Die Gartenlaube (1887)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 49.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Die Geheimräthin.

Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)


Der große Saal, in welchem ein altväterlicher Kamin große Holzklötze verzehrte, war der eigentliche Wohnraum des Hauses von Glowerstone und zugleich das einzige Gemach, in welchem Fremde empfangen werden konnten. In einer Ecke saß Sir Albert vor dem Schachbrett, um Probleme zu lösen, was einigermaßen einer philosophischen Aufgabe gleich kam; in der anderen Ecke saß Edith beim Spinnrad. Dieses aus den Urväterzeiten überkommene Geräth, welches gegenwärtig selbst in Bauernstuben nicht mehr zu finden ist, bot Edith eine wohlthätige Beschäftigung. Sie haßte die weiblichen Handarbeiten, welche die Augen anstrengen und nichts zu Tage fördern, was Nutzen hätte oder der Schönheit eines Kunstwerkes gleichkäme, und ebenso war sie nicht geneigt, eine ihr von der eigenen Denkungsweise vorgeschriebene Diät der Lektüre zu überschreiten und Abend für Abend ein neues Buch nach dem andern zu lesen.

Der Eintritt der beiden Damen verursachte eine Freude, die bei Vater und Tochter ganz verschiedene Ursachen hatte. Edith war durch die Gegenwart der Gräfin immer beglückt, während ihr Vater sie beinahe fürchtete, weil seine „Muhme Isabel“, wie er sie spöttisch gern nannte, zu viel Kritik an ihm übte. Hingegen war Glowerstone ganz außer sich vor Vergnügen, als die Gräfin ihre Begleiterin vorgestellt hatte; er glaubte sich schon am Ziel seiner höchsten Wünsche. Sogleich räumte er ihr einen Platz in der Ecke ein, wo er über den Schachproblemen gegrübelt hatte, indeß die Gräfin sich mit Edith vor das Spinnrad setzte, so daß beide Parteien gegenseitig außer Hörweite waren.

„Sie dürfen nicht erstaunen, Frau Geheimräthin,“ sagte er, „einen Gutsbesitzer und englischen Sir in so primitiver Behausung zu finden. Ich habe mich aus der Welt zurückgezogen; denn die Welt dreht sich um die Achse der Dummheit. Das ist auch ganz natürlich. Denn wenn sie nicht dumm wäre, so würde sie sich überhaupt nicht mehr drehen, also lieber zu existiren aufhören. Das ist aber einer so wunderschönen Frau gegenüber – Sie werden einem alten Manne das unwillkürliche Kompliment verzeihen, weil es von seinen Lippen eine Wahrheit ist, – das ist der Schönheit gegenüber eine schlecht angebrachte Philosophie. Die Frauen sind es allein, welche die Existenz der Welt begreiflich und verzeihlich machen.“

Brigitta ging sogleich auf den angeblichen Zweck ihres Erscheinens über, auf die Beschaffenheit des Gutes, das zu verkaufen wäre. Damit war ein Thema nach dem Herzen Glowerstone’s gegeben. Er begann seine Lobpreisung des Gegenstandes in der Form unzähliger wirthschaftlicher Details vorzutragen, von denen er selbst nicht das Geringste verstand, die er aber vom Pächter auswendig gelernt hatte. Mit halbgeschlossenen Augen lauschte Brigitta auf die ihr unendlich gleichgültige Rede; sie lauerte darauf, ob nicht der Name des Legationsrathes vorkommen werde. In der That, Glowerstone schloß

Vor dem Nikolaustag.0 Originalzeichnung von Mathias Schmid.

[806] seine Auseinandersetzungen mit dem bedeutungsvollen Wink, daß man, um sich den Besitz des Gutes zu sichern, der Regierung durch möglichste Raschheit zuvorkommen müsse, denn sie hätte schon an ihn den Legationsrath Siegfried Malköhne abgesendet, der in ihrem Auftrag vor Ungeduld brenne, den Handel abzuschließen.

Diese Aeußerung benutzte Brigitta, um sich zur Gräfin zu wenden und dadurch endlich zu Edith treten zu können. Sich von ihrem Sitze erhebend und eilig in die andere Ecke schreitend, als ob sie eine interessante Nachricht brächte, sagte Brigitta:

„Sehen Sie, Frau Gräfin, jetzt wissen wir, was Sie nicht anzugeben wußten. Der Legationsrath war in derselben Angelegenheit hier, die mich so sehr beschäftigt. Aber dieser holden Erscheinung gegenüber“ – wandte sie sich zu Edith – „hat man nicht das Recht, von Geschäften zu sprechen. Lassen wir dies auf eine andere Zeit. Was für ein herrliches Bild bringen Sie mir vor Augen, mein Fräulein, durch das Spinnrad! Man muß an alle alten Geschichten romantischer Art denken. Doch nein! in jenen Geschichten sitzt immer eine greise Großmutter vor dem Spinnrad und hier ein wunderschönes Fräulein mit Elfenbeinfingern, wie ich sehe.“

Jetzt war es nöthig, daß die vier Personen zusammenrückten, und Edith sagte geradezu, daß sie darauf gelauert hätte, die Trennung in zwei Parteien aufzuheben und das Gespräch allgemein zu machen. Brigitta, eingedenk, in welcher gespannten Lage sie sich befand, und daß sie nöthigenfalls einen Schritt über das Konventionelle hinaus wagen müßte, um für diese Nacht, wenn möglich, ein bestimmtes Faktum nach Hause zu bringen, gab die gefundene Anknüpfung an Siegfried nicht mehr auf. Es war ihr schon eine mit Bitterkeit vermischte Wonne, von ihm zu sprechen, und da sie nicht so weit gehen konnte, seine Person zum Helden ihrer Mittheilungen zu machen, so kam es ihr außerordentlich zu statten, daß Glowerstone eifrig nach den Verhältnissen des Legationsrathes forschte.

Brigitta erzählte von der bevorzugten Stellung, die Siegfried Malköhne in der Gesellschaft einnahm, und namentlich von dem ungeheuren Reichthum, dessen er sich schon erfreute und der noch auf ihn übergehen würde, weil dadurch Anlaß gegeben war, das großartige Leben zu schildern und zu erklären, welches er in der Hauptstadt führte. Wohl fühlte sie dunkel, daß sie dadurch vielleicht begünstigte, was sie eigentlich verhindern wollte, daß dieser Umstand Edith für eine Werbung stimmen müßte, wenn es die Person Siegfried’s nicht gethan haben sollte. Allein Brigitta wollte mit der ganzen Gewalt der Situation den Kampf eingehen und nicht durch Winkelzüge gewinnen.

Zu dieser vollen Gewalt der Situation gehörte aber auch, daß Malköhne die etwaige Begünstigung seiner Werbung durch den Umstand, daß man von seinem Reichthum wußte, wohl merken mußte und daß dadurch noch im letzten Augenblicke eine andere Wendung herbeigeführt werden konnte. So fühlte Brigitta, daß sie unwillkürlich durch diese Enthüllung seiner Verhältnisse sich einen letzten Hoffnungsanker geschaffen hatte.

Glowerstone’s blondes Gesicht ging wie in Seligkeit schwimmend breit aus einander; seine Augen schlossen sich, um neben dem Bilde, das in seiner Seele aufstieg, nichts Anderes zu sehen. Davon ganz verschieden war der Eindruck auf Edith. Sie gedachte der Andeutungen Malköhne’s, daß er gleich ihr ein Leben der Dürftigkeit führe, und sie fühlte ihre Vorstellung von ihm getrübt. Ihre schönen Brauen zogen sich finster zusammen und sie starrte vor sich hin. Brigitta beobachtete die entgegengesetzten Wirkungen ihrer Mittheilung.

Plötzlich warf Glowerstone die Frage auf, wie es komme, daß ein Mann in so ausgezeichneter Lebensstellung noch unvermählt sei.

Die Geheimräthin erwiederte gleichmüthig:

„Er glaubt sich vielleicht noch zu jung. Auch ist er der Ehe überhaupt abgeneigt, wie man wenigstens allgemein hört.“

„Das wäre ein Makel an ihm,“ rief Glowerstone mit Eifer und großem Ernste; „ein Mann muß der Gefahr ins Auge sehen. Die Militär- und Landwehrjahre sind das Geringere, er muß auch seine Ehejahre abdienen.“

Dies führte Glowerstone weiter aus und gerieth dadurch in eine von seiner Seite sehr laut geführte Diskussion mit der Gräfin. Inzwischen flüsterte Brigitta dem schönen Mädchen eine Frage über denselben Gegenstand zu:

„Ich habe natürlich kein Urtheil,“ erwiederte Edith, ohne daß sich der düstere Ausdruck ihrer Züge verloren hätte; „aber, was mich selbst betrifft, so bin ich so glücklich, bereits eine Pflicht gegen einen Mann zu haben –“ sie deutete auf ihren Vater – „und ich wünsche mir keinen andern Mann und keine andere Pflicht, denn so jung ich bin, so sehr ich auch außerhalb der Welt lebe, ich habe bereits eine Enttäuschung erfahren.“

Beide sprachen leise zusammen weiter, und für Brigitta gewann es den Anschein, als ob Edith nicht von der Beschaffenheit wäre, daß auch der reichste Mann nur die Hand nach ihr auszustrecken brauche, um sie zu gewinnen. Sie wird ihn zurückweisen – dachte Brigitta einen Augenblick – sie selbst, die ihn mir entreißen soll, wird mir den Verlornen zurückgeben.




13.

Brigitta erhob sich, um zu scheiden, in Rücksicht auf die späte Stunde, wie sie sagte, und auf ihre Ermüdung nach der langen Reise. Sie verabredete noch mit Glowerstone die Besichtigung der Liegenschaften bei gutem Wetter und ihr tägliches Erscheinen bei ihm, um sich in die Details des Geschäftes ganz einweihen zu lassen. Mit der Gräfin wieder an der Seite schritt sie über die dunkle Dorfstraße und verabschiedete sich in der ersten Etage von der Gräfin, ohne daß von einem Wiedersehen gesprochen wurde, weil es so selbstverstäudlich war, daß Brigitta am nächsten Tage den Gegenbesuch zu leisten hatte.

„Nein, es ist nicht möglich, daß sie ihn abweist“ – dachte Brigitta, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. „Er ist zu glänzend, er besticht zu sehr. Ich aber werde es nicht dazu kommen lassen, daß er um sie wirbt. Ich habe mir das tägliche Kommen gesichert, ich werde jedem seiner Schritte folgen, er wird mich vor Augen haben, so oft er auf Edith blickt. Und gälte es, ihn mit lauten Worten zurückzuhalten, ich scheue das Aeußerste nicht, und könnte ich nicht verhindern, daß er mit ihr zum Altar tritt, er läge todt vor mir, bevor er das Ja gesprochen hat.“

Als am nächsten Vormittag die Stunde gekommen war, um die Gräfin zu besuchen und Brigitta ihre Toilette durch Hut, Handschuhe und Mantel ergänzen wollte, wurde an die Thür ihres Zimmers gepocht. Das Pochen übte eine außerordentliche Wirkung auf Brigitta. Unter allen Menschen war es keinem gestattet, auf diese Weise bei ihr einzutreten, jeder mußte sich melden lassen – mit einziger Ausnahme Siegfried’s. Das war von jeher sein gewohntes Anmeldungszeichen. Er war es also. Sie stand hochaufgerichtet, einen Arm auf die Brust gelegt, um das heftige Wogen derselben zu verbergen. Die Thür öffnete sich, Siegfried Malköhne erschien.

Er hatte sich von Perser den ganzen Inhalt des Telegramms sagen lassen, das dieser an Brigitta abgefertigt, und Perser kam durch diese Offenheit nur seinem Auftrage nach. Malköhne vermuthete daher richtig, daß Brigitta bereits eingetroffen sein mußte, und es war ihm lieb, daß es geschehen war. Die Wahrheit ist in solchem Falle die beste Rechtfertigung, dachte er. Ich will lieber ein Henker sein, als ein schleichender Giftmörder. Was auch die Folge sei, wenn Brigitta als Gewißheit erkennt, was ihr bisher nur als Furcht vorgeschwebt haben kann – was auch die Folge sei, ich werde zu dem Weibe, das ich wähle, sagen können, daß meine ganze Vergangenheit abgethan, daß ich an kein anderes Weib mehr gebunden sei.

„Was wollen Sie hier, hier, an diesem Orte?“ fragte er in gelassenem Tone. Er war aber dabei bleicher, als sie ihn jemals gesehen hatte, und ihre Bewegung, die sie vergeblich zu unterdrücken suchte, so groß, daß sie nicht mehr aufrecht stehen konnte. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, und Malköhne, statt wie gewöhnlich an ihrer Seite, nahm in einem Fauteuil Platz.

„Ich bin Ihnen nachgelaufen,“ sagte sie schroff, aber mit heroischer Ruhe; „nachgelaufen, was lächerlich wäre, wenn es die Welt hörte, was Ihnen zu sagen die Pflicht der Wahrheit ist.“

Er blieb ebenfalls ganz ruhig und sah ihr ohne Scheu offen ins Gesicht; dann sprach er bloß mit bedeutungsvoller Betonung die Worte: „Der Zweck?“ Er erwartete die Antwort mit demselben festen Blicke.

„Was ist denn der Zweck Ihres Hierseins?“ ließ sie sich etwas lebhafter vernehmen; „vielleicht habe ich verrückt gehandelt, vielleicht hat es gar keinen Zweck, daß ich hier bin; Sie haben [807] mir ja bisher nichts gesagt! Ihren Reden nach wollten Sie nur in der Affaire mit dem Lord nach Wiesbaden gehen.“

„Es ist wahr, ich habe Ihnen nichts gesagt, weil ich nichts gewußt habe, Eins ausgenommen. Und ich weiß noch heute nichts, immer dieses Eine ausgenommen. Dieses Eine hat noch keine Wirklichkeit, schwebt in der Luft, und wenn es sich niemals auf den realen Boden herabläßt, dann wäre es auch besser gewesen, wenn Sie es niemals erfahren hätten – und Alles hätte wieder wie früher sein können.“

„Dieses Eine aber, diese Ausnahme?“ fragte sie mit festem Tone.

„Ihre unglückliche Hast übereilt eine Entdeckung,“ entgegnete er, „die ewig verborgen hätte bleiben können. Doch für mich ist es jetzt, da diese Uebereilung geschehen, besser so. Ich bin mir keiner Schuld bewußt! ich selbst wollte, es wäre nicht so gekommen. Was sind Schicksale, die man mit Händen greifen kann, eine Verarmung, ein Todesfall, eine Feuersbrunst, gegen die unsichtbaren Schicksale im Innern des Gemüthes! Eines Tages mußte ich mir sagen, ich liebe Edith Glowerstone – und damit war das Verhängniß fertig, und was nachkommt, ist nur das Sichtbarwerden des innern Schicksals. Ich liebe Edith Glowerstone – und so schrecklich es scheinen mag, ich fühle Wonne, es Ihnen, gerade Ihnen zu sagen, Brigitta.“

„Und damit wäre Alles abgethan, meinen Sie,“ fuhr sie heftig auf, „Sie lieben, und alle anderen Bande, alle Menschlichkeit, alle Pflichten wären zerrissen und nicht mehr vorhanden? Nein, man schleudert die Vergangenheit nicht so leicht wie ein Wort in die Luft. Sie sind mir zugeschworen, Sie haben sich mir zugeschworen mit jeder Minute, die Sie in den fünf Jahren seit unserer ersten Begegnung an meiner Seite verbracht haben, mit Ihren Gedanken, mit Ihren Zukunftsplänen, mit Allem, was Sie sind. Habe ich diese Zueignung als ein Geschenk genommen, das man wieder zurückfordern kann? Nein, ich habe sie erkauft; ich habe die Verbindung mit Ihnen schwer bezahlt mit dem Aufgeben von Freunden, mit peinvoller Einsamkeit und selbst mit meinem Ruf. Anders wäre heute mein Leben, wenn ich Sie niemals gekannt hätte, und nicht umsonst will ich ein nur erträumtes Glück so schwer bezahlt haben.“

Er blieb gelassen und sagte nach einer Pause mit der Gleichgültigkeit, die Alles über sich ergehen läßt, im Bewußtsein, daß nur Eins noch auf Erden von Wichtigkeit ist:

„Was denken Sie zu thun? Das Verhängniß ist gekommen; giebt es ein Mittel, es ungeschehen zu machen?“

„Sie sprechen, als ob Sie selbst diesem sogenannten Verhängniß Alles überlassen und aus eigener Kraft nichts thun wollten, um es ins Leben zu führen. Ist dies Ihre Absicht? Bleibt wirklich Alles nur ein inneres Schicksal?“

