchten gleich kleinen Inselchen die Baumwipfel der Küste auf, aber noch ehe dieselbe deutlicher hervortrat, wurde unsere Aufmerksamkeit durch eine andere Erscheinung abgelenkt. Dies war ein der Brandung ähnlicher weißer Streif, hinter welchem das bisher tiefblaue Meer plötzlich und wie abgeschnitten grün gefärbt aussah, ganz so wie dies bei einem ausgedehnten Riff der Fall ist. Hier schien also Vorsicht nöthig! Wir dampften daher eine Zeitlang beobachtend längs diesem bedenklichen grünen Wasser dahin; aber zahlreiche Treibholzstämme, darunter ganze Bäume mit Blättern und Wurzeln, belehrten uns bald, daß die so auffallende Färbung nicht von Riffen, sondern nur von der Auswässerung von Flüssen herrühren konnte. Sorgfältig lothend wurde daher langsam in dieses grüne Wasser hineingedampft, welches, wie erwartet, sehr geringen Salzgehalt zeigte. Gegen Abend gingen wir nahe der Küste, da wo die Karten Venus-Kap verzeichnen, zu Anker. Aber ein wirkliches Kap war nicht zu finden, und schon hier überzeugten wir uns von der Unzulänglichkeit und Unrichtigkeit der Karte; wir befanden uns eben an einer unerforschten Küste; denn die Fahrten des kühnen Holländers Willem Schouten (sprich Schauten) längs derselben lassen sich leider nicht mehr mit Sicherheit nachweisen. Wir wissen nur, daß er am 7. Juli 1616 mit seinem Schiffe „de Eendracht“ (Eintracht) nahe dem „groote vuurbaarg“ (großen Feuerberg) ankerte. Als sich am Abend die Wolken zertheilten und die Spitze des Kraters in rothen Feuerstreifen züngelte, da konnte man sich im Geiste 250 Jahre zurückversetzt fühlen. Ja! ja! Jedenfalls war es damals bedeutend schwieriger, Entdeckungsfahrten zu machen, als heutigen Tages, und wohl Keiner verstand die Thaten des alten Seehelden besser zu würdigen und zu bewundern als wir an dieser Stelle. Das unterirdische Feuer brannte noch, vielleicht nicht so intensiv wie damals, und die Eingeborenen waren jedenfalls auch noch, unbehelligt von fremdem Einfluß, in Ursprünglichkeit und Originalität dieselben geblieben.

Mann von Venus Huk im Canu.

Solche Menschen oder vielmehr solchen Aufputz hatte ich bisher nicht in Neu-Guinea gesehen. Wie die beigegebene Abbildung (Mann von Venus Huk) zeigt, war zunächst die eigentümliche Art und Weise, das Haar in einem cylindrischen Körbchen aus feinem Flechtwerk zu tragen, am auffallendsten; eben so der lange, mit Behang von Schweinezähnen und anderen Sächelchen verzierte Kinnbart mancher Männer. Sie trugen fast alle filetgestrickte, mit Scheiben von Cymbiummuscheln behangene Beutel, wie sie auch weiter westlich vorkommen (vergl. Abbildung: Mann von Guap), um den Hals, in welchen sie ihre Kleinigkeiten: Betelnüsse, Tabak, Muschelschalen als Messer, Knochen als Brechwerkzeuge etc. verwahrten, und waren mit sehr kunstvoll verzierten Lendengürteln aus Tapu bekleidet. Als ganz neu fand ich hier zuerst statt des Bogens einen Wurfstock aus Bambu zum Werfen der Speere: eine Methode, die bisher nirgends in Neu-Guinea beobachtet wurde und eigentlich für Australien charakteristisch ist. Die Enden der aus einem ausgehöhlten Baumstamme bestehenden Canus waren zum Theil mit kunstvollem Schnitzwerk versehen; es stellte meist ein Krokodil, zuweilen in Verbindung mit einem Menschengesicht dar, oder wie auf der nebenstehenden Skizze den Schwanz des Sauriers in den Kopf eines Nashornvogels (Buceros) ausgehend. Am Maste des großen Canus, die etwa [461] 18 Mann faßten, flatterte allerlei Schmuck aus Blattfasern und Federn; an dem einen war selbst die Kreuzesform vertreten.

Wie fast überall, erwiesen sich auch diese Naturkinder als sehr schneidige Händler und äußerst praktisch. Obwohl sie kein europäisches Erzeugniß, keine Glasperlen, kein Stück Eisen besaßen, wußten sie das letztere doch gleich den ersteren vorzuziehen: eine Erfahrung, die ich für die Folge überall bestätigt fand. Praktischer Weise waren sie auch gut bewaffnet und führten Unmassen von Pfeilen und Speeren mit. Als sich plötzlich die ganze Canuflottille wie auf ein gegebenes Zeichen zurückzog, glaubte ich schon, daß ein Pfeilhagel folgen würde; aber es war nur ein schrillendes Ventil der Maschine, das sie scheu gemacht hatte. Durch ein eigentümliches Friedenszeichen versuchte ein Mann, wohl ein Häuptling, das neue Freundschaftsband fester zu knüpfen. Er theilte ein Kokospalmblatt in zwei Hälften, schürzte in jede einen Knoten und gab mir die eine, während er die andere an dem Maste seines Canus befestigte. Als ich ein Gleiches that, erfüllte lautes Freudengeschrei die Luft!

Im Angesicht des brennenden Berges hielten wir betreffs der weiteren Fortsetzung der Reise Rath. Das trübgefärbte Wässer gab zu allerlei Bedenken Anlaß, und die Aussicht, bei einem Unglücksfall hier eine Robinsonade durchzumachen, war keineswegs verlockend; denn die Tundren Sibiriens bieten mehr, das Leben zu fristen, als solche Tropenstriche, in welchen selbst die Kokospalme fehlt. Die nächste Civilisationsoase lag an 500 Seemeilen weit, und diese würden wir bei den herrschenden westlichen Strömungen und dem Südost-Monsun mit unseren Booten niemals erreicht haben. Wer hätte uns auch an dieser abgelegenen Küste aufsuchen und auffinden wollen?

Aus naturwissenschaftlichen Gründen konnten in diesem brackischen Wasser kaum Korallthierchen ihre heimtückischen Bauten errichten; das durfte man als ziemlich sicher annehmen. Diese Voraussetzung sowie die Erinnerung an Willem Schouten als leuchtendes Vorbild gaben den Ausschlag, und so dampften wir in westlicher Richtung weiter. Schon der folgende Tag belohnte uns in reichem Maße, denn der längst in dieser Gegend vermuthete große Fluß, welcher das Meer so weithin trüb färbt, er wurde durch uns wirklich aufgefunden. Als den größten im Kaiser Wilhelm-Land nannte ich ihn „Kaiserin Augusta-Fluß“! Leider fehlte uns eine Dampfbarkasse und die Untersuchung mittels des Whaleboots war schwierig, da die Strömung, welche ganze Bäume und kleine Grasinseln mit sich führte, eine gewaltige ist. Vom Winde begünstigt, drangen wir aber bis in die eigentliche Mündung des Flusses vor. Sie mag eine halbe Seemeile betragen und ist, wie unsere Lothungen zeigten, durch keine Barre gesperrt; ein sehr wichtiger Umstand, denn der neue Fluß eröffnet somit Aussichten auf Schiffbarkeit und eine Wasserstraße ins Innere, die zunächst für wissenschaftliche Expeditionen bedeutungsvoll werden dürfte.[1]

Außer ein paar schlechten Hütten am linken Ufer war nichts von Menschen zu bemerken; aber als wir in die Mündung selbst einbogen, sahen wir einige größere Häuser, deren Bewohner in großen Canus eiligst und lautlos die Flucht ergriffen, so sehr ich sie auch zum Stillhalten aufforderte. Der Strom drängt mit rapider Geschwindigkeit am rechten Ufer, wo er eine mächtige Sandbank mit vielen Treibholzstämmen ablagert. Hier hatte sich nach und nach eine Menge bewaffneter Eingeborener angesammelt, aber wir konnten sie der Strömung wegen nicht erreichen. Mächtige Feuer zeigten, daß unser Erscheinen die ganze, übrigens sehr geringe Bevölkerung in Aufregung versetzt hatte. Und die Leutchen hatten allen Grund dazu; war es doch das erste Schiff und die ersten Bleichgesichter, welche sie zu sehen bekamen.

Mann von Guap.

Von hier setzt sich die Küste fast gleichmäßig in westlicher Richtung fort; die tiefe Buchtung, welche die Karten bisher punktirt verzeichneten, ist also nicht vorhanden. Ich benannte diese 65 Seemeilen lange neue Küste nach dem Geheimrath A. von Hansemann, dessen Name mit der Entdeckungsgeschichte Neu-Guineas stets verbunden bleiben wird, da er der eigentliche Urheber des Unternehmens ist, aus dem die jetzige „Neu-Guinea-Kompagnie“ hervorging.

Die Hansemann-Küste besteht aus bewaldetem Flachland mit niedrigen Hügelketten und wird voraussichtlich für Kolonisation und Anbau Bedeutung erlangen. Es fehlt ihr nicht an Flüssen, denn noch immer ging unser Kiel durch grünes oder trüb-gefärbtes Wasser und wir selbst entdeckten die Mündungen von mehreren, aber alle waren durch Barren gesperrt. Weiter nach West rückten bewaldete Hügelketten näher ans Ufer, die nach und nach höher wurden. Aber auch Kokospalmen und mit ihnen Dörfer der Eingeborenen zeigten sich und brachten in die Einförmigkeit der Uferlandschaft einige Abwechselung. Der äußerste Ausläufer dieser mit hübschen grünen Matten gefleckten Bergküste erschien wie eine Insel, und so durften wir irgend eine geschützte Buchtung hier erwarten. Dies war leider nicht der Fall, sondern die anscheinende Insel erwies sich als ein Kap, das ich nach Kapitän Dallmann benannte; es begrenzt nach Westen eine hübsche Bucht, die Krauelbucht.

