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Die Gartenlaube (1888)/Heft 39

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[649]
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Waltenberg stand in großer Erregung vor Erna. „Nein, mein Fräulein, diesmal dulde ich nicht wieder Ihr Entweichen!“ rief er. „Sie haben mich nur zu oft damit gestraft, wenn ich endlich das ansprechen wollte, was ich schon mondenlang auf den Lippen trage. Bleiben Sie – ich will und muß endlich Gewißheit haben!“

Erna mochte wohl fühlen, daß sie diesmal Stand halten müsse, denn sie machte keinen Versuch mehr, auszuweichen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes verrieth, daß sie diese Erklärung fürchtete, und kein Wort, kein Blick ermuthigte den Mann, der jetzt in steigender Bewegung fortfuhr:

„Ich hätte sie mir längst holen müssen, diese Gewißheit, aber ich bin feig gewesen, zum ersten Male in meinem Leben. Sie ahnen nicht, Erna, was Sie mir angethan haben mit dieser stummen Abwehr, mit diesem ewigen Ausweichen! Wenn ich


Das Rupfen der Schwäne in Schildhorn. Originalzeichnung von E. Thiel.

[650] eine Antwort erzwingen wollte, dann las ich in Ihren Augen immer und immer wieder ein Nein und das – hätte ich nicht ertragen können.“

„Herr Waltenberg, hören Sie mich an!“ sagte das junge Mädchen leise.

Herr Waltenberg!“ wiederholte er bitter. „Haben Sie keinen andern Namen für mich, bin ich Ihnen so fremd geblieben, daß Sie mich nicht wenigstens ein einziges Mal Ernst nennen können? Es ist Ihnen ja längst kein Geheimniß mehr, daß ich Sie liebe, mit aller Gluth der Leidenschaft, daß ich um Sie werbe, wie um das höchste aller Güter. Es gab eine Zeit, wo mir die schrankenlose Freiheit dies Höchste war, wo ich zurückschreckte vor dem Gedanken an irgend ein Band, das mich fesseln könnte; jetzt ist das alles versunken und vergessen. Was ist mir die weite Welt, was die Freiheit ohne Sie! Ich will ja nichts mehr auf Erden, als nur Sie allein!“

Er hatte stürmisch ihre Hand ergriffen, die ihm nicht entzogen wurde, aber diese Hand lag kalt und regungslos in der seinigen und jetzt hob Erna langsam das Auge zu ihm empor, es war ein tiefernster und tieftrauriger Blick.

„Ich weiß es, daß Sie mich lieben, Ernst,“ entgegnete sie gepreßt, „und ich zweifle nicht an der Tiefe und Wahrheit Ihrer Empfindungen, aber ich kann Ihnen keine Gegenliebe bieten.“

Er ließ jäh und heftig ihre Hand sacken und trat zurück.

„Warum nicht?“ fragte er herb.

„Eine seltsame Frage! Läßt sich die Liebe erzwingen?“

„O ja! Die glühende, schrankenlose Leidenschaft eines Mannes erzwingt sich immer Gegenliebe – wenn ihm kein anderer im Wege steht.“

Erna bebte leise zusammen und eine dunkle Röthe stieg langsam in ihrem Antlitz auf, aber sie schwieg. Waltenberg, der mit athemloser Spannung in ihren Zügen forschte, entging das nicht, sein dunkles Antlitz wurde plötzlich fahl, und seine Stimme gewann einen beinahe drohenden Klang.

„Erna, warum sind Sie mir ausgewichen bis zu dieser Stunde? Warum weigern sie mir die Gegenliebe? Geben Sie mir Wahrheit, um jeden Preis – lieben Sie einen anderen?“

Es trat eine kurze Pause ein, Erna schien die Antwort verweigern zu wollen, es war auch eine harte Zumutung für das stolze Mädchen, vor fremden Ohren das auszusprechen, was sie sich selbst nicht eingestand, aber ein Blick in das furchtbar erregte Gesicht Ernsts brachte sie zum Entschluß.

„Ich will Sie in dieser Stunde nicht täuschen,“ sagte sie fest. „Ich habe geliebt – es war ein Traum, dem ein herbes, bitteres Erwachen folgte.“

„So war der Mann Ihrer nicht würdig?“

„Er war keiner reinen und großen Liebe fähig, das mußte ich erfahren und da riß auch ich diese Liebe aus meinem Herzen. Fragen Sie nicht weiter, ich bitte Sie, es ist zu Ende und – begraben!“

„Ah, er ist also todt?“

Es lag ein fast wilder Triumph in der Frage und noch wilder war der Blick, der dabei aufsprühte, er drohte selbst dem vermeinten Todten noch mit glühendem Hasse. Erna sah das und plötzlich überfluthete sie eine heiße Angst. Sie suchte instinktmäßig die Gefahr abzuwehren, die so nahe war, und ehe sie sich der Lüge noch bewußt geworden war, hatte sie schon bejahend das Haupt gesenkt und damit den Irrthum besiegelt.

Ernst athmete tief auf und langsam kehrte die Farbe in seine Wangen zurück.

„Nun denn, mit einem Todten will ich den Kampf aufnehmen! Die Erinnerung an einen Schatten fürchte ich nicht, sie soll und muß weichen in meinen Armen – Erna, werden Sie mein!“

Sie wich bestürzt, erschrocken zurück bei der glühenden Bitte.

„Sie bestehen noch darauf? Und ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Ihnen keine Liebe zu geben vermag; ich glaubte, Ihr Stolz würde an solches Geständniß nicht ertragen.“

„Mein Stolz – wohin ist der gekommen!“ brach er stürmisch aus. „Glauben Sie denn, ich hätte es vermocht, monatelang geduldig um Sie zu werben, ohne daß mir auch nur ein Wort der Ermuthigung zu theil wurde, wenn ich noch der frühere Ernst wäre, der da glaubte, vom Schicksal nur fordern zu dürfen? – Jetzt habe ich bitten gelernt! Mit Ihnen nahte mir das Verhängniß, das jeden einmal erreicht, es bannt mich an Sie mit unwiderstehlicher Gewalt. Erna, ich will mein Wanderleben aufgeben, wenn Du es forderst, und wenn Du in jenen Sonnenländern, die ich Dir so gern zeigen möchte, Heimweh fühlst, so will ich mit Dir zurückkehren in den kalten düsteren Norden, will die Enge und die Fesseln dieses Lebens auf mich nehmen, um Deinetwillen. Du weißt nicht, was Du schon aus mir gemacht hast, was Du noch aus mir machen kannst, aber sei nicht so kalt, so empfindungslos wie Deine Alpenfee da droben auf dem Eisthron. Ich muß Dich erringen und Dich besitzen und sollte ich sterben in dem Kusse, wie Eure Sagen drohen!“

Das war die vollste Sprache der Leidenschaft, die im Sturme alles mit sich fortriß; sie klingt ja immer berauschend für das Ohr einer Frau und hier legte sie sich überdies wie heilender Balsam auf eine Wunde, die noch immer blutete. Es war eine so herbe Demüthigung gewesen, verleugnet und aufgegeben zu werden, nicht um einer anderen willen – Erna wußte nur zu gut, daß diese andere dem Manne nichts war, der nur seinen Ehrgeiz, seine Zukunft im Auge hatte – aber er hatte sie doch diesem Ehrgeiz geopfert. Hier wurde sie geliebt, vergöttert, hier fluthete ihr eine Leidenschaft entgegen, die keine Berechnung und keine Schranken kannte. Hier wollte man nichts als nur sie allein. Ihr Stolz triumphirte und jetzt stürmten auch das Mitleid, das Bewußtsein, ein Glück gewähren zu können, auf sie ein. Alles, alles drängte sie zu dem erflehten Ja und doch hielt ein unsichtbares Etwas sie zurück, doch tauchte gerade in diesem Augenblick der Entscheidung ein anderes Antlitz vor ihr auf, das so todtenbleich erschien in dem weißen Mondlichte, und eine bebende Stimme fragte: Hätten Sie den Mann lieben können, der so emporsteigt?

„Erna, ich harre auf Antwort!“ mahnte Waltenberg in fieberhafter Ungeduld. „Spanne mich nicht länger auf die Folter! Willst Du mich denn auf den Knieen vor Dir sehen?“

Er stürzte wirklich vor ihr nieder und preßte seine Lippen auf ihre Hand, ihr Blick irrte wie hilfesuchend umher. Da auf einmal zuckte sie zusammen und flüsterte hastig und leise:

„Um Gotteswillen, Ernst, stehen Sie auf! Wir sind nicht allein!“

Er sprang rasch empor und folgte der Richtung ihrer Augen, in einiger Entfernung stand der Präsident mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn, die soeben zwischen den Bäumen hervorgetreten waren.

Sie hatten alle die Scene mit angesehen; aber Nordheim bemerkte recht gut, daß die Entscheidung noch nicht gefallen war und daß seine starrsinnige Nichte ihm noch im letzten Augenblick seinen Plan durchkreuzen konnte. Er beeilte sich deshalb, eine unwiderrufliche Thatsache zu schaffen und kam mit raschen Schritten näher.

„Wir bitten tausendmal um Entschuldigung!“ rief er lachend. „Es war durchaus nicht unsere Absicht, zu stören, aber da es nun einmal geschehen ist, so gratulire ich Dir von Herzen, mein Kind, und Ihnen auch, lieber Waltenberg! Ueberraschend kommt uns die Sache allerdings nicht, wir wußten ja längst, wie es mit Euch beiden stand, und ich merkte schon vorhin bei meiner Ankunft, daß eine Verlobung in der Luft lag. Nun, Alice, Wolfgang, wollt Ihr dem Brautpaare nicht auch gratuliren?“

Damit umarmte er seine Nichte väterlich, schüttelte Waltenberg die Hand und überstürzte die beiden so mit seiner Anerkennung und seinen Glückwünschen, daß ein Zurückwachen Ernas gar nicht möglich war. Sie ließ alles halb willenlos über sich ergehen, ließ es geschehen, daß auch Alice sie umarmte, daß Ernst sie als Braut in die Arme schloß, sie kam erst wieder zur Besinnung, als Wolfgang sich ihr nahte.

„Ich spreche Ihnen gleichfalls meinen Glückwunsch aus, gnädiges Fräulein!“ sagte er. Seine Stimme war ruhig, wenn auch völlig tonlos, und auch das starre, unbewegliche Antlitz verrieth nichts von dem Sturme, der in seinem Innern tobte. Aber sein Auge begegnete dem ihrigen nur einen Moment lang und dieser Blick sagte ihr, daß sie gerächt sei an dem Manne, der seine Liebe dem Ehrgeiz und dem Golde geopfert hatte. Jetzt, wo er sie in den Armen eines anderen sah, fühlte er doch, wie erbärmlich die Rechnung gewesen war, fühlte, daß er das Glück seines Lebens verkauft hatte.



[651] „Wie ich Dir sage, Wolf, ich weiß nicht, was ich von der Sache denken soll. Ich habe mich weder um die Stellung bemüht, noch überhaupt davon gewußt, und jetzt wird sie mir angeboten, mir, der ich hier an der andern Grenze des Reiches in dem abgelegenen Oberstein sitze – da lies selbst!“

Mit diesen Worten reichte Benno Reinsfeld seinem Freunde ein Schreiben hin, das gestern eingetroffen war. Sie befanden sich in der Wohnung des Doktors, und Elmhorst schien gleichfalls überrascht zu sein, denn er las den Brief aufmerksam durch.

„In der That sehr günstige Bedingungen!“ sagte er. „Neuenfeld ist eines unserer größten Eisenwerke, ich kenne es wenigstens dem Namen nach; die Bevölkerung bildet eine ganze Kolonie für sich und Du kannst dort bei den zahlreichen Beamten auf die angenehmsten Beziehungen rechnen; überdies ist die Provinzialhauptstadt in unmittelbarer Nähe und das Gehalt beträgt fünf- bis sechsmal soviel wie Dein bisheriges Einkommen. Du mußt annehmen, das versteht sich von selbst, Du hast ja schon einmal einen Glücksfall von der Hand gewiesen.“

„Aber damals bemühte ich mich eingehend um den Posten,“ wandte Benno ein. „Ich sandte eine meiner wissenschaftlichen Arbeiten, die mir denn auch den Vorzug sicherte; trotzdem ließ man mich fallen, als ich den Termin nicht einhalten konnte. In Neuenfeld habe ich ober gar keine Beziehungen, kenne überhaupt keinen Menschen, und bei solchen Bedingungen würden sich die Bewerber dutzendweise melden. Woher weiß das Direktorium denn überhaupt, daß in Oberstein ein Doktor Reinsfeld existirt?“

Wolfgang blickte nachdenkend vor sich hin und überflog noch einmal den Brief, den er in der Hand hielt.