Fast knüpfte sie eine leise Hoffnung an diese Fragen, eine Hoffnung, die im nächsten Augenblicke zerstört war. Denn jetzt kam die Erregung auch über ihn, und er sagte:

„Wie könnte es ein Verhängniß sein, wenn es mich nicht mit Gewalt zur That triebe? Ich gehe von hier zu Glowerstone und werbe um die Hand Edith’s. Den ganzen Tag will ich dort zubringen, noch einmal in das Tiefste dieser Mädchenseele zu dringen suchen, und die Frucht des Tages wird das Ja sein oder auch das Nein von den Lippen des Mädchens. Dann erst ist das Schicksal auch von außen fertig.“

„Ja, ich werde helfen, es fertig zu machen,“ rief Brigitta unwillkürlich, und ein Lächeln des Hohnes und der Grausamkeit, wie er es niemals gesehen, verzerrte fast ihr schönes Antlitz. Er blickte sie mit Erstaunen und Betrübniß an und sprach im sanftesten Tone:

„Warum wollen Sie, wie gewöhnliche Weiber, eine unbefriedigte Neigung in grenzenlosen Haß verwandeln? Brigitta, ich habe Sie so sehr geliebt, ich liebe Sie noch so sehr, und gerade daß kein Atom dieses Gefühles in der neuen Leidenschaft untergegangen ist, daß Beides ungestört neben einander besteht, giebt mir die Berechtigung, Ihnen Alles zu sagen und giebt mir den Wunsch ein, Sie für mich zu stimmen, der alten Tage zu gedenken, in denen wir es uns niemals hätten träumen lassen, uns einst feindlich gegenüber zu stehen.“

„Lassen Sie diese Weichheit,“ rief sie heftig; „ich weiß, daß man damit am leichtesten eine arme Frauenseele zu betrügen glaubt. Ich will keine Unterscheidungen der Gefühle; einfach und klar, unerschütterlich steht es vor mir: Sie haben mich um den Grund meiner Existenz betrogen, und ich brauche nichts mehr zu schonen, wenn ich mich selbst für vernichtet ansehe. Können Sie – ich frage Sie nur dieses einzige Mal, können Sie noch von dem Wahne lassen, der Sie überkommen hat, und zu mir zurückkehren, wo allein Ihr Platz ist? Sie schweigen? Nein? So gehen Sie denn an Ihr Werk! Auch in meiner Hand liegt etwas vom Verhängniß.“

Ein diabolischer Zorn hatte sie ergriffen, dem sie keine Worte gab, der aber an den Grundfesten ihrer sonst so edlen Natur zu rütteln schien. Still wiederholte sie sich, daß sie von einem Unterschied der Gefühle nichts wissen wolle; mit einer Art Genugthuung empfand sie sich als ein Weib wie jedes andere, das, im Innersten seiner Leidenschaft zu Tode getroffen, keine Täuschung und Selbsttäuschung scheut, keine Rache unterdrückt und kein Mittel bei Seite läßt, um sich vielleicht noch aufzuhelfen.

„Gehen Sie an Ihr Werk,“ sagte sie noch einmal, während Siegfried traurig, mit einem Ausdruck tiefen Mitleids sie anblickte, mit einem Ausdruck, der sie noch mehr erbitterte! „die Werbung wird Ihnen gelingen. Hat dieser Wahnsinn Sie so sehr verblendet, daß Sie, ganz zum Thoren geworden, einen Augenblick an dem Gelingen zweifeln könnten? Sie sehen dort die bitterste Armuth von den Wänden starren, jene schreckliche Armuth, die immer im Kampf mit der Unmöglichkeit ist, sich zu verbergen, die vornehme, die den Reichthum heuchelnde Armuth. Wären Sie die schrecklichste Kreatur der Schöpfung – man würde der Versuchung nicht widerstehen, nach Ihrer so großartig rettenden Hand zu greifen. Gehen Sie, und lassen Sie sich betrügen, wie Sie betrogen haben.“

Malköhne erhob sich ruhig und sprach mit dem Ausdruck der sichersten Ueberzeugung:

„Dem ist vorgebeugt, weil ich gerade dies am meisten gefürchtet habe. Darum habe ich es schon in der Hauptstadt vermieden, Sir Albert Glowerstone persönlich vor Augen zu kommen; darum habe ich mich bei Edith als einen bescheidenen Ministerialbeamten eingeführt. Niemand ahnt dort etwas Anderes.“

Brigitta ließ ein seltsames Lachen vernehmen und trat, ihm den Rücken wendend, ans Fenster. Er verließ schweigend das Zimmer.

Als sich Brigitta allein wußte, entströmten ihr plötzlich die Thränen. Ein zwiefacher Schmerz überfällt in solchen Lagen die arme Menschenseele. Neben den Wunden des Herzens bluten die des Selbstgefühls, der gekränkten Eigenliebe. Diese Wunden sind nicht die tieferen, aber im ersten Augenblick brennen sie noch heftiger als die Wunden des Herzens. Sie kam sich so verworfen, so gedemüthigt, so erniedrigt vor, daß sie am liebsten sogleich mit ihrer Existenz ein Ende gemacht hätte. Da kam ihr der Gedanke, daß die Würfel noch nicht gefallen, daß das Schicksal noch in der Schwebe, daß jenes Ja! oder Nein! von Edith’s Lippen erst die Entscheidung bringen werde. Ein unerklärlicher Muth kam für einen Moment in ihre Seele und machte ihre Thränen versiegen. O, wie wollte sie ihn trösten, wie wollte sie ihn beglücken, wenn er enttäuscht, ein leeres Phantasiebild für immer aufgebend, zu ihr zurückkehrte, die ihn allein, die ihn wirklich liebte! Sie wartete, bis von ihrer Erregung im Aeußeren nichts mehr sichtbar war; dann vollendete sie ihre Toilette und ging zur Gräfin hinab; denn sie fühlte, daß sie in der Pein der Erwartung, mit welcher Entscheidung dieser Tag enden werde, dem Wahnsinn verfallen müßte, wenn sie sich nicht mit Gewalt an gleichgültige Tageseindrücke klammerte.




14.

Am Morgen dieses Tages hatte sich Sir Albert zu Fuß in ein Nachbardorf begeben, um sich bei einem Bauer, wie schon oft, einen Ackergaul satteln zu lassen. Auf diese Weise beritten, pflegte er den Forst zu durchstreifen, und diesmal geschah es, um dem Pächter gute Nachricht zu bringen. Auf die eine oder die andere Art, durch Malköhne oder durch die Geheimräthin, mußte der Verkauf des staatlichen wie des eigenen Besitzthums endlich zu Stande kommen, und der Pächter sollte nur das Haus, das alt und wenig geschmückt war, gehörig säubern und zieren, damit die schöne Frau aus der Stadt einen gefälligen Anblick davon gewinne. Auf solche Aeußerlichkeiten sähen ja die Frauen zumeist, auch bei ernsten Geschäften. Glowerstone hatte [808] im eigenen Hause den Bescheid zurückgelassen, daß er erst des Nachmittags wieder eintreffen werde; er wollte sich mit dem Pächter noch einmal gründlich aus einander setzen.

Edith hatte die Abwesenheit des Vaters benutzt, um die sonst unentbehrliche Hausmagd vieler kleiner Besorgungen wegen nach der Stadt zu schicken, und befand sich allein zu Hause, in der Meinung, daß sie Besuch nur von der Gräfin oder der Geheimräthin zu erwarten hätte. So saß sie schreibend und rechnend in jener Erkerstube neben der Küche, wo vor einigen Tagen Perser und Glowerstone eine Unterredung hatten.

Nur ein uralter Gärtner für den Gemüsebau befand sich noch auf dem Hofe und geleitete, nicht recht wissend, ob er den Eintritt erlauben oder verweigern solle, Siegfried Malköhne bis an die Schwelle der Erkerstube, um sich wieder zu entfernen, als das Fräulein gegen den Besuch keine Einwendungen erhoben hatte.

Hocherröthend stand Edith vor dem jungen Manne. Sie hatte ihn nicht mehr zu sehen erwartet; sein letztes Scheiden und sein Ausbleiben am vorhergegangenen Tage hatten ihr den Eindruck zurückgelassen, als ob er in die Unterhaltung eines Augenblickes, wie dies in der Stadt gebräuchlich ist, mehr Ernst und Wichtigkeit gelegt hätte, als er zu rechtfertigen geneigt war. Wie oft kommt es vor, daß sich Männer von Welt in einem Moment, der ihnen gerade dazu geeignet erscheint, so vollwichtig darstellen, als ob sie nichts Anderes mehr im Sinne hätten – um einen Moment später vergessen zu haben, was sie sprachen. Malköhne knüpfte sogleich an die letzte Unterredung an, aber im leichtesten Tone geselliger Plauderei, so daß die Befangenheit des Mädchens allmählich verschwand.

Es waren aber in dieser Mädchenseele seit zwei Tagen große Dinge vorgegangen, die Niemand weniger geahnt oder vorausgesehen hätte, als Edith selbst. Hatte Malköhne der Geheimräthin gegenüber von einem Verhängniß des Inneren gesprochen, das ihn überwältigt hätte, so war ein solches auch für Edith eingetreten. Was vermochte ihr Widerstreben, der Ernst der Weltanschauung, die sie sich gebildet hatte, die tiefe und umfassende Resignation, von der sie sich ganz und gar erfüllt geglaubt, gegen das unwillkürliche und schicksalsvolle Empfinden, welches die letzte Anwesenheit Malköhne’s in ihr bewirkt hatte! Schon in der Stadt war sie, wie sie ihrem Vater noch unbefangen gestanden, auf ihn aufmerksam gewesen, von ihm interessirt worden. Seit der letzten Zusammenkunft wollten ihre Gedanken nicht mehr von ihm ablassen, so sehr sie sich selbst dagegen sträubte. Als die Geheimräthin tags vorher von ihm gesprochen, war Edith fast erfreut gewesen, daß sich sein Bild in ihr getrübt hatte durch einen kleinen Zug von Falschheit oder Unwahrheit, den die Geheimräthin aufgedeckt. Jetzt, bei dem unerwarteten Wiedersehn, war dies Alles vergessen und nur mit Mühe gewann sie die Fassung, um in demselben Tone, wie zwei Tage vorher, mit ihm zu sprechen.

Es mochte ein Uhr des Nachmittags sein; die Tischzeit, welche Glowerstone diesmal nicht abgewartet, war in der ländlichen Behausung lang vorüber; durch das halbgeöffnete Fenster drang die Sonne eines jener Spätherbsttage, welche wie eine Reue der Jahreszeit erscheinen, daß sie unmittelbar früher schon winterlichen Anstrich gezeigt hat. Das Weinlaub an der Mauer gegenüber warf noch seine reizenden verschlungenen Schatten. Edith, die sich einer Beklommenheit darüber nicht erwehrte, den Gast in diesem unwirthlichen, kleinen Raume zu sehen, schlug einen Gang durch Hof und Garten vor. Das milde Wetter konnte die Gedanken in den beiden jungen Seelen nicht beschwichtigen; allein es lud dazu ein, sie einstweilen nur stumme Betrachtung sein zu lassen.

Siegfried Malköhne war viel jünger, als man heut zu Tage gewöhnlich mit Jahren ist, viel jünger, als man ihm selbst hätte sagen können, ohne ihn zu verletzen. Ein Leben in der großen Welt, im Angesicht der mannigfachen menschlichen Beziehungen, die den Trug und die Illusionen, die Gemeinheit und oft die Verworfenheit, auf welchen sie meistens beruhen, so rasch zu erkennen geben, macht dem Anschein nach frühzeitig alt, und ein junger Mann von Geist und Weltgewandtheit kommt dadurch bald zu dem Vorsatz, sich von nichts so leicht täuschen zu lassen. Den bestechendsten Erscheinungen gegenüber, den verlockendsten Versuchungen zum Trotz hält er sich in mißtrauischer Ruhe; er will um keinen Preis der Getäuschte sein. Alt ist aber eigentlich nur, wer nicht mehr getäuscht werden kann, und so bewirkt ein großes und großstädtisches Leben dieser Art eine sonderbare Blasirtheit, eine Blasirtheit, der noch keine Genüsse vorausgegangen sind.

Dies mag in mancher Richtung für das Herz, die Phantasie, die Jugendlichkeit eines jungen Mannes von schädlichem Einfluß sein, hat aber den überwiegenden Vortheil, daß, wenn plötzlich ein überwältigender Eindruck den Schleier einer künstlichen Greisenhaftigkeit durchbricht, die jugendliche Natur in ihrer ungeschwächten Kraft sich geltend macht. Im Verkehr mit Brigitta war Siegfried in der zu seinen Jahren noch nicht passenden Menschenverachtung und früh altmachenden Objektivität immer mehr bestärkt worden und hatte mit überschwänglichem Vergnügen dem Hang nachgegeben, sich dabei selbst täglich weiser, gereifter und älter zu erscheinen. Das war das eigentliche Geheimniß der Anziehungskraft gewesen, die Brigitta so lange auf ihn geübt hatte. Jetzt war der künstliche Schleier, den er so lange um die eigene Jugend gewoben hatte, plötzlich durch die Leidenschaft zerrissen und er stand mit der unschuldigen Seele eines unerfahrenen Jünglings vor Edith; er hatte seine Jugend wiedergefunden.

Edith aber, der niemals Gelegenheit geboten gewesen, die Gestalt, in der er sich jetzt zeigte, mit seiner frühern zu vergleichen, war bis zur Bezauberung erstaunt, in dem Diplomaten und Weltmann, in dem Löwen der großstädtischen Gesellschaft eine so kindliche Naivetät und eine so bereitwillige Empfänglichkeit für die Geringfügigkeiten zu finden, die sie ihm aus ihrem eigenen engbeschränkten Lebensgang mittheilen konnte. So wurden sie bei dieser Wanderung durch den Garten, die sie, ohne es zu merken, bis auf die Felder ausgedehnt hatten, immer inniger mit einander befreundet. Malköhne hielt dabei im Stillen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, das ihm in solcher Stimmung als Gemeinheit erschienen wäre, an der Voraussetzung fest, daß Edith glauben mußte, den in Dürftigkeit lebenden kleinen Beamten an ihrer Seite zu haben.

Als sie das Haus wieder erreichten, hatte das gegenseitige Vertrauen der Gemüther keine Schranken mehr und ohne Pathos und selbst ohne eine allzu stürmische Betheuerung, einfach wie etwas Selbstverständliches konnte Siegfried der Geliebten den Wunsch aussprechen, sie für immer zu besitzen. Wohl stieg ihr das Blut bis an die Schläfen; wohl glaubte sie, ihr Herz schlage hörbar, aber zugleich war sie sich bewußt, daß ihre Antwort eben so einfach und maßvoll sein mußte wie seine Bewerbung. Sie befanden sich gerade am Fuße der schmalen hölzernen Treppe, die zur Erkerstube hinaufführte, und bevor Edith voranschritt, legte sie ihre Hand in die des Geliebten. Es war zum ersten Male, daß sich ihre Hände berührten, und wenn sie fähig gewesen wären zu sprechen, so hätte ihnen das plötzliche Erscheinen Glowerstone’s das Wort abgeschnitten.

Er war sehr erfreut, den Legationsrath anzutreffen. Zwar hatte die Mittheilung der Geheimräthin, daß Malköhne dem Heirathen abgeneigt, die kühnsten Hoffnungen des sanguinischen Philosophen sehr gedämpft; allein in der Sache des Gutskaufes glaubte er jetzt, gestützt auf die Aussicht eines Ankaufs durch die Geheimräthin, eine Pression üben zu können.

„Ich komme eben vom Pächter,“ sagte er, einen großen Pack von Papieren aus der Tasche ziehend; „ich habe mir alle Tabellen und Register geben lassen und will daraus ein verständliches Tableau für Frau Forstjung zusammenstellen. Einer Dame muß man ja in solchen Dingen möglichst wenig langweilig sein. Kennen Sie die schöne Geheimräthin, Herr Legationsrath? Wissen Sie, daß sie mir leicht die Mittel geben kann, mit der Regierung fertig zu werden?“

Man war inzwischen langsam über die Treppe gegangen und in die große Wohnstube getreten.

„Ich lasse Sie hier,“ sagte Glowerstone, „und gehe an meinen Schreibtisch im Erker, um gleich die Ausarbeitung anzufangen. Die Geheimräthin kommt heute Abend. Sie werden aber verzeihen, Herr Legationsrath, wenn ich dazwischen, wie es sich gerade trifft, Ihre Hilfe in Anspruch nehme. Sie sind in der amtlichen Terminologie zu Hause, ich bloß in der philosophischen. A propos, ich staune, daß Sie sich überhaupt amtlich beschäftigen. Gestern Abend hat uns die schöne Geheimräthin erzählt, daß es der Gebieter über Millionen ist, der sich zum Beamtendienst herabgelassen hat.“

[809]

Tafelmusik.
Nach dem Oelgemälde von Edmund Herger.