Bald nachdem wir Kap Dallmann passirt hatten, öffnete sich der Blick auf eine Bai, weiter nach Ost auf eine dichtbewaldete bergige Insel, Kairu der Eingeborenen, oder d'Urville-Insel der Karten, der eine niedrigere, Muschu (Gressien) vorgelagert ist, die an der Westseite ausgedehnte grüne Grasflächen ausweist. Sie scheinen für Viehzucht wie geschaffen. Zwischen dieser Insel und dem Festlande bildet das Letztere eine hübsche Buchtung, die wir untersuchten und als guten Hafenplatz erkannten, den ich nach unserem braven Kapitän Dallmann benannte.

Schon seit geraumer Zeit hatten sich Eingeborene in Canus bemüht, uns zu erreichen, hier gelang es ihnen endlich, da wir ankerten. Auch am Ufer belebte es sich, zahlreiche Eingeborene riefen uns an und winkten mit grünen Zweigen. Als wir aber landeten, setzten sich Alle nieder und eine ehrfurchtsvolle Stille herrschte, bis sich die Leutchen von ihrem ersten Staunen erholt hatten. Bald waren sie zutraulich, und wir folgten ihnen auf gut betretenem Pfade nach ihrem Dorfe, Rabun genannt. Dasselbe zeichnete sich durch stattliche, große Häuser aus, wie das aus der beigegebenen Skizze (S. 462), in welche, wie hier sehr richtig dargestellt, die scheuen Weiber und Mädchen schleunigst verschwanden. Nur einzelne wurden nach und nach zutraulicher und nahmen zitternd, von den Männern anfgemuntert, ihre Geschenke an Glasperlen und Streifen rothen Zeuges entgegen. Den Leuten mochte mein unstätes Wesen, mit welchem ich Alles zu sehen, zu skizziren, zu messen bemüht war, nicht sonderlich gefallen; denn bei jedem Hause wurde ich zum Niedersitzen eingeladen. Wie sich später ergab, wollte man uns bewirthen – eine Art von Gastfreundschaft, die mir bisher nirgends in Melanesien vorgekommen war und der wir in dem nächsten Dorfe nicht entgingen. Hier half alles Weigern nicht, wir mußten an dem aufgetischten Mahle aus gerösteten kleinen Fischen und Sagoklößen theilnehmen oder doch davon kosten und Kokosnußmilch trinken, die bei der Hitze ganz willkommen war, obwohl sie, wenigstens bei mir, den Durst nur vergrößert. Von einer Menschenmenge, die sich fortwährend mehrte, begleitet, traten wir den Rückweg nach unserem Boote an, das die guten Eingeborenen mit Kokosnüssen fast überluden. Und das geschah Alles freiwillig. An der wirklichen

  1. Diese Vermuthungen haben sich bestätigt und der Augustafluss ist seitdem etwa 100 Meilen mit Dampfer befahren worden.
    D. Red.

[462] Gastfreundschaft war also nicht zu zweifeln. Ja, es kostete Mühe, sich derselben zu entziehen; denn obwohl wir kaum Etwas von ihrer Sprache verstanden, war der Wunsch, uns dauernd unter ihnen niederzulassen, doch unverkennbar.

Als alle Ueberredungskünste nicht halfen, wurden uns Häuser, Land, Kokospalmen, Schweine und als letztes Mittel „Mädchen“ angeboten! Noch nie in meinem Leben war es mir so leicht gemacht worden, Haus und Hof, Frauen und Familie zu erwerben, mit einem Wort „Negerfürst“ zu werden! Die Wichtigkeit meiner Mission, die Küste weiter zu erforschen, ließ mich dieses Glück von der Hand weisen, sehr zum Bedauern und Verdruß der Deputation von Notabeln, die mit ihren grunzenden Schweinen und zitternden Mädchen, den mir zugedachten Prinzessinnen, wieder abziehen mußte.

Wir thaten ein Gleiches und wandten unseren Bug westwärts, mußten aber bald wegen Regens und düstern Wetters, nahe der Küste, gegenüber der kleinen Insel Guap wieder zu Anker gehen. Dieselbe ist sehr dicht bevölkert und die Bewohner zeichnen sich durch einige Besonderheiten, namentlich den originellen Kopfputz aus, wie ihn die beigegebene Skizze (S. 461) zeigt. Diese lange Röhre aus Pandanusblatt, mittelst Nadeln aus Knochen in dem dichten Haarpelze festgehalten, repräsentirt in der That die Urform des noch krempelosen Cylinders, und so waren wir um eine wichtige Entdeckung reicher. Ja! wer hätte wohl gedacht, daß unser Cylinder oder Bibi auf die Wilden Neu-Guineas zurückzuführen ist! Unter den angebotenen Tauschartikeln nahmen kleine aus Holz geschnitzte menschliche Figuren, sogenannte „Götzen“ und sonderbar bemalte Holzmasken mit langer schnabelartiger Nase die Hauptstelle ein, aber auch trefflicher Yams wurde in Menge gebracht. So entwickelte sich ein lebhafter Handel, ein Handel, der eben so ermüdend wie angreifend war; denn es ging immer nur Stück um Stück, und für Alles und Jedes wollte man Eisen haben. Da mußten denn die alten Kistenbänder herhalten, die unser „Meister“, der Maschinist, in so kurze Stückchen zerschnitt, daß Keiner das dünne Eisen zu biegen vermochte, das war der Prüfstein für das neue geschätzte Gut. Bei der Menge von Eingeborenen, welche die „Samoa“ umlagerten, hielt ich streng darauf, daß keine Eingeborenen an Bord kamen, denn Vorsicht ist in allen Fällen, auch den scheinbar friedfertigsten Eingeborenen gegenüber, nicht außer Acht zu lassen. Da schallte es plötzlich aus einem Canu längsseit: „Doktor! Doktor!“

„Herr! Du meine Güte! Dein Weltruf ist schon bis hierher gedrungen!“ dachte ich in meiner Bescheidenheit und sah mich nach den Rufern um, die lebhaft gestikulirten, als wenn sie sagen wollten. „Na! das ist wirklich nett! Heut kennt uns der ‚Doktor‘ schon nicht mehr und gestern ließ er sich noch bei uns abfüttern!“

In der That, es waren unsere biederen Freunde von Rabun, die uns nachgefolgt waren, um einen letzten Versuch zu machen, uns zur Rückkehr und zum Bleiben zu bewegen. Aber als die Dampfpfeife ertönte und die Schraube weißen Schaum aufwühlte, da stiegen sie betrübt in ihr Canu und so lange wir uns sehen konnten, winkten wir den netten Freunden zu, wie sie uns. Wir durften uns nirgends allzulange aufhalten; bei dem geringen Kohlenvorrath, welchen die „Samoa“ mit sich führte und der nur einige zwanzig Tage reichte, war „Vorwärts“ unabweislich unsere Losung.

Haus in Dallmannhafen.

Und so müssen wir auch zum Schluß unseres Artikels nach Berlinhafen eilen, den wir durch die Babelsbergstraße erreichen, immer im Angesicht der malerischen Küste, mit dem an 3000 Fuß hohen Torricelli-Gebirge. Berlinhafen wird von den mittelst Riff verbundenen Sainson-Inseln gebildet (Faraguet und Sainson von d’Urville gesichtet), zu denen wir noch eine kleine neue „Sanssouci“ entdeckten. Da wir die Straße zwischen Dudemain- und den Sainson-Inseln, welche d’Urville mit Riffs blokirt verzeichnet, vollkommen frei fanden, so wird Berlinhafen zu einem vollkommen geschützten Ankerplatz: eine weitere Bereicherung dieser Küste, welche für die spätere Entwickelung von großer Bedeutung ist. Wünschen wir ihr und dem neuen Hafen das Beste!




Magdalena.
Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)
3.

Das Vorzimmer, durch welches Doktor Reiter seinen Freund hinausbegleitet, hatte kurze Zeit leer gestanden; dann öffnete sich die Thür wieder, und in der Spalte erschien erst ein dunkler Kopf, welcher sich vorsichtig mit lebhaften Augen umsah, ehe der zu demselben gehörige Körper mit schlängelnder Bewegung nachfolgte.

Es war der Mann, dessen eben noch der junge Felsing so verachtungsvoll gedacht hatte: der Agent Treiber.

„Niemand da!“ begann er verdrießlich; „der Diener sagte mir doch, ich werde den Herrn Grafen hier treffen. Nun, ich kann warten.“

Wohl um die Zeit des Wartens abzukürzen, begab sich Treiber an das offene Fenster und schaute aufmerksam nach dem Parke hinunter. Er berechnete dabei im Kopfe, wie viele Bauplätze etwa aus demselben „herauszuschneiden“ wären und was dieselben [463] wohl werth sein könnten, ohne zu vergessen, was überdies noch aus dem Holz der prächtigen Bäume zu lösen wäre. Dann ging er zu einer genauen Musterung des Zimmers über. Er betrachtete und taxirte die Pendule über dem Kamin, die Bilder an den Wänden, betastete die Stoffe der Möbel und Gardinen und war so in seine Untersuchungen vertieft, daß er erschrocken zusammenfuhr, als hinter ihm plötzlich die Worte ertönten: „Nun, Herr Treiber, was machen Sie hier?“

Es war ein Bureaudiener, welcher einige Wechsel der Bau- und Bodengesellschaft dem kürzlich gewählten Vorsitzenden des Verwaltungsraths, Grafen Erich, zur Genehmigung und Unterschrift gebracht hatte und dies nun dem neugierigen Agenten auf sein Befragen auseinandersetzte.