„Ich glaube, ich kann Dir das Räthsel lösen,“ entgegnete er endlich. „Mein Schwiegervater hat die Hand dabei im Spiele.“

„Der Präsident? Unmöglich!“

„Im Gegenteil, sehr wahrscheinlich! Er ist mit bedeutenden Summen an den Werken betheiligt und hat den jetzigen Direktor in das Amt gebracht, sein Einfluß reicht ja überall hin.“

„Nun, dann wird er diesen Einfluß sicher nicht für mich geltend machen. Du warst ja Zeuge davon, wie eisig er mich empfing bei dem ersten und einzigen Male, wo ich die Ehre hatte, ihn zu sprechen.“

„Ich glaube auch nicht, daß es Wohlwollen ist, was ihn veranlaßt, in solcher Weise einzugreifen sondern – Benno, weißt Du wirklich gar nichts Näheres über jenen Bruch zwischen Deinem Vater und Nordheim? Erinnerst Du Dich nicht irgend einer Aeußerung, einer Andeutung wenigstens?“

Benno schien nachzusinnen, schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

„Nein, Wolf; als Kind achtet man ja nicht auf solche Dinge. Ich weiß nur, daß, wenn ich später einmal nach dem Onkel Nordheim fragte, mein Vater mir mit ganz ungewohnter Härte verbot, von ihm zu sprechen. Bald darauf starben meine Eltern, und in den harten Zeiten, die nun für mich begannen, hatte ich anderes zu thun, als alten Kindheitserinnerungen nachzuhängen – aber warum fragst Du?“

„Weil ich jetzt überzeugt bin, daß damals etwas sehr Ernstes vorgefallen ist, dessen Stachel sich nach zwanzig Jahren noch nicht abgestumpft hat. Ich habe deswegen die erste Differenz mit meinem Schwiegervater gehabt, der seinen Groll auch auf Dich, den ganz Unbetheiligten, überträgt.“

„Möglich; aber um so weniger wird er sich Mühe geben, mir eine vorteilhafte Stellung zu verschaffen.“

„Wenn es kein anderes Mittel giebt, Dich aus seiner Nähe zu entfernen, wird er das allerdings thun und ich fürchte, die Sache verhält sich in der That so. Er wollte ja nicht einmal Deine ärztlichen Besuche bei Alice dulden. Ich habe Dir nicht davon gesprochen, weil es Dich mit Recht verletzt hätte, und er gab auch scheinbar nach; in diesem Anerbieten aber von ganz fremder Seite, das Dich in einer voraussichtlich dauernden Stellung an einen Ort fesseln will, der von hier ebenso weit entfernt ist wie von der Hauptstadt, glaube ich entschieden seine Hand zu erkennen.“

„Das wäre ja eine förmliche Intrigue,“ warf Reinsfeld ungläubig ein. „Traust Du das dem Präsidenten wirklich zu?“

„Ja,“ sagte Elmhorst kalt. „Aber wie die Sache auch zusammenhängen mag, eine so vortheilhafte Stellung wird Dir nicht leicht zum zweiten Male angetragen, also besinne Dich nicht lange und sage zu.“

„Wenn sie mir aus solchen Beweggründen geboten wird?“

„Das ist vorläufig nur eine Vermuthung, und selbst wenn sie wahr sein sollte, so weiß man in Neuenfeld jedenfalls nichts von dem Zusammenhang, sondern giebt nur der Fürsprache eines einflußreichen Mannes nach. Vielleicht sieht er auch ein, wie ungerecht es ist, den alten Groll auf Dich auszudehnen, und will Dir, dessen Nähe ihm nun einmal peinlich ist, eine Art von Genugthuung damit geben.“

Wolfgang wußte sehr gut, daß die letzte Annahme ausgeschlossen war; das Gespräch mit dem Präsidenten hatte ihm gezeigt, daß von einem Akte der Gerechtigkeit oder Großmuth hier nicht die Rede sein konnte, aber er wollte seinem Freunde, dessen peinliches Zartgefühl er kannte, die Annahme jener Stellung ohne jedes Bedenken ermöglichen. Für Reinsfeld war es unter allen Umständen ein Glück, aus den beschränkten und armseligen Verhältnissen seiner jetzigen Praxis fortzukommen, gleichviel wer ihm dazu verhalf.

„Wir sprechen noch heute Abend darüber, wenn Du zu mir kommst,“ fuhr Elmhorst fort, indem er seinen Hut vom Tische nahm. „Jetzt muß ich fort, mein Wagen wartet draußen, ich fahre nach der unteren Bahnstrecke.“

„Wolf,“ sagte Benno mit einem besorgten, forschenden Blicke in das Gesicht seines Freundes. „Hast Du die Nacht geschlafen?“

„Nein, ich hatte zu arbeiten Das kommt bisweilen vor.“

„Bisweilen! Aber bei Dir ist es jetzt zur Regel geworden; ich glaube, Du schläfst gar nicht mehr?“

„Wenigstens nicht viel, aber das läßt sich nicht ändern. Die sämmtlichen Bauten müssen bis zum Eintritt des Winters vollendet sein. Da häuft sich natürlich die Arbeit, und ich habe als Chefingenieur für alles einzustehen.“

„Du überarbeitest Dich aber dabei in einer geradezu gefährlichen Weise. Ein anderer könnte das überhaupt nicht leisten, was Du leistest, und Du kannst es auf die Dauer auch nicht. Wie oft habe ich Dir schon vorgestellt –“

„Das alte Lied!“ unterbrach ihn Wolfgang ungeduldig. „Laß mich in Ruhe, Benno, es geht nicht anders.“

Der Doktor wußte leider aus Erfahrung, wie wenig seine Ermahnungen in diesem Punkte zu nützen pflegten, aber er schüttelte sorgenvoll den Kopf, als er seinen Gast hinausbegleitete. Er war ja auch unermüdlich thätig in seinem Berufe, aber er wußte freilich nichts von jener Fieberstimmung, die in der Arbeit nur Betäubung und Vergessenheit sucht, gleichviel um welchen Preis.

In dem Hausflur trafen sie mit Veit Gronau zusammen, der mit Waltenberg von Heilborn herübergekommen war und nun die Gelegenheit benutzte, um in Oberstein einen Besuch abzustatten. Die Herren begrüßten sich flüchtig, dann bestieg Elmhorst seinen Wagen und fuhr davon, während die andern beiden in das Haus zurückkehrten.

„Der Herr Chefingenieur war ja sehr eilig,“ sagte Gronau, während er sich in dem lederüberzogenen Armstuhl niederließ, dem das vierte Bein glücklich wieder angeleimt war. „Er nahm sich kaum Zeit, zu grüßen, und wie ein glücklicher Bräutigam sieht er auch nicht gerade aus. Immer blaß und finster wie der steinerne Gast! Und er hätte doch wahrhaftig alle Ursache, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein!“

„Ja, Wolf macht mir ernstliche Sorge,“ erklärte Benno. „Er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen, und ich fürchte, die so ersehnte erste Stellung wird ihm noch verhängnißvoll werden. Diese fieberhafte Thätigkeit, in die er sich nun schon seit Wochen gestürzt hat, kann selbst seine eiserne Natur nicht aushalten, das geht vom Morgen bis zum Abend, und auch noch die Nacht hindurch. Er ist überall auf der ganzen Bahnstrecke und gönnt sich nie und nirgends Ruhe, ich warne und bitte vergebens.“

„Ja, er ist überall, nur nicht bei seiner Braut!“ bemerkte Gronau trocken „Das Fräulein scheint freilich sehr anspruchslos zu sein; eine andere ließe es sich schwerlich gefallen, daß der Herr Bräutigam immer nur Lokomotiven und Tunnels und Brücken im Kopfe hat und, wenn er wirklich einmal kommt, schon aus der Schwelle erklärt, daß er gleich wieder fort müsse; aber sie

[652]

Zur Zeit der Hirschbrunft im Hochgebirge.
Nach dem Gemälde von A. Thiele.
Photographie im Verlag von V. Angerer in Wien.

[653] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [654] nimmt das ganz gelassen hin. Es ist überhaupt eine merkwürdige Wirtschaft da drüben in der Nordheimschen Villa. Zwei Brautpaare im Hause! Da sollte man meinen, es müsse alles Lust und Freude sein, aber wie mir scheint, geht es ziemlich ungemüthlich zu unter den Herrschaften, Herrn Waltenberg mit eingeschlossen. Said und Djelma beklagen sich fortwährend bei mir über seine Laune. Ich habe ihnen zu Gemüthe geführt, daß das einzig und allein von den Heiratsgedanken kommt, und daß das Heirathen überhaupt nur Unheil anrichtet, aber die beiden Schlingel wollen das durchaus nicht einsehen, sondern finden die Geschichte ,serr schön!‘“

„Sie sind ein ausgemachter Ehefeind, das wissen wir längst,“ sagte Reinsfeld mit einem flüchtigen Lächeln. „Wenn Wolfgang jetzt vielfach verstimmt ist – und er mag wohl Ursache dazu haben in seiner schweren und verantwortlichen Stellung – bei seiner Braut läßt Stimmung und Aussehen gar nichts zu wünschen übrig.“

„Ja, sie ist noch die munterste von allen,“ stimmte Gronau bei. „An der haben Sie überhaupt ein Meisterstück vollbracht, Doktor, mit Ihrer Kur. Was war das für an jammervolles Pflänzchen, und jetzt blüht sie auf wie eine Rosenknospe. Baroneß Thurgau ist um so stiller, und nun erst die Herren Verlobten! Der eine steht immer auf dem Siedepunkte und ist eifersüchtig wie ein Türke, der andere benimmt sich wie ein regelrechter Eiszapfen seiner Braut gegenüber, und dabei sehen sie sich gegenseitig mit Blicken an, als möchten sie sich am liebsten beim Kragen nehmen – das wird eine schöne Verwandtschaft werden!“

Benno unterdrückte einen Seufzer; ihm war die stumme, erbitterte Feindschaft zwischen Wolfgang und Waltenberg, die sich nur mühsam unter den Formen der notwendigsten Höflichkeit verbarg, gleichfalls nicht entgangen, aber er schwieg.

„Herr Waltenberg kann mir recht leid thun,“ hab Veit wieder an. „Der kann nicht leben, wenn er nicht Tag für Tag seine Braut sieht, und Tag für Tag kommt er von Heilborn herübergefahren. Sie dagegen scheint sich die berühmte Berggottheit der Wolkensteiner zum Vorbilde genommen zu haben, sie sitzt wie die Alpenfee hoch auf dem Throne und läßt sich anbeten, bleibt aber ganz ungerührt dabei. Doktor, Sie sind der einzig Vernünftige unter der ganzen Gesellschaft. Sie denken nicht an das Heiraten - bleiben Sie um Gotteswillen dabei!“

„Daran denke ich allerdings nicht,“ sagte Reinsfeld ruhig, „aber an etwas anderes, das Sie kaum weniger überraschen wird, an das Fortgehen. Mir ist ganz unerwartet eine ärztliche Stellung unter sehr günstigen Bedingungen angeboten worden.“

„Bravo! Dann greifen Sie zu!“

„Das werde ich allerdings wohl müssen.“

Gronau lachte laut auf.

„Mit welchem Gesichte Sie das sagen! Ich glaube wahrhaftig, es geht Ihnen zu Herzen, daß Sie diese biederen Obersteiner verlassen müssen, die Sie fünf Jahre lang ausgenützt und sich dann mit einem ‚Vergelt’s Gott‘ bedankt haben. Mein alter Benno, wie er leibt und lebt! Der wäre auch nicht als ein armer Mann gestorben, wenn er es verstanden hätte, mit der Welt und den Menschen anders umzugehen. Da hat er jahrelang gesessen und sich mit einer Idee gequält, die sein Glück hätte machen müssen, aber er verstand es nun einmal nicht, sich durchzubeißen und mit schüchternen Bitten und Anfragen kommt man nicht durch bei den großmächtigen Herren Kapitalisten und Unternehmern. Schließlich sind ihm andere zuvorgekommen mit der Erfindung, die gewissermaßen in der Luft lag, als man anfing, die Gebirgsbahnen zu bauen, aber er war doch der Erste, der das System der Berglokomotiven aufstellte – all die späteren Erfindungen bauten sich auf dieser Grundlage auf.“

„Mein Vater?“ sagte Benno befremdet. „Da sind Sie im Irrthum, es ist das Nordheimsche System, das noch den heutigen Maschinen zu Grunde liegt.“

„Bitte, es ist das Reinsfeldsche,“ behauptete Gronau mit der größten Bestimmtheit.

„Sie irren sich, ich wiederhole es Ihnen! Wolf hat mir selbst erzählt, daß sein Schwiegervater mit dem Entwurf jener Berglokomotive den Grund zu seinem späteren Reichthume legte. Der Plan wurde damals angekauft und bei den ersten Gebirgsbahnen auch verwendet. Später wurde er natürlich durch allerlei Verbesserungen überholt, aber der Erfinder ging keineswegs leer aus, man zahlte ihm einen verhältnißmäßig sehr hohen Preis für das Patent.“

„Wem? Dem Nordheim?“ fuhr Veit heftig auf.

„Dem jetzigen Präsidenten – allerdings.“

„Und das hat Ihnen der Chefingenieur gesagt?“

„Gewiß, wir sprachen erst kürzlich davon. Uebrigens ist die Sache ja weltbekannt, jeder Ingenieur kann sie Ihnen bestätigen.“

(Fortsetzung folgt.)




Der Lehrer als Wächter der Gesundheit.
Von Dr. med. Taube.
I.

In keinem ihrer Einzelfächer hat die öffentliche Gesundheitspflege einen so heilsamen und klar zu Tage tretenden Einfluß in den letzten Jahrzehnten entwickeln können, wie auf dem Gebiete des allgemeinen Schulwesens. Es ist unseren älteren Zeitgenossen nicht zu verargen, wenn sie, an die engen, schlecht gelüfteten und durchleuchteten Räume der ehemaligen Schulen zurückdenkend, mit einem gewissen Gefühl des Neides die modernen Schulpaläste betrachten, und mancher von ihnen wird sicher zu der Frage geführt: war denn die Nothwendigkeit für so hochgradige Veränderungen auch wirklich vorhanden? Denn in den früheren Verhältnissen entwickelten sich gleichfalls im Durchschnitt körperlich und geistig gesunde Menschen. Die Antwort auf diese Frage kann von Aerzten und Lehrern nur bejahend ausfallen. Die Schäden eines Uebelstandes werden oft erst dann richtig erkannt, nachdem derselbe beseitigt worden ist. Wir können schon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß einige der sogenannten Schulkrankheiten, z. B. die Rückgratsverkrümmungen, seltener geworden sind, andererseits legt aber die Schule oft den Keim zu Krankheiten, welche erst in späteren Lebensaltern zur Entwicklung kommen, z. B. Bleichsucht, Schwindsucht, Augenkrankheiten. Diese Anlagen können aber nur durch den Aufenthalt der Kinder in gesundheitlich so günstig wie nur möglich eingerichteten Räumen eine Verminderung erfahren. Man vergleiche in Städten, welche Schulhäuser nach altem und neuem Muster besitzen, das Befinden der Kinder und die Verminderung des Kohlensäuregehaltes in neuen und alten Anstalten, um sich hiervon zu überzeugen. In der Neuzeit tritt noch die Nothwendigkeit hinzu, daß die Schule die Schäden des Hauses bezüglich Luft und Licht in einer großen Anzahl von Fällen ausgleichen muß; nicht die Schulkrankheiten, sondern die Hauskrankheiten sind es vielfach, welche die Schule verbessern soll, und dies kann nur in Gebäuden, die in jeder Beziehung gesund angelegt sind, ermöglicht werden.