[810] Malköhne erblaßte. Edith bemerkte dies nicht und fügte den Worten ihres Vaters lächelnd hinzu:

„Sie haben sich wohl schon auf den nächsten Maskenball eingeübt, Herr Legationsrath? Ich habe sonst gar keine Gedanken für solche Dinge; aber nachdem Sie selbst mir Ihre Neigung, wie ein frommer Einsiedler in einer Waldhöhle zu leben, so hübsch dargelegt haben, war ich durch die Erzählungen der Geheimräthin ein wenig betroffen.“

Glowerstone ging in die Erkerstube. Malköhne machte sich am Fenster zu thun, um sein Gesicht nicht unmittelbar Edith zuwenden zu müssen. Er wußte, daß es die Zertrümmerung seines innern Glückes verrathen konnte.

War er, der Kluge, der Welterfahrene, der Mann, der nicht mehr getäuscht werden konnte, nun dennoch in Gefahr gekommen, das Opfer einer versteckten Absicht zu werden? Edith wußte um seine Verhältnisse, wußte, daß ihr an seiner Seite eine Welt des Glanzes und des Genusses erschlossen würde – war sie nicht dadurch bestochen? War dies nicht die Triebfeder, daß sie ihre Hand in die seine gelegt hatte?

In furchtbarer Gestalt stiegen jetzt die warnenden und höhnenden Worte Brigitta’s, die letzten, die sie zu ihm gesprochen hatte, in seiner Seele empor. Ja, das war es! Die Armuth starrte von den Wänden und das Mädchen rühmte sich vielleicht noch wie einer edlen That des falschen Geständnisses, durch welches sie den darbenden Vater aus seinem Elend zu reißen vermochte.

Er mußte Wahrheit haben, sagte sich Siegfried. Wahrheit um jeden Preis! Er mußte ihr seinen Verdacht ins Gesicht sagen. Es galt das Glück eines ganzen langen Lebens und gegen die Beängstigung, in das Unglück zu stürzen, konnten die Rücksichten auf konventionelle Schicklichkeit nicht in die Wagschale fallen. Brigitta’s Mahnung warf jetzt eine brennende Verheerung in sein Gemüth, und die Zweifel mußten ausgerottet werden; er wollte lieber unglücklich als betrogen sein, lieber durch sein Verhalten für einen ungezogenen Barbaren Edith gegenüber gelten, als aus Höflichkeit in eine Falle stürzen.

Gewiß, Edith konnte sich nicht auf die Dauer verstellen; gerade ihre naive Offenheit hatte ihn so sehr bezaubert, sie mußte auf Befragen die Wahrheit bekennen. Und doch zögerte er, das Wort auszusprechen.

Edith ließ, als sie seinen prüfenden Blick auf ihrem Gesicht fühlte, die Arbeit sinken. „Was haben Sie? Fehlt Ihnen Etwas?“

„Ja,“ sagte er rasch, „es fehlt mir plötzlich das Beste, was ich hierher mitgebracht habe. O Edith, ist es denn möglich, daß mein Vermögen in Ihren Augen mehr Werth hat als mein Herz?“

Sie sah ihn befremdet an: „Mehr Werth – Ihr Vermögen? Wie soll ich denn das verstehen, Siegfried?“

Er sah nicht den Blick, der jeden Dritten überzeugt hätte, und verstand nicht das Beben ihrer Stimme. Mit hastigen Worten sich überstürzend theilte er ihr Alles mit, was in seinem Innern brannte, auch den von außen geschürten Verdacht; er wog seine Worte nicht, er sah nicht, wie unter dem Eindruck derselben ihr Gesicht erblaßte und einen Ausdruck des Entsetzens annahm; er wand sich vor ihr unter dem Gifttropfen, den ihm Brigitta ins Herz gegossen hatte.

„Gott – mein Gott!“ rief endlich Edith tief erschüttert, „ist es denn möglich, daß Sie das glauben können? Soll ich mich jetzt zur Versicherung erniedrigen, daß dem nicht so sei? O, wenn das –“ sie kam nicht weiter! die Thränen stiegen ihr in die Augen, sie wandte sich, sie zu verbergen.

„Vergieb, Edith,“ rief Malköhne, „ich bin ja ein Wahnsinniger, Dich so zu quälen. Nein, jeder Zweifel muß vor Deinen reinen Blicken vergehen! Aber Du weißt es nicht, Du kannst nicht ahnen, wie tief mich das getroffen hat. Dort Berechnung zu finden, wo man endlich einmal voll vertrauen wollte und selig sein – o, es ist ja Höllenqual, das nur zu denken –“ wieder stampfte er den Boden und Edith sah ihn voll tiefer Niedergeschlagenheit an. Dann schritt sie langsam dem Fenster zu.

In diesem Augenblicke erschien Glowerstone und ersuchte den Legationsrath, für einen Moment in die Erkerstube hinüberzukommen. Die Herren setzten sich vor die Tabellen und Register, und während Malköhne nachdenkend einen Theil derselben zu studiren schien, sann er doch über einen ganz andern Gegenstand nach. Er befand sich schon nicht mehr unter der Einwirkung der klaren Augen, die seinen Zweifel verstummen gemacht hatten, und die Angst überfiel ihn von Neuem, doch überlistet zu sein – für einen Diplomaten wohl die schlimmste Empfindung, und sie wurde plötzlich, indem er sich Brigitta’s Hohnlachen vorstellte, wieder so mächtig in ihm, daß sie ihm alle Ruhe raubte.

„Ich habe im Salon mein Notizbuch liegen lassen, glaube ich,“ sagte er. „Bleiben Sie hier, Sir Albert, ich kehre sogleich zurück!“

Er fand Edith noch am Fenster sitzend und lehnte sich, nach einigem zwecklosen Umhersuchen, ihr gegenüber in einen Stuhl, die Beute der widerstreitendsten Empfindungen. Jetzt wollte er reden – und fand nicht die Worte, ihr nochmals den unbeweisbaren Verdacht auszusprechen; dann wollte er durch ihren Anblick sich von diesem Verdacht losringen – und konnte doch sein altes Gefühl für sie nicht mehr im Herzen lebendig werden lassen. Der Zustand wurde ihm von Minute zu Minute unerträglicher.

In Edith vollzog sich indessen auch eine stürmische Bewegung. Die Zweifel des Geliebten regten sie um so furchtbarer auf, als nicht nur das Ungerechtfertigte derselben, sondern auch ihre Unschönheit an dem eben erstandenen innern Glück rüttelte. Sich sammelnd und ruhig überlegend kam sie zu dem traurigen Ergebniß, daß, wer einmal von diesem Gesichtspunkt, der sich freilich im Weltleben nahe genug aufdrängen mochte, ausgegangen war, immer wieder darauf zurückkommen mußte. Selbst die vollzogene Vermählung würde daran nichts ändern können. Die Zweifel wären immer wieder da, Zweifel, die durch Worte nicht beseitigt werden konnten, und doch war in der ganzen Welt nichts Anderes dagegen vorhanden als eben Worte. Wo aber die Worte finden, um einen so hartnäckigen Unglauben stets neu zu besiegen? Sie sah ja jetzt schon, daß der ganze vorige Eindruck wieder ausgelöscht war; sie sah den Kampf auf Siegfried’s Gesicht, der sich von Neuem in seiner Seele abspielte. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt.

„Ihre Zweifel würden niemals ein Ende nehmen,“ sagte sie heftig zu Malköhne; „darum ist es besser, gleich jetzt das Richtige zu thun.“

Und mit bitterer Ironie fuhr sie fort:

„Sie hören hier aus jeder Stube, aus jedem Möbel die hilflofe Armuth schreien! Wie hätte mich dies nicht in Versuchung führen sollen! Sie haben Recht, ich liebe Sie nicht. Fliehen Sie mich, ich bin eine schreckliche Kreatur.“

Der schneidende Ton dieser Selbstverhöhnung bewirkte, was ihr Ernst und ihre Ruhe nicht vermocht hatten; sein Argwohn schwand. Er warf sich ihr zu Füßen und beschwor sie, sein Mißtrauen zu vergessen und ihm die Beleidigung zu vergeben. Allein Edith wandte sich ab, die unverdiente tödliche Kränkung brannte in ihrem Herzen, sie fühlte sich namenlos unglücklich.

„Sie lieben mich nicht,“ sagte sie, „sonst wäre ein solcher Zweifel niemals in Ihnen erwacht. Gehen Sie, und mögen wir uns niemals mehr wiedersehen. Ihr Verdacht hat mich besudelt, den Fleck kann nur die Zeit tilgen! Ihr Anblick würde ihn immer von Neuem auffrischen. Leben Sie wohl!“

Sie blieb unerschütterlich und verließ das Zimmer. Er stürzte aus dem Hause, eine Beute der Verzweiflung.

(Schluß folgt.)




Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria.
XII.
Neustadt, 10. Juni 1880. 

Ja, liebste Marie, nun heißt es wieder, die Feder eintauchen, nachdem wir vier schöne Wochen täglich nach Herzenslust plaudern konnten. Wie glücklich hat mich Dein Besuch gemacht, wie leid thut uns Allen Dein Gehen! Hugo schwärmt noch in Erinnerung unserer Brahms-Abende von dem Mondscheinzauber Deiner seelenvollen Stimme; seine Mutter (o Wunder!) nennt Dich ein „angenehmes Mädchen“, und Klara, das arme Kind, macht es wie Prinz Carlos und sieht in „grenzenloser Liebe“ das Rettungsmittel gegen eine Eifersucht, die auch dem gutartigsten Menschenkind aufsteigt, wenn andere Leut so viel schöner und klüger sind.

[811] Aber sie hält sich tapfer. Heute Morgen saßen wir mit einander unten in der Laube, wo vor drei Tagen noch Dein liebes Gesicht zwischen den Weinranken durchsah, arbeiteten und sprachen von Dir.

„Ach,“ sagte Klara, „Fräuleln Marie ist wohl sehr glücklich. Alle haben sie lieb –“ das Weitere will ich Deiner Bescheidenheit ersparen. Du kannst denken, wie ich über Dich loszog!

„Glauben Sie,“ fing Klara nach einer Pause wieder an, „daß der – der Herr Doktor Brandt Fräulein Marie auch sehr verehrt?“

„Warum sollte er nicht? Es schien mir so. Uebrigens weißt Du ja, Klara, daß Marie Braut ist.“

„Ja – aber vielleicht macht ihm das nichts aus. Ich – ich glaube, das ist immer so in der Welt, daß das Unerreichbare – und überhaupt – warum wäre er denn so unglücklich –?“

„Weil er ein Narr ist,“ sagte ich. „Du könntest auch etwas Besseres thun, Klara, als Dich für diesen Menschen interessiren.“

Sie hörte mich nicht mehr – Pferdegetrappel von der Straße her schien sie unwiderstehlich anzuziehen; sie sprang auf den Ausguck an der Mauer und kam mit einem strahlenden Gesicht zurück.

„Zwei Schimmel auf einmal! Nun sind es bereits fünfzig!“

Ich sah sie erstaunt an: „Was kümmern Dich denn die Schimmel anderer Leute? Und wo sind denn die übrigen achtundvierzig? Und warum müssen es gerade fünfzig sein?“

„Nicht fünfzig, sondern neunundneunzig,“ berichtigte sie. „Und dann ein Kaminfeger, dann trifft’s ein.“

Ich griff nach ihrem Arm: „Klara, bist Du denn ganz übergeschnappt? Was ist das nun wieder für ein gräßlicher Unsinn?“

„Ja, wissen Sie das nicht?“ lachte sie. „Das ist ja ganz unglaublich. Ich dachte, alle jungen Mädchen zählten Schimmel! – Nun, aber das wissen Sie doch, daß es ein großes Glück ist, wenn man rostige Nägel findet oder gar ein Hufeisen? Neulich sah ich eines mitten auf der Straße liegen, aber es war im dicksten Schmutz, und da mochte ich doch nicht hineinfassen, und außerdem genirte ich mich; es ging gerade Jemand vorbei –“

„Aha! Nun, und die Schimmel?“

„Ja sehen Sie,“ fuhr sie erröthend fort, „wenn auch Nägel und Hufeisen eine sehr gute Vorbedeutung sind, ganz sicher weiß man es doch nicht. Aber wenn man im Lauf eines Jahres neunundneunzig Schimmel sieht und dann einen Kaminfeger, und gleich hinterher ein Herr Einem die Hand giebt – dann ist es sicher, daß man den heirathet. Ja – ganz gewiß,“ betheuerte sie eifrig und etwas beleidigt Über mein schallendes Gelächter, „bei Anna Dietrich ist es vollständig eingetroffen, und seitdem habe ich auch angefangen, Schimmel zu zählen.“

„So? Seit wie lange denn?“

„O, ungefähr seit einem halben Jahr. Aber jetzt muß ich heim,“ setzte sie, um weiteren Fragen zu entgehen, rasch hinzu; „es ist schon sechs Uhr.“

Immer noch lachend verabschiedete ich sie und saß dann wieder still und freute mich des schönen Abends in dem lieben friedlichen Gärtchen mit seinen duftenden Rosenkronen, dachte an Dies und Jenes und fühlte mich so recht von Herzen glücklich.

Da kam vom Hause der heimliche Grund von Klara’s Schimmelmanie hergeschlendert. Er sah etwas blaß und übernächtig aus und streifte im Vorübergehen mit dem gewohnten verächtlichen Blick meine unschuldigen Zwergbohnen. Mit kurzem Gruß ließ er sich auf den Stuhl mir gegenÜber fallen und starrte düster vor sich hin.

Er kam mir gerade recht. Du hast es selbst gesehen, wie kurze Umstände ich mit diesem „kompromittirenden Verehrer“ mache. Hugo ist jetzt auch beruhigt über ihn. Er gestand mir in jener großen Aussprache, daß er mehr als einmal auf den „verdammten Bengel“ recht eifersüchtig gewesen sei, aber dies ist nun so vorüber, als ob es vor hundert Jahren gewesen wäre – zwischen uns kommt Nichts mehr! Ich kann jetzt ganz ruhig „mütterliche Freundin“ sein.

„Nun,“ fing ich die Unterhaltung an, als Brandt gar keine Anstalten zum Sprechen machte, „was ist denn heute los? Sie sehen ja aus, als ob Ihnen ein Unglück passirt wäre?“

„Ein Unglück?! O – was könnte mir für ein besonderes Unglück zustoßen? Meine ganze Existenz ist ja nur eine Kette von Mißgeschick und Mißerfolg – ich …“

„Nun, das wollen wir für jetzt ruhen lassen. Sagen Sie mir lieber, was Ihnen heute passirt ist, denn daß Sie etwas haben, sehe ich Ihnen an.“

„O, es ist nicht der Rede werth,“ sagte er mit affektirter Gleichgültigkeit. „Herr Schumann hat mir für den Herbst gekündigt. Finden Sie das nicht ganz in der Ordnung? Nicht logisch und konsequent?“

„Wenn Sie nachlässig oder unartig gegen ihn waren, ja!“

„Unartig gegen ihn?“ fuhr er auf. „Gegen diesen stiernackigen Proletarier, diesen rohen Kerl, dessen einziges Interesse dahin geht, Geld und wieder Geld zu machen, der Gehirn und Muskeln seiner Leute aufs Aeußerste ausnützt und dann noch die Minuten zählt, die man in seiner verpesteten Höhle zuzubringen hat? Einem Nilpferd würde darüber die Geduld reißen –“

„Ich glaube nicht, daß die Nilpferde besonders geduldig sind,“ wandte ich ein.

„Und es ist gut so!“ fuhr er mit erhobener Stimme fort. „Ich bin dieser niederträchtigen Existenz bis zum Ekel überdrüssig. Was weiter wird? Ich frage es nicht, ich fange an einzusehen, daß der Kampf gegen das sogenannte Schicksal vergeblich ist. Der sinnlose Zufall trifft irgendwo einmal Einen unaufhörlich, statt nur dann und wann; ich bin dieser Eine – ich, bei dem es nicht Noth thäte, ihm den Unwerth des Lebens zu demonstriren. Ich war von Anfang an davon überzeugt.“

„Hören Sie,“ sagte ich, „diese Redensarten habe ich im Schopenhauer selbst gelesen und besitze ein gutes Gedächtniß (das war zwar gelogen, aber es paßte mir gerade so schon und daß solche Sachen darin stehen, weiß ich doch!). „Fahren Sie nur in Ihren personlichen Erlebnissen fort.“

„Meine Erlebnisse sind nur ein Theil der allgemeinen Misère, ekel, schaal, flach und unersprießlich, wie sie. Er hat Recht, der alte Franzose: le jeu ne vaut pas la chandelle! Man nährt die Kerze mit seinem besten Lebensmuth, mit Hoffnung und theuren Illusionen und was bleibt übrig? – Asche!“

Ich sah ihm recht freundlich und theilnehmend ins Gesicht: „Ja, das ist wohl wahr. – Warum schießen Sie sich eigentlich nicht todt?“

„Wie so?“ fuhr er auf. „wie meinen Sie das?“

„Nun, ganz einfach. Eine Pistole werden Sie ja haben und Pulver auch. Wenn Ihnen die Welt so verleidet ist, warum kehren Sie ihr nicht einfach den Rücken? Religiöse Bedenken halten Sie nicht ab, so viel ich weiß.“

„Nun – man hat doch noch Pflichten gegen das Allgemeine –“ stotterte er.