„Lassen Sie doch einmal die Wechselchen sehen, lieber Herr Maier! Richtig, ja: der Gesellschaftsstempel – allgemeine Bau- und Bodengesellschaft – ein hübsches Stempelchen – und darunter: Graf Erich Hochberg-Eckartshausen. Hm! Merkwürdig, was jetzt für vornehme Herren bei den Geschäftchen mitmachen!“

Die Wechsel schienen den Agenten ausnehmend zu interessiren; er schaute sie lange unverwandt an, und ein angenehmer Gedanke schien ihm dabei zu kommen; denn er schmunzelte mit einem Male ganz vergnügt.

„Nun ist’s aber genug,“ meinte der Diener und nahm sie ihm aus der Hand, „hätte die Papiere eigentlich gar nicht zeigen sollen. Guten Tag, Herr Treiber! Gute Geschäfte!“

Damit ging er fort und ließ den Agenten wieder allein mit seinen Betrachtungen. Es dauerte aber nicht lange, so erschien unter der Thür des Nebenzimmers Graf Erich.

„Nun, was bringen Sie, Treiber?“ redete er den plötzlich in die lebhafteste Bewegung gerathenen und sich unaufhörlich verbeugenden Agenten an.

„Unterthänigster Diener, Herr Graf! Da Eure Excellenz neulich meinten, Sie könnten unter Umständen brauchen einen kleinen Posten –“

„Kommen Sie herein,“ unterbrach Graf Erich den Wortschwall des Agenten. Und kaum hatte sich die Thür geschlossen, so fragte er hastig: „Haben Sie das Geld?

„Gott,“ erwiederte dieser, „wenn ich das Geld hätte! Aber ich hab’s nicht, Herr Graf! Schwere Zeiten! Die Papiere gehen immer weiter herunter, und man wird so viel betrogen von schlechten Leuten!“

„Nun,“ erwiederte der Graf mit einer ungeduldigen Bewegung, „wenn Sie nichts haben –“

„Erlauben Excellenz,“ beeilte sich Treiber zu versichern, „wenn ich auch das Geld nicht habe, und ich hab’s wahrhaftig nicht, –“ er legte dabei betheuernd die Hand aufs Herz – „so kenn’ ich doch einen Mann, ’s ist ein braver, ein rechtlicher Mann, der Excellenz könnte das Geld verschaffen.“

„Was verlangt er?“ frug der Graf kurz.

„Verlangen? Gott, Herr Graf, er verlangt gar nichts; der Mann behält ja lieber seine Papiere, die er müßte verkaufen mit großem Verlust. Aber wenn Excellenz den Posten von sechzigtausend Thalern nothwendig haben müssen auf drei Monate, muß er berechnen dreißigtausend Thälerchen Provision!“

„Aber das ist ja enorm!“ rief der Graf aus.

„Es ist viel, Herr Graf,“ erwiederte Treiber, seinen Hut streichelnd, „und es ist nicht viel, wie man’s nimmt. Der Herr Graf könnten das Geld wohl billiger haben, wenn –“

„Nun?“

„Wenn der Herr Graf die Herrschaft Hochberg verkaufen wollten –“

„Nein,“ erwiederte Graf Erich bestimmt, „davon kann keine Rede sein.“

„Oder wenn der Herr Graf wollten errichten lassen eine Hypothek auf dieses Haus.“

„Nein, auch daran ist nicht zu denken. Das Haus gehört überdies der Gräfin. Wenn Sie mir das Geld nicht ohne Wechsel schaffen können –“

„Ohne Bürgen, Herr Graf?“ warf Treiber mit weinerlichem Tone ein.

Graf Erich nickte bejahend.

„Nun, sehen Sie, Herr Graf,“ fuhr Treiber fort, „ohne Bürgen, das ist so ’ne Sache! Wir sind Alle sterblich – man weiß nie, was passiren kann, und sechzigtausend Thaler ist ein Wort – und das Geld ist rar! Aber mein Mann – es ist ein rechtlicher Mann – würde dem Herrn Grafen auf seine Unterschrift das Geld schaffen, wenn – wenn der Herr Graf auf dem Wechsel über seinem Namen das Stempelchen der Baugesellschaft abdrucken würden!“

Der Agent sah den Grafen mit listigem Lächeln an.

„Was fällt Ihnen ein? Die Gesellschaft braucht ja kein Geld durch Ihre Vermittlung. Ich will das Geld für mich persönlich.“

„Weiß ich, Herr Graf, weiß ich; aber was schadt’s, wenn Sie das Stempelchen doch aufdrucken auf dem Wechsel! Wenn mein Mann das Stempelchen sieht, giebt er das Geld her, und ich behalte den Wechsel in Verwahrung, bis ihn der Herr Graf wieder einlösen am Verfalltage.“

Graf Erich stand eine Weile sprachlos über die Frechheit des Agenten, der ihm einen solchen, auf offenbare Fälschung hinauslaufenden Vorschlag zu machen wagte. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, dann aber erhob er seinen Stock und rief: „Hinaus! Hinaus!“ Und er rief es mit solcher Heftigkeit, daß Treiber, blaß vor Schrecken, mit einigen verzweifelten Sätzen, die jeden unbefangenen Zuschauer in die heiterste Stimmung versetzt hätten, seine rundlichen Glieder zur Thür hinaus in Sicherheit brachte.

„Elender Schuft!“ murmelte der Graf halblaut zwischen den Zähnen, während er in heftiger Aufregung auf- und abschritt. Es war viel, was heute dem sonst so gelassenen und heiteren Manne drohend vor der Seele stand und keinen Augenblick mehr weichen wollte. Seine Blicke wanderten unruhig in dem eleganten, behaglich eingerichteten Raum umher, als suche er in seinem gesicherten Frieden Beistand gegen die Gewalten, die ihn bedrängten. Es schien ja fast unmöglich, sich nach langen Jahren des ruhig vornehmen Besitzes nun mit einem Male in einer so peinlichen Situation zu befinden. Alles um ihn her war unverändert; wie gestern sank sein Fuß in den weichen Teppich ein; dort glänzten die goldgepreßten Bücherrücken aus den Mahagonischränken heraus; gegenüber hing der große Ruysdael, den er so oft und gern von seinem Rauchsessel aus betrachtete – Alles das war sein, gehörte ihm wie Hand und Auge – und konnte ihm doch möglicherweise entrissen werden, wenn Schlimmes zum Schlimmen kam!

„Pah, so weit sind wir noch nicht,“ tröstete er sich selbst. „Aber – wenn ich nun auch die Summe für Eckartshausen habe, so reicht das eben nur für meine und Hugo’s Schulden. Der verdammte Junge! Muß das auch schon Geld verlieren! Und dann –“ die Hand des Grafen preßte sich gegen seine Stirn, als er ruhlos weiter schritt, „dann kommen die neuen Verpflichtungen; es ist ja unglaublich, wie rasch so ein Stoß Rechnungen wächst. Wir brauchen hier jetzt das Doppelte wie früher, und noch ist Gabriele nicht einmal bei Hofe vorgestellt; wo soll das hinaus? Aber das ginge ja Alles noch, wenn nicht –“ der Graf warf sich unmuthig in seinen Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und starrte vor sich hin. Er sah ihn wieder, den schlimmen Abend im Klub, wo er sich einem „kleinen Jeu“ nicht hatte entziehen können und wo es vom Gewinn zum Verlust, zum großen Verlust gegangen war … sechzigtausend Thaler, zahlbar in den nächsten Tagen an Karkow …

Er fuhr wieder empor und begann die rastlose Wanderung von Neuem. Jeder peinliche Gedanke wurde von einem noch peinlicheren abgelöst. In seiner Verlegenheit hatte er sich gestern – wenn auch bitter ungern – an Felsing gewandt und bis jetzt keine Antwort erhalten. Er empfand neben aller Angst über die Entscheidung diese Rücksichtslosigkeit sehr scharf.

„Im Nothfalle muß auch Hochberg verkauft werden,“ gingen jetzt die unerfreulichen Gedanken weiter. „Freilich geht so eine Besitzung um die andere in fremde Hände, aber – was will ich denn? – Die Zeiten des Adels sind nun einmal vorüber! Den Gründern und Spekulanten gehört heute die Welt!“

Er lachte bitter auf, hielt aber plötzlich in seinem Lauf inne und richtete sich stramm empor, als die Thür geöffnet wurde und der Diener unter der Portiere erschien: „Es sind zwei Herren aus Hochberg hier, welche bitten, dem Herrn Grafen ihre Aufwartung machen zu dürfen.“

„Aus Hochberg?“ wiederholte dieser erstaunt. „Mögen sie eintreten!“

Im nächsten Augenblicke standen ihm die wohlbekannten Figuren seines Schultheißen und Pfarrers gegenüber, und auch [464] der schärfste Beobachter hätte keine Spur von Aufregung mehr in der Art finden können, mit welcher der Graf auf die Beiden zuging und ihnen freundschaftlich die Hand entgegenstreckte.