Diese Wahrnehmung kann uns nur ermuthigen, aus dem eingeschlagenen Wege weiter fortzuschreiten, um so mehr, als noch viele Fragen ihrer Erledigung harren. Die allgemeine Gesundheitspflege hat den Endzweck, den Organismus der Menschen gesund zu erhalten. Wenn daher auch die Schlußfäden in der Hand des Arztes zusammenlaufen, so sind doch zur Lösung der Aufgabe die verschiedenen Mitarbeiter in Anspruch genommen. Die Schulgesundheitspflege als Theil des Ganzen sucht die Gesundheit der Schulkinder gegen Gefahren zu schützen, welche durch den längeren Aufenthalt und die größere Anzahl der Kinder in geschlossenen Räumen und die gebeugte Haltung derselben entstehen.

Es fragt sich nun, wer dieses gesundheitliche Wächteramt der Schule übernehmen soll. Es ist hier zweierlei zu berücksichtigen: erstens der Bau und die Einrichtung der Schule. In dieser Hinsicht wird wohl jetzt überall in Deutschland die ganze Kraft von den Verwaltungen eingesetzt, das Beste zu schaffen und die neuesten Erfahrungen zu verwerthen. Das Zweite dagegen, die Ueberwachung der Kinder in den gegebenen Verhältnissen, hat noch nicht die nothwendige Erledigung gefunden.

In mehreren außerdeutschen Ländern sind Schulärzte zu diesem Zwecke vorhanden, welche, fest angestellt, die Schule monatlich ein- bis zweimal besuchen und über das Ergebniß der [655] Untersuchung der Schule und der Schüler amtlich berichten. Die Einführung hygienisch gebildeter Schulärzte ist auch in Deutschland ein dringendes Bedürfniß; ihre Thätigkeit muß aber vor allem darin bestehen, die Güte der vorhandenen Einrichtungen bezüglich der Wirkung auf die Allgemeinheit der Kinder fortdauernd zu prüfen und die von den Lehrern gefundenen krankhaften Abweichungen der Schüler in Augenschein zu nehmen. Eine merkliche Verminderung der ansteckenden Krankheiten durch die Schulärzte zu erzielen, würde nicht einmal durch tägliche Untersuchungen zu ermöglichen sein und eine so große Anzahl von Aerzten erfordern, daß das Zusammenwirken zwischen Lehrer und Arzt verloren ginge. Für jeden größeren Schulbezirk würde nur ein Arzt anzustellen sein.

Noch ein anderes Thema, welches bis jetzt nicht in Betracht gezogen worden ist, gehört in den Bereich des Arztes, nämlich ein kurzer Vortrag über gewisse Kapitel der Gesundheitspflege in dem letzten halben Jahre der oberste Gymnasial-, Real-, Volksschul- und Fortbildungsklassen. Der Schüler soll darin nicht mit der Kenntniß der neuesten Untersuchungen aus dem Gebiete der Hygiene überbürdet werden, sondern aus dem Leben heraus die Gefahren erkennen lernen, welche dem Jüngling bei seinem selbstständigen Eintritt in das Leben in gesundheitlicher Beziehung entgegentreten.

Hiermit ist die Thätigkeit des Arztes in der Schule abgeschlossen; die Beobachtung des einzelnen Kindes ist für ihn nicht möglich. Dazu ist nur der befähigt, welcher das Kind fortdauernd vor Augen hat und eine jede Veränderung desselben mit Bezug auf Haltung, Farbe, Ausdruck berücksichtigen kann: dies ist der Lehrer. Durch seine Stellung als geistiger Erzieher muß er mit Nothwendigkeit während der Schulzeit auch dem körperlichen Befinden des Kindes sein Augenmerk zuwenden; er kann krankhafte Abweichungen oft früher entdecken, als dies im Hause geschieht, weil ihm der Vergleich mit normal gesunden Kindern täglich zu Gebote steht. Der Lehrer ist ferner zur Ueberwachung der Gesundheit seiner Schüler berechtigt, weil gegen die Schule oft die unbegründetsten Vorwürfe wegen Entstehung von Krankheiten erhoben werden, deren Ursachen vielfach nur im Hause zu suchen sind. Die Eltern sollten deshalb dem Lehrer für eine Benachrichtigung über den Gesundheitszustand ihres Kindes um so dankbarer sein, als das Institut der Hausärzte immer mehr in der Abnahme begriffen und daher von dieser Seite Aufklärung nicht zu erwarten ist. Um sein Wächteramt aber genügend erfüllen zu können, muß der Lehrer eine gewisse Kenntniß von einigen krankhaften Abweichungen des Organismus, Rückgratsverkrümmungen, Kurzsichtigkeit, den wichtigsten ansteckenden Krankheiten, sowie von allgemeinen Schuleinrichtungen, Ventilation und Heizung etc. besitzen. In den nachfolgenden Artikeln wollen wir nun den Versuch machen, eine kurze Erörterung dieses Stoffes aus dem praktischen Leben heraus zu geben. Es sind oft Kleinigkeiten, die herangezogen werden, doch verdienen sie für die Entwickelung des Kindes Berücksichtigung.

Eine Vorfrage, welche dem Lehrer oft von den Eltern gestellt wird, lautet: wie soll das Kind vor dem Besuch der Schule unterrichtet werden? Hier kommt eine Einrichtung in Betracht, deren häufig auftretende Nachtheile noch nicht überall die genügende Beachtung, besonders von behördlicher Seite, gefunden haben, nämlich die „Kindergärten“, nicht zu verwechseln mit den Kinderbewahranstalten, welche, fast stets gesund gebaut, für die ärmeren Klassen unserer Bevölkerung die segensreichste Wirkung ausüben. Während bei Schulbauten alles geschieht, um die Räume gesundheitlich so günstig wie möglich auszubauen, werden in Kindergärten mitunter (rühmliche Ausnahmen sind ja glücklicherweise auch nicht selten) in einem gewöhnlichen, gegen Norden gelegenen Miethlogis über 40 Kinder schon vom dritten Jahre an in gänzlich ungenügenden Räumen untergebracht; durch unpassende Beleuchtung, Sitze und Arbeiten, besonders das Ausstechen mit Nadeln, entsteht auf diese Weise schon im frühesten Alter die Grundlage der spätern Augen- und Schulkrankheiten. Ein Kind muß bis zum sechsten Jahre so viel durch eigene Beobachtung lernen, daß jeder methodische Lehrstoff vor diesem Alter zu verwerfen ist. Fernere Nachtheile schafft das längere Stillsitzen, weil hierdurch für den Organismus ungünstige Wachsthums- und Blutkreislaufsverhältnisse eintreten. Außerdem droht dem Kinde die Gefahr von ansteckenden Krankheiten schon in einem früherem Lebensalter, als dies im Hause durchschnittlich der Fall ist. Je älter aber ein Kind, desto leichter wird gewöhnlich eine derartige Krankheit überstanden. Diese Zustände in den sogenannten „Kindergärten“ fordern gebieterisch eine Abhilfe durch gesetzliche Bestimmungen und besonders folgende Punkte sind zu berücksichtigen:

1. Die Räume und Einrichtungen müssen in jeder Beziehung der modernen Gesundheitspflege und der Anzahl der Kinder entsprechen.
2. Die Aufnahme ist nicht vor dem fünften Jahre zu gestatten.
3. Der Zwang zum Stillsitzen darf nicht über eine halbe Stunde dauern.
4. Es sind Beschäftigungsmittel zu benutzen, welche den Augen nicht nachtheilig sind.
5. Jeder methodische Lehrstoff, welcher zur Schule Beziehung hat, ist verboten.
6. Bezüglich der ansteckenden Krankheiten müssen die Schulgesetze in größter Strenge zur Anwendung kommen.

Unmittelbar aus dem elterlichen Hause nimmt der Lehrer schon deshalb am liebsten das Kind entgegen, weil es dann im vollsten Umfange die Vorfreude und Sehnsucht nach der Schule mit sich bringt, die es schon Jahre lang in Spiel und Gedanken beherrscht hat. In dieser Vorfreude ist eben einer der Hauptgründe zu finden, daß das Kind die Anstrengungen der Schule in körperlicher und geistiger Beziehung nach der vollständige Freiheit so gut erträgt, und das Erhalte dieser Freude an der Schule besonders im erste Schuljahre ist von der größte Wichtigkeit für die gesammte geistige Entwickelung des Kindes.

Erwarten wir unsere Schuljugend früh beim Eintritt in die Schule, so finden wir immer noch in manchen Orten den Uebelstand, daß zu früh gekommene Kinder nicht das Schulgebäude betreten können, sondern vor der Thür eine Zeitlang warten müssen. Bei schlechtem Wetter wird dieses Warten leicht zu einer Quelle von Erkältungskrankheiten. Die Kinder müssen daran gewöhnt werden, die mittlere Durchschnittszeit innezuhalten, und nötigenfalls sind die Eltern zu benachrichtigen. Eine offene Hausthür im Schulhause für zu früh gekommene Kinder ist aber durchaus zu fordern.

Eine große Härte liegt oft auch in der Bestrafung der zu spät gekommenen Kinder. Vergleichen wir diesen Uebelstand an verschiedenen Schulen, so sehen wir in den Bezirksschulen, welche von den Kindern der weniger bemittelten Stände besucht werden, viel seltener diese Spätlinge. Der Vater muß hier früh das Haus verlassen, es wird zeitig gefrühstückt, das Kind kann, nachdem es in Ruhe seinen Kaffee getrunken hat, sich langsam zur Schule rüsten und zur rechten Zeit eintreffen. In den wohlhabenderen Ständen hat dagegen das moderne Leben eine größere Benutzung der späteren Abendstunden herbeigeführt; gleich den Eltern kommt auch das Kind oft erst spät ins Bett. Am Morgen schlafen die Eltern länger, das Dienstmädchen weckt das Kind, welches sich müde erhebt; die nothwendige Zeit zum Frühstück fehlt, im Stehen wird der Kaffee hinuntergegossen; zuweilen werden auf dem Schulwege noch einige Bisse gegessen, aber manchmal kommt das arme Kind vollkommen nüchtern, erregt an seinen Platz, um bald geistig zusammenzusinken und oft noch von dem Lehrer falsch beurtheilt zu werden und nachsitzen zu müssen. Die Schulordnung ist selbstverständlich aufrecht zu erhalten, doch sind vor allem in solche Fälle die Eltern zu benachrichtigen und dringend aufzufordern, dieser Unordnung abzuhelfen. Ein Kind bedarf 10 Stunden Schlafes, und eine jede Verkürzung desselben rächt sich bitter bei der Entwickelung des Organismus.

Hiermit hängt die Frühstücksfrage eng zusammen. Ich besuchte in der Frühstückspause verschiedene Schulen. In den Bezirksschulen aßen die Kinder ihre oft sehr ansehnlichen Butterbrote mit größtem Appetite; ich habe auch in diesen Ständen selten gehört, daß die Kinder ihr Frühstück unberührt aus der Schule mitbrächten, wie es bei besser situirten Kindern häufig die Klage der Mütter ist. Durch das übereilte späte Frühstück wird der Magen geschwächt, in der Pause ist kein Hunger vorhanden, nach der Schule stellt sich derselbe ein und das verspätet gegessene Brötchen verdirbt wiederum den Mittagsappetit. Oft wird auch das Frühstück vergessen und die Pause zu Schularbeiten benutzt. Dieser große bis jetzt nicht genügend hervorgehobene Fehler macht sich besonders in den höheren Schulen bemerkbar, und es muß hiergegen mit größter Strenge eingeschritten werden; die Pause soll ohne jede geistige Anstrengung verlaufen und nur der Ruhe gewidmet sein; die Hauptpause ist zum Frühstücken zu benutzen.

[656] Bei schlechtem und kaltem Wetter sind es die künftigen Herren der Schöpfung, welche ihre Abhärtung zum Nachtheile ihrer Gesundheit zeigen wollen; Regenschirme und Ueberzieher werden als sehr überflüssige Gegenstände des kindlichen Haushaltes betrachtet, völlig durchnäßt gelangen sie oft in der Schule an. Der Lehrer ist vollständig berechtigt, derartige Kinder nach Hause zurückzuschicken. Nasse Kleider leiten die Eigenwärme des Körpers leichter fort, das Kind sitzt fröstelnd an seinem Platze. Um ein Paar nasse wollene Strümpfe an den Füßen zu trocknen, ist so viel Wärme erforderlich, als nöthig ist, ½ Pfund Eis zum Schmelzen zu bringen – für ein blutarmes Kind eine Unmöglichkeit; die kalten Füße drängen das Blut nach anderen Organen und Erkältungen sind die Folge. Aus diesem Grunde muß der Lehrer energisch gegen das Spötteln der Mitschüler ankämpfen, wenn zarte Kinder vor der Stunde ihre Strümpfe wechseln; sie können dieselben in einer kleinen Blechkapsel leicht in der Schultasche mit sich führen. Das Tragen der Gummischuhe ist nur dann den Füßen durch Behinderung der Ausdünstung nachtheilig, wenn dieselben länger anbehalten werden als nöthig; für den Schulweg aber verschaffen sie einen warmen Fuß und es kostet dem Lehrer nur zwei Kommandoworte, um bei schlechtem Wetter an ihr Ablegen zu erinnern. Die Mäntel und Regenschirme werden gewöhnlich im Klassenzimmer abgelegt. Die Haken dafür sind so anzuordnen, daß die Regenschirme getrennt von den Kleidern hängen, um deren Innenfläche nicht zu befeuchten. Der Lehrer muß sich den Einrichtungen seines Schulgebäudes fügen, die Anregung zu kleineren Abänderungen zum Wohle seiner Schüler sollte aber von jeder Schulbehörde dankbar angenommen werden.