„Bilden Sie sich das nicht ein. Kein Mensch wird Sie vermissen, denn Sie haben sich nicht die Mühe gegeben, an Menschen Theil zu nehmen. Und zehn Andere sind bereit, in die Lücke zu treten, die Sie lassen. – Aber,“ fuhr ich fort, als er etwas betreten schwieg, „nun will ich ernsthaft reden und als ungelehrte Frau Ihnen sagen, daß ich mich für Sie, einen gesunden jungen Mann, schäme über solche Reden. Was! diese einzige Existenz, die uns gegeben ist, mit mattherzigem Gewimmer zubringen, statt die Augen aufzumachen, um Interessanteres zu sehen als das hochgelobte Ich, statt die Hände zu rühren, um etwas Tüchtiges zu schaffen! Was haben Sie denn bis jetzt in der Welt geleistet, mein lieber Herr Doktor, um so gewaltige Glücksansprüche zu erheben? Wenn Sie fünfundzwanzig Jahre lang umsonst für das Wohl Ihrer Mitmenschen gearbeitet hätten, dann könnten Sie sich beklagen, aber so viel ich weiß, sind Ihre Anstrengungen bis jetzt recht mäßig gewesen, und dort sitzt der Haken. – Wissen Sie, woran es Ihnen fehlt? Nicht an Talent und Intelligenz. Sie haben von Beidem eine ganz ordentliche Portion, aber am Charakter fehlt es Ihnen. Das unterstehe ich mich Ihnen ins Gesicht zu sagen als Eine, die es gut mit Ihnen meint! Und Ihre jetzige Kalamität ist gerade recht: bisher hat Sie das Gute nicht gefreut, nun ärgern Sie sich einmal über das Schlimme und dann packen Sie an, schaffen aus Leibeskräften und haben schließlich Ihre Freude am Erfolg, wie andere unphilosophische Leute!“

So predigte ich ihm noch eine Zeit lang fort und war selbst erstaunt über die Keckheit, mit der ich es that. Er wurde immer nachdenklicher, und nach einiger Zeit sagte er: „Ich wollte, ich hätte Sie früher gekannt. Sie sind eine so merkwürdig resolute Natur, Sie hätten von großem Einfluß auf mich sein können, statt –“

„Ja wohl, statt –!“ fiel ich ihm ein. „Was haben Sie denn nun von Ihren vielen kleinen und großen Koketterien mit lauter problematischen und unverstandenen Damen? Nichts als die Blasirtheit für diejenigen guten und natürlichen Mädchen, die doch allein die richtigen Frauen geben.“

„Sprechen Sie von meinen Fabriktöchtern?“ fragte er und schlug die Augen resignirt gen Hinnnel.

„Nein,“ lachte ich, „so schlimm ist’s nicht gemeint. Und beim Heirathen sind wir noch nicht, lieber Freund. Erst müssen Sie eine Stelle haben und dann noch ein ganz Anderer werden, Einer, der froh ist, wenn ihn ein liebes Mädchen nimmt, statt daß er sich einbildet, ihr ein ungeheures Geschenk mit seiner kostbaren Person zu machen.“

Ich hielt inne, es blitzte mir ein Gedanke auf, der mich in der nächsten Minute ganz erfüllte. Wenn man Brandt bei Klara’s Vater unterbringen könnte?! Parkettböden schneiden oder Leim sieden – das kommt doch schließlich auf Eins heraus – und dann weiter – wenn sich Klara ihn am Ende ernstlich in den Kopf gesetzt hat – wenn ihn der Alte zu einem tüchtigen Geschäftsmanne machte – eine Hilfe braucht er doch einmal, denn er hat keinen Sohn – – ich sage Dir, die Wenn strömten mir nur so dutzendweise zu und wirbelten in meinem Gehirne umher. Ich sah ihn prüfend fort und fort an. Bisher war er mir eigentlich ganz gleichgültig gewesen, nun kam es mir auf einmal vor, als müsse ich den verkehrten Menschen auf einen ordentlichen Weg bringen. Und wenn Klara auch dadurch glücklich würde! Wenn er sie in der Nähe sieht, muß er das liebe, bescheidene Ding ja lieb gewinnen, und bildungsfähig ist sie – ja, ich mußte mich nur halten, um nicht gerade mit meinen Gedanken herauszuplatzen.

„Darf man fragen, was Sie so beschäftigt?“ hörte ich ihn endlich sagen.

„Nein, das darf man nicht,“ rief ich vergnügt: „erst muß ich mit Hugo reden, gehen Sie jetzt, lassen Sie mich allein, Sie hören bald mehr davon.“

Er ging, ich überlegte mir die Sache in allen Details und fand keine Unmöglichkeit. Das Geschäft ist ein großer Betrieb; er müßte sich einarbeiten, aber das könnte er auch, und ein anderes Ding wäre es doch, als die abscheuliche Leimfabrik. Wenn ich dem alten Reichert ein Bischen um den Bart gehe, nimmt er ihn doch vielleicht; er sagte mir neulich, wie viel Dank er mir Klara’s wegen schulde. –

„Hugo, Hugo,“ rief ich diesem entgegen, als er in den Garten trat, „komm’ schnell, ich muß Dir etwas Wichtiges vortragen.“

„Nun,“ meinte er, als ich fertig war, „das ist gar nicht so dumm; da könnte aus dem interessanten Jüngling ja noch so zu sagen ein Mensch werden!“

Und jetzt begebe ich mich an die Intrige, und wie sie geglückt ist, das wirst Du hoffentlich recht bald erfahren! Emmy.
 




[812]

Ein Hochverrathsproceß in Kanada.

Seit den Tagen Karl’s II. von England gehörte die heutige kanadische Provinz Manitoba der englischen Hudsons-Bai-Gesellschaft eigenthümlich, die in dem weiten Gebiet ihr Handelsmonopol zur großen Bedrückung der Eingeborenen handhabte. Jeder Handel mit der Jagdbeute dieser Jägervölker, dem kostbaren Pelzwerk, jeder Kauf und Eintausch ihrer eigenen Bedürfnisse durfte nur mit den Beamten der Kompagnie geschlossen werden. Natürlich wurden die Armen dabei gründlich geprellt. Die Auflehnung gegen diese Satzungen, insbesondere der Handel über die Grenze, war ein Verbrechen. Da geschah es im Jahre 1849, daß ein Mestize, Namens Riel, sich gegen diese seltsame Strafrechtspflege zu Gunsten eines Stammesgenossen mit bewaffneter Hand auflehnte, diesen sammt seinem konfiscirten Pelzwerk befreite und von da ab die Freiheit des Handels der Mestizen mit den Vereinigten Staaten durchsetzte. Sein Name ist daher noch heute den französischen Mestizen Nordwest-Kanadas unvergessen; denn die Wellen der Zeit fluthen langsamer durch diese entlegenen Vorländer der Kultur, als durch die Mittelpunkte modernen Lebens.

Sein ältester Sohn Louis Riel, der im Jahre 1844 in Manitoba geboren wurde, sollte erfahren, daß ererbte Grundsätze zugleich der köstlichste und verantwortlichste Besitz einer Familie sind. Seine Erhebung gegen England und der gegen ihn geführte Hochverratsproceß beschäftigten noch vor Kurzem die öffentliche Meinung. Jetzt, da sich die Leidenschaften der Parteigänger abgekühlt haben, ist es möglich, auf Grund der Proceßakten ein objektives Urtheil über diese immerhin eigenartige Erscheinung zu fällen.

Die allgemeine Beliebtheit des Vaters regte von früh auf das hochfliegende Streben des Sohnes an und richtete zugleich die Augen bedeutender Männer auf seine Gaben. Der Bischof Alexander Taché gewann eine vornehme französische Kanadierin, die Mutter des heutigen Gouverneurs der Provinz Quebec, für seinen jungen Schützling. Aus den gemeinsamen Mitteln Beider ward die Erziehung und der Unterhalt Louis Riel’s auf dem Collége von Montreal bestritten. Hier traf den fleißigen und begabten Zögling im Alter von zwanzig Jahren, 1864, die Trauerbotschaft vom Tode des Vaters. Es galt nun, die Studien abzukürzen, um der Mutter und den sieben jüngeren Geschwistern beizustehen. 1866 war Louis Riel wieder bei den Seinen.

Im Jahre 1869 verkaufte die Hudsons-Bai-Gesellschaft ihr von Jahr zu Jahr weniger einträgliches Besitzthum an die Krone England für 300 000 Pfund Sterling. Die Einwohnerschaft des verkauften Landes hatte sich seit nahezu zwanzig Jahren einer fast schrankenlosen Freiheit erfreut; sie war nicht geschichtskundig genug, um zu wissen, daß auch die verhaßte Hudsons-Bai-Kompagnie ihren Handelsstaat allezeit unter britischer Oberhoheit geführt hatte. Vielmehr hielt das Naturvolk eben jetzt den Zeitpunkt seiner Lossagung von jeder Erdenmacht gekommen. Als der Gouverneur und Bevollmächtigte der kanadischen Regierung von dem erkauften Lande Besitz ergreifen wollte, geboten ihm an der Schwelle der neuen Provinz bewaffnete Mestizen eben so höflich wie bestimmt die Umkehr. Und er kehrte um. Louis Riel ward dagegen einstimmig zum Haupt der provisorischen Regierung Manitobas gewählt. Er zählte jetzt fünfundzwanzig Jahre.

Derselbe hohe katholische Geistliche, der Louis Riel hatte erziehen helfen, Bischof Taché, bot sich in diesem Augenblicke, da der Bürgerkrieg unvermeidlich schien, zum friedlichen Vermittler zwischen der Regierung zu Ottawa und dem bewaffneten Volke von Manitoba an. Die Krone Englands gewährte volle Amnestie, reiche und fruchtbare Landstrecken (240 Acker für den Kopf) an die Aufständischen und sechs Parlamentssitze im kanadischen Parlament an die Provinz. Darauf legten die Halbwilden ihre Waffen nieder; die provisorische Regierung ging aus einander; insbesondere Riel nahm den Pflug wieder zur Hand.

Mittels Urtheils des Gerichtshofs (der Queen’s Bench) von Winnipeg, datirt vom 15. Oktober 1872, soll jedoch Riel – aus welchem Grunde, wissen wir nicht – für „outlaw“ (vogelfrei) erklärt worden sein und will von nun an das Leben eines gehetzten Wildes geführt haben. Daß ein Urtheil dieser Art bestanden hat, beweist eine bedingte Amnestie gegen Riel und Lépine, der neben Riel im Aufstande von 1869 auf 1870 Anführer war, datirt vom 12. Februar 1875. Dieser Gnadenakt gewährte Beiden Verzeihung, wenn sie auf fünf Jahre Manitoba verließen. Beide Geächtete gingen darauf ein, gegen eine Geldentschädigung, die Bischof Taché vermittelte und auszahlte. Die Angaben über die Höhe derselben schwanken. Die amtliche Angabe ist, daß Riel allein 5000 Dollars (etwa 21 000 Mark) erhalten habe. Er selbst behauptet, auf ihn und Lépine seien nur je 400 Napoleons (etwa 6500 Mark) gefallen.

Riel lebte nun eine Zeit lang in der Provinz Quebec in Kanada. Nach einem längeren zwecklosen Wanderleben in den Vereinigten Staaten nimmt er 1879 in Montana eine Lehrerstelle an einer Gewerbeschule an und verweilt hier bis zum Juni 1884, allgemein geschätzt und geliebt und zurückgezogen von allem politischen Treiben. Er heirathet die Tochter eines französischen Mestizen aus der Gegend des Forts Elliot und wird Vater zweier Kinder.

Der Juni 1884 bringt die verhängnißvolle Wendung seines Lebens.

Während seiner langen Abwesenheit von seiner Heimath haben sich nämlich die Verhältnisse seiner Stammesgenossen wesentlich verschlechtert. Die Mestizen sind Halbwilde, fast so leichtlebig und unüberlegt wie Indianer. Gewissenlose Güterspekulanten sind nach 1870 zu Hunderten nach Manitoba geströmt und haben die armen Mestizen mit Gold geblendet und um einen Spottpreis ihr Land ihnen abgekauft. Nun wandern die Heimathlosen zu Tausenden nach dem damals kaum besiedelten Flußthal des Saskatchewan. Aber als es mit der kanadischen Pacificbahn Ernst wurde, strömten auch dorthin Hunderte findiger Einwanderer, mit förmlichen Besitztiteln der englischen Behörden versehen, und vertrieben auch dort die Mestizen vom kaum gegründeten Heim. Keine der zahlreichen, gegen diese Mißstände gerichteten Beschwerden, welche zu Gunsten der Mestizen von Landagenten und Parlamentsabgeordneten, vom Provinzialrath und vor Allem von hochgestellten Geistlichen ausgingen, fand bis zum Juni 1884 befriedigende Antwort.

Da machte sich im nämlichen Monat der Führer der Mestizen in Manitoba seit Riel’s Abwesenheit, Gabriel Dumont, ein leidenschaftlicher, zum Aeußersten entschlossener Mann, mit einigen Gesinnungsgenossen zu Louis Riel nach Montana auf, um diesen zurückzuholen. In glühenden Worten und mit düsterer Entschlossenheit schilderte Dumont die Nothlage der Stammesgenossen, die Nothwendigkeit der Führerschaft Riel’s. Alle guten und bösen Leidenschaften Riel’s verstand er aufzuregen. Nach einigem Zaudern folgte Riel dem, was er für Stimme der Pflicht hielt. Am 1. Juli war er mit seiner jungen Familie wieder in der Heimath und nahm hier die Gastfreundschaft seines Vetters Charles Nolin bis Ende Oktober an. Dann zog er mit den Seinen in ein eigenes Haus, das ihm der tapfere Gesinnungsgenosse Moses Ouelette geschenkt hatte.

Während dieser vier Monate ist seine ganze unablässige Thätigkeit nur auf die Erforschung des gegenwärtigen Zustandes seiner Heimath, der Lage seiner Volksgenossen und auf die gesetzliche Abstellung ihrer gegründeten Beschwerden gerichtet. Er hält eine große Zahl von Versammlungen überall ab, verfaßt, bespricht und versendet die Klagen und Bitten um Abhilfe. Durch zweimalige Sammlung sorgen die Freunde inzwischen für seinen und der Seinen Unterhalt. Er gewinnt die Ueberzeugung, daß jahrelange kräftige Agitation den Beschwerden der Stammesgenossen völlige Abhilfe verschaffen werde. Zwei wichtige Zugeständnisse, die Ertheilung verbriefter Besitztitel (Scrips) und eine neue Landvermessung, erreicht er schon durch seine unermüdliche Agitation. Er denkt nicht entfernt an gewaltsame Erhebung. Noch im Januar 1885 – zwei Monate vor seiner bewaffneten Empörung – bringt er bei einem festlichen Abendessen den Toast des treuen Unterthanen auf die Gesundheit „de notre Souveraine Dame la Reine Victoria“ aus. Alle seine Ansprachen vor Hunderten und Tausenden zielen nur auf „konstitutionelle Agitation“, auf unermüdliche Handhabung des Beschwerderechts.

Was führte nun Louis Riel aus so untadeliger, bewunderungswürdiger Haltung plötzlich zu bewaffneter Empörung? [813] Diese Frage ist eine der peinlichsten, die der Erzähler seines Schicksals zu beantworten hat.

Louis Riel hatte die Ueberzeugung gewonnen, daß sein friedliches und gesetzliches Wirken für sein Volk Jahre fortdauern müsse, um zum Ziele zu führen. Er hatte fünf Jahre lang aus eigener Arbeit für sich und die Seinen gesorgt. Hier in Manitoba ließ ihm die Sorge für sein Volk keine Zeit zu eigenem Erwerb. Die Freunde konnten ihm nach seiner Meinung den Unterhalt auf so lange Zeit nicht schaffen. Er glaubte aus der Behandlung, die ihm vor einem Jahrzehnt widerfahren war, gerechte Ansprüche an die kanadische Regierung zu haben. Er machte diese Ansprüche geltend, gewiß nicht bloß aus Eigensucht, sondern zugleich, um die Mittel für die Fortsetzung seiner Agitation für die Stammesgenossen zu gewinnen.