„Nun, das ist hübsch, Hochwürden, daß wir Sie auch einmal in der Residenz sehen. Legen Sie den Hut ab, Herr Bürgermeister, und lassen Sie mich wissen, worin ich Ihnen dienen kann. Denn ohne besondere Veranlassung sind Sie sicher nicht da!“

Der bäuerliche Bürgermeister, dem hinter seinen beiden Ackergäulen bedeutend wohler war als auf dem dunkelrothen, schwerbetroddelten Armsessel, auf den er sich kaum zu setzen wagte, hustete einige Male verlegen und betrachtete respektvoll die Bilder an den Wänden und die schweren Metallgeräthe des gräflichen Schreibtisches, der Pfarrer aber, der im Hochberger Schlosse ein häufiger und gern gesehener Gast war, sagte einfach:

„Wir haben es für unsere Pflicht gehalten, Herr Graf, uns um Aufklärung an Sie selbst zu wenden in einer Angelegenheit, welche seit einigen Tagen die Gemüther in Hochberg sehr beunruhigt.“

Der Graf machte eine verbindliche Handbewegung; der gute Pfarrer aber empfand eine kleine Schwierigkeit, nach diesem wohlstudirten Eingang gleich zur Sache zu kommem und beeilte sich deßhalb, unter dem fragenden Blick des Grafen hinzuzufügen:

„Sie wissen, gnädigster Herr, wie die Gemeinde an Ihnen und dem hochverehrten gräflichen Hause hängt; es ist ihr wohlbekannt, wie vielen Dank wir Ihrer Güte schulden, wie alle unsere neuen guten Einrichtungen, das Schulhaus, das Pfründnergebäude –“

„Aber, lieber Herr Pfarrer,“ wehrte Graf Hochberg ab.

„Das Pfründnergebäude,“ fuhr dieser gleichwohl unbeirrt fort, „sowie die Zutheilung von Holz und Streu an die Ortsarmen und unzählige andere Wohlthaten nur Ausflüsse Ihrer Großmuth sind, und jeder einzelne Bewohner von Hochberg fühlt sich dadurch unserem gnädigen Herrn Grafen aufs Tiefste verpflichtet.“

„Aber ich bitte Sie, lieber Herr Pfarrer, wozu dies Alles?“ warf Graf Hochberg freundlich ein.

„Um gleichsam unsere Unbescheidenheit zu entschuldigen, wenn wir uns jetzt erlauben, die Frage an den Herrn Grafen zu richten, derentwegen wir gekommen sind. Wir haben nämlich gehört, daß Eckartshausen verkauft worden ist … und so … so ist in der Gemeinde die Befürchtung entstanden, der Herr Graf könnten sich auch Ihrer Besitzung Hochberg entäußern wollen, was wir allesammt als ein großes Unglück für uns ansehen müßten …“

Beide Männer hingen gespannt an den Zügen des Grafen, die eine gewisse Verlegenheit zeigten. Er antwortete nicht sogleich, und so war der Pfarrer gezwungen, weiter fortzufahren:

„Verzeihen Sie, Herr Graf, daß wir uns überhaupt unterstehen, an diese Dinge zu rühren. Aber neben der Angst vor der Aenderung treibt uns noch der Gedanke, daß … es giebt Verhältnisse … wo man so etwas auch von der finanziellen Seite betrachtet … und für diesen Fall haben der Herr Bürgermeister und ich überlegt, ob man nicht ein Arrangement treffen könnte – mit den Gemeindewaldungen etwa –“

Aber weiter ließ ihn der Graf nicht kommen. Wie von einer Feder geschnellt, fuhr er empor, und er, der noch eben in Gedanken angstvoll alle Möglichkeiten einer Hilfe erschöpft hatte, sagte jetzt in heiterem Tone und mit der gewinnenden Freundlichkeit, die ihm zur zweiten Natur geworden war:

„Nein, meine lieben Freunde, so schlimm steht es doch nicht mit mir. Ich habe Eckartshausen verkauft, weil mir die Verwaltungsgeschäfte zu anstrengend wurden. Von Hochberg aber,“ fuhr er rasch fort, von einem unwiderstehlichen Impulse getrieben, der jede andere Ueberlegung verdrängte, „von Hochberg denke ich mich nicht zu trennen, so lange ich lebe, und ich freue mich sehr, Sie Beide diesen Sommer wieder draußen zu begrüßen. Sagen Sie das unseren guten Hochbergern und haben Sie herzlichen Dank für Ihre treue Anhänglichkeit!“

Die beiden Männer blickten bewundernd auf ihren schönen imposanten Herrn, und ihm selber schien es, während er lebhaft und heiter sprach, als ob seinen Worten eine bestätigende Kraft innewohne: so mußte der Herr von Hochberg sprechen, und mit diesem Herrn konnte es so schlimm nicht stehen.

Als aber der Pfarrer und der Bürgermeister sichtbar erleichtert sich unter vielen Bücklingen entfernt hatten, verflog allgemach die gehobene Stimmung des Grafen und die unerfreuliche Wirklichkeit trat wieder vor ihn hin, noch verschärft durch die Versicherung, durch die er sich so unbesonnen gebunden. Nicht unbesonnen ... er hatte nicht anders reden können diesen einfachen braven Leuten gegenüber, er konnte sich doch wahrhaftig nicht durch ein Anerbieten beschämen lassen, das – nein, nein, dieser Ausweg war unmöglich, es handelte sich jetzt nur darum, einen andern zu finden!

Ein Diener trat ein, auf dem silbernen Plateau ein großes Kouvert tragend.

„Von Felsing!“ Hastig öffnete der Graf und durchflog den Brief, um ihn gleich darauf zornig zu Boden zu werfen. Felsing refüsirte mit ausgezeichneter Höflichkeit und aufrichtigstem Bedauern. eigene Verpflichtungen und die Schwierigkeit, im Augenblick größere Summen flüssig zu machen waren als Gründe angegeben. „Ausflüchte, elende Ausflüchte,“ murmelte der Graf empört vor sich hin. „Als ob die Herren nicht trefflich verstünden, Gelder flüssig zu machen, wenn es gilt, dem Adel seine Güter wegzukaufen! Er will nicht, das ist augenscheinlich.“

Aber da lag ja noch ein zweiter Brief von seinem eigenen Bankier. Der Graf erbrach ihn und las:

„Hochgeborener Herr Graf! Nachdem der Kurs der für Sie gekauften und in Depot gelegten fünfhundert Stück Aktien der Bau- und Bodengesellschaft heute auf dreißig zurückgegangen ist, erlauben wir uns, entsprechend der Geschäftsordnung unseres Hauses, Euer Hochgeboren um gefällige Deckung der zu Ihren Lasten entstandenen Differenz von siebzigtausend Thalern höflichst zu ersuchen.“

Der Graf ließ das Blatt sinken, seine Augen starrten darauf, ohne den Sinn augenblicklich zu fassen. Siebzigtausend Thaler! Es dauerte sekundenlang, bis er seine Gedanken gesammelt hatte, dann aber kam eine heiße Entrüstung über ihn. Was! Als man ihn in den Verwaltungsrath der Bank hineinzog und ihm die Aktien gewissermaßen aus Erkenntlichkeit zum Kurs von hundert überwies, da hatte man ihm goldene Berge versprochen und ihm erst kürzlich noch gesagt, er solle sich wegen des Sinkens nicht beunruhigen, man werde seine Aktien unter allen Umständen halten. Und nun – eine solche Infamie!

Ein plötzlicher Anfall von verzweiflungsvoller Angst faßte den rathlosen Mann; es war ihm zu Muthe wie dem Schwimmer, der, gegen Wind und Wellen ringend, zum ersten Male den deutlichen Gedanken seines Unterganges fühlt. Es litt ihn nicht mehr in dem stillen Zimmer, er griff hastig nach Hut und Stock; er wollte hinaus, gleichviel wohin – und prallte an der Thürschwelle beinahe mit dem Agenten Treiber zusammen, der offenbar sehr nahe der Thür schon seit einiger Zeit gestanden hatte und nicht sofort eine unbefangene Haltung finden konnte.

„Sie hier?“ sagte stirnrunzelnd der Graf, indem er zurücktrat. „Was wollen Sie?“

„Unterthänigster Diener, Excellenz,“ erwiederte der Agent; „ich wollte nur anfragen, ob Sie sich die Sache überlegt haben wegen der sechzigtausend Thaler?“

„Ich habe Ihnen schon gesagt,“ erwiederte der Graf etwas weniger rauh, „daß ich bereit bin, die Provision zu zahlen.“

„Schön, Herr Graf,“ schmunzelte Treiber. „Und Excellenz würden das Wechselchen ausstellen mit der bekannten Unterschrift und dem Stempelchen?“

„Nein,“ erwiederte Jener mit einiger Anstrengung. „Sie wissen wohl, daß ich dies nicht kann, weil es eine Fälschung wäre, ein Betrug. Ich will davon nichts mehr hören!“

„Eine Fälschung!“ wehklagte der Agent – „ein Betrug! Gott, was für ungute Worte! Wen sollten der Herr Graf denn betrügen? Wenn ich das Wechselchen kaufe und dabei weiß, was ich kaufe, betrügen der Herr Graf etwa mich? Und wenn der Herr Graf das Wechselchen wieder einlösen in zwei Monaten, betrügen der Herr Graf etwa die Bau- und Bodengesellschaft? Und wenn kein Mensch etwas erfährt von der ganzen Geschichte, wer will etwas dagegen haben?“

„Aber warum bestehen Sie denn so hartnäckig auf dem Stempel?“ versetzte der Graf ungeduldig.

„Warum ich darauf bestehe? Gott, Herr Graf, es ist so eine Art von Gefühlssache, Excellenz! Gewiß und wahrhaftig, der Herr Graf sind mir gut für eine Million, und die Unterschrift des Herrn Grafen ist mir auch gut! Aber wenn man sechzigtausend Thaler

[465]

Beim Erdbeerensammeln.
Originalzeichnung von W. Hasemann.