Aus dem Leben eines nachgiebigen Gesellen.
Von Fr. Helbig. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Den vielen nichtigen Dingen dieser Erde, die keinen selbständigen, auf den Schmuck, den Genuß, die Bequemlichkeit des Menschenlebens gerichteten Daseinszweck haben, sondern nur im niederen Dienste eines anderen höheren Zweckes stehen, ist nicht am letzten der Korkpfropfen zuzuzählen; er, der bloß berufen erscheint, das Amt eines Pförtners für die Behausung eines großen Herrn flüssigen Charakters zu vertreten, und der, wenn dieser seinen Bann durchbrochen hat, verächtlich zur Seite geworfen wird. Und doch ist dieser kleine, äußerst nachgiebige Geselle von einem nicht gewöhnlichen Herkommen. Er hat erst eine Reise übers Meer gemacht, ehe er den deutschen Boden betrat, stammt er doch aus jenem schönen Lande, wo sich nach des Dichters Wort

„bei der Zither Tönen
Jeder Fuß beflügelt schwingt,
Und der Knabe mit der Schönen
Glühend den Fandango schlingt.“

Und doch ist er wieder kein Fremdling, denn er hat die ganze Heimlichkeit des deutschen Hauses genossen. Dort hat er seine Form und Gestalt erhalten. Er ist auch nicht von heute und gestern, hat vielmehr schon ein langes Leben hinter sich, ehe er den Charakter seiner Brauchbarkeit erlangte. Zudem ist er an und für sich ein Kunstwerk, denn er ist kein Produkt willenloser Maschinenkraft, sondern ein Erzeugniß der von dem Willen regierten, formenden Menschenhand.

Die Benutzung des Korkholzes als Verschlußmittel dürfte wohl erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert datiren. Ehe man die Eigenart des Korkholzes, die durch kein anderes Material in gleichem Maße ersetzt wird, kannte, war man auf weit sprödere Stoffe angewiesen. So ist auch die Korkindustrie in Deutschland noch keine sehr alte. Die rührige Handelsstadt Bremen war es wohl, welche zuerst das Korkholz aus seiner südlichen Heimath auf dem Seewege nach Deutschland einführte und seine Bearbeitung zu Industriezwecken anregte. Wir schließen dies aus einem Bericht im Oldenburger Staatskalender vom Jahre 1789, dem zufolge schon im Anfang des vorigen Jahrhunderts in Stuhr, einem oldenburgischen Dorfe, etwa eine Meile von der Stadt Bremen entfernt, auf Rechnung eines Bremer Kaufmanns, Namens Hensch, das „Pfropfenschneiden“ betrieben wurde.

Von Stuhr aus verbreitete sich die Industrie dann weiter im oldenburgischen Flachlande, indem sie sich zugleich von der Bremer Abhängigkeit befreite. So wurde durch Friedrich Cordes, der beim Kaufmann Hensch Unterricht in der Pfropfenschneiderei erhalten hatte, in Hasbergen bei Delmenhorst bald eine Korkschneiderei auf eigene Rechnung gegründet. Im Jahre 1789 arbeiteten die Gebrüder Cordes mit 26 Personen – ein Geschäftsumfang, der für die damaligen schlichten Verhältnisse schon etwas besagen will. Bald darauf entstanden, ebenfalls aus kleineren Anfängen hervorgehend, neue für eigene Rechnung arbeitende Korkschneidereien, unter anderen die von Lürssen in Hasbergen und wohl noch etwas später die von Müller in Bremen. Nachdem im Verlaufe der letzten dreißig Jahre sämmtliche Geschäfte von Hasbergen nach dem gewerbreicheren, an der Straße von Bremen nach Oldenburg belegenen Delmenhorst übersiedelten, wurde der Hauptsitz der deutschen Korkindustrie nach diesem jetzt etwa 6000 Einwohner zählenden Städtchen verlegt und ebendaselbst besitzt auch heute noch ein Nachkomme jener Cordes eines der größeren Korkfabrikgeschäfte unter der Firma „Cordes und Ellgaß“.

Auf dem Wege nach einem norddeutschen Seebade hielten wir in dem vielfach schon einen holländischen Charakter tragenden halb städtischen, halb ländlichen Orte, der uns Mitteldeutschen durch die eigenthümliche Bauart seiner meist nur aus einem hohen Giebel mit Parterregeschoß bestehenden Häuser auffällt, kurze Einkehr und hatten da Gelegenheit, in der genannten Fabrik uns über die Specialitäten der Pfropfenindustrie unterrichten zu lassen.

Eine solche Korkfabrik hat äußerlich wenig Imponirendes. Es finden sich da weder die großen Arbeitssäle mit ihren langen, einförmigen Fensterfronten, noch die himmelanstrebenden mächtigen Dampfessen, nicht das pustende Geräusch keuchender Dampfmaschinen noch das Rasseln des Rädergetriebes. Die Thätigkeit in der Fabrik selbst beschränkt sich, abgesehen von dem rein kaufmännischen Theile des Geschäfts, fast lediglich auf das Sortiren und Verpacken der von den Arbeitern in die Fabrik abgelieferten Korke. Aber schon das Rohmaterial, mit welchem die Fabrik arbeitet, das Korkholz, hat, wenn es den deutschen Boden betritt, eine Vorgeschichte, ja es ist sogar bereits durch eine Fabrik hindurchgegangen.

[657] Das Korkholz ist nicht ein selbständiges Holzprodukt, sondern nur ein Nebenprodukt; es ist die Rinde der Korkeiche (Quercus suber L.). Das Vorkommen der Korkeiche beschränkt sich fast lediglich auf Spanien, Portugal und Algier. Alle Versuche, die Bäume für unseren Boden zu gewinnen, sind gescheitert. Es fehlen hier die klimatischen und wohl auch agrikulturchemischen Vorbedingungen. Die Bäume müssen erst je nach ihrem Standorte ein Alter von 25 bis 30 Jahren erreicht haben, ehe die erste Rinde abgeschält werden darf. Aber auch diese erste Rinde – in Spanien corcho virgen (jungfräuliches Korkholz) genannt – ist für die Anfertigung von Korken noch nicht brauchbar; sie wird in Deutschland lediglich zu Zierzwecken, wie zur Umhüllung von Gartenpavillons, Blumentischen, hängenden Blumenkörbchen für Schlinggewächse etc. verwendet. Erst nachdem diese erste Rinde abgeschält ist, bildet sich das eigentliche Korkholz aus dem unter der Rinde befindlichen Kork-Cambium. Das Abschälen der Rinde muß so vorsichtig geschehen, daß das unter ihr befindliche Cambium nicht verletzt wird. Dieses Cambium bildet nun eine neue weiße, als Kork brauchbare Rinde. Auch diese braucht zu ihrer vollen Entwickelung ein weiteres längeres Wachsthum, das sich in Portugal auf 8 bis 10, in Spanien und Algier auf 11 bis 14 Jahre berechnet. Dann erst kann die Rinde von neuem abgeschält werden.

Das Abschälen der Korkeichen.

Die Abschälung erfolgt in den Sommermonaten Mai bis September, und zwar in der Weise, daß man, wie unser obenstehendes Bild es darstellt, mit Handhacken rings um den Stamm herum in etwa meterhohen Abständen Einschnitte bis auf das Cambium macht, die Kreisschnitte mit Längsschnitten verbindet und die Korkschicht mit dem Hackenstiel vom Kork-Cambium ablöst. Ist die Korkeiche einmal in dies Entwicklungsstadium eingetreten, dann kann sie auch je nach Lage, Bodenbeschaffenheit und Pflege auf 100 bis 150 Jahre hinaus für die Korkindustrie nutzbar gemacht werden. Das abgeschälte Korkholz ist natürlich sowohl in der Stärke, wie in der Güte sehr verschieden, je nachdem dasselbe von jungen oder alten Bäumen, von Stämmen oder Aesten genommen ist. Ist das Korkholz von dem Baume abgetrennt, so wird es vorerst in große Haufen zusammengetragen und dann vermittelst Maulthieren oder Wagen aus den Waldungen nach den Korkholzfabriken geschafft, um für den Versand besonders hergerichtet zu werden, denn so roh wie es aus der Hand der Natur kommt, ist es nicht ohne weiteres zu verarbeiten. In diesen Fabriken wird es erst eingeweicht und dann die allzustarke äußere Rinde abgeschabt; in großen Kesseln wird es darauf einige Minuten lang gekocht und dann in Plattformen gepreßt. Früher wurde es wohl auch durch ein Schmauchfeuer gezogen. Dieses Verfahren ist jedoch fast allerwärts aufgegeben. Das auf diese Weise hergerichtete Korkholz wird sodann je nach Güte und Stärke in etwa zehn verschiedene Sorten getheilt und, in Ballen von 60 bis 70 Kilo verpackt, zum Versande fertig gestellt.

Wie stark verschieden diese einzelnen Sorten in der Qualität sind, geht daraus hervor, daß der Preis der einzelnen Marken zwischen 10 und 150 Mark für hundert Kilo schwankt. Das beste, zur Fabrikation von Wein- und Champagnerkorken besonders geeignete Holz wächst in Catalonien. Doch giebt es auch noch andere spanische Distrikte und in Portugal namentlich die Gegend von Estremoz, wo nahezu gleichwertiges Holz vorkommt. Auch Algier kultivirt ähnliche, für Wein- und Mineralwasserkorke gut brauchbare Sorten, wogegen sich das sonst noch in Portugal gewonnene Material wegen seiner größeren Weichheit vorzugsweise zu Bier- und Medizinkorken eignet.

Ist nun das Korkholz in die Hände des deutschen Fabrikanten gekommen – natürlich giebt es auch in Spanien Korkfabriken – so wird es behufs Bearbeitung zunächst sortirt, die besseren, glatteren Stücke zu den Wein- und Mineralflaschenkorken, die schlechteren, rissigeren zu kurzen Korken bestimmt und dann an die Arbeiter abgegeben. In der Fabrik von Cordes und Ellgaß [658] bekommt jeder Arbeiter gewöhnlich 50 Kilo Korkholz zur Verarbeitung; davon muß er wenigstens 20 Kilo große Flaschenkorke oder 15 Kilo kleinere Medizinkorke liefern, der Rest wird als Abfall gerechnet. Das dünne Holz zu Medizinkorken hat verhältnißmäßig viel Rinde und liefert deshalb auch entsprechend mehr Abfall. Der Arbeiter schneidet die ihm übergebenen Korkholzplanken in Streifen, die der Länge der zu arbeitenden Korke entsprechen, darauf zieht er die obere Rinde ab, schneidet die Streifen in Würfel und aus diesen den Kork.

Hierzu bedient er sich zweier scharfer Messer mit breiter Klinge, wovon sich das eine zum Streifen- und Würfelschneiden, das andere zum Rundschneiden eignet; diese bilden sein einziges Werkzeug. Die Kunst und zugleich die Vortheile des Arbeiters bestehen nun darin, das Holz richtig zu verarbeiten und auszunützen, das heißt, die Streifen je nach Erforderniß in breitere oder schmälere Würfel zu schneiden, wurmstichige oder werthlose Stellen ganz zu entfernen, aus jedem Würfel einen möglichst großen und dabei guten, nicht zu verbessernden Kork zu schneiden und selbst das kleinste Holzstückchen nicht unbeachtet zu lassen, so daß verhältnismäßig wenig Abfall zurückbleibt.

Ein geschickter Arbeiter kann in einem Tage aus den ihm übergebenen Korkplanken gegen 1500 Bouteillen- oder 2000 Medizinpfropfen schneiden. Schneidet er mittelmäßig, so kann er es nur auf etwa 1200 Korke von der ersteren und 1500 von der letzteren Gattung bringen. Die Arbeit ist zugleich aber derartig, daß außer dem Hausvater und den älteren Söhnen auch die Frau und die schon halberwachsenen Kinder sich an ihr betheiligen können. Ihnen fällt namentlich die weitere Verarbeitung der kleineren Würfel zu. Wir haben in den armen Rhöndörfern des Eisenacher Oberlandes, wohin von Delmenhorst aus die Korkindustrie seit ein paar Jahrzehnten verpflanzt worden ist, oft Gelegenheit gehabt, dieses friedliche Familienidyll zu beobachten. Die Männer haben um den rechten Oberschenkel ein Stück Leder geschnallt, an dem sie die beim Schneiden in die weiche poröse Korkmasse leicht stumpf werdenden Messer von Zeit zu Zeit abstreichen. Auf der Brust tragen alle ein größeres viereckiges Stück Korkholz, das durch ein um den Hals geschlungenes Band dort festgehalten wird. Es dient ihnen als Unterlage beim Abziehen der Korkrinde. Vor jedem der Schneidenden steht ein Korb aus Weidengeflecht, der die fertigen Korke aufnimmt. Auf dem Tische steht in einer irdenen gemeinsamen Schüssel das Rhöner Nationalgericht, saure Milch mit Kartoffeln, während eine Lampe mit „Stinköl“, wie der scherzhafte Rhöner Ausdruck für Petroleum ist, das lebende Bild ist ein Rembrandtsches Halbdunkel taucht. Ab und zu erhält die Scene noch ein besonderes Leben durch den Gesang eines der Volkslieder mit ihren meist schwermüthigen Weisen, bei welchen die Frau die erste und die Männer die zweite Stimme halten.