Dieses Streben erschien ihm so löblich, daß er auch unheilige Mittel dafür erlaubt hielt. Er war als frommer Katholik nach den Vereinigten Staaten gekommen. Er hatte dort die Grundgedanken des protestantischen Bekenntnisses in sich aufgenommen, dieselben sich vertraut gemacht. Und da er aus den früheren Vorgängen seiner Heimath wohl erkannt hatte, welchen unbedingten Einfluß die römische Geistlichkeit unter seinen Stammesgenossen übte und welche Achtung sie bei den englischen Machthabern genoß, wie ihre Vermittlung immer erfolgreich gewesen war, so beschloß er, diese mächtige Fürsprache auch seinen persönlichen Forderungen an die Regierung dienstbar zu machen. Er benutzte zu diesem Zwecke Alles, was er an Zweifeln an seinem ererbten Glauben aus den „Staaten“ heimgebracht hatte. Er gab sich selbst für einen tiefzerfressenen Zweifler aus, um als Preis für seine eigene Unterwerfung unter den alten Glauben die Befürwortung seiner persönlichen Ansprüche an die Regierung zu erlangen. Seine Berechnung trog nicht. Er unterwarf sich feierlich, und die geistlichen Vermittler redeten zu Gunsten seiner Ansprüche, wenn auch nicht für die 100 000 Dollars, die er ursprünglich forderte, doch für die 35 000, auf die er herabging, oder für etwas weniger. Die Regierung aber bewilligte keine dieser Forderungen, welche Riel in den letzten Monaten des Jahres 1884 und in den ersten von 1885 ausschließlich beschäftigten.

Die Obdachlosen Berlins vor dem Asyl.
Originalzeichnung von E. Hosang.

Und nun schlug Riel plötzlich los, griff plötzlich zur bewaffneten Empörung, möglicherweise mehr hingerissen, als selbst entscheidend; denn sein Freund Gabriel Dumont hatte schon Wochen vorher die Indianer des Grenzgebietes zum Betreten des Kriegspfades und zum Ausgraben der Streitaxt aufgereizt. Riel billigte nur alles Geschehene und noch zu Geschehende und deckte es verantwortlich mit seiner Führerschaft.

Auf das Genaueste und mit tiefster Berechnung dem Volke und Lande angepaßt waren Riel’s Kampfmittel und Kampfziele.

Zunächst galt es, den frommen gottesfürchtigen Sinn der Mestizen an sich zu fesseln. Dieselben waren gute Katholiken. Wenn die katholischen Geistlichen von der Empörung abmahnten, so folgten sie Riel keinesfalls. Riel gab sich daher von dem Zeitpunkte an, wo er die Waffen ergriffen hatte, für einen Propheten aus, in welchem der Geist Gottes wohne, der daher unendlich viel unmittelbarere Eingebungen und Offenbarungen Gottes habe, als die Geistlichkeit. Dieser in Riel wohnende Geist Gottes machte ihn selbstverständlich auch zum Werkzeug in Gottes Hand, folglich unbesiegbar. Um nun einige der Kräfte kund zu thun, welche Propheten immer gehabt haben, prophezeite Riel täglich vor versammeltem Kriegsvolk, was eintreten werde und was nicht, und zwar in so allgemeinen Ausdrücken, daß Manches eintraf. Außerdem führte er ein Buch, in welchem er die Offenbarungen Gottes, deren er theilhaftig wurde, mit Büffelblut niederschrieb. Beherbergte ihn ein Freund über Nacht, so vergalt er diese Liebe damit, daß er die ganze Nacht für die gemeinsame Sache ganz neue Gebete laut hersagte, so daß Jener nicht schlafen [814] konnte. Von dem revolutionären Rath verlangte er, förmlich und feierlich als Prophet anerkannt zu werden. Die besorgten Blicke nach Rom lenkte er durch die Versicherung auf sich selbst: Rom sei gefallen, der Papst für dieses Land sei bereits unterwegs. Würde er hier freie Hand gewinnen, so reise er selbst nach Paris und Italien, um den Papst absetzen und einen nach seinem Geschmack wählen zu lassen etc. Die armen gläubigen, ungebildeten Mestizen wurden durch diese Offenbarungen mit andächtiger Hingebung und blindem Vertrauen zu dem unbesiegbaren Propheten erfüllt. In Riel’s Prophetenrolle ruhten die Grundwurzel und der größte Zauber seiner Macht.

Dieser geheimnißvolle Einfluß ward verstärkt durch das glänzende Kampfziel, das er als Siegespreis vor Augen hielt, nämlich die Theilung des gesammten Landes in sieben Theile. Davon sollte ein Siebentel den Mestizen und Indianern zukommen, die andern Siebentel den Völkern, welche den Mestizen zu Hilfe ziehen würden. Gewiß nicht aus Unwissenheit nannte Riel als solche Völker: die Preußen (!), die Bayern (!), die Belgier, die Polen und – die Juden (!), sondern aus seiner Berechnung des Bildungszustandes seiner Landsleute. Wenn er gesagt hätte: die Vereinigten Staaten, die Irländer etc. rückten zur Hilfe heran, so hätte deren Ausbleiben die Mestizen stutzig gemacht – aber die Prussiens, die Bavarois, die Polen und die Juden, die brauchten längere Zeit, um sich zu sammeln und den Mestizen zu Hilfe zu eilen. So bald konnten diese nicht auf der Bildfläche erscheinen.

(Schluß folgt.)




Der Unfried.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Guten Abend!“ grüßte Götz. Und während Karli den Gruß erwiederte, machte Kuni eine Bewegung, als hätte sie aufspringen mögen, um den, welcher da die Stube betreten hatte, vom Tische fern zu halten. Fragend schaute der Pointner zu ihr auf, und aus Gregor’s Augen traf sie ein stechender Blick. Da rückte sie mit zitternder Hand den Stuhl, als ob er schlecht gestanden hätte.

Inzwischen hatte Götz seinen Hut in die nächste Fensternische gelegt. Dort blieb er stehen, bekreuzte sich, verschlang die Hände über der Brust und betete.

Nun kam er zum Tische.

Als er sich an Karli’s Seite niederließ, schaute ihm der Bursche betroffen in die Augen. Er hatte noch niemals ein lustiges Gesicht an Götz gesehen, aber auch nie noch Züge von dieser starren Trauer und finsteren Härte.

Götz schien diesen besorgten Blick nicht zu gewahren. Er nahm seinen Löffel auf, wischte mit den Fingern darüber, legte den linken Arm auf den Tisch und wollte zu essen beginnen.

Im gleichen Augenblick zog Gregor hastig die Hand von der Schüssel, warf den Löffel nieder, daß er hoch aufsprang, und lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Mauer zurück.

„Aber was is denn jetzt das für an Art!“ fuhr der Pointner entrüstet auf; doch als wäre er selbst über seinen Ton erschrocken, so fügte er kleinmüthig bei: „Weßwegen ißt denn net weiter?“

„Weßwegen? – Weil ich mich z’ gut dafür halt’, als daß ich mit Ei’m aus der gleichen Schüssel schlamp’, der wo im Zuchthaus g’sessen is!“

Kuni schnellte von ihrem Stuhl empor: „Gori!“ stammelte sie; doch ihre weiteren Worte erstickten unter Karli’s schrillender Stimme. Mit dunkelrothem Gesichte war der Bursche aufgesprungen und hatte den Pointner am Arm in die Höhe gerissen.

„Vater – Vater – so ’was laßt net sagen an Dei’m Tisch – und z’ allerletzt von Ei’m, dem unser Schüssel schon länger taugt, als recht is!“

„Oho! Wirfst mir gar das Bißl Essen vor!“ spottete Gregor. während der Pointner ein unverständliches Stottern hören ließ, „Soll ich Dir’s zahlen? Was kost’s?“

„So? Spötteln? Spötteln willst auch noch? Wart’, Herr Vetter – Dir lern’ ich ’s Reden im Ernst!“ schrie Karli weinend vor Zorn. Mit Stammeln und Stottern suchte der Vater ihn zu beruhigen und auf die Bank niederzuziehen. Karli aber riß sich los und schrie auf Gregor ein: „Und auf der Stell’ jetzt – auf der Stell’ giebst Rechenschaft über Dein’ Red’! Wer – wer is im Zuchthaus g’sessen? Vom Pointnerhof wohl keiner net! Denn unter unserm Dach – verstehst mich – unter unserm Dach is noch allweil Alles sauber g’wesen – bis auf a g’wisse Zeit! Wer, frag’ ich – wer is im Zuchthaus g’sessen? Meinst ’leicht, mein Vater – oder ich? Und Du, Stoffel – laßt Du Dir so a Schand’ ins G’sicht ’neinsagen? Oder Du?“

Da wurde seine zornige Sprache zum Lallen, und verstummend starrte er mit erschrockenen Augen auf Götz, welcher regungslos an seiner Seite saß, die Fäuste in den Tisch gestreckt, mit leichenblassem Gesichte, mit trostlosem Blick und zitternden Lippen.

Nur der Pendelschlag der Wanduhr, sonst war kein Laut in der Stube zu hören.

Ein häßliches Lachen unterbrach diese Stille. „Ahan, mir scheint jetzt merkst ’was von der Sauberkeit unter Dei’m Dach!“ Und lachend schob sich Gregor aus der Bank, stellte sich mit gespreizten Beinen vor den Tisch, und die Hände in die Taschen grabend, wiegte er sich auf den Hacken seiner Stiefel.

Zenz und Stoffel schauten sich mit langen Gesichtern an; der Pointner schüttelte nur immer den Kopf, wühlte mit beiden Händen in seinen Haaren und schielte rathlos zu Kuni auf, welche hinter ihrem Stuhle stand und mit unruhigen Fingern über die Lehne tastete, während ihre Augen in scheuer Erregung zwischen Götz und Gregor hin- und widerglitten; Karli aber rüttelte den Knecht am Arm und stammelte: „Na – na – es kann net wahr sein! So red’ doch, Götz – so red’ doch – und sag’s ihm, daß er g’logen hat!“

Götz schien ihn nicht zu hören; er starrte regungslos ins Leere und raunte mit gebrochener Stimme vor sich hin: „Also wieder amal! Elf Jahr’ lang’ hab’ ich a Ruh’ g’habt – elf gute Jahr’ – und jetzt is’s wieder da! Mein Lieb’ und Glück – und mein verlorenes Leben – und noch net haben s’ g’nug! Und noch net lassen s’ mich in Ruh’! Herr Gott, was für a Denken hast Du in d’ Menschen g’legt, daß s’ kein Vergessen gar net kennen!“

Mit einem schluchzenden Laut erlosch seine Stimme, und schwere Thränen tropften von seinen Wangen nieder auf den Tisch.

Wieder herrschte lautlose Stille. Von draußen aber war ein dumpfes Rauschen zu hören, das aus der Ferne sich zu nähern schien. Jetzt pfiff ein jäher Windstoß um die Mauern; mit lautem Klirren flog ein Fenster auf, und fauchend zog ein kalter Luftstrom in die Stube.

„Na – na – was das jetzt Alles is!“ stotterte der Pointner, während er sich zitternd erhob, um das Fenster zu schließen.

Langsam richtete Götz den Kopf empor. Seine nassen Augen glitten über die von der zuckenden Lampenflamme trüb erhellten Gesichter und blieben an Kuni’s blassen Zügen haften.

„Ja – schaut’s mich an! Im Zuchthaus bin ich g’sessen – und Eisen hab’ ich ’tragen – und hab’ a Menschenleben auf mei’m G’wissen.“

„Jesses na!“ hörte man drüben am Fenster den Pointner kreischen; Zenz und Stoffel rückten scheu vom Tische; sogar auf Gregor’s Lippen erlosch das spöttische Lächeln, während er betroffen den Kopf aus den Schultern hob. Nur Kuni rührte sich nicht, als hielte Götz sie gebannt mit seinen Augen. Und schwer athmete sie auf, als er die Blicke von ihr wandte und mit einem schmerzlich bitteren Lächeln auf Karli schaute, der erschrocken von seiner Seite gewichen war.

Hastig erhob er sich, stieß sich aus der Bank und blieb vor Karli stehen.

[815] „Mußt Dich net fürchten – ich sorg’ schon, daß morgen Alles wieder sauber is unter Dei’m Dach. Wie’s mich von überall vertrieben hat – das einzige, gottverhaßte Wort – so vertreibt’s mich auch wieder von da, wo ich mich elf Jahr’ lang’ ’rein verwachsen hab’ – wie a Stein in der Mauer, hab’ ich heut wen sagen hören.“

Er machte ein paar Schritte in die Stube, blieb wieder stehen, schaute zu Karli zurück und fuhr mit schluchzenden Worten auf: „Na – na – von überall bin ich fort und hab’ kein Wort net g’sagt – aus Dei’m Haus aber, Karli, aus Dei’m Haus kann ich net fortgehn, ohne daß ich g’redt hab’. Und was ich auch zum sagen hab’, a Jed’s kann’s hören – g’rad Einer net – Einer net!“

Seine Stimme hatte sich zu schneidender Schärfe gehoben, und mit brennenden Blicken richteten sich seine Augen auf Gregor.

Der Bursche lächelte, zog erwartungsvoll die Brauen hoch und rührte sich nicht vom Flecke. Verdutzt aber schaute er darein, als Kuni hastigen Schrittes vor ihn hintrat und ihn mit zorniger Stimme anfuhr: „Geh, sag’ ich Dir – geh!“

„No ja – meinetwegen! Mich plagt d’ Neugier auf sein’ Unschuld net!“ lachte Gregor, nahm den Hut von der Ofenstange und verließ die Stube. Götz folgte ihm mit den Augen, bis sich die Thür geschlossen hatte.

„Wie er’s erfahren haben mag, ich kann mir’s net denken!“ stieß er mit bebenden Worten vor sich hin. „Und – er – er weiß net, was er mir anthan hat! Aber mag er’s jetzt ’than haben, bloß in der Bosheit, die aus seine Augen schaut – oder – oder weil er mich g’forchten hat –“

„G’forchten? Ja wegen was denn?“ ließ sich der Pointner mit schüchterner Frage vernehmen.

„Wegen was?“ wiederholte Götz. Da trafen sich seine Blicke mit Kuni’s erschrockenen Augen. Eine Weile schwieg er und sagte dann in einem eigenen, ausweichenden Ton: „Ich weiß net, wegen was! Aber no – jetzt is’s g’schehen! Und vor’gangen is mir’s auch schon – schon wie ich ’rein bin in d’ Stuben. A Stund’ kann’s her sein, da hab’ ich so schon a Mahnung ’kriegt – gelt, Stoffel? Und dengerst hab’ ich’s net glauben mögen – weil’s über mein’ Kraft geht, daß ich fort soll von da, wo ich g’meint hab’, ich hätt’ mir mit blutiger Arbeit ’s Recht verdient zum Bleiben und amal zum ruhigen Versterben.“

Mit ausgestreckten Händen und bleichem Gesichte wankte Karli auf ihn zu.

Götz aber wehrte ihn von sich. „Laß gut sein! Ich weiß ja, daß Du mich halten thätst. Aber d’ Leut’, Karli – d’ Leut’ lassen’s net zu. Und daß sie’s jetzt erfahren, was ich hinter mir hab’ – Einer wird schon sorgen dafür. Und Jedem kann ich ’s ja net verzählen, was mich ins Zuchthaus ’bracht hat! G’wiß wahr – unverdrossen hab’ ich mich für Dein’ Vater ’plagt, und Dich hab’ ich gern g’habt – bist mir g’wesen wie mein Kind. Aber wie jetzt Alles steht – ich verlang’ mir kein’ andern Dank, als daß kein’ schlechten Gedanken über mich net b’haltst und daß mich mit ei’m guten Abschied gehen laßt. Wohin – das weiß ich freilich net. Heimath hab’ ich ja keine! Im Unterland, weit draußen, haben meine Eltern g’haust, arme Schlucker. Wie s’ verstorben waren, is ’s Häusl mit’m Schuldenzahlen drauf’gangen, und mir is nix verblieben, als meine sechzehn g’sunde Jahr’ und zwei Arm’, die bei jeder Arbeit schneidig zu’griffen haben. Drum hab’ ich auch gleich an guten Dienst g’funden. A paar Jahr’ sind drüber hin’gangen. Unter der Woch’ hab’ ich g’arbeit’ wie a Roß – am Sonntag aber, wann ich meine paar Halbe Bier ’trunken hab’ und bin so um einander g’stiefelt auf die Felder und im Holz – da war’s mir wohl – und oft hätt’ ich im Uebermuth gleich unsern Herrgott g’fragt, was d’ Welt denn kosten möcht’. G’rad Eins noch hat mir g’fehlt zum völligen Glück – und das Eine hab’ ich auch bald g’funden!“

Schwer athmend verstummte er; als würden ihm die Kniee schwach, so tastete er rückwärts nach dem Ofen und ließ sich auf die Holzbank niedersinken.