[466] auf ein einfaches, kleines Blättchen Papier gegeben hat, dann kommen Einem doch auch unruhige Stunden, und sehen Sie wohl, Herr Graf, da wäre ich dann ruhiger, wenn ich würde sehen das Stempelchen auf dem Papier!“

„Genug davon,“ rief jetzt der Graf ärgerlich; „ich kann Ihr Geld so nicht brauchen, Sie können gehen!“

„Schade, Herr Graf,“ seufzte gefühlvoll der Agent. „Ueberlegen Sie sich die Sache, Excellenz, und wennn Sie mich wollen rufen lassen, das Geld liegt parat!“

Damit drückte er sich, diesmal bei Weitem zuversichtlicher und vergnügter, zur Thür hinaus.

(Fortsetzung folgt.)




Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
VII. 2.

Die Gesellschaft ist überstanden, liebste Marie, und mir ist zu Muthe, wie Einem, den wir einnal in der alten Geschichte hatten – erinnerst Du Dich noch – der auch nicht wußte, als die Schlacht vorbei war, ob er gewonnen oder verloren hatte. Pyrrhus hieß er, glaube ich, oder war es Hannibal? Ich weiß nicht mehr; jedenfalls kann es ihm vorher nicht schlechter zu Muthe gewesen sein, als mir, je näher der fatale Donnerstag kam. Erst hoffte ich, sie würden Alle absagen; aber Gott bewahre, sie wollten Alle das Vergnügen haben! Dann wachte ich manchmal Nachts auf mit dem Gefühl, es sei etwas ganz Schreckliches los, und legte mich mit dem Seufzer: Ja so, Donnerstag! auf die andere Seite. Zuletzt überlegte ich mir noch ein plötzliches Unwohlsein, aber das hätte Hugo nicht gelitten, und so kam endlich der Tag, und ich gewann denn auch gleich den richtigen Schlachtenmuth, als „bei Tagesanbruch das Streitroß wieherte“ und mit gesträubten Mähnen und der Kaffeekanne eine halbe Stunde früher als gewöhnlich ins Zimmer hereinschoß.

„Mache Deine Sache schön,“ sagte Hugo im Fortgehen, „und nicht wahr, richte Alles so ein, daß Du Abends vom Tisch nicht aufstehen mußt; ich mag das nicht leiden.“

O, ich kannte den Grund dieser Abneigung. Vorige Woche sagte Frau von Kolotschine, als sie, wie gewöhnlich, über den Tisch hin perorirte: „Ich finde die deutschen Frauen nicht so praktisch, wie ihre Männer glauben. Sie thun immer selbst die Arbeit der Dienstboten, statt diese zu dressiren. Die Französinnen sind praktischer, die Engländerinnen gebildeter, die Russinnen patriotischer, was ist eigentlich die deutsche Frau? Ich weiß es nicht, ich glaube, sie ist – Frau Buchholtz.“

Nun bitte ich Dich! So Etwas darf man sagen unter dem Vorwand „nationaler Studien“!! Ich kann sie nicht ausstehen, weißt Du; aber einladen mußte ich sie doch, und deßhalb kam es mir selbst darauf an, daß Alles so glatt wie möglich ging. Für den späteren Abend war mir nicht bang; wir wollten, statt stundenlang am Tisch zu sitzen, die Bowle im Salon trinken, dazu Musik machen; ich legte meine Mappe mit italienischen Photographien auf – Frau von Kolotschine sollte sehen, daß der arme Hugo doch nicht ganz so beklagenswerth ist wie sie glaubt. Tagsüber schafften wir eifrig in der Küche, machten italienischen Salat, Rehbraten, Kompote, die Füllung für die Pastetchen zurecht, und gegen Viere ging ich dann daran, den Auszugtisch zu vergrößern. Aber, o Schrecken! das ging nicht; wir zogen, schoben, stießen – umsonst, das frische Holz war aufgequollen und rührte sich nicht. Mich faßte die Todesangst; wir verdreifachten unsere Anstrengungen, knieten und lagen viertelstundenlang darunter; ich rief noch in meiner Verzweiflung Hugo, der gerade fortgehen wollte; er rüttelte fürchterlich und ließ ein paar Donnerwetter los, die auch nicht halfen; endlich holte er einen Hammer – „stoßt den Zapfen aus, Gott bewahr das Haus!“ – ein Krach, und langsam dehnte sich kreischend das Ungeheuer und wir athmeten auf. Aber viel Zeit hatte es gekostet; Hugo versprach mir, die bestellten Südfrüchte selbst mitzubringen; ich konnte unmöglich noch einmal ausgehen! Meinen Tisch deckte ich wunderschön; ich hatte Tischkärtchen gemalt, stellte Silber und Krystall so zierlich wie möglich auf mein schönstes Damastgedecke und sprach mir dabei fortwährend Muth zu. Meine Hauptangst betraf nur Rike. Sie ist schrecklich, wenn sie in „Verbiesterung“ fällt, und das passirt ihr, sowie die Ereignisse sich drängen. Ich suchte ihr beim Kochen und Richten so sanft wie möglich die Servirordnung immer wieder einzuschärfen, aber ihr patziges: „Werd’s schon machen!“ tröstete mich wenig, und der Vergleich ihrer plumpen Gestalt mit unserem geschickten Stubenmädchen daheim war auch nicht gerade zur Erbauung gemacht.

Als ich endlich gegen Sieben mit Allem fertig war und hinaufeilte, mich rasch ins Kleid zu werfen, da fühlte ich wahrhaftig etwas wie Neid gegen diese Rike, die nur ruhig weiterzukochen brauchte und nicht nach aller Hetze und Arbeit noch die liebenswürdige Hausfrau vorzustellen hatte!

Knapp war ich angezogen, da erschienen die ersten Gäste und fast zugleich mit ihnen Hugo; ich sah ihn nur eiligst entschwinden, aber zur Begrüßung kam er doch noch zurecht. Bald war die Gesellschaft beisammen; Oberamtmanns, die Schwiegermama und Reutter, Amtsrichters, die Oberstin Baer, Frau von Kolotschine mit ihrem Schwager, Klara und Brandt. Dieser fand für angemessen, einen großen Veilchenstrauß mitzubringen und mir mit seiner zusammenklappenden Verbeugung zu überreichen. Ich ärgerte mich über den einfältigen Menschen, der wohl weiß, daß dergleichen hier nicht Sitte ist, und stellte den Strauß bei Seite. Fräulein Berghaus lächelte spöttisch, und die Mama sah skandalisirt aus.

Die Unterhaltung beim Thee ließ sich ganz gut an. Die alten Damen saßen; Frau von Kolotschine stand, die Tasse in der Hand, bei den Herren, entfaltete eine pompöse Schleppe und war sehr graziös und animirt, besonders mit Hugo, den sie bei jeder Gelegenheit auszeichnet. Leider waren die Tischplätze an seinen Seiten für das Alterthum bestimmt, und er konnte sie nicht führen. Aber wenigstens kam sie ihm gegenüber: das ist für schöne Augen auch Etwas!

Endlich saßen wir und das Essen sollte erscheinen. Es dauerte lange, zu lange; ich wollte vom Stuhl auffahren; Hugo’s Blicke bannten mich fest. Die Unterhaltung begann spärlich zu werden.

„Wir sind dreizehn!“ sagte Frau von Kolotschine zu Brandt, flüsternd, aber doch hörbar genug. Wir waren es allerdings, aber nur, weil ihre Schwester nicht mitgekommen war; sie hätte davon schweigen können; denn unangenehm bleibt das immer, auch wenn man sonst wirklich aufgeklärt ist! Hugo schlug sich ins Mittel. „Daran wird sich doch ein so großer Geist nicht stoßen?“ sagte er scherzhaft.

„Ich weiß nicht,“ erwiederte sie, „wir in Rußland sind abergläubisch. Denken Sie sich, einmal bei dem Fürsten X…“

Ich war ihr jetzt aufrichtig dankbar, dennn während sie ihre Schauergeschichte erzählte, achtete Niemand darauf, wie lange es dauerte, bis Rike erschien. Endlich, endlich kam sie mit dem schwanken Brett und gab die Bouillontassen herum, von rechts natürlich und bei Hugo anfangend, statt bei seiner Nachbarin. Sie hatten zu lange gestanden, waren kühl geworden und jede zeigte einen leichten Fettrand. Das war unangenehm; aber ich ließ mir nichts merken, und das Bedienen ging leidlich; nur dröhnte das Zimmer unter Rike’s Schritt. Würde sie nun die Pastetchen glücklich füllen und hereinbringen? Es dauerte wieder eine fürchterliche Zeit, und ich hatte ihr doch Alles zugerichtet! Eben setzte der alte Notar aus einander und belegte es mit vielen Beispielen, daß die Zahl dreizehn nichts Lebensgefährliches an sich habe; da trat Rike aufs Neue an, mit finsterer Entschlossenheit die Schüssel vor sich hertragend, hochgehäuft – sie hatte gleich die ganze Reserve dazu genommen – nun trat sie neben den Stuhl der Amtsrichterin und statt anzubieten schwupp! leerte sie zwei von den Pastetchen auf deren Teller ab, dann wieder schwupp! zwei auf den des Majors und würde, wenn ich ihr nicht sofort in die Zügel gefallen wäre, in dieser Weise weiter „servirt“ haben. Du kannst Dir meine Alteration vorstellen! Hugo machte finstere Augen, Frau von Kolotschine lächelte; ich zog Rike hinter die Portiere zu einer energischen Flüsterung, kam dann hinter ihr heiter und unbefangen wieder heraus und beobachtete mit starrem Lächeln, während der Herr Oberamtmann in dem unterbrochenen Bericht über Ursachen und Wirkungen seiner Karlsbader Kur fortfuhr, Rike’s ferneren Schmerzensgang um den Tisch. Die vergessene Erbsenschüssel hatte Klara schnell aus der Küche geholt.