Man hat zwar öfter schon Versuche gemacht, die Maschinenarbeit auch in der Korkindustrie einzuführen, ist aber immer wieder zum Theil davon abgekommen, indem man die Erfahrung machte, daß doch die menschliche Hand hier weit besser und ausgiebiger arbeitet als die Maschine. Es liegt dies namentlich an der ungleichwerthigen Beschaffenheit des Materials. Nur für die Massenfabrikation der gewöhnlichen Flaschenkorke bedient man sich in neuester Zeit der Korkschneidemaschinen, welche in zehnstündiger Arbeit über 20 000 Stück Pfropfen zu liefern vermögen.

In der Fabrik werden die Korke durch verstellbare Siebe gesiebt, um die gleichmäßigen Größen herauszubringen. Dann werden sie noch ein- bis dreimal sortirt, um die verschiedenen Qualitäten zu trennen. Dies Geschäft besorgen besonders angestellte Sortirer, denen ein Obersortirer vorgestellt ist. Sie und die Korkholzsortirer bilden das eigentlich ständigtechnische Fabrikpersonal. Der Obersortirer lernt die Arbeiter, namentlich das junge Personal, an. Die Größe der Korke ist eine so verschiedene, daß sie herabgeht bis zu einem Größenmaße von sechs Millimetern. Wir fanden in der Delmenhorster Fabrik in einem kleinen, nur zwei Kilo wiegenden Sacke nicht weniger als 30 000 Stück solch kleiner Korke beisammen, welche 54 Mark kosteten und zu homöopathischen Zwecken dienten. Auch die Qualität und dementsprechend die Preislage ist natürlich eine sehr verschiedene.

Gute Korke schließen luftdicht, schlechte sind durch kein Mittel gut zu machen. Versuche, die man hier und da wohl machte, die Qualitäten durch Anwendung von Stearin, Wachs und dergleichen Dichtungsmitteln künstlich zu verbessern, erwiesen sich als ganz nutzlos. Eine Fälschung ist auf diesem Gebiete nicht möglich.

Die Champagnerkorke, die erst beim Binden auf die Flasche ihre eigenthümliche Form erhalten, werden fast ausschließlich in Spanien und Frankreich angefertigt. In Frankreich werden sie in neuerer Zeit theilweise aus mehreren ausgesucht schönen, dünneren Korkholzstücken zusammengesetzt. Diese Stücke werden durch ein geeignetes Bindemittel auf einander geleimt und dann wie gewöhnliche Korke geschnitten. Es geschieht dies deshalb, weil das dicke, zu hochfeinen Champagnerkorken geeignete Holz sehr selten und deshalb sehr hoch im Preise ist. So stellt sich der Fabrikpreis für vorzügliche Champagnerkorke schon auf 150 Mark fürs Tausend.

Der Abfall beim Korkschneiden wurde früher für wertlos geachtet und dem Arbeiter überlassen, der damit gewöhnlich seinen Ofen heizte. Er fand höchstens eine Verwendung als Polstermaterial oder wurde gemahlen als Füllmittel bei der Verpackung von Weintrauben und anderen Früchten benutzt. Später formte man wohl aus der grob gemahlenen Masse eine Art Luftbacksteine, welche den Vortheil boten, daß die aus ihnen errichteten Wände den Schall nicht durchließen und als schlechte Wärmeleiter einen gewissen Schutz gegen Kälte und Wärme gewährten. Man benutzt diese Korksteine aus letzterem Grunde hauptsächlich für die Innenwände von Eiskellern und wegen ihrer Leichtigkeit zur Herstellung von Scharwänden, die ein Fundament nicht bedingen. Die Hauptfabrikation dieser Korksteine besorgt eine chemische Fabrik in Ludwigshafen am Rhein.

Erst in neuerer Zeit ist der Korkabfall zu einem nicht unwichtigen Werthobjekt geworden, der zugleich einen ganz neuen Industrieartikel ins Leben gerufen hat. Es ist dies die Linoleum- oder Korkteppichfabrikation. Das Linoleum besteht aus fein gemahlenem Korkabfall, der mit oxydirtem Leinöl zusammen vermischt und auf Juteleinwand aufgetragen wird. Ist der Hauptsache dient es als Fußbodenbekleidung und zeichnet sich gegen ähnliche derartige Stoffe dadurch aus, daß es eine große Widerstandsfähigkeit gegen Feuchtigkeit, sowie gegen Hitze und Kälte bietet, leicht gereinigt werden kann und das Geräusch des Gehens stark vermindert. Das neue Fabrikat, das jedenfalls noch eine große Zukunft hat und das durch aufgedruckte bunte Muster auch dem ästhetischen Geschmack Rechnung trägt, wurde anfangs nur in England fabrizirt. Inzwischen sind in Delmenhorst, Köpenick, Rixdorf etc. größere derartige Fabriken entstanden, die einen bedeutenden Absatz erzielen.

Neuerdings findet der Korkabfall ferner Verwerthung zur Herstellung von Korkpackpapier, das sich zur Verpackung von Glas, Porzellan und anderen zerbrechlichen Gegenständen sowie zur Verpackung gefüllter Gefäße mit werthvollem Inhalt gut eignen soll. Auch wird der Kork, seitdem für bestimmte Waarengattungen die Werthzölle durch Gewichtszölle ersetzt sind, seiner Leichtigkeit wegen zum Füllen der Puppenleiber benutzt, und wir sahen in der großen Puppenfabrik von Fischer, Naumann und Comp. in Ilmenau eine eigene Mühle, welche Korkabfälle zu grobkörnigem Mehle centnerweis vermahlt.

Die bereits gebrauchten Korke können dagegen eine fabrikmäßige Verwendung nicht mehr finden, weil sie meist von der Flüssigkeit, zu deren Verschluß sie dienten, durchdrungen sind.

Außer zu Pfropfen wird das Korkholz noch zu einigen anderen Artikeln verarbeitet. So namentlich zu Korksohlen, zu Schwimmern für Fischnetze, zu Schwimm- und Rettungsgürteln und -Kleidern, zu Ankerbojen, als Hutfutter und zu verschiedenen anderen technischen Zwecken.

Bekanntlich hat sich auch die bildende Kunst in höherem Sinne des Korkmaterials bemächtigt und besonders in den plastischen Nachbildungen von Baudenkmälern mancherlei geleistet. Der Erfinder dieser „Phelloplastik“ genannten Kunst war der Architekt August Rose in Rom, der Ende vorigen Jahrhunderts lebte.

Mit dem stetig wachsenden Bedarf hat sich auch die Korkindustrie mehr und mehr ausgebreitet und sie ist bei uns längst nicht mehr auf ihren ursprünglichen Herd beschränkt. Fürsorgende Regierungen haben sie namentlich in arme, von großen Verkehrswegen und Arbeitsmärkten entfernte Gegenden eingeführt, und für diese wurden sie oft eine Quelle von Segen. So finden wir sie außer in dem Oldenburgischen seit etwa 25 Jahren, wie schon [659] erwähnt, verbreitet im Eisenacher Oberlande, mit den Hauptsitzen zu Dermbach und Geisa, und fast ebenso lange im Sächsischem Erzgebirge in Raschau und Umgegend. Ihr Hauptsitz bleibt aber immer das oldenburgische Laud (Delmenhorst und die dortige Umgegend). Einzelne größere Korkfabriken befinden sich außerdem in Frankenthal in der bayerischen Pfalz (mit Maschinenbetrieb), in Wesel, Melle, Lohne, Hannover, Braunschweig, Schwerin, Frankfurt an der Oder, Breslau, Halle, Dresden, Leipzig und Salzungen, abgesehen von den kleinen Korkschneidereien, deren fast jede Stadt eine oder mehrere hat.

Der Export der heimischen Fabrikate ist ein nicht unbedeutender; er berechnet sich bei einzelnen Firmen auf 60 Prozent der gesammten Jahresproduktion und selbst nach den Vereinigten Staaten, die von Korken einen Eingangszoll von 30 Prozent des Werthes erheben, ist ein Geschäft in gewissen Sorten, die daselbst so vorzüglich nicht hergestellt werden können, möglich.

Der geneigte Leser wird nunmehr gesehen haben, daß sich von dem kleinen, unscheinbaren, achtlos fortgeworfenen Korkpfropfen gar mancherlei reden läßt, und daß an seine Existenz sich das Wohl und der Segen von Familien und ganzen Distrikten knüpft.




Jagdleben im Hochland.
Geschildert von Ludwig Ganghofer.       Mit Illustrationen S. 652 und 653.
4. Hirschbrunft.

Er war kein Jäger, mein Freund, aber was ich ihm so ab und zu von all dem schönen Leben zwischen Wald und Felsen erzählte, machte ihn lüstern, und da war es einer seiner Lieblingswünsche, einmal einen Hirsch im Bergwald .„schreien“ zu hören. Nun traf es sich gut, daß er mich gerade während der ersten Oktoberwoche in meinem stillen Bergsitz besuchte. Seit acht Tagen schon war droben die Brunft in Gang, und die Hirsche schrieen allnächtlich mit orgelnden Stimmen. Es war einer der klaren, lauen, leuchtenden, von bläulichem Dunst erfüllten Oktobertage, wie sie der Herbst nur in den Bergen spendet. Einige Stunden nach Mittag schickten wir uns zum Aufstieg an; den Träger mit Zeug und Proviant hatten wir bereits am Morgen vorausgeschickt zur Hütte, damit wir uns bei ungestörtem Plaudern und Schauen des herrlichen Weges freuen konnten. Auf schmalem Pfade ging es empor durch steilen Laubwald, welcher vielfach mit Tannen und Lärchen untermischt und an manchen Stellen von schroffen, moosbehangenen Felswänden durchrissen war. Auf halbem Wege, unter einer mächtigen Buche streckten wir uns zu kurzer Ruhe in das raschelnde Laub, welches handhoch schon die Erde deckte.

Unter uns in dem von duftübersponnenen Bergen umschlossenen Thal lag schon der Schatten; hier oben aber schien noch die Nachtmittagssonne warm und golden durch das Laubwerk, in welchem der sachte Wind sein Flüstern und Wispern trieb. Zu keiner Zeit – vielleicht nur eine mondhelle Winternacht ausgenommen – ist der Bergwald so zaubervoll schön wie im Herbste. Da giebt es in der Welt keine Farbe, die er nicht zeigt, sei es an seinen hundertfältigen Moosen und Flechten oder an seinen hundertfarbigen Steinen, sei es an seinen welkenden Blumen oder an seinen gereiften und reifenden Beeren, sei es an den knorrigen Rinden und immergrünen Nadeln seiner Fichten und Föhren, oder sei es an den weiß und grau erglänzenden Stämmen seiner Buchen und Ahorne, deren Blätterfarbe von dem lang bewahrten Grün hinüberspielt in brennendes Gelb und in das tiefste Roth. Und mit der einzigen Farbe, die dem Bergwald mangelt, mit dem lichten lachenden Blau, überdacht der klare, wolkenreine Himmel das zahllose Volk seiner Bäume und Steine. Freilich ist das eine Herrlichkeit, die auf zitternden Füßen steht. Eine einzige Nacht – und dichte Wolken wallen um alle Gipfel und greifen mit ihren gaukelnden Nebelarmen nieder über Wald und Wände, schwere Regenschauer verfinstern die Luft und zeugen rauschende Wasserstürze in jeder Schlucht und Rinne, mit gigantischer Wildheit braust der kalte Herbststurm über die Berge, in gelben Wolken wirbeln die welken Blätter durch die Lüfte, von den Dächern der verlassenen Sennhütten fliegen die grauen Schindeln, mit Krachen stürzen die Tannen, und durch den weiten Bergwald geht ein dumpfes Stöhnen, als seufze die sterbende Natur durch die ächzende Stimme ihrer Bäume …

Wir aber saßen ja noch in goldigem Sonnenschein und lugten mit nimmersatten Augen in die noch währende Pracht.

„Wie schön, wie wunderschön!“ staunte mein Freund und dehnte sich behaglich in der lauen Sonne.

„Ja, warte nur, morgen um Tagesgrauen wirst Du zittern und schnattern vor Kälte und wirst vielleicht sagen: pfui, wie ungemüthlich! Wir steigen nicht nur der Höhe, wir steigen auch dem Winter entgegen.“

Als der vom Thal emporschleichende Schatten uns überholen wollte, machten wir uns wieder auf die Füße. Kaum waren wir eine Strecke weit gegangen, da hob mein Freund mit Lauschen den Kopf – er hatte ein durch die Ferne gedämpftes, langgezogenes Brüllen vernommen.

„War das ein Hirsch?“

„Ein Hirsch?“ lachte ich. „Wenn Du nichts dagegen hast, so war das eine Kuh, die irgendwo auf dem jenseitigen Berghang weidet – und wenn Du die Ohren ein wenig spitzen willst, so kannst Du auch ganz leise noch ihre Glocke hören.“

Er stellte sich etwas beschämt, wollte aber nun wissen, wie denn der Schrei eines Hirsches eigentlich klänge. Ich schaute zur Seite, damit mein Schmunzeln mich nicht verriethe, ahmte das Meckern eines an Heiserkeit leidenden Ziegenbockes nach und erklärte, so ähnlich, nur ein ganz klein bißchen anders wäre der Schrei eines Brunfthirsches wohl anzuhören.