„Neunzehn Jahr bin ich alt g’wesen. Da bin ich amal in a Nachbarort zur Kirchweih ’gangen. Und selbigs mal – da hab’ ich a Deandl g’sehen – a ganz a jungs. Schon gleich wie ich’s ang’schaut hab’, da is mir’s so g’spaßig warm in mir drin aufg’stiegen. A gar so a liebs G’sichtl hat s’ gehabt – g’wiß wahr – und so viel gute Augen! An einzigen Tanz g’rad hab’ ich mit ihr g’macht, und nachher hab’ ich zug’schaut, wie sie sich alle um’s Deandl g’rissen haben – und a jedsmal, wenn s’ an mir vorbei ’tanzt is, da hat s’ mich ang’schaut. Wie’s nachher Abend ’worden is, hat s’ heimgehen müssen. A vier a fünf Burschen haben s’ g’führt – und ich bin nach’gangen, weit hintendrein. Wie aber ’s Deandl in ihr Haus ’nein is – in a ganz armseligs Häusl – da hab’ ich mich ’tummelt und hab’ ihr noch an guten Abend g’wunschen. In der Nacht vor’m nächsten Sonntag hab’ ich ihr den ersten Buschen an’s Kammerfenster g’steckt. Im Garten hab’ ich ’paßt – und wie s’ meine Bleameln g’funden hat, hab’ ich mich ’zeigt. Ueber und über hat sie sich verfarbt und hat ’s Fenster zug’schlagen – in der Kirchen aber hat s’ mein’ Buschen am Mieder g’habt. Und nachher – ja, nachher – da war’s halt so, daß wir uns gern g’habt haben. Gern haben – es is g’rad a Wörtl – aber was sagt sich net Alles damit! Gern haben, wenn’s Einer richtig g’spürt, heißt leben – und sterben.“

„Leben – und sterben!“ seufzte Karli vor sich hin. Lautlos saßen die Andern auf ihren Stühlen. Nur Kuni stand hoch aufgerichtet inmitten der Stube, mit halbgeöffneten Lippen, starre Spannung in den Zügen, die funkelnden Augen unverwandt auf Götz gerichtet.

Der strich sich langsam mit dem Rücken der zitternden Hand über die Stirn: „A Glück is zwiefach Glück, wann’s heimlich is ! An Kameraden hab’ ich g’habt im Deandl sei’m Ort – das war der Einzig’, der von meiner Liebssach’ g’wußt hat – a braver, seelenguter Mensch, aber auch einer von dieselbigen Hascher, auf denen ’s Leben um einander trampelt mit g’nagelte Schuh’! Sonst hat kein Mensch ’was erfahren davon – am allerwenigsten dem Deandl ihre Leut’. Die zwei, die waren a Bißl von der harben Art. Was hätt’ uns auch ’s Reden g’holfen! An a Heirathen war ja kein Denken net – ’s Deandl hat nix g’habt und ich noch weniger. Aber wir zwei, wir sind ja schon z’frieden g’wesen mit der Lieb’ allein – und jung g’nug zum Warten auch. Aber no – wie’s halt geht! Z’erst bin ich bloß alle Sonntag ’nüber – bald aber waren mir die zwei Stund’ Weg an kei’m Abend nimmer z’weit. Da hat aber auch mein Bauer bald ’was g’merkt von meine heimlichen Weg’ und hat mich zur Holzarbeit am Berg ’naufg’schafft. Keine vierzehn Tag’ noch bin ich droben g’wesen, da haben s’ mich zu die Rekruten ’packt. In der Nacht, wie ich mei’m Schatz B’hüt Gott hab’ sagen wollen – da is a Licht in ihrer Kammer g’wesen, und ’s Fenster war verhängt – und für’kommen is mir’s, als wie wenn ’s Deandl krank wär’ und wär’ ihr Mutter bei ihr drin. G’wart’t hab’ ich – und g’wart’t – und d’ Nacht is vergangen – und fort hab’ ich müssen – ohne Wort und Abschied – und vor Leid und Weh hab’ ich g’meint, es druckt mir ’s Herz schier ab. Sieben Jahr’ Soldat sein – das heißt fein ’was, wann Einer kein anders Denken net hat als auf sein Lieb’. Den Sprung aber, den ich vor Freuden g’macht hab’ – wie ich in der Stadt drin ’s Nummer ’zogen hab’ – und hab’ mich freig’spielt g’habt!“

„Freig’spielt“ staunte der Pointner. „Du warst ja doch beim achten Regiment?“

„Ich? Na – ich net! Ich hab’ mich freig’spielt. Und in der gleichen Stund’ noch bin ich davon und heimzu in ei’m Sauser. Und wie ich da durch’s Holz durch komm’ – zwei Stund’ weit von mei’m Ort – da hör’ ich von weitem schon a Rumpeln und Rasseln – und kaum daß ich mich recht versieh, da sausen Dir schon zwei scheuche Roß daher – und die Kutschen dahinter hat’s hin- und herg’worfen, als müßt’ s’ in jedem Augenblick ’neinfliegen unter die Bäum’. A Herr is dring’sessen, ganz kreidenblaß – und neben seiner a noble Frau, die g’rad ein’ Schrei um den andern ’than hat. Natürlich – was will ich machen? Wie’s halt jeder g’macht hätt’! Mit ei’m Fahrer –“ Dabei schoß er von der Bank empor und griff mit beiden Fäusten in die Luft. Eine brennende Röthe färbte sein bleiches Gesicht, seine Augen blitzten auf, und während er in fliegenden Worten weitersprach, begleitete er seine Schilderung mit hastigen, erregten Gesten. „Mit ei’m Fahrer bin ich zug’sprungen auf d’ Roß, hab’s Handpferd bei die Zügel, ’s ander’ bei der Stang’ erwischt, hab’ mich dran hing’hängt mit mei’m ganzen G’wicht – woltern a vierzig Schritt weit haben s’ mich fortg’rissen – und auf amal sind s’ g’standen und haben ’zittert am ganzen Leib – und [816] g’schnauft und g’schaumt. Und die im Wagen drin, die haben Dir weiter auch net aufg’schnauft jetzt! Derweil is der Kutscher nach’kommen, über und über voller Staub, blutig im G’sicht – und den linken Arm, den hat er nimmer rühren können. Lang’ hab’ ich s’ net reden lassen – am Bock bin ich ’naufg’sprungen, hab’ den Kutscher an mein’ Seiten g’nommen und bin davonkutschirt – g’radaus und rechts und links – wie’s mir ang’sagt worden is. Vor ei’m Schlößl hab’ ich g’halten – und mit der Herrschaft hab’ ich am Tisch essen müssen. Und wie der Schloßherr in mei’m Reden so g’merkt hat, daß ich mich auf die Bauernsach’ versteh’ als wie an Alter, da hat er mir nach ’m Essen sein’ Maierhof ’zeigt – und ’s End’ davon war, daß er mir die Pachterei an’tragen hat. Mir is Dir gleich d’ Red’ im Hals drin stecken blieben – aber ich hab’ an mein liebs Deandl ’denkt, hab’ mir’s Kurasch g’nommen und hab’ ihm g’sagt: gleich morgen könnt’ er mich haben, aber zugeben müßt’ er, daß ich heirathen därfet. Und Ja hat er g’sagt – und zehn Preußenthaler Angeld hat er mir geben – und ich – ich bin davon und heimzu wie der Teufel und g’rad g’lacht und g’weint hab’ ich in ei’m Trumm – vor hellichter Freud’! Ja – denken wann ich mögen hätt’, zu was ich heimkomm’ – da wär’ ich freilich net gar so g’sprungen!“

Die Stimme schlug ihm über, und langsam griff er mit der Hand an seinen Hals. Niemand in der Stube rührte sich. Bange Spannung lag auf allen Gesichtern und mit regungslosen Blicken waren alle Augen auf Götz gerichtet.

„A Sonntag war’s – g’spaßig! – End’ und Anfang – jedesmal a Sonntag! Es is schon auf’n Abend ’gangen, wie ich zu die ersten Häuser ’kommen bin. Im Sinn g’habt hab’ ich’s wohl, als sollt’ ich g’radwegs zu mei’m Deandl seine Leut’ hingehn. Hätt’ ich’s nur so g’macht – hätt’ ich mir’s nur net ausg’redt! Ich aber hab’ mir ’denkt, daß vor alle Andern mein Deandl unser Glück erfahren müßt’ – und gar so heimlich hab’ ich mir’s fürg’stellt, wann ich mich z’erst noch drüber freuen könnt’ mit ihr allein! Und weil’s mir auf der Straßen noch a Bißl z’ lebendig war, hab’ ich mir ’denkt, ich kehr’ a paar Stund’ im Wirthshaus zu. Da war a lustige G’sellschaft bei einander – ich hab’ mich dazug’setzt – hab’ mir an süßen Wein geben lassen – g’rad g’schmeckt hat er mir! – und ein Liedl hab’ ich g’sungen um’s ander’! Und da war von die Burschen einer, der a Geld ’braucht hätt’ – der hat a kleine Uhr und a silberne Halsketten zum Kauf um’boten. Da hab’ ich g’meint, mein Deandl könnt’ a Freud’ dran haben – hab’s Geld am Tisch hing’haut – und ’s Uehrl mit der Ketten hab’ ich mir umg’hängt. Und wie ich aufschau, steht mein Kamerad vor mir. G’rad Augen hat er an mich hin g’macht. Ich aber hab’ ihn ’packt und hab’ ihn g’halst – und hab’ ihn ’neinzogen in an Winkel – und all mein’ Seligkeit hab’ ich an ihn hinplauscht mit meiner lustigen Zung’. Und da hat er g’sagt, er thät’ mir Glück wünschen zu meiner Nummer und zu meiner Herrschaft, aber – aber – das ‚aber‘ hat mich heiß g’macht. Doch kaum ich g’hört hab’, was dahintersteckt, hab’ ich ihm hellauf ins G’sicht g’lacht – hab’ mein’ Hut von der Wand g’rissen und bin davon. Und g’rad g’lacht hab’ ich! Mein Deandl – und an Andern heirathen! Und so Ein’ noch dazu! Freilich der reichste Bauernsohn – aber der ärgste Lump im ganzen Ort, der alle paar Häuser weit a Madl in der Schand’ hat sitzen lassen! Ja mein – g’rad allweil ’nausgelacht hab’ ich in die sternscheinig’ Nacht!“

Diese Worte begleitete ein heiseres Lachen.

Er zog die Pfeife aus der Joppentasche, und schien nicht zu wissen, daß er es that. Er suchte wohl unwillkürlich seine zitternden Hände zu beschäftigen. Und während er ein um das andere Mal die Röhre aus der Pfeife riß und wieder festschraubte, stieß er Wort um Wort vor sich hin: „Und ich hab’ noch allweil g’lacht – wie ich schon da g’standen bin – vor mei’m Deandl sei’m Haus. Gleich von der Straßen aus hat man über a steils Wiesenfleckel in d’ Höh ’nauf müssen – und da hab’ ich mich ’naufg’schlichen – unter die Apfelbäum’ – und auf amal – da hör’ ich a Wispern – an Schritt noch hab’ ich g’macht, und nachher bin ich g’standen, als wär’ ich Stein worden auf und auf. ’s Kammerfenster is offen g’wesen und ’s Deandl war dabei – und Einer is im Fenster g’sessen – und ich hab’ ihn ’kennt – an der Stimm’ schon – den selbigen – und von der Heirath hat er g’redt – und – und ’s Deandl hat’s ang’hört – ohne Widerred’ – und auf amal – da schlagt er d’ Arm’ um ihren Hals. D’rauf zuspringen hab’ ich wollen – aber kein’ Rührer net hab’ ich z’wegen ’bracht; völlig schwarz is mir’s worden vor die Augen – a Fenster hab’ ich noch schlagen hören, und nachher hab’ ich a Sausen in die Ohren ’kriegt und hab’ mich anhalten müssen am Baum, daß ich net umsink’. Und wie ich mein G’sicht wieder ’krieg’, da steht er da vor meiner – in mir drin steigt’s mir siedheiß auf – ‚Du – Du!‘ – sonst hab’ ich kein Wörtl net g’habt – und wie er die Andern ’rum’bracht hat, so hat er mein Deandl ’rum’bracht; das war mein einzig’s Denken. Und wie er’s die Andern g’macht hat, macht er’s mei’m Deandl – und da bin ich ihm schon mit alle zwei Fäust’ am Hals, daß er kein’ Laut nimmer giebt – und hab’ ihn hindruckt an den nächsten Baum – und wie mehr er sich wehrt, wie wilder bin ich ’worden – und – und auf amal – da merk’ ich, daß er kein’ Arm mehr rührt. Da packt’s mich an, wie an eiskalter Schreck – und wie ich d’ Händ aufmach –“

Ein dumpfes Klirren mischte sich in seine Worte; Götz hatte die Pfeife fallen lassen, deren Kolben auf den Dielen in Scherben zerschellt war.

„Und wie ich d’ Händ’ aufmach’ – da schlagt er nieder wie a Stückl Holz. Ich will ihn noch derhalten – aber da reißt’s ihn schon über d’ Wiesen weg – bis mitten ’naus auf d’ Straßen. ‚Jesus Maria!‘ – das war Alles, was ich ’rausbracht hab’. Kaum haben mich d’ Füß’ noch ’tragen, wie ich ’nunter bin zu ihm. Auf’m G’sicht is er g’legen, ’s Blut is ihm unter die Haar’ ’rausg’schossen, kein’ Schnaufer nimmer hab’ ich g’merkt und kein’ Herzschlag nimmer g’spürt.“

„O lieber Gott – Du heiliger Herrgott!“ stotterte der Pointner, während Zenz sich murmelnd bekreuzigte.

„Da hat mich ’s Grausen ’packt – und auf und davon bin ich – g’radaus über d’ Wiesen,“ sprach Götz mit tonloser Stimme weiter. „Aber z’ruck’trieben hat’s mich wieder – und in der Verzweiflung hab’ ich mein’ Kameraden g’sucht. G’weint hat er um mich – g’weint wie a Kind. Ueber Nacht hat er mich b’halten und hat mir versprochen, daß er kein’ Zeugen macht und nix vom Deandl redt – und ’s Deandl selber, hab’ ich g’meint, hätt’ ja Grund g’nug zum Stadsein. Und da hab’ ich mich auch net ’täuscht! Am andern Morgen hab’ ich mich stellen wollen – aber kaum ich auf der Straßen g’wesen bin, haben mich d’ Schandarm’ schon g’habt. Die Uhr mit der silbernen Ketten hat mich verrathen – er hat’s in die starren Finger g’halten. Viel Plag’ haben s’ net g’habt mit mir, die Herrn vom G’richt! Im Wirthshaus g’trunken und auf der Straßen g’rauft, hat’s g’heißen – und ich hab’ Ja g’sagt zu Allem.“

„Weßwegen aber hast Dich net g’wehrt?“ fuhr Karli mit bebender Stimme auf. „Weßwegen hast ihnen net g’sagt, daß Alles mehr a Unglück g’wesen is als wie a Sünd?“

„Weil ich ’s Deandl in d’ Red’ hätt’ bringen müssen! Denn mag’s an mir auch g’handelt haben, wie ich’s nie net ’denkt hätt’ von ihr – nie net! – nie! – sie hätt’ mich erbarmt in ihrer Schand’! Und ich – ich hätt’s net vertragen, daß ich vor’m G’richt ihr G’sicht hätt’ anschaun müssen Stund’ um Stund’. Und ob jetzt auch der schwere Fall, den der Ander’ auf d’ Steiner von der Straßen ’than hat, erst ’s Unglück fertig g’macht hat, schuld dran war ich ja dengerst – und drum hab’ ich mein’ Straf verdient. Aber freilich, wie mein Spruch verkündt worden is, da hat’s mir halt doch an Schrei aus’trieben – und niederg’worfen hat’s mich, wie wann mir Einer d’ Füß’ abg’schlagen hätt’. Zwölf Jahr’! Zwölf Jahr’ so mitten ’raus, das is so viel wie’s ganze Leben! Und wie s’ mich ’neing’führt haben – wie’s mir g’wesen is – aber na! Weßwegen soll ich’s sagen? Es g’spürt’s mir ja dengerst Keiner nach! Und nach die ersten paar Jahr’, da hab’ ich’s ja auch verwunden – und in Geduld hab’ ich ’tragen, was ein Tag um den andern ’bracht hat. G’rad vor der Nacht – vor der Nacht hab’ ich mich g’forchten – wann ich so g’sessen bin in der Finstern, und es hat mir mein G’wissen kein’ Schlaf net vergönnt – und wann ich mir d’ Augen blutig g’weint hab’ um mein Glück und um mein Deandl! Zwölf Jahr’ hab’ ich g’habt – und im neunten haben s’ mich g’nadigt – wegen meiner Führung. Wie ich draußen g’standen bin unterm lichten Himmel, da hab’ ich d’ Arm’ g’streckt, und aufg’schnauft hab’ ich, und wenn ich mir auch g’sagt hab’, daß mein Leben ausg’lebt is, so hab’ ich mir doch ’denkt: ich

[817]

Gretchen.