Nun ging es mit dem Dekorum zu Ende. Rike’s Gemüthszustand hatte sich durch den erhaltenen Rüffel dergestalt verdüstert, daß Alles zu befürchten stand. Ich sah ihrer Miene an, daß die Explosion beim ersten Wort erfolgen würde. So griff ich denn mit Klara an und gab die Schüsseln herum – bei Oberamtmanns neulich war ja auch nicht servirt worden; das tröstete mich einigermaßen. Aber ach! die Bratenplatte ließ einen häßlichen Rußrand auf dem Damasttuch zurück; die Saucière war im ungeschickten Eingießen vollgetropft; ich litt innerliche Qualen, wie der Indianer am Marterpfahl. Hätte ich doch hinausgehen dürfen, wie die hiesigen Frauen, die ganz unbefangen verschwinden, ehe der Braten kommt, und mit ihm triumphirend zurückkehren! Aber freilich macht sich Frau von Kolotschine eben über diese lustig!

Die Unterhaltung aber ging inzwischen laut genug, Alles sprach und schrie kreuz und quer über den Tisch.

„Und ich sage Ihnen, die Schwurgerichte müssen reformirt werden.“

„Ich sage Ihnen, Bismarck könnte, wenn er nur wollte, aber er will eben nicht –“

„Das leugne ich, Fräulein Berghaus. Man kann Aerztin, Malerin, Bildhauerin sein und daneben eine vorzügliche Hausfrau und Mutter. Ich habe eine Freundin, welche sieben Kinder –“

„Die armen Würmer!“ …

„Nicht einmal theuer! Wenn ich denke, daß mein Dunkelgrünes eine Mark fünfundsiebzig –“

„Emmy!“ rief Hugo dazwischen, „,wo ließest Du das Brot?’“

Mein Gott, ich hatte vergessen, noch ein Körbchen zu füllen, aber war es wohl zart von ihm, mir das über den ganzen Tisch hinüber zu rufen? Ich hatte genug, übergenug. Und jetzt stand ich auf, trotz des Verbotes, winkte Klara, schellte Rike herein; wir räumten ab, kehrten das Tischtuch, setzten Butter und Käse auf, nun die Südfrüchte, ja – wo waren die?!

Ich trat an meines Gatten Stuhl. „Hugo,“ fragte ich leise, „wo sind die Datteln und Malagatrauben?“

„Herrgott, die habe ich vergessen!“

„Wie einfältig!“ stieß ich im Zorn heraus; denn ich war wüthend, weil nun mein ganzes Dessert verdorben war. Die paar Tellerchen mit Weihnachtskonfekt nahmen sich gar zu mager aus.

Ich sage Dir, ich war fertig, bis dieses Souper zu Ende war. Die gute Mama Baer sah, was in mir vorging, und drückte mir die Hand, als ich ihr den Teller reichte. Neben dem Oberamtmann wieder sitzend, machte ich eine Bemerkung, über die kleinen Mißgeschicke, welche scherzhaft sein sollte.

[467] „O das macht nichts, bei einem jungen Frauchen nimmt man das nicht so genau," sagte von der andern Seite die Amtsräthin.

„Besonders wenn sie so hübsch und liebenswürdig ist," fügte der alte Herr galant bei. Aber mir war es wie ein Dolchstoß. Also haben es Alle gemerkt, und ich war blamirt!

Die Empfindung verließ mich nicht mehr den ganzen übrigen Abend. Mit Hugo sprach ich nicht; er setzte sich auch so fest zu Frau von Kolotschine, oder vielmehr, sie nahm ihn so ausschließlich in Beschlag, wie sie das schon ein paar Mal in Gesellschaft gethan. Brandt, der momentan in Ungnade zu sein scheint, hielt sich, nachdem wir unser Stück gespielt hatten, stets an meiner Seite, Fräulein Frida lächelte wieder. Und nun führte Hugo Frau von Kolotschine zum Flügel; sie spielte, spielte Chopin, und, Marie, besser, viel besser als ich! Ich fühlte ein inneres Brennen, aber wenn auch – ich überwand mich, trat zu ihr und sagte: „Was gäbe ich darum, dies auch so zu können!“

„Wünschen Sie sich das nicht, liebes Kind,“ erwiederte sie herablassend, „es kostet viel Herzblut, Chopin so zu spielen!“ Und mit ihrem bedeutungsvollen Augenaufschlag fixirte sie Hugo.

„Dafür ist aber dann der Zauber auch vollkommen,“ sagte dieser und küßte ihr die Hand zum Dank.

Ich sagte nichts mehr, wandte mich zur Seite, wo die Bowle stand, und schöpfte aus. Sie war gut, aber das machte mir keine Freude mehr; es war mir jetzt Alles einerlei. Die alten Herrschaften unterhielten sich, meine Photographienmappe blieb geschlossen. Ich glaube, sie fühlten sich aber jetzt bei den qualmenden Cigarren Alle recht gemüthlich, denn es wurde halb Eins, bis sie gingen.

Und als nun die Letzten fort waren, wer saß da am Ofen und schluchzte herzbrechend und wollte gar keine Vernunft annehmen? Das war Emmy, die ihren Mann mit Vorwürfen überhäufte, von den Südfrüchten an bis zu der koketten Russin, behauptete, er habe sie vor der ganzen Gesellschaft bloßgestellt und sich selbst kompromittirt, keine seiner Einreden beachtete, bis er es endlich müde wurde und mit einem scharfen: „Kommst Du jetzt?" das Licht ergriff.

„Nein!“

„Dann bleibe nur, ich gehe …“

Und fort war er. Ich lehnte meinen Kopf an die kalten Ofenkacheln und weinte herzbrechend, ungefähr eine halbe Stunde, dann mußte ich mir Mühe dazu geben, und endlich ging es gar nicht mehr. Es wurde auch kalt im Zimmer, ich begann, meinen Trotz zu bereuen, und nahm mir vor, nur noch ein Weilchen zu warten, bis er eingeschlafen wäre, um mich dann leise ins Bett zu stehlen. Mein Kopf sank tief und tiefer, plötzlich schreckte ich von einem Geräusch auf. In der Thür stand Hugo und betrachtete mich mit einem sonderbaren Ausdruck.

Ich flog auf, ihm entgegen, er sagte nur: „Emmy, sollen wir uns heute zum ersten Mal nicht gute Nacht sagen?“

O Marie, er ist doch gut – seelengut! Ich fiel ihm um den Hals. Er tröstete mich auch noch und sagte: es sei ja sehr hübsch gewesen, und Alle hätten sich gut unterhalten. Und ich, wie gern glaubte ich ihm! Nein, er ist wirklich der beste Mann der Welt, und ich bin Deine glückliche Emmy. 

P. S. Weißt Du, was er von Frau von Kolotschine sagte? „Ach geh’, so eine geistreiche Frau wäre mir ja schrecklich unbequem!“ Das hätte sie hören sollen!




Blätter und Blüthen.


Eine Lehrerbildungsanstalt für den deutschen Handfertigkeitsunterricht.

„Bllde das Auge, übe die Hand,
Fest wird der Wille, scharf der Verstand."

Dieser Spruch der Leipziger Schülerwerkstatt charakterisirt scharf genug die Bedeutung des Handfertigkeitsunterrichts, die Frage der Erziehung der männlichen Jugend zur praktischen Arbeit. Das Streben, diese Erziehung zu fördern, hat sich trotz aller Gegnerschaft behauptet und sich mit unglaublicher Raschheit über alle Kulturländer verbreitet. Im Herbste des Vorjahres ward in Stuttgart ein deutscher Verein für Knabenhandarbeit begründet, der sich bald über das ganze Reich wie über die deutschen Länder Oesterreichs erstreckt hat und heute eine große Anzahl von Mitgliedern in allen Gauen unseres Vaterlandes zählt. Zugleich ward in Stuttgart beschlossen, eine Anstalt zu begründen, die solche Lehrer, welche sich für die wichtige Erziehungsfrage interessiren, zeitweise vereinigen und durch tüchtige Werkmeister zur Ertheilung des Arbeitsunterrichts befähigen soll: die unter die Leitung Dr. W. Götze’s gestellte Lehrerbildungsanstalt des deutschen Vereins für Knabenhandarbeit.

Am 1. Juli ist sie in Leipzig ins Leben getreten, das sächsische Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrlchts hat dieser Lehrerbildungsanstalt durch die Gewährung der Mittel zu einer Bibliothek der gesammten Handfertigkeitslitteratur und zur Anschaffung sämmtlicher Werke und Vorlagen eine willkommene Aussteuer gewährt; eine Bitte an die deutschen Schülerwerkstätten, Arbeitsschulen und Knabenhorte um Ueberlassung von Arbeitsmodellen verspricht nach den bereits eingegangenen Gaben einen guten Erfolg, so daß die künftigen Besucher des Handfertigkeitsseminars einen Ueberblick über die verschiedenen Formen des Arbeitsunterrichts durch eigene Anschauungen erhalten werden, während sie in der Leipziger Schülerwerkstatt die Praxis desselben durch Lehrproben geübter Lehrer kennen lernen sollen. Hervorragende Vertreter der Idee haben freundlich zugesagt, den im Seminar vereinigten Lehrern Vorträge über die verschiedenen Seiten des Arbeitsunterrichts zu halten; so der würdige Veteran der ganzen Bewegung auf diesem Gebiete, Professor Karl Biedermann, der schon im Jahre 1852 sein unübertreffliches Buch „Erziehung zur Arbeit“ schrieb, Medicinalrath Dr. Birch-Hirschfeld, der für die praktische Arbeit der Knaben aus hygienischen Gründen von Anfang an in glänzender Weise eingetreten ist, ferner der Künstler Fedor Flinzer, Emil von Schenckendorff, einer der begeistertsten Kämpfer für die Knabenhandarbeit. Das Wichtigste jedoch wird die angestrengte, mühevolle, aber auch erfolgreiche Arbeit der Lehrer selbst sein, zu der sie von tüchtigen Fachmännern Anleitung empfangen werden. Man darf einer Anstalt, die mit solchen Mitteln und Kräften so bedeutsame Ziele verfolgt, gewiß eine glückliche Entwickelung wünschen. Jedenfalls erhält jetzt erst die Bewegung für den Arbeitsunterricht in Deutschland festen Grund und Boden.