„Merkwürdig,“ meinte er. „Und da scheint mir, daß Hieronymus Lorm auch niemals einen Hirsch hat schreien hören, sonst hätte er dieses nicht sehr poetische Gekrächze schwerlich zum Vergleich für seine lechzende Sehnsucht genommen:

‚Ich rufe wie die Wachtel im Getreid,
Ich schreie, wie der Hirsch nach Wasser schreit.‘“

„Da magst Du wohl recht haben. Uebrigens, der Vergleich hinkt auch noch auf einem anderen Fuße. Die Hirsche schreien nicht nach Wasser. Es läßt der Hirsch seine Stimme alljährlich nur durch einige Tage hören, nur in der Brunftzeit, wenn ihm ‚das Herz in Liebe schlägt‘. Nach Wasser braucht er nicht zu 'schreien, denn wenn er auch weder Teich noch Quelle findet, er löscht ja seinen Durst beim Aesen des thaunassen Grases.“

So plauderten wir im Steigen weiter, wobei uns allmählich die Dämmerung des kühlen Abends überfiel. Nahe der Jagdhütte hatten wir die Höhe einer sanft abfallenden Lichtung zu passiren. Ein geringer Sechserhirsch, der aus dem Dickicht getreten sein mußte, an welchem wir vorüber sollten, zog vertraut über den mit dürren Storren und welkendem Kräuterwerk bedeckten Schlag dem tieferen Grunde zu. Um den harmlosen Schneider nicht zu vergrämen, drückten wir uns am Saum der Dickung hinter ein Fichtenböschlein. Da plötzlich tönte kaum zwanzig Schritte lauter uns der tiefe, rauhe, weithin hallende Brunftschrei eines starken Hirsches. Mir schlug das Herz; aber trotz aller Jagdlust, die mich packte, schielte ich nach dem Gesichte meines Freundes, der erblaßt und erschrocken aufgesprungen war, als hätte er dicht hinter seinem Nacken das Brüllen eines hungrigen Bären vernommen. Doch war auch ein anderer noch erschrocken: der Schneider auf der Lichtung drunten; der mochte wohl mit dem bösen Herrn im Dickicht schon unbehagliche Bekanntschaft gemacht haben, denn in scheuer Flucht, daß unter ihm die dürren Aeste krachten, segelte er dem dunkeln Walde zu. Der andere im Dickicht schien das Brechen der Aeste richtig zu deuten; es rauschten hinter uns die Büsche, und da stand er nun, kaum einige Bergstocklängen vor uns, frei auf dem Steige – an prachtvoller Anblick. Fast schwarz erschien im bereits vollendeten Winterkleide der mächtige Körper mit dem dicken, zottig behaarten Brunfthals. Weiße Schaumflocken am Aeser, den Grind (Kopf) mit den vor Leidenschaft funkelnden Lichtern windend vorgestreckt, das Geweih, dessen gefegte Enden trotz der Dämmerung gleich weißem Silber blinkten, gegen den Nacken drückend, so stand er vor uns in seinem Stolze, in seiner Kraft und Wildheit. Allerdings genossen wir diesen Anblick nur wenige Sekunden; auf eine [660] unvorsichtige Bewegung meines Begleiters stutzte der Hirsch, und da schlug er auch schon um wie der Wind und verschwand im schützenden Dickicht, ohne daß es mir gelang, einen Schuß anzubringen.

Mit großen Augen schaute mein Freund mich an und meinte mit kleinlauter, schwankender Stimme: „Du, mir scheint, Du hast mich aufsitzen lassen – mit Deinem Gemecker!“

„Ja, scheint mir auch,“ brummte ich ärgerlich, „aber derjenige, der am meisten dabei aufgesessen ist, bin ich. Hätt’ ich Dich richtig vorbereitet, so wärst Du ruhig an meiner Seite geblieben, wärst nicht erschrocken aufgesprungen und hättest Dich nicht als wackelnde Kugelwehr mitten zwischen den Hirsch und meine Büchse gestellt. So geht’s mit der Bosheit – ich habe den Schaden davon und Du den Schrecken.“

„Schrecken? Das heißt …“

„Laß nur gut sein, Du brauchst Dich nicht zu schämen, denn vor dem ,Hirschfieber‘ ist der älteste Jäger nicht sicher.“

„In der That, so ein schwarzer Bursche hat etwas an sich, was einem das Herz klopfen macht. Wenn den die Lust angewandelt hätte, mit seinem Geweih ein klein wenig nach uns zu stochern …“

„So gefährlich ist die Sache nun doch nicht. Die Berghirsche sind scheu, auch in der Brunftzeit, und ich wüßte mich keines Falles zu erinnern, daß ein gesunder Berghirsch, wie es von brunftigen Parkhirschen häufig erzählt wird, einen Menschen ‚angenommen‘ hätte. Etwas anderes ist es mit einem angeschossenen oder mit einem bei der Treibjagd in die Enge getriebenen Hirsche. Von solch einem verzweifelten oder vor Schmerz rasenden Thiere ist manch ein Treiber und Jäger schon übel zugerichtet oder gar zu Tod ,geforkelt‘ worden.“

„Und das soll an Vergnügen sein? Ich danke für solche Jagd.“

Ich lachte. „Spür es nur einmal selbst, wie Dir in unnennbarer Freude das Herz schlägt, wenn der geweihte Recke im Feuer stürzt und wenn Du mitten im Zauber der Natur als Herr und Meister stehst – dann wirst Du anders reden!“

Wir hatten die Jagdhütte erreicht und streckten uns nach einem bescheidenen Abendbrot und einer behaglich verplauderten Stunde aufs duftende Heu zur Ruhe – allerdings zu einer recht zweifelhaften Ruhe. Meinen Freund ließ das ungewohnte Lager und die herbstliche Kälte der Nacht nicht schlafen; mich aber hielten die Hirsche wach, die es toll trieben die ganze Nacht und bald das träge „Grohnen“ und „Trenzen“, bald den vollen, gedehnten Orgelton, bald wieder den kurzen, rauh tönenden Kampfschrei vernehmen ließen. Immer wieder erhob ich mich, lauschte und spähte hinaus in das Dunkel, und wenn ich einen Hirsch ganz in der Nähe der Hütte schreien hörte oder im matten Sternenschein einen Schatten huschen sah, dachte ich mit stillem Neide jener Glückspilze, die schon manch einen schreienden Hirsch bei hellem Mondschein von Hüttenfenster aus geschossen. Daneben quälte mich die Sorge, daß sich die Hirsche, da sie fast die ganze Nacht hindurch munter waren, am Morgen desto schlechter „melden“ würden.

Diese Ahnung bestätigte sich leider; als wir um die fünfte Morgenstunde aus der Hütte traten, war weit und breit nicht der leiseste Grohner zu vernehmen. Verwundert schüttelte der Jäger den Kopf: „Was sagst jetzt da dazu. Heut’ Nacht wie narrisch – und jetzt net an einzigen Röhren! Wann die Teufeln mit ei’m solchenen Morgen nimmer z’frieden sind, nachher weiß ich bald nimmer was!“

Das war auch wirklich ein Brunftmorgen, wie ihn die Hirsche (und auch die Jäger) sich schöner nicht hätten wünschen können. Kein Wölklein am Himmel, an welchem die Sterne noch glänzten mit falbem Schein, indessen die östliche Ferne sich schon zu lichten begann; auf Gras und Büschen der weiße Reif; eine Kälte, daß der Athem gerann, und dazu ein Wind, welcher schnurgerad’ von den mattschimmernden Felswänden niederzog über den Wald. Und dennoch kein Laut in der weiten Runde. So alt und erfahren die Jägerei auch ist, so hat sie aber manche Dinge doch nur ein Fragezeichen zu machen.

Zahllose Hypothesen sind schon über die fraglichen Ursachen aufgestellt worden, welche eine mehr oder minder lebhafte Brunft veranlassen; aber jede dieser Hypothesen paßt nur immer für gewisse Verhältnisse, keine klappt für alle Fälle. Natürlich ist es, daß die Brunft um so lebhafter sein wird, je größer der Stand an Hirschen ist; da giebt ihnen schon die Eifersucht eine fleißige Kehle. Auch trifft es allgemein zu, daß die Brunft sich besonders lustig und energisch in jenen Gegenden gestaltet, in denen die Hirsche die stärkeren Geweihe tragen, in denen ein milder Winter und ein schönes Frühjahr mit reichlicher Aesung eine kräftige Entwicklung des Wildes begünstigte. Weshalb aber bei gleichem Wildstand und gleichen klimatischen Voraussetzungen der eine Herbst eine frische Brunft, der andere eine träge bringt, weshalb die Hirsche oft durch mehrere Tage unermüdlich orgeln, um dann jählings zu verstummen, weshalb sie das einemal lieber bei Nacht, das anderemal lieber am hellen Tage, das einemal lieber bei lauer Witterung, das anderemal lieber bei scharfem Frost und frühem Schneefall schreien, darüber sind die Gelehrten unter den Jägern noch immer nicht einig. Die Liebe bleibt eben unter allen Umständen eine eigene Sache, und auch das Herz der Thiere ist ein kapriziöses Ding.

Das alles plauderte ich mit leisen Worten meinem Freunde vor, während wir achtsamen Schrittes dem thalwärts führenden Steige folgten. Gleich vor der Jagdhütte hatte der Jäger sich von uns getrennt, um bergwärts zu steigen und den Einzug des Wildbrets auf einer großen, steilen Almlichtung zu beobachten, mich aber reizte der Versuch, ob es mir nicht gelingen möchte, noch einmal mit jenem schwarzen Herrn aus dem Dickicht aneinander zu gerathen. In weitem Bogen umgingen wir den Schlag, und ungefähr an jener Stelle, an welcher das Sechserhirschlein im tieferen Gehölze verschwunden war, kamen wir aus dem Walde. Ueber dem Schlage lag das schwache Grauen des nahenden Morgens, und schon auf den ersten Blick gewahrte ich inmitten der Rodung den Hirsch, freilich nur als schwarzen Schatten mit trüben Umrissen. Er hatte drei Stück Wildbret bei sich, die er langsam umkreiste und immer mehr gegen die Dickung emportrieb. Er schien die Gefahr zu ahnen, die ihm mit dem steigenden Lichte drohte, und suchte vor Einbruch desselben seinen kleinen Harem und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich schaute mir fast die Augen aus dem Kopfe, aber bei der herrschenden Dämmerung war es unmöglich, richtig und sicher zu visiren – ich mußte zu meinem Aerger den Hirsch ziehen lassen ohne Schuß.

Zwischen moosigen Steinblöcken richteten wir uns häuslich ein. Das Verschwinden des Hirsches nahm mir noch immer nicht alle Hoffnung. Trotz ihres zottigen Winterkleides spüren auch die Hirsche die Kälte der Nacht, und da ziehen sie nicht ungerne ein zweites Mal aus, wenn die warme Morgensonne den Reif von den Kräutern schmilzt. Es konnte ja auch sonst der Zufall einen „suchenden“ Hirsch des Weges führen. Auch der König der Bergwälder folgt nach Schillerschem Rezepte „ihren Spuren“, wenn auch nicht „erröthend“. Von Beginn der Brunftzeit ist das

„Ein ewiges Suchen und Wandern …“

bei allen schwächeren Hirschen, besonders bei jenen, die der tyrannische „Platzhirsch“ vom Rudel abgekämpft hat. Dieses Wandern der Hirsche beginnt in den Bergen gegen Ende September. „Um Aegidi“ (1. Sept.), sagt wohl ein alter Jägerspruch, „tritt der edle Hirsch in die Brunft“, und die sittsam erzogenen Parkhirsche mögen auch halbwegs diesem Spruche folgen; der freie Berghirsch hört aber nun einmal mehr auf die Stimme der Natur als auf die Mahnung des alten Jägerkalenders. Dann aber sind sie unermüdlich, die verliebten Herren, dann wandern sie bergaus und bergein, am gleichen Tag oft zwei und drei aneinander stoßende Reviere kreuzend, bis sie finden, „was ihr Herz begehrt.“

Geduldig saßen wir, es kam der Morgen mit seinem fahlen Himmel und seinen aus dem schmelzenden Reif erdampfenden Nebeln, welche sich langsam aufwärts kräuselten in die Luft und wieder in nichts zerrannen. Es stieg das leuchtende Gestirn empor über die Berge und goß sein lautres Gold über Wald und Rodung. Die wenigen Vögel, welche mit dem Herbste in dieser Höhe noch ausgeharrt hatten, wurden munter, flatterten pfeifend über die kalten Steine und sträubten das Gefieder. Ich hatte fleißig zu thun mit Augen und Ohren, und der Jagdeifer hielt mich warm, mein Freund aber, der meiner Prophezeiung gemäß die Sache längst schon „ungemüthlich“ fand, klapperte in dem frostigen Schatten, darin wir saßen, zu seiner einzigen Unterhaltung leise mit den Zähnen. Stunde um Stunde verrann, keiner der ersehnten Wanderer ließ sich blicken, und auch der „schwarze Bursche“ erschien nicht wieder, der hatte sich irgendwo im Dickicht

[661]

Urgroßmutters Herrlichkeiten.
Nach dem Oelgemälde von Hans Fechner jun.

[662] zur Ruhe gethan und ließ nur ab und zu an schläfriges Trenzen hören, bis er endlich ganz verstummte. Gegen elf Uhr – sechs Stunden hatten wir ausgehalten – erlöste ich meinen Freund aus seinem Klappern und Frösteln, um ihn der geheizten Jagdstube und der warmen Suppe zuzuführen. Bei der Ankunft in der Jagdhütte erhielt ich für meine schöne Geduldsprobe einen bitteren Lohn, denn der Jäger empfing mich mit den Worten: „Aber na, g’rad heut’ müssen S’ da ’nunter tappen! Bei mir wann S’ gewesen wären, Sie, da hätten S’ an Prügelhirsch derschossen! Am hellen Morgen is er noch draußen g’standen mitten auf der Almlichten – und a Zwölferg’weih hat er droben g’habt – a Staat und a Pracht! Aber warten S’ nur, der rumpelt uns schon an heut’ abends!“

So sehr ich mich nun über meinen Eigensinn ärgerte, so gaben mir die Worte des Jägers doch wieder gute Hoffnung für die Abendbirsche.