Ach neige,
Du Schmerzensreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Noth!

Aus dem Prachtwerke: „Goethe’s Faust“. Originalzeichnung von Alexander Liezen Mayer.

[818] will’s in der Arbeit zeigen, daß ich noch Einer bin, der unter die Menschen sein’ ehrlichen Platz verdient. Ja – Narr, der ich g’wesen bin! Mit mir allein g’rad hab’ ich g’rechnet, und hab’ net an das Wörtl ’denkt, das hinter mir nach’gangen is als wie mein Schatten. Alles hat mich verlassen; mein’ junge Zeit, mein Glück, mein Deandl – und treu ’blieben is mir ganz allein das gottverhaßte Wort – so treu wie a blinder Hund. G’wesen is, als traget ich ’s Eisen als a unsichtbarer noch hinter der Hand –“ Aufseufzend streifte er von seiner Linken den Aermel zurück und starrte auf den Knöchel nieder, als wären an ihm die Spuren der Kette noch zu sehen. „Und wo mir Einer gut worden is um meinetwegen und hat mir meine zwei Händ’ in Dank oder Freundschaft g’schüttelt, da hat sich ’s Eisen g’rührt, und da hat noch a Jeder mein’ Hand von ihm g’stoßen in Schimpf oder Grausen!“

Noch hatte Götz nicht ausgesprochen, als eine leidenschaftlich gehobene Stimme durch die Stube schrillte: „Na, Götz – na – net a Jeder! Dein’ Hand gieb her – und da – da hast die meinig’!“

Als Götz mit einem jähen Ruck das Gesicht erhob, fühlte er schon seine Hände von heißen Fingern umschlossen, und Kuni stand vor ihm, die Wangen von brennender Röthe überglüht, mit flammenden Augen, vor Erregung zitternd am ganzen Leibe. „Und mögen’s die Andern halten, wie’s ihnen taugt – und mögen s’ ihren Hochmuth reden lassen statt ihr Herz – und die ganze Welt wenn sich abkehren thät’ von Dir – ich, Götz – ich stell’ mich an Dein’ Seiten!“ sprudelte es in wilder Hast von ihren Lippen. Mit jedem Worte steigerte sich noch die Leidenschaft ihres Tones, und Thränen stürzten aus ihren Augen. „Ich stell’ mich an Dein’ Seiten,“ schrie und schluchzte sie, „und ich halt’ aus bei Dir auf Biegen und Brechen. Bis zur heutigen Stund’ hat’s mir noch kein’ frohe Minuten ’bracht, daß ich den Pointnernamen trag’ – jetzt aber freu’ ich mich d’rum! Jetzt bin ich da – jetzt will ich mich anhalten an mein Recht! Und so lang’ ich noch unter dem Dach da a Wörtl zum reden hab’ – so lang’ ich noch an Schnaufer hab’, da, Götz, da schwör’ ich Dir’s in d’ Hand! – so lang’ sollst Du im Pointnerhof kein ungut’s Wörtl hören, so lang’ sollst Du an meiner Seiten Dein’ Heimath haben, wo Dir verdient hast in ehrenhafter, blutiger Arbeit!“

„Kuni – Kuni!“ stammelte Götz, und dabei war in seinen nassen Augen ein Blick, als könnte er nicht fassen, was er sah und hörte. „Von Dir am allerwenigsten hätt’ ich mir ’denkt, daß Du die Erste bist –“

„Ja – ja – Schand’ g’nug für aus, daß sie die Erste war,“ unterbrach ihn Karli mit erregter, fast zornig klingender Stimme, „sie g’rad, die kaum vom Hörensagen weiß, wie Du Dich in elf Jahr’ schier krumm g’arbeit’ hast für unser Haus und Gut. Schamen müssen wir uns, mein Vater und ich, daß net einer von uns gleich ’s erste Wörtl g’funden hat!“

„Ja ja, schamen muß er sich – er und der Vater!“ kollerte Stoffel vor sich hin, daß sich Zenz erschrocken nach ihm umwandte.

„Aber was von der Bäuerin g’hört hast, soll jetzt doppelt g’sagt sein von mir aus. Da, Götz – gieb mir die ander’ Hand – und da hast die meinig’! Und a Jeder, der wo Dir ’was anhaben will, der soll’s mit mir zum schaffen haben! Und g’halten sollst sein bei uns, daß zwischen morgen und gestern kein’ Unterschied net merkst. Gelt, Vater – gelt? So rühr’ Dich d ch – und red’!“

„Aber ja – no freilich – was wär’ denn da jetzt noch zum reden!“ stotterte der Pointner, in dessen bangen Zügen Verlegenheit mit Rührung kämpfte, während er sich zögernd erhob und mit beiden Händen hinter die Ohren fuhr: „Das is ja g’wiß – mich kennt er ja, der Götz! Aber – natürlich – es is halt so a Sach’! D’ Leut’ halt – d’ Leut’! Denkt’s nur g’rad an Spinner-Veit!“

„Hörst es, Kuni? Hörst es, Karli?“ fuhr Götz, seine Hände lösend, mit bitterem Lachen auf. „D’ Leut’ halt – die Leut’! Recht hat er, Dein Vater, daß ich ihn kenn’! Er hat ja auch, wann’s diemal sein muß, ’s Herz am rechten Fleck. Aber er is halt im g’witzten Alter und weiß, daß Mensch sein heißt: so sein, wie d’ Leut’ Ein’ haben wollen! Ich kenn s’ ja, d’ Leut’! Vier Jahr’ lang hab’ ich s’ ausstudirt! Selbigsmal – wie ich frei worden bin – da hat’s mich in d’ Näh’ von meiner Heimath ’trieben! Ganz heim hätten mich vier Roß net ’bracht! Und ’s Erste, was ich erfahren hab’, is g’wesen, daß mein Schatz, mein lieber, lang schon g’heirath’ hat – ja – vor neun Jahr’ schon – akrat um die Zeit ’rum, wo mein Spruch verkündt worden is. Und so viel Mitleid haben s’ mit mir g’habt, die Bauernleut’ alle – aber keiner is g’wesen, der mich als Knecht hätt’ mögen. Weit fort hab’ ich gehen müssen, bis ich den ersten Dienst g’funden hab’. Aber keine sechs Wochen hat’s dauert, da hat sich schon mein Schatten g’rührt. Und so hat er mich ’trieben von Platz und Platz – von ei’m Dorf ins ander’. Vier Jahr’ lang hab’ ich’s ausg’halten – nachher hab’ ich mir ’denkt: probierst es in der Stadt; wo so viel Menschen sind, da drückt sich schon noch einer ’nein. Aber da hab’ ich gleich gar kein’ Platz net g’funden. Zeugniss’ haben s’ überall verlangt bis auf mein’ Schulzeit z’ruck – und da haben sie s’ halt g’mangelt – die g’wissen Jahr’! Jetzt aber is mir’s z’ viel ’worden – und ich hab’ schon g’sagt zu mir: a Lump werden magst net, ehrlich lassen s’ Dich nicht leben, so mach’ halt aus und gar mit Dir! Und wie ich mit dem Gedanken um einander renn’ zwischen die Häuser, da hat mir’s der liebe Herrgott ’geben, daß mein Kamerad an mich hinlauft – der einzige Mensch, der mir Freundschaft g’halten hat! Mein Gott, der hat sich weiters auch net g’altert g’habt! Is auch Einer g’wesen, den ’s Glück am Zug g’habt hat, und der in der Heimath kein’ Ruhstatt hat finden können. So hat er’s jetzt überm Wasser drüben probiren wollen – in der andern Welt. Götz hat er g’heißen – Gotthard Sauer –“

„Gotthard Sauer! So heißt ja Du!“ unterbrach ihn Kuni mit schrillenden Worten.

„Ja – seit dem selbigen Tag. Denn wie ich ihm mein Elend so vorg’jammert hab’, da hat er z’erst g’meint, ich sollt’ mit ihm. Aber an einzig’s Hemd am Leib und a paar Gulden noch im Sack – da reist Einer schwer. Und da hat er mich bei der Hand g’nommen – und da hat er g’meint, überm Wasser drüben thät’ kein Mensch mein’ Nam’ net kennen, keiner thät’ wissen, was für a Schand’ drauf liegt – da drüben wär’ ein Nam’ wie der ander’. Und so hat er mir an’boten, daß ich als Gotthard Sauer bleiben sollt’ – und weit davon sollt’ ich gehen, hat er g’meint, ’leicht wo ’nauf ins Oberland oder ins Fränkische ’nein – und er nachher, er thät’ als Lechner-Xaver fortgehn übers Wasser. Und so lang hat er mir zug’redt, bis ich Ja g’sagt hab’. Was thut man net fürs Leben! Sein Taufschein hat er mir ’geben, sein Zeugniss’ alle, sein’ Paß vom achten Regiment –“

„Jesus Maria – ja was is denn!“ kreischte mit einem Male der Pointner und streckte die Arme gegen Kuni, welche mit kreideblassem Gesichte, mit geschlossenen Augen und klaffendem Munde stand, taumelnd mit den Händen nach einer Stütze griff und lautlos in die Kniee brach, noch ehe der Bauer sie erreichte.

Karli, Zenz und Stoffel eilten auf die Ohnmächtige zu, und während der Pointner sich an ihrer Seite auf die Kniee warf, schalt er in rathlosem Zorn zu Götz empor: „Da schau – das hat man jetzt davon – von Deine grausigen G’schichten – daß Ei’m d’ Haar’ aufstehn möchten!“

Regungslos, mit erschrockenen Augen starrte Götz auf die Gruppe zu seinen Füßen.

„Sie schnauft schon wieder – da – ich g’spür’s!“ schrie Zenz. „A Wasser schafft’s her – a Wasser!“

Der Pointner schoß in die Höhe, und während er, um den Wasserkrug vom Tisch zu holen, an Götz vorüberrannte, fuhr er ihn an: „Was stehst denn noch da? Damit s’ gleich wieder den Schrecken hat, wann s’ d’ Augen aufmacht?“

Da bückte sich Götz, hob mit zitternder Hand die zerbrochene Pfeife von den Dielen, streifte noch mit einem scheuen, verlorenen Blick das bleiche Gesicht der Ohnmächtigen und verließ die Stube.

Ein heftiger Windstoß prallte ihm entgegen, als er die Hausthür öffnete. Mit Pfeifen und Rauschen umfuhr es die Mauern. Eine Weile zögerte er; dann fuhr er sich mit der Faust über die Augen und schritt hinaus in die stürmische Nacht.


(Fortsetzung folgt.)




[819]

Blätter und Blüthen.

Geschenklitteratur für Weihnachten. Wir beginnen unsere Uebersicht mit den Prachtalbums, welche unserem deutschen Weihnachtstisch zur Zierde gereichen. Da liegt eine bei Theodor Stroefer in München erschienene Ausgabe von Goethe’s „Faust“, erster Theil, vor, die in 50 Kompositionen von Alexander Liezen Mayer illustrirt, mit Ornamenten von Rudolf Seitz ausgestattet ist. Die größeren und kleineren Illustrationen sind alle ausdrucksvoll: die Köpfe von Faust und Mephistopheles haben etwas Bedeutsames, ein scharfes vielsagendes, geistiges Gepräge. Sehr lebendig sind die größeren Gruppenbilder, der Spaziergang und besonders die Scenen in Auerbach’s Keller, in denen das wüst Bestialische einen genialen Ausdruck findet. Reizend sind die Gretchenbilder: Gretchen, welche das Blumenräthsel befrägt, Gretchen am Brunnen; überall spiegelt sich Anmuth und Lieblichkeit und stilles Glück in den Zügen des holdseligen Mädchens. Und als der Sturm die Blume geknickt hat: da gewinnen die Bilder ein anderes Gepräge, den Zug leidenschaftlicher Innerlichkeit und Zerrissenheit. Das Bild „Gretchen vor der Mater dolorosa“ bringen wir in dieser Nummer (S. 817); für die ausdrucksvolle Kunst des Zeichners giebt uns diese in innerer Zerknirschung sich verzehrende Magdalena den besten Beweis.

Auch das Werk eines neuen Dichters erscheint in einer Prachtausgabe: „Der wilde Jäger“, eine Waidmannsmär von Julius Wolff. Die G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung in Berlin hat die Dichtung mit zahlreichen Voll- und Halbbildern ausgestattet. Aehnlich wie beim Goethe’schen „Faust“ ist das dämonische Element in der Wolff’schen Dichtung stark vertreten, und so fehlt es nicht an Bildern von düsterer, gespenstischer Beleuchtung: dazwischen sind freilich auch heitere Genrebilder eingestreut und anmuthige Mädchengestalten. Das Grundmotiv, die wilde Jagd, kehrt in wechselnden Varianten wieder. Zu den anmuthigsten Gestalten der Dichtung gehört die Blumenpflückerin und Blumenspenderin Waldtraut, und die Verse, in denen ihre Waldwanderung unter den Blumen geschildert wird, das Lied, in welchem sie den Wegwart in ansprechender sinnbildlicher Beleuchtung verherrlicht, gehören zu den lyrischen Perlen der Dichtung. Als Probe der ansprechenden Illustrationen von Woldemar Friedrich bringen wir (S. 820) das Bild, das uns Wulfhild an Albrecht’s Leiche darstellt, nach der Erstürmung der Burg durch die Bauern.

Eine bisher noch nicht veröffentlichte Dichtung von Friedrich BodenstedtSakuntala“ erscheint zum ersten Male in einer Prachtausgabe, zu welcher Alexander Zick die Illustrationen geliefert hat (Leipzig, Adolf Titze). Welchen bedeutenden Eindruck das indische Drama „Sakuntala“ auf unsere großen Dichter gemacht hat, dafür liegen Zeugnisse genug vor und es hat neuerdings nicht an Bemühungen gefehlt, dasselbe auf die deutsche Bühne zu bringen, Bemühungen, die zum Theil von Erfolg gekrönt waren. Bodenstedt hat das Drama in eine poetische Erzählung aufgelöst: der originelle Reiz dieser indischen Dichtung, die gleichsam aus einem Lotosblumenkelch herausgewachsen erscheint, tritt uns in Text und Bild der neuen Dichtung lebhaft entgegen. Außer den idyllischen Bildern der Siedelei, den Begegnungen zwischen Sakuntala und dem König finden sich auch Gruppenbilder, welche das indische Leben in seiner Eigenart illustriren.

Ein Lieblingsbuch der Lesewelt: „Paul und Virginie“ von Bernardin de Saint-Pierre erscheint mit Illustrationen von M. Leloir und einer Einleitung von Professor Lotheissen in C. F. Amelang’s Verlag in Leipzig. Das Titelbild zeigt uns den Dichter dieser Robinsonade, die seit so langer Zeit das Lesepublikum aller Nationen erfreut hat. Die Vollbilder stellen meistens die eigentlichen Begebenheiten des Seeromans dar: einige tragen exotische Färbung zur Schau. Die Holzschnitte des Textes bieten mannigfache kleinere Scenen und Landschaftsbilder und schlingen einen Kranz fremdländischer Früchte und Blüthen durch das Ganze.

Rokoko“ betitelt sich eine Sammlung von Gedichten von Ludwig Ganghofer, die in einer Prachtausgabe erscheint, zu welcher Karl Schweninger 50 photographische Reproduktionen nach Gemälden geliefert hat (Wien und Leipzig, Franz Bondy). Die Gedichte sind stilvoll, fließend, schildern bisweilen in krausen Arabesken das Leben der Rokokozeit, die uns noch lebendiger in ihrem ganzen schnörkelhaften Schmuck, mit ihren Masken-, Schäfer- und Liebesscenen in stimmungsvollen Bildern entgegentritt. Wir erinnern uns bei den Ganghofer’schen Gedichten an diejenigen von Sallet und Gaudy, welche diese Rokokozeit so treffend charakterisirten. Ganghofer schließt sich ihnen mit diesen Gedichten würdig an.