Das Gutzkow-Denkmal in Dresden. Dem Allgemeinen deutschen Schriftstellerverband gebührt das Verdienst, einem so namhaften Dichter, wie Karl Gutzkow es ist, ein Denkmal gegründet zu haben, und daß diese Anregung aus den Kreisen der Schriftsteller selbst hervorging, ist um so ehrenvoller für den gefeierten Dichter, dessen Verdienste um die Litteratur in andern Kreisen oft genug unterschätzt worden sind. Bei der Gutzkow-Feier am 13. December 1880 wurde der Grund zum Fonds für das Denkmal gelegt, auch die für diese Feier von dem Bildhauer Andresen in Dresden geschaffene überlebensgroße Büste wurde zur Ausführung bestimmt; die Dresdener Stadtverwaltung übernahm die Kosten der Aufstellung dieser Büste vor dem Kreuzgymnasium neben dem Standbilde Theodor Körners. Mit Recht haben namhafte Kunstgelehrte darauf aufmerksam gemacht, daß für Männer, die sich durch geistige Leistungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet, die Büste eine geeignetere Form plastischer Verherrlichung ist als das Standbild, das sich mehr für Männer der That eignet, für große. Herrscher und Feldherren.

Man darf sich daher vollkommen mit der Gutzkow-Büste als einem plastischen Erinnerungszeichen seitens der Stadt, in der er so lange Jahre gelebt (von 1846 bis 1861), einverstanden erklären. Am 11. Juni wurde diese Büste enthüllt in Gegenwart der Vertreter der städtischen Behörden und des deutschen Schriftstellerverbandes, die Festrede hielt Professor Adolf Stern, der von seiner Beredtsamkeit oft genug schöne Proben abgelegt hat und die geistige Bedeutung eines Autors scharf zu charakterisiren versteht. Oberbürgermeister Stübel dankte im Namen der Stadt für das schöne, sie ehrende Geschenk, und Rudolf Doehn, von dem die erste Anregung zu dem Denkmale ausging, legte mit kurzer Ansprache einen Lorbeerkranz auf die Stufen desselben nieder.

Die Büste ist in Bronze ausgeführt und erhebt sich auf einem Porphyrpostament, zu welchem zwei graublaue Granitstufen emporführen. Man sieht dem Angesicht des Dichters den Ernst seines Strebens und die schweren Kämpfe an, die er zeitlebens durchgekämpft gegenüber den unausgesetzten Angriffen einer erbitterten Gegnerschaft. Niemals hat ihm die Gunst der Mode mit ihren wohlfeilen Erfolgen gelächelt, Auszeichnungen sind ihm versagt worden, die der Mittelmäßigkeit bereitwillig gespendet wurden; das Bänkelsängerthum, der leere Singsang hat bequeme Triumphe gefeiert, während er sich für ausgezeichnete Werke mühsam die Anerkennung erkämpfen mußte. Ein Mann von geistiger Bedeutung wie Wenige stand er zurück hinter den geistig Kleinen, denen zufällig ein glücklicher Wurf gelungen, die Summe seines Wirkens wurde nicht gewürdigt; man mäkelte am Einzelnen mit mißgünstigem Behagen. War es zu verwundern, daß sein reizbares Naturell aufs Aeußerste erregt wurde, daß sein Geist, sein Gemüth sich verdunkelten, daß er einem unheimlichen Verfolgungswahn verfiel und, auch von der Krankheit geheilt, immer ein müder verstimmter Dichter blieb bis zu seinem geheimnißvoll tragischen Lebensende?

Die Gutzkow-Büste in Dresden ist eine kleine Abschlagszahlung für Alles, was das deutsche Volk dem Dichter des „Uriel Acosta" und der „Ritter vom Geiste" verdankt. In Dresden hat er drei Jahre lang an der Bühne als Dramaturg im Interesse der modernen Dichtung gewirkt, hier hat er später seine großen Romane geschrieben, bedeutungs- und stimmungsvolle Kulturgemälde, deren Werth um so mehr hervortritt, wenn man sie mit den Werken der Nachfolger vergleicht, welche dieselben Bahnen wandeln. Doch Berlin ist des Dichters Geburtsort, auch geistig ist hier seine Heimath, von den Männern der Berliner Universität gingen die nachhaltigsten Anregungen für sein ganzes Streben aus, seine ganze Art zu denken und zu empfinden ist dem Berliner Naturell verwandt. Im Boden der preußischen Hauptstadt wurzeln seine „Ritter vom Geiste". Wir zweifeln daher nicht, daß die jetzige deutsche Reichshauptstadt dem Beispiele Dresdens folgen und einem Schriftsteller ein würdiges Denkmal errichten wird, der, an den Ufern der Spree geboren, Werke geschaffen hat, die dem Genius des deutschen Volks zu dauernder Ehre gereichen. †      

Der Latona-Brunnen auf Herrenwörth. (Mit Illustration auf S. 453.) Zu lykischem Bauernvolke kam einst, so erzählt die griechische Sage, die Göttin Latona und bat um einen Trunk Wasser für ihre Kinder Apollo und Artemis. Die Bauern verweigerten den Dürstenden diesen Trunk; zur Strafe dafür wurden sie von der Göttin in Frösche verwandelt. Diese Sage versinnlicht der Latona-Brunnen im Garten des Königsschlosses zu Herrenwörth, welches im Jahrg. 1886, S. 560 u. 586 der „Gartenlaube" ausführlich geschildert wurde. Inmitten des Brunnens sieht man die weißen Marmorgestalten der Göttin und ihrer Kinder, um sie her sitzen die verwunschenen Lykier und Lykierinnen, zum Theil schon völlig als Reptilien, zum Theil auch erst in der Verwandlung begriffen. Vortrefflich ist es dem Künstler gelungen, in einigen dieser Gestalten den burlesk-schauerlichen Uebergang vom Menschen zum Frosche darzustellen. All’ diese Gestalten aber schleudern Wassergarben um sich her und über ihre vergoldeten Leiber. Im hellen Sonnenscheine macht der Brunnen mit seinem Marmorbau, seiner Masse goldener Gestalten und seinen sprühenden Wassern einen überaus reichen Eindruck. Leider werden, obgleich das Schloß auch in diesem Jahre wieder dem Publikum zugänglich ist, die schönen Wasserwerke nicht in Thätigkeit gesetzt, da sie umfassender Ausbesserungen bedürfen.

[468] Universal-Inhalations-Apparate. Die Inhalationskuren sind so allgemein bekannt, daß eine nähere Beschreibung derselben selbst dem Laien wesentlich Neues nicht bieten würde. Sie beruhen auf dem Einathmen zerstäubter Flüssigkeiten, deren Zusammensetzung je nach der Verordnung des Arztes eine verschiedene ist. In neuester Zeit gewann die Anwendung derselben eine außerordentliche Verbreitung. In einigen Bädern sind Inhalatorien errichtet worden, und der Zudrang zu denselben ist so groß, daß z. B. in Ems allein während eines Monats im Laufe des vorigen Jahres über 10 000 Inhalationen verabreicht wurden. Aehnliche Anstalten werden jetzt auch in Großstädten gegründet, und die Zahl der Kranken, welche zu Hause inhaliren, läßt sich nach dem großen Verbrauch der kleineren Inhalationsapparate beurtheilen, deren Fabrikation zu einer Specialität geworden ist.

Hand in Hand mit dieser Verbreitung der Inhalationskuren ging auch die Verbesserung der Apparate. Die populärsten dürften noch bis heute die kleinen mit Dampf betriebenen Apparate sein. Weniger bekannt im großen Publikum sind die neueren, bei welchen der Luftdruck die treibende Kraft bildet. Sie ähneln in ihrer Konstruktion jenen Zerstäubern, die mit einem Gummiballon ausgestattet sind und in vielen Haushaltungen zur Erfrischung der Luft, zu Toilettenzwecken und zum Besprengen von Blumen benutzt werden. Sie haben vor anderen Systemen den Vorzug, daß mit ihnen auch kühle Inhalationen verabreicht werden können, was in vielen Fällen sehr erwünscht ist. Außerdem arbeiten sie viel sicherer. Der Patient kommt bei ihrer Anwendung äußerst selten in die unangenehme Lage, daß der Inhalationsapparat „nicht geht“, das heißt die Flüssigkeit nicht zerstäubt. Wer jemals sich der zerbrechlichen Glasröhrenapparate bedienen mußte, kann von diesem Uebelstande berichten. Manche Inhalationskur wurde einfach wegen der Unzuverlässigkeit des Apparates aufgegeben.