Um drei Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir gut anderthalb Stunden zu steigen hatten, um die entlegene Alm zu erreichen. Die hohen, von gelbem Sonnenlicht umflammten Felsenhäupter warfen bereits ihre Schatten über den Bergwald und es frischte schon in der Luft, so daß ein kalter Wind zu erwarten stand. Auf einem kleinen Wiesenflecke stand ein Schmalreh sorglos und vertraut, wie wenn es wüßte, daß es von uns keine Gefahr zu fürchten hatte. Durch das braune Heidelbeerfeld, an welchem wir vorüberkamen, glitt unsichtbar eine Auerhenne mit näselndem „gnäk, gnäk“, und hoch über den Almen, auf einem leicht beschneiten Grate, rodelte und grupelte ein Spielhahn so lustig, als wäre Mai und Falzzeit in den Bergen.

Und jetzt – dieser Ton, der für einen Augenblick die Hände zittern und das Blut in den Adern sieden machte! Das war der Hirsch. Wir hörten ihn schon und waren noch über eine halbe Stunde von der Alm entfernt. Der Kerl hatte eine „Lauten“ (Stimme), so dumpf und grollend, als käme sie aus einem Kanonenrohr. Vom linksseitigen Berghang antwortete ihm ein zweiter Hirsch mit schwächerer Stimme, der aber schon nach wenigen Schreien wieder verstummte. Nach einem beschleunigten Marsche, während dessen das Kanonenrohr dort oben immer fleißig weiterbrummte, erreichten wir den unteren Saum der großen Almlichtung. Mitten in dem steilen Grasgehänge stand auf einem kleinen vorspringenden Plateau die schon seit Wochen verlassene Sennhütte, welche uns einen guten Stand geboten hätte, da von ihr aus so ziemlich das ganze „Almbrett“ zu beschießen war. Doch war es nicht mehr räthlich, über den ungedeckten Hang zur Hütte emporzusteigen, da der Hirsch in dem schütteren Lärchenwalde schrie, der die Höhe des Almfeldes begrenzte. Auch war der Wind noch nicht besonders gut; er zog wohl schon im Schatten abwärts, schlug aber doch manchmal noch in rechts und links ausweichenden Halbwind um. So setzten wir uns, um nur so nichts zu verderben, am unteren Waldsaum einer breitästigen Tanne zu Füßen und deckten uns mit vorgesteckten Zweigen.

Der tiefe Baß, der über uns so fleißig übte, hatte auch meinen Freund in Aufregung gebracht, und nach seiner Meinung hätte ich stracks die Büchse spannen und kerzengerade dem orgelnden Herrn entgegenstehen müssen. Er wollte gar nicht glauben, daß der Hirsch so unliebenswürdig wäre, nicht so lange Stand zu halten, bis ich ihm aus aller Nähe die Kugel aufs Blatt gebrannt. Es mag wohl häufig und ohne besondere Mühe gelingen, einen schreienden Hirsch, der des Morgens einsam zu Holze zieht, bei gutem Winde auf Schußweite anzubirschen. Hat aber der Hirsch nur ein paar Stücklein Wildbret in seinem Gefolge, so ist er sicher vor dem Nahen des Jägers. Die braunen Damen sind zu aller Zeit gar fleißig mit „Aeugen“ und „Winden“, besonders aber während der Brunft, da steigert sich ihre Wachsamkeit auf das doppelte Maß und sie scheinen genau zu wissen, daß nun in ihrer Hut das Heil und Leben ihres Herrn und Gatten steht, den die Leidenschaft der Liebe und Eifersucht trunken und sorglos macht, blind und taub für alle Gefahr. Sie haben schon recht, wenn sie in den Bergen singen:

„Bei die Buben, bei die Deandeln,
Bei die Thierlein im Wald –
die Lieb’, die hat allweil
Den nämlichen G’walt.“

Eine Stunde verfloß; die Strahlenkronen, welche die sinkende Sonne um die Gipfel der Berge spann, erloschen allmählich, ein grauer, kalter Schatten deckte alles Gehänge, immer schärfer und frostiger wurde der Wind, und aus den feuchten Schluchten stiegen dünne Nebel, die sich in langen Streifen schlangenartig durch die Wipfel der Bäume wanden. Ueberall herrschte lautlose Stille, welche nur manchmal durch den unbehaglich grellen Ruf des Baumläufers unterbrochen wurde.

Gegen sechs Uhr hatte der Hirsch sein Schreien eingestellt. Mein Freund hatte dazu ein langes Gesicht geschnitten; ich und der Jäger aber, wir hatten uns schmunzelnd angeblickt; wir kannten dies Verstummen als ein Zeichen, daß nun das Wildbret schon im Auszug begriffen wäre. Es dauerte auch kaum eine Viertelstunde, bis in der Höhe zwischen den Lärchenboschen der emsig sichernde Kopf eines Thieres erschien. Zwei Kälberstücke mit ihren Sprößlingen traten aus dem Holze, und während die beiden Mütter sich vor einander hinpflanzten, als hätten sie geheimen Klatsch zu halten, tollten die Kälber mit lustigen Sprüngen auf und nieder über den steilen Hang und rings um die Sennhütte, ein paar gesunden Kindern vergleichbar, die den ganzen Tag in der Stube gefangen waren und nun am Abend für ein Erholungsstündlein ausgelassen wurden. Zwei Schmalthiere folgten, zu denen sich ein harmloser Spießer gesellte. Wieder kam eine kleine Familie, dann machten ein paar einzelne Stücke den Schluß. Langsam äsend zerstreute sich das Rudel über den Almenhang. Es zählte genau zwölf Köpfe – ein gutes Omen! Da mußte der Hirsch als Dreizehnter erscheinen – und Jäger sind ja immer ein wenig abergläubisch. Mit gespannten Blicken sahen wir unverwandt der Höhe zu; ruhig schlossen sich meine Hände um die Büchse, an den Schläfen aber hämmerte mir das Blut.

Und da kam er nun – durch einen tiefen Grohner meldete er sich an, kreischend schwirrte ein Tannenhäher aus den Lärchenwipfeln, Aeste knackten – jetzt sahen wir ihn zwischen den untersten Bäumen stehen, vom dunklen Abendschatten des Waldes überschleiert – eine kurze Weile zögerte er noch, dann zog er majestätischen Ganges einem vorspringenden Grashügel zu. In scharfen Umrissen hob sich hier sein wuchtiger Körper mit dem herrlichen Kronengeweih vom fahlgelben Himmel ab. Langsam streckte er den Grind, daß der zottige Hals sich blähte, und während ihm der heiße Athem vom Aeser rauchte, hallte sein dumpfer, langgezogener Orgelton in die Lüfte.

War das ein Echo? Nein – uns zur Linken, tief im Walde, meldet sich jener Hirsch, dessen Stimme wir schon einmal vernommen. Stutzend hebt der Platzhirsch den Grind, antwortet mit zornigem Schrei, und zwischen ihm und jenem andern entwickelt sich nun Ruf und Antwort ohne Ende. Dabei umkreist der Platzhirsch unablässig sein Rudel, immer enger treibt er es auf einen Knäul zusammen, und wenn ein Stücklein ausbricht, holt er es mit wilden Sprüngen ein. Bei all dieser Unruhe aber, bei all diesem Hin und Her bleibt er zu meinem Kummer immer weit außer Schußbereich.

„Halten S’ Ihnen nur stad,“ tröstet mich der Jäger, „bald der ander’ Hirsch auf d’ Almlichten ’reinschreit, nachher macht der Zwölfer schon amal an Rumpler gegen uns.“

In heißer Erregung lausche ich nun dem Walde zu, und immer höher schlägt mir das Herz, je näher der Brunftschrei des ziehenden Hirsches tönt. Jetzt sehen wir ihn aus dem Walde treten, etwa dreihundert Schritte von uns entfernt; es ist ein starker Achterhirsch, und er scheint ein muthiger Bursche zu sein; heiß mag die Liebessehnsucht in seinem Blute brennen, denn Schritt um Schritt steigt er der Höhe zu, und Schrei um Schrei schickt er in die sinkende Dämmerung. Eines der Schmalthiere zieht ihm neugierig entgegen. Die Flatterhaftigkeit dieser jungen Schönen scheint den Platzhirsch in wilden Grimm zu bringen; er läßt einen kurzen, heiser brüllenden Schrei vernehmen, dann senkt er den Grind, bohrt die Enden seines Geweihes in die Erde, reißt den Rasen auf und schleudert ihn in Stücken aus einander. Ein doppelter Schrei, und zornmuthig stürzen die beiden Kämpen einander entgegen. Regungslos steht ihnen das Rudel zur Seite; Stücke und Kälber halten die Lauscher erhoben und die Lichter unverwandt nach den Kämpfern gerichtet, deren Geweihe im Streite klirren wie helle Schwertschläge.

[663] Es wird in solchen Oktobertagen zwischen Wald und Felsen so manch ein heißer Kampf in Nacht und Dämmerung ausgefochten. Zuweilen geschieht es, daß die wilden Streiter im Kampfe die Geweihe unlösbar in einander verflechten und in solcher Umkettung einem elenden Tode sich entgegenquälen. Häufig erliegt ein schwächerer Hirsch den tödlichen Forkelstößen des stärkeren Gegners, und manchmal entspinnt sich der Kampf an abschüssigen Stellen; dann weicht unter einem der Kämpfer jählings die Erde und das Gestein, in einer Staub- und Sandlawine rollt der Stürzende über das steile Gefäll, liegt zerschmettert in der Tiefe, und wenn nicht das nachsinkende Erdreich über ihn einen schützenden Grabhügel deckt, so umschleichen ihn zur Nacht die hungernden Füchse, und am Tage kehren die scharfgeschnäbelten Bergraben und der schwingenstarke Adler auf seiner Leiche zu Gast.

So tragisch sollte nun allerdings der Kampf nicht enden, dessen Zeugen wir waren. Der Achter schien bei Zeiten die Uebermacht seines Gegners zu spüren, und so spielte er den Klügeren, welcher bekanntlich nachgiebt. Mit jähem Ruck befreite er sein Geweih, fuhr zur Seite, kam wie der „leibhaftige Teufel“ über die Almlichtung niedergeflogen und prasselte kaum zwanzig Schritt neben uns ins Tannendickicht. Der siegreiche Platzhirsch schlug mit den Läufen die Erde, schüttelte das Geweih und schrie dem Fliehenden mit zornigen Lauten nach.

„Gut is ’s, gut,“ flüsterte der Jäger an meiner Seite, „jetzt is er woltern in der Hitz’ – passen S’ auf – jetzt kriegt er den Schnecken zum Hören. Und richten S’ Ihnen nur gleich z’samm’ mit der Büchs, setzt kann’s pressiren, und über a paar Minuten wird’s aus sein mit der Schußlichten.“

Hastig zog er aus seinem Rucksack den „Schnecken“ hervor, jene große, auch unter dem Namen Kinkhorn bekannte Seemuschel, schielte flüchtig noch zu mir hinüber, ob ich fertig wäre, und ahmte dann, in die hohle Muschel rufend, täuschend den Brunftschrei des schwächeren Hirsches nach. Zornig warf der Platzhirsch, der schon als stolzer Sieger zum Rudel zurückkehren wollte, den Grind empor, ließ einen dumpfen Grohner hören, der Jäger antwortete, und da stürzte der streit- und eifersüchtige Recke in langen Sätzen niederwärts, um den vermutlichen Gegner vollends aus dem Felde zu schlagen. Auf etwa achtzig Schritte vor meiner Büchse stutzte er plötzlich – seit einer halben Stunde hatte sich der Himmel mit Nebeln zu überziehen begonnen, und schon seit einigen Minuten fackelte der Wind bedenklich hin und her – da mochte der zornmüthige Herr trotz aller Streitlust und Eifersucht von unserer gefährlichen Nähe einen „Schmecker“ bekommen haben. Ich aber ließ ihm nicht Zeit, über diese verfängliche Entdeckung länger nachzudenken; eine leichte Wendung nur wartete ich ab, bis er mir die Breitseite bot – dann krachte mein Schuß. In wilden Fluchten sah ich den Hirsch schräg abwärts in die Büsche stieben, droben auf dem Almbrett fuhr das Rudel nach allen Seiten aus einander, wie leichter Donner rollte noch das Echo meines Schusses über die dunklen Felswände hin – und lautlose Stille lag nun über dem weiten Bergwald.

Als ich mich setzt erhob, überfiel mich, glücklicherweise nach dem Schusse, das richtige Hirschfieber, und meine Hände zitterten, daß ich kaum die Patrone zu wechseln vermochte.

„Gut oder schlecht – setzt kann’s sein, wie’s mag,“ brummte der Jäger. "Wie sind’s denn abkommen?“

„Net übel, mein’ ich – schön kurz am Blatt.“

„No also, wann er an guten Schuß hat, kann’s so weit net fehlen. Ob er auf ’n Schuß a Zeichen g’macht hat, hab’ ich net sehen können, weil mir der Wind den Pulverdampf in d’ Augen ’trieben hat. Aber jetzt is allweil nix mehr z’ machen, setzt müssen wir ihm schon a Ruh lassen und müssen uns vertrösten bis auf morgen in der Fruh. A paar Vaterunser lang, und d’ Nacht is da.“

Gegen diese richtige Meinung war nichts einzuwenden. Lautlos birschte ich am Waldrand entlang und „verbrach“ an einem niederen Fichtenbäumchen die Stelle, an welcher der Hirsch das Dickicht gewonnen hatte. Dann traten wir den Heimweg an. Langsam stiegen wir thalwärts durch den finsteren Wald, und als ich meinen Freund, der schweigend an meiner Seite ging, nach einer Weile frug, wie denn der verflossene Abend mit seinen Ereignissen auf ihn gewirkt hätte, athmete er tief auf und sagte, daß er durch das herrliche, spannungsvolle Schauspiel dieses Abends zu einem verständnißvollen Freunde der Jagd bekehrt wäre, der wohl mit der Zeit ein tüchtiger Jäger werden möchte.