Eine Auswahl aus den Werken deutscher religiöser Dichtung hat der Hofprediger Bernhard Rogge unter dem Titel „Allzeit im Herrn“ (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn) herausgegeben. Einer der hervorragendsten religiösen Dichter, Karl Gerok, hat das einleitende Gedicht dazu geschrieben. Zahlreiche Holzschnitte nach Zeichnungen bewährter Künstler illustriren die Prachtausgabe: es finden sich darunter auch stimmungsvolle Landschaftsbilder und einige ansprechende Genrebilder neben denjenigen von mehr religiöser Färbung, wie denn überhaupt der Sammlung nachgerühmt werden muß, daß sie keine einseitig kirchliche Blumenlese bietet, sondern auch der weltlichen Dichtung, so weit sie religiöse Gefühle zum Ausdruck bringt, das Wort vergönnt. So finden sich neben Gerok, Spitta, Julius Sturm, Krummacher auch Geibel, Rückert, Chamisso, Uhland, Wildenbruch und selbst Heinrich Heine vertreten.

Eins der vornehmsten Prachtwerke ist das in Stuttgart im Verlage von J. Engelhorn erschienene: „Die Kunstschätze Italiens“, mit einem lebensvoll charakterisirenden Text von Karl von Lützow und ausgezeichneten Radirungen, welche den koloristischen Zauber der Originale wiederzugeben bestrebt sind. Die zahlreichen Holzschnitte führen Gemälde, Skulpturen, Bronzen u. A. vor. Die Namen der Radirer sichern dem Werke eine hervorragende künstlerische Bedeutung.

Die „Dresdener Künstlermappe“ (Dresden, Adolf Gutbier) bringt 24 Lichtdrucke nach Originalen Dresdener Künstler: es sind unter ihnen Hermann Vogel, Eduard Hübner, Eduard Leonhardi, Julius Scholtz, Albert Richter, Friedrich Preller u. A. vertreten. Die Bilder sind Aquarellstudien, Tusch- und Bleistiftzeichnungen, Kohlenkartons und enthalten ansprechende Genrebilder, stimmungsvolle Landschaftsbilder, allegorische Figuren in buntem Wechsel.

Für Freunde oberbayerischer Mundart wird die Gedichtsammlung „Der Juhschroa“ von Konrad Dreher (München, Friedrich Bassermann) um so mehr Interesse erwecken, als die 25 Illustrationen Münchener Künstler eine Reihe frisch aus dem Volksleben gegriffener meist heiterer Scenen uns vorführen.

Musikliebhabern wird das Prachtwerk „Deutsche Tondichter“ (München, 1887, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft) willkommen sein. Dasselbe enthält zwölf Phototypen nach Originalgemälden von Karl Jäger, mit biographischem Text von Dr. E. Hanslick, dem vorzüglichen Wiener Musikschriftsteller. Die Bilder sind ausdrucksvoll, ohne daß die Portraits eine ideale Auffassung verleugnen.

In eleganter Ausstattung ist eine Sammlung von Gedichten zur Förderung deutscher Gesinnung unter dem Titel „Von deutscher Art“ von Anton Ohorn herausgegeben worden (Renger’sche Buchhandlung, Gebhardt und Wilisch in Leipzig). Sie enthält Gedichte von Arndt, Dahn, Geibel, Hamerling, Theodor Körner und Anderen mit kurzen biographischen Notizen über die Dichter und kann als ein Repertorium des deutschen lyrischen Patriotismus bezeichnet werden.

Die Leser der „Gartenlaube“ mögen indeß bei der Christbescherung ihre Lieblinge nicht vergessen, die seit langer Zeit ihnen Unterhaltung und geistigen Genuß gewähren.

Da erscheint eine Reihe von Festgeschenken im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Es bedarf nur eines Hinweises auf die von Paul Thumann illustrirte Prachtausgabe der „Goldelse“ von E. Marlitt, jener Erzählung, durch welche die Schriftstellerin ihren weitreichenden Ruf begründet hat. Als Novität wird der Roman „Herzenskrisen“ von W. Heimburg angekündigt, der den Lesern unserer „Gartenlaube“ ja wohlbekannt ist und sich allgemeinen Beifalls zu erfreuen hatte. Von E. Werner erscheint die Novelle „Heimathklang“; die beliebte Verfasserin hat auf dem Gebiete der Novelle wie auf dem des Romans ja Hervorragendes geleistet. Der Roman von B. Renz „Nach dem Sturme“ enthält eine anziehende Schilderung der Hamburger Kaufmannswelt.

Aus dem Werk von Johannes Scherr „Bildersaal der Weltlitteratur“, bekanntlich einer Anthologie im großen Stil, ist von der Verlagsbuchhandlung der Gebrüder Kröner in Stuttgart ein Separatabdruck, „Bildersaal der deutschen Litteratur“, veranstaltet worden, welcher den vielseitigen Wünschen gerecht wird, die deutsche Litteratur möchte als ein selbständiger, für sich käuflicher Band ausgegeben werden. Dieser Wunsch ist um so berechtigter, als es sich hier nur um Originalgedichte handelt, während die übrigen Abschnitte Uebersetzungen, allerdings in gediegenster Fassung und trefflicher Auswahl, bieten.

In demselben Verlage erschienen in neuer billiger Ausgabe die „Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee“, geschildert von Edmund Hoefer im Verein mit namhaften Reiseschriftstellern und Autoren, die in jener Gegend heimisch sind. Mit den Illustrationen von Gustav Schönleber u. A. ausgestattet, wird dies Werk sich allen Freunden des Naturlebens, der landschaftlichen Reize der Ufergegend und der See- und Marinebilder empfehlen. †      

Vor dem Nikolaustag. (Mit Illustration S. 805.) Eine Erinnerung aus seinen Kinderjahren giebt uns Mathias Schmid in der Vignette, welche das sogenannte Kerbholzschneiden darstellt. In Paznaun beschert nicht das Christkind an Weihnachten den guten Kindern, sondern St. Nikolaus. Daß man aber ein gutes Kind ist, beweist man dadurch, daß man recht fleißig betet, und je mehr das Kind gebetet hat, desto reichlicher wird es von St. Nikolaus beschenkt. Es entwickelt sich daher einige Wochen vor dem Nikolaustag (6. December) unter den Kindern ein außerordentlicher Gebetseifer, und so oft ein bestimmtes Gebet vollendet ist, wird dies von dem Kinde für St. Nikolaus durch einen Einschnitt in ein Holzstäbchen (Kerbholz) kenntlich gemacht. Am Vorabend werden diese Stäbchen an einen bestimmten Ort gelegt, damit St. Nikolaus, wenn er kommt, sich überzeugen kann, ob und wie viel er bescheren soll. In banger Erwartung stürzt dann am Morgen die Kinderschar an die Stelle und fällt über die Aepfel und Nüsse, das Backwerk und die Spielsachen her. Niemand ehrt St. Nikolaus höher, als die überglücklichen Kinder.

Tafelmusik. (Mit Illustration Seite 809.) Edmund Herger’s Familienbild stellt uns eine der seltsamsten Mutterfreuden vor. Nur Freude ist’s, die aus dem Antlitz der jungen Mutter und eben so verständlich und verständig aus dem der Großmutter spricht, während die Geschwister über die Wehlaute des Brüderchens noch zweifelhaft sind, die Männer aber offenbar dieser Tafelmusik weniger Geschmack abgewinnen können. Wir haben hier eine der weisesten Einrichtungen der Natur zu bewundern. So lange das Kind nicht sprechen kann, ist es das scharfe Auge und das feine Ohr der Mutter, womit sie aus der Art der Bewegungen der Glieder und der Art der Schreilaute das Bedürfniß des Kindes erkennt. Sie weiß sofort, ob ihr Kindchen aus wirklichem Leiden schreit und wo sie den Sitz oder die Ursache der Schmerzempfindung zu suchen hat. In dem vorliegenden Fall ist’s unzweifelhaft, daß ein kerngesunder Hunger das kleine, stramme Bürschchen auf dem Schoße der Mutter zum Schreien zwingt, weil trotz des Fütterns das Schmerzgefühl des Hungers es noch quält und weil ihm eben deßhalb das Füttern nicht geschwind genug geht. Die etwa auftauchende Vermuthung, daß [820] der Kleine in den Mund greift, weil der Brei zu heiß gewesen, müssen wir zurückweisen; denn in einem solchen Fall würde keine Mutter so zufrieden lächeln und noch weniger eine Großmutter so ruhig und stillvergnügt dreinschauen. Daß die Männer vielleicht anderer Ansicht sind und namentlich der Alte innerlich, und vielleicht auch äußerlich, brummt über das ewige Uah! Uah!, das er freilich wohl schon oft gehört haben mag, darf uns weniger Wunder nehmen, denn die Männer verstehen nichts von der Sprache, welche in dem Kleinkindergeschrei liegt.

Wildermuth’s Jugendgarten. Wenige Bücher führen auf dem Titel die Bezeichnung „Eine Festgabe für die Jugend“ mit solchem Rechte, wie der von der unvergeßlichen Ottilie Wildermuth begründete und von ihren Töchtern Agnes Willms und Adelheid Wildermuth fortgesetzte „Jugendgarten“ (Stuttgart, Gebrüder Kröner). Schon bei flüchtigem Durchblättern überzeugt man sich von der Reichhaltigkeit und planmäßigen Anlage dieses Jahrbuches, und wenn man sich in die einzelnen Beiträge hineinliest, findet man bald unwiderleglich heraus, daß nur die gediegensten Arbeiten Aufnahme gefunden haben. So war es schon seit vielen Jahren, und nur der unermüdlichen Sorgfalt, welche die Herausgeberinnen auf den „Jugendgarten“ verwendeten, ist es zuzuschreiben, daß derselbe zu einem der meistbegehrten und werthvollsten Geschenkwerke wurde. Auch in diesem Jahre wird der treffliche Freund unserer Jugend in zahlreichen Familien sehnsüchtig erwartet werden, und wir freuen uns, im Voraus die Versicherung geben zu können, daß er auch diesmal wieder alle auf ihn gesetzten Erwartungen voll befriedigen wird. Der Inhalt des vorliegenden 12. Bandes ist ein überaus reichhaltiger; die besten Schriftsteller und Künstler haben sich zusammengethan, um mit vereinten Kräften möglichst Vollendetes zu leisten. Adelheid Wildermuth, Hermann Hirschfeld, Ottilie Schwahn, A. Kleinschmidt, Richard Roth, R. Niedergesäß, Johann v. Wildenradt, K. Neumann-Strela u. A. erfreuen mit Erzählungen und Schilderungen der mannigfachsten Art; Agnes Willms auch mit einem dreiaktigen, leicht aufführbaren Schauspiel „Das braune Lenchen“. Außer den Textbildern finden wir nicht weniger als acht farbige und 12 Tondruckbilder, einen gewiß ungewöhnlich reichhaltigen Bilderschmuck, der noch um so schätzenswerther ist, als jedes einzelne Bild leicht erkennen läßt, mit welcher großen Sorgfalt und künstlerischen Meisterschaft es ausgeführt wurde.

Wir empfehlen den „Jugendgarten“ allen seinen alten Freunden aufs Neue und wünschen seine Bekanntschaft auch denen, welchen er bisher noch nicht beschert wurde. **     


Wulfhild an Albrecht’s Leiche.
Aus dem Prachtwerke: „Der wilde Jäger“ von Julius Wolff. Originalzeichnung von Woldemar Friedrich.

Das Asyl für Obdachlose in Berlin. (Mit Illustration S. 813.) Es ist Winterszeit. Ueber der großen Stadt liegt bereits der Schleier des Abends. Auch ist’s eisig kalt, und ein schneidender Schneewind läßt selbst die Passanten in den Pelzmänteln eiliger fortschreiten, um ein gewärmtes Zimmer zu erreichen.

Aus den Fabriken kommen die Arbeiter; Gewerbtreibende und geschäftsthätige Männer, Frauen und Kinder eilen vorüber. Lastfuhrwerke, welche die Abendzüge erreichen sollen, knarren mit ihren hochbepackten Ladungen, Kisten und Ballen, dahin und sperren die Straßen, und nur mühsam winden sich die Droschken erster und zweiter Klasse, die Equipagen und die Handwagen durch den Wirrwarr des Verkehrs.

Alles strebt nach einem bestimmten Ziel: der Ablösung von den Lasten des Tages; Ruhe, Speise und Trank winkt endlich Allen!

Und doch nicht Allen! Tausende in der großen Stadt wissen nicht, wohin sie sich für die Nacht wenden sollen. Sie haben kein Brot und keine Schlafstelle und der mitleidlose Himmel sendet Kälte und Nässe herab und läßt Alles noch schwerer, hoffnungsloser empfinden.

Vor der Büschingstraße 4, vor dem hohen Eingangsportal des Männerasyls stehen an die Hunderte, drängen und stoßen und schieben sich, um in die vordersten Reihen zu gelangen; denn um 6 Uhr wird geöffnet und nur 300 werden eingelassen! Die Uebrigen bleiben zurück. Wohin diese sich dann wenden sollen, sie wissen es nicht! Ein dunkles Hausportal, der Thiergarten selbst in Winterkälte, ein verrufenes Lokal, wo für einen Groschen – den letzten – wenigstens der hungerige, ermüdete Körper Ruhe findet!

Und der nächste Tag? Gering bezahlte Arbeit, Mitleid für den Bettler – oft Geduld und Entsagung müssen über diesen forthelfen. Und dann kommt wieder der Abend, die Kälte, der Hunger – das bittere Elend! Dieser kurze Hinweis auf die Noth so Vieler, bei Weitem nicht immer Unwürdiger, vergegenwärtigt die segensreiche Einrichtung des Asyls der Obdachlosen. Nachdem von Seiten des Hausvaters eine Musterung und dann eine Reinigung der zugelassenen Asylisten stattgefunden hat, eine Reinigung, welche sich auch auf ein warmes Bad ausdehnen kann, wird eine heiße Milchsuppe mit Brot verabreicht und die Aufgenommenen, je nach ihrem Alter, in den drei großen, hellen und erwärmten Schlafsälen in guten Betten untergebracht. Hier ist auch noch Trinkwasser und Material zum Ausbessern der Kleider und Stiefel vorhanden, welche erstere während des Bades desinficirt werden. Am nächsten Morgen erhält der Asylist heißen Kaffee und eine Berliner Schrippe. – So mag er denn neugestärkt den Daseinskampf wieder beginnen!

Und nun noch ein Schlußwort aus der Statistik des letzten Jahresberichts: während dreizehn Jahren haben 185 800 hier Unterkommen gefunden!

Die Namen der Männer, welche den Gedanken zu diesem Asyl faßten, die ihre Zeit und Aufmerksamkeit diesem humanen und segensreichen Werke widmeten und auch ferner widmen, verdienen, auf goldenen Tafeln eingeschrieben zu werden, und ein im besten Sinne christliches Werk ist es, diesem Asyl für die Nothdürftigen und Elenden ein jährliches Scherflein zuzuwenden, das auch im kleinsten Betrage von dem Vorstande des Berliner Asylvereins für Obdachlose entgegengenommen wird und bei 3 Mark jährlich zur Mitgliedschaft berechtigt. Hermann Heiberg.     


Kleiner Briefkasten.

B. K. in Z. Der im Laufe dieses Jahres von uns veröffentlichte Roman „Götzendienst“ von Alexander Baron v. Roberts ist unter dem Titel „Um den Namen“ als Buch im Verlage von Heinrich Minden in Dresden erschienen.

J. H. in K. Nr. 72. Verf. von „Ein Held der Feder“ und „Am Altar“ ist E. Werner.


Inhalt: Die Geheimräthin. Novelle von Hieronymus Lorm (Fortsetzung). S. 805. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. XII. S. 810. – Ein Hochverrathsproceß in Kanada. S. 812. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 814. – Gretchen. Illustration aus dem Prachtwerk: Goethe’s ,,Faust“. S. 817. – Blätter und Blüthen: Geschenklitteratur für Weihnachten. S. 819. – Vor dem Nikolaustag. S. 819. Mit Illustration S. 805. – Tafelmusik. S. 819. Mit Illustration S. 809. – Wildermuth’s Jugendgarten. S. 820. – Wulfhild an Albrecht’s Leiche. Illustration aus dem Prachtwerk: „Der wilde Jäger“. S. 820. – Das Asyl für Obdachlose. Von Hermann Heiberg. S. 820. Mit Illustration S. 813. – Kleiner Briefkasten. S. 820.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.