Die meisten dieser Uebelstände sind bei den neueren Apparaten beseitigt. Dieselben sind zumeist mit drehbaren Zerstäubungsspitzen versehen, bieten dadurch Gelegenheit, jede einzelne Partie des Rachens zu besprengen, und können auch als Nasendouche dienen. Hervorragendes auf dem Gebiete dieser Fabrikation hat schon seit Jahren der Ingenieur August Göbel in Bad Ems geleistet, und an demselben Kurorte hat neuerdings der Badedirektor Quehl das System der mit Luftdruck betriebenen Zerstäuber durch einige Neuerungen erweitert und den Vertrieb derselben Karl Heyer in Gießen übergeben. Da heut zu Tage in den Großstädten, deren ungesunde Atmosphäre die Entstehung von Halsleiden so sehr begünstigt, zahlreiche Inhalationskuren verordnet werden müssen, dürfte dieser kurze Hinweis auf die jüngsten Fortschritte in der Fabrikation der Zerstäubungsapparate Vielen willkommen sein.
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Beim Erdbeersammeln. (Mit Illustration S. 465.) Zu den lieblichsten Früchten, die uns allsommerlich Garten und Wald spenden, gehört unstreitig die Erdbeere. Unscheinbar zieht die Walderdbeere an geschützten Waldrändern ihre zahlreichen Ranken, immer nur die sonnigsten Plätzchen zum Wohnort nehmend. Aus ihrem dunkelgrünen Laube leuchten die duftenden Früchte hervor, so roth, als ob’s Rubinen wären, und übertreffen an Süßigkeit und Wohlgeruch alle ihre vornehmen Schwestern, die in den Gärten prunken. Darum ist die Walderdbeere eine geschätzte Frucht und wird von Gebirgsbewohnern mit Fleiß gesucht und zu Markte gebracht, zumal die leichte Arbeit des Einsammelns auch von Kindern besorgt werden kann, die damit ihren Eltern eine wesentliche Unterstützung gewähren. Denn viele arme Familien „des Waldes“ sind in dieser Zeit einzig auf den Ertrag des Erdbeersuchens angewiesen.

An freundlichen Sommernachmittagen wird es lebendig im grünen Waldgehege, und emsig sammelt Groß und Klein die zuckersüßen Beeren in kleine Gefäße, „Einschütter“ genannt, die dann in zierliche Weidenkörbchen geleert werden. Wie schallt’s so hell und frisch aus frohem Kindermund, wenn alle Gefäße gefüllt sind:

„Alles voll, Alles voll,
Nun dem Munde seinen Zoll!“

Allein diese bescheidenen Verhältnisse des Erdbeersammelns gestalten sich wesentlich anders, wenn man sein Augenmerk auf die großartigen Kulturen dieser Pflanze in der Garten- und Landwirthschaft richtet. Die vorzüglichen, hauptsächlich aber der Gesundheit förderlichen Eigenschaften der Walderdbeere, auf die schon ein Linné hinwies, waren der Grund, daß man sie aus der stillen Waldeseinsamkeit hervorsuchte und in den Gärten einbürgerte, wo sie durch sorgsame Pflege in vielen Spielarten gezogen wird und außerordentlich große Früchte trägt. Ja sogar der verständige Landwirth wendet dieser Fruchtgattung in neuerer Zeit seine Aufmerksamkeit zu und das mit Recht. Denn wenn z. B. ein Züchter berechnet, daß ihm seine ein Hektar große Erdbeerpflanzung in einem Jahre cirka 9000 Liter Früchte bringt, die ihm eine Einnahme (1 Liter = 35 Pfg. Durchschnittspreis) von 3150 Mark und nach Abzug aller Unkosten einen Reingewinn von 2000 Mark verschaffen, so ist das andern Feld- und Gartenfrüchten gegenüber ein sehr zufriedenstellendes Resultat.

In England und Amerika wird die Erdbeerkultur noch großartiger betrieben. Dort findet man Hunderte von Hektaren mit Erdbeeren bepflanzt, und es kommt vor, daß ein einziger Züchter zur Erntezeit 200 bis 300 Personen mit dem Pflücken beschäftigt und daß ganze Eisenbahnzüge, mit Erdbeeren beladen, nach den großen Absatzplätzen befördert werden.

Mögen aber auch die Erdbeerriesen mit ihren glänzenden Namen großes Aufsehen erregen: immer bleibt die liebliche Walderdbeere in ihrem poetischen Reiz die schönste ihres Geschlechtes.

Unschuldig Verurtheilte. Immer von Neuem drängt sich uns die Frage auf, ob der Staat nicht die Pflicht hat, unschuldig Verurtheilte, soweit das möglich ist, zu entschädigen: denn eine volle Entschädigung für die Kümmernisse, den Schreck, die schuldlos erduldete Schmach, für alle diese das Gemüth herabstimmenden, herzkränkenden Wirkungen eines Mißgriffs der Justiz kann es ja nicht geben. Daß aber für all dies Herzeleid wenigstens eine materielle Sühne unerläßlich ist: darüber sollten doch die gesetzgebenden Gewalten nicht mehr verschiedener Ansicht sein. Die Humanität und jedes menschliche Gefühl verlangen dies.

Wir haben erst vor kurzem in Nr. 21 einen größeren Aufsatz: „Die irrende Justiz und ihre Sühne“ von Fr. Helbig gebracht, in welchem die Freisprechung des früher wegen Mordes verurtheilten Dienstknechtes Loth nach abermaliger Verhandlung vor dem Geschwornengericht eingehend erörtert wurde. Und jetzt brachten die Blätter die Nachricht, daß der Samenhändler und Barbier Ziethen aus Elberfeld unschuldig wegen Mordes zum Tode verurtheilt worden und der einzige Zeuge, welcher bekundete, gesehen zu haben, wie Ziethen seine Frau erschlug, der Barbiergeselle August Wilhelm, jetzt selbst der That geständig sei. Dann hätte Ziethen Recht gehabt, als er stets seine Unschuld betheuerte und erklärte, es sei an ihm ein Justizmord begangen worden. Jedenfalls ist die Untersuchung in der Ziethen’schen Affaire wieder aufgenommen worden, gleichzeitig wird Wilhelm der Proceß gemacht. Bestätigt sich die Schuld des letzteren, so werden die Gegner der Todesstrafe neues Kapital aus diesen Vorgängen schlagen; denn nur die Verurtheilung zum Zuchthause schloß ja dann in beiden Fällen einen krassen Justizmord aus. Ueber das ganze, oft rührende Detail des Ziethen’schen Processes haben die Zeitungen eingehend berichtet: wir wollten aber nicht die Gelegenheit versäumen, bei diesem Anlaß abermals für ein unveräußerliches Recht, die Entschädigung der unschuldig Verurtheilten, zu plaidiren.
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Ein Hutten-Sickingen-Denkmal. Auf der Ebernburg, wo Ulrich von Hutten einst bei seinem Freunde Franz von Sickingen Zuflucht fand, auf jener „Herberge der Gerechtigkeit“, soll den beiden tapfern Vorkämpfern der großen Reformbewegung, welche muthig und unermüdlich bestrebt waren, die ganze Nation aufzurütteln und in neue Bahnen zu führen, ein Doppeldenkmal errichtet werden. Das vortrefflich gelungene Modell zu dem Standbilde ist in dem rühmlich bekannten Atelier von Karl Caur in Kreuznach vollendet worden unter Beirath und Beihilfe hervorragender deutscher Bildhauer; die Ausführung erfolgt unter Leitung des Professors Albert Wolff. Beiträge zu dem Kostenaufwand von 90- bis 100 000 Mark werden von dem Hutten-Sickingen-Komité in Kreuznach oder vom Bankhaus S. Bleichröder in Berlin entgegen genommen.
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Schach.
Von Josef Pospíšil in Prag.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 436.
Weiß: Schwarz:
1. D e 2 – c 2 a 7 – a 6 !
2. S f 7 – d 6 Zugzwang.
3. D resp. S setzt matt.

Varianten: a) 1. … c 6 – c 5, 2. D c 2 – d 2 † etc. – b) 1. … K d 4 – d 5 :, 2. D c 2 – d 3 † etc. – c) 1. … K d 4 – e 3, 2. L h 2 – c 5 etc. – Auf 1. … c 6 – d 5 : setzt 2. L h 2 – g 1 gleich matt.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Abonnent in Jehnsbach und A. K. in G. Das 1838 bis 1841 von Gottfried Semper erbaute Dresdener Hoftheater brannte am 21. September 1869 nieder; das jetzige Hoftheater wurde unter Leitung Manfred Semper’s errichtet (1871 bis 1878). Der Zuschauerraum desselben faßt 2000 Personen. – Das Berliner Opernhaus wurde 1843 durch einen Brand stark beschädigt; das dortige Schauspielhaus ist an Stelle des 1817 abgebrannten früheren in den Jahren 1819 bis 1821 von Schinkel errichtet worden.

Vogel, Simmering. Wenden Sie sich an das Direktorat der betreffenden Schule, das Ihnen gern Auskunft geben wird.


Inhalt: Der lange Holländer. Novelle von Rudolph Lindau (Fortsetzung). S. 453. – Am Postschalter. Praktische Winke für Jedermann. S. 456. – Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“. V. Längs der vorher unbekannten Nordostküste. a. Von Vulkan-Insel bis Berlinhafen. Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen). S. 460. Mit Illustrationen S. 457, 460, 461 und 462. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 462. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. VII. 2. S. 467. – Blätter und Blüthen: Eine Lehrerbildungsanstalt für den deutschen Handfertigkeitsunterricht. S. 467. – Das Gutzkow-Denkmal in Dresden. S. 467. – Der Latona-Brunnen auf Herrenwörth. S. 467. Mit Illustration S. 453. – Universal-Inhalations-Apparate. S. 468. – Beim Erdbeersammeln. S. 468. Mit Illustration S. 465. – Unschuldig Verurtheilte. S. 468. – Ein Hutten-Sickingen-Denkmal. S. 468. – Schach. S. 468. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 436. S. 468. – Kleiner Briefkasten. S. 468.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.