Dieses Geständniß machte mir Freude; trotz dieser Freude aber wurde mir, je näher wir der Hütte kämen, immer beklommener ums Jägerherz. Dichter und dichter überzog sich der Himmel mit Wolken, und ich fürchtete, daß die Nacht nicht ohne Regen vorübergehen würde. Die Regennässe mußte Fährte und Schweiß verwischen, und dann war es, wenn der Hirsch nicht schon nach kurzer Flucht zusammengebrochen, um die Nachsuche gar übel bestellt. Und meine Befürchtung wurde zu trüber Wahrheit; denn während wir noch beim Nachtmahl um das kleine Tischlein saßen, klatschte schon der Regen über das Schindeldach der Hütte. In Bangen und Sorgen verbrachte ich eine schlaflose Nacht, und es vermochte mich wenig zu trösten, als gegen die zweite Morgenstunde der Regen zu versiegen schien. Unruhig wälzte ich mich hin und her, während mein Freund zu meiner Rechten den bleiernen Schlaf des Müden schlief und mir zur Linken der im Heu vergrabene Jäger schnarchte wie ein Murmelthier. –

Als wir bei grauendem Morgen aus der Hütte traten, machten wir große Augen. Weiß, alles weiß, die Berge, der Wald und die Almen weiß von frisch gefallenem Schnee, und noch immer wirbelten die Flocken aus der grauen Höhe. Meinem Freunde gefiel das weiße Schimmerkleid, das die Berge über Nacht sich angezogen, mir aber wollte diese frische Unschuld durchaus nicht behagen, ich dachte an meinen Hirsch und schaute fragend den Jäger an.

Der zuckte die Achseln und meinte: „Au weh zwick – jetzt kann’s aber spucken!“ Und dabei blickte er mit sorglichen Augen aus den braunen Schweißhund nieder, der uns in großen Sätzen umsprang, als wüßte er schon, daß es an die Arbeit ginge.

Wir brauchten in dem zähen klebrigen Schnee zwei volle Stunden, bis wir die Alm erreichten. Auf dem hoch überschneiten Schußplatz nach Schweiß oder Schnitthaaren zu suchen, wäre vergebene Mühe gewesen. So eilte ich in brennender Ungeduld, meinen zwei Begleitern weit voraus, jenem Fichtenbäumchen zu, an welchem ich die Fluchtfährte verbrochen hatte. Da schoß eine heiße Blutwelle in meine Wangen und es lachte mir das ganze Gesicht – mochte nun meinethalben die Fährte verregnet und hoch überschneit sein! – der Hirsch hatte einen prächtigen Schuß, das deutete mir der helle Schweiß, mit welchem die über einander hängenden Zweige bespritzt waren, und zwar so reichlich, daß ihn alle Nässe nicht hatte verlöschen können. Freudig winkte ich meinen Freund und den Jäger herbei, nahm den Hund an die Leine, der den Schweiß begierig anfiel, und ließ mich von ihm ins Dickicht ziehen. In einem Bogen ging es thalwärts, wohl 150 Schritte durch dichten Bestand und noch dreihundert Schritte durch den Hochwald – dann lag er vor uns, der Herrliche, zu Füßen einer riesigen Tanne, nicht wie verendet, sondern wie in sorgloser Ruhe. Nur die Läufe waren ein wenig überschneit, und leicht zur Seite geneigt lag das braune, reichgeperlte Prachtgeweih. Er hatte die Kugel mitten auf dem Blatte sitzen, ein Schuß, mit welchem er zu anderer Zeit keine fünfzig Gänge weit gekommen wäre. Nur die zähe, gesteigerte Lebenskraft, die den Hirsch während der Brunftzeit erfüllt, hatte ihn nach einem solchen Schusse so weit noch führen können.

Nun ließ ich aber auch einen frischen Juhschrei hinaushallen in die weißdurchwirbelte Luft und steckte mir den wohlverdienten grünen Bruch aufs Hütlein. Dem Hirsch schnitt ich die schön gefärbten „Gran’ln“ aus dem Aeser und reichte sie meinem Freunde als Erinnerung an die Hirschbrunft in den Bergen.

Gegen Mittag stiegen wir thalwärts, der Jäger, um den Schlitten für den Hirsch zu holen, wir beide, um der Stadt entgegenzureisen.

Zweimal während des Niederstieges überholten wir den Schnee, doch immer wieder rückte er uns nach. Es schien, als wäre die weiße Decke ein Leichentuch, das von unsichtbaren Händen über die Berge gezogen würde, tiefer und tiefer mit jeder Stunde.

Die Hirsche hatten ausgeschrieen, und der eisbärtige Winter zog ins Land.

[664]
Der Herr Oberstabsarzt.
Von H. v. Osten.

Hier, mein lieber Werner, hier haben Sie das gewünschte Zeugniß. Gerathen Sie an einen nur halbwegs trätablen Kollegen vom Militär, so denke ich, daß Sie daraufhin freikommen werden. Ich wünsche es Ihnen von Herzen!“

Mit diesen Worten überreichte mir unser alter Hausarzt mit einem freundlichen Blick über die goldene Brille hinweg das Attest, welches meine inneren und äußere Schäden in so scharfer Weise hervorhob, daß ich jeden andern wegen Verleumdung verklagt hätte – hier drückte ich nur dankbar und verständnißinnig die weiche, fette Hand.

Es lag mir viel daran, vom Militärdienst frei zu kommen. Hatte sich doch eben Gelegenheit gefunden, meinen schönsten Traum zu verwirklichen, das heißt eine Reise um die Welt zu machen, und zwar in einer Weise, die für meinen Beruf als Naturforscher die denkbar günstigste war. Schwerlich würde eine zweite derartig günstige Gelegenheit mir sobald werden, und ich hoffte, wenn ich dieselbe ergriff, in meiner Weise dem Vaterlande einst besser dienen zu können, als wenn ich ein Jahr in Kommißstiefeln einherstolperte. Zudem waren meine Augen durch nächtliche Studien wirklich angegriffen, und mit großer Befriedigung bemerkte ich bei meiner Ankunft in D., daß die staubige Eisenbahnfahrt das Ihrige beigetragen hatte, sie noch mehr zu entzünden.

Die gerötheten Ränder und der trübe Blick, die mir aus dem fleckigen Gasthofspiegel entgegensahen, erweckten die besten Hoffnungen auf Befreiung von meinen soldatischen Pflichten in mir, und in gehobener Stimmung begab ich mich zu einem Stelldichein mit einigen Freunden.

Wir plauderten lustig und gemüthlich und die Leutchen gaben mir die merkwürdigsten Aufträge für die fernen Welttheile mit, als Freund K. mich plötzlich fragte, welcher Arzt mich untersuchen würde.

„Oberstabsarzt Römer,“ antwortete ich.

„Hui,“ machte er mit einem langen, wehmüthig verhallenden Pfiff, „dann Ade die schönen Reisepläne! Packe Deine Koffer wieder aus, mein Junge, bleibe im Lande und folge dem Kalbfell. Der Herr Oberstabsarzt Römer ist ein Herr, der nicht mit sich spaßen läßt. Seiner Ansicht nach gehören zum Militärdienst nur ein Paar tüchtige Arme und Beine, und Deine sind so, Gott sei’s geklagt, in der besten Verfassung. Aber Scherz bei Seite, mach’ Dich auf alles bereit. - Dieser Herr ist so unbeugsam, als hieße er nicht nur Römer, sondern stamme unmittelbar von den alten Quiriten ab.“

Ich blickte fragend im Kreise umher. Die meisten bestätigten durch ein stummes Kopfnicken die Worte des Freundes, und S., der lustige Blondkopf, sprang auf und rief mit Pathos: „Ein volles Glas für den dem Tode Geweihten!“

Wir lachten alle, und hell erklangen die Gläser, aber mit meiner frohen Laune war es vorbei. Ein verteufelter Spaß wäre es doch, wenn K. recht behielte.

Um den üblen Eindruck meines angegriffenen Aeußeren so viel als möglich zu verstärken, beschlossen die opfermüthigen Freunde, die kurze Sommernacht mit mir zu durchjubeln, und die Augen meiner guten Mutter hätten gewiß mit Sorge auf mir geruht, als ich am nächsten Tage bleich und übernächtig in das große, abscheulich helle Zimmer des Doktor Römer trat.

Beim ersten Blick auf den kleinen, untersetzten Herrn mit dem grauen, kurz geschnittenen Haar, unter dem das Gesicht so frisch, beinahe jugendlich hervorsah, zog wieder Hoffnung in meine geängstigte Seele, und mit dem scharfen Blick des Naturforschers glaubte ich zu entdecken, daß die Brille dem alten Herrn nur ein Mittel sei, sich amtliche Strenge zu geben und seine freundlichen, wohlwollenden Augen möglichst zu verstecken.

Nein die Freunde hatten sich einen Spaß mit mir gemacht: dieser Mann war sicher kein militärischer Automat, er würde verstehen – begreifen – und überdies hatte er gewiß schon den Brief des Hausarztes, den ich ihm gestern gleich zuschickte, gelesen – richtig, da lag er so offen auf dem Schreibtische, ich erkannte die geschnörkelte Schrift des alten Herrn. Ich athmete auf.

Doktor Römer kam mir mit ernster Freundlichkeit entgegen, forderte mich auf, Platz zu nehmen und, nachdem er über den Brief des Arztes gesprochen und einige Fragen über meine Familie an mich gerichtet, ich ihm auch meine Pläne bezüglich der Weltreise mitgetheilt hatte, begann er eine lange, gründliche Untersuchung.

Ich fing eben an zu denken, daß der gute Mann seinen Hokuspokus etwas abkürzen könnte, als plötzlich in meine gemüthliche Sicherheit die niederschmetternden Worte fielen:

„Es thut mir leid, mein junger Freund, ich weiß, was für Hoffnungen und Wünsche ich Ihnen zerstören muß, aber ich vermag in Ihrer Konstitution nichts zu finden, was Sie vom Dienste befreien könnte. Trösten Sie sich, Sie sind noch so jung, es kommt schon wieder eine derartige Gelegenheit und Sie werden diese dann mit dem ruhigen Gefühl benutzen können, Ihrer Pflicht genügt zu haben. Das ist doch immer die Hauptsache für einen ehrlichen Menschen.“

Er sagte diese Worte so wohlwollend und sah mich, jetzt ohne Brille, aus hellen blauen Augen so freundlich an, daß ich dem Manne nicht einmal gram sein konnte, der mit einem Worte meine Karrière zerstörte – wie ich damals meinte.

Während ich mich ankleidete, murmelte ich noch einiges über meine durch Studien sehr geschwächten Augen, aber der kleine Oberstabsarzt schüttelte lächelnd den Kopf und meinte: „Nein, nein, damit kommen Sie bei mir nicht durch. Es giebt vielleicht Kollegen, bei denen Sie mit der augenblickliche Entzündung Ihr Glück hätten machen können, aber da das Schicksal Sie nun einmal zu dem alten Römer geführt hat, so müssen Sie auch die Konsequenzen tragen. Ich darf mir derartige kleine Liebenswürdigkeiten nicht erlauben, darf es nicht, wenn ich nicht die Ruhe meiner Nächte gefährde will.“

Ich muß den alten Herrn wohl mit ziemlich dummem Gesichte angesehen haben, denn er lächelte ernst und meinte: „Das scheint Ihnen seltsam, mein junger Freund. Wenn Sie für heute Nachmittag nichts Besseres vorhaben, so trinken Sie eine Tasse Kaffee in meinem Garten, dann erkläre ich Ihnen die Sache. Es liegt mir daran, gerade Ihnen gegenüber mich auszusprechen. Sie gleichen auffallend Ihrer Frau Mama, die ich einst gut kannte, und ich möchte nicht gerne, daß die freundlichen Züge derselben sich verfinsterten, wenn sie zum ersten Male wieder von dem alten Doktor Römer hört.“

Ueberrascht und gerührt von dem herzlichen Ausdruck, mit dem mein freundlicher „Henker“ mir seine Hand entgegenstreckte, ergriff ich dieselbe und sagte mein Kommen zu.

Um vier Uhr fand ich mich mit militärischer Pünktlichkeit ein, und nachdem mir der alte Herr seine Rosen gezeigt und ich seine Spaliere bewundert hatte, setzten wir uns in einer Weinlaube zu einer ausgezeichnete Tasse Mokka, die von einer ebenso guten Cigarre begleitet war.

In einen bequemen Gartenstuhl zurückgelehnt, blickte ich den duftenden Rauchwölkchen nach und war in der menschenfreundlichsten Stimmung, die Bekenntnisse einer Oberstabsarztseele entgegen zu nehmen, obgleich ich noch vor einer Stunde im Kreise der Freunde Rache geschworen hatte.

Doktor Römer ließ sich zuerst von den Meinigen erzählen und hörte aufmerksam zu.

Dann saß er eine Zeitlang schweigend, endlich begann er.

„Nun, man junger Freund, wenn also die Frau Mama Sie fragt, warum der alte Doktor Römer gar so unerbittlich sein müsse, so erzähle Sie ihr folgende kleine Geschichte.

Im Jahre 70 war es, bald nach der Kriegserklärung, ich hatte natürlich alle Hände voll zu thun, als an einem Sommertage wie der heutige ein eleganter älterer Herr mit seinem Sohn bei mir eintrat. An seiner Sprache merkte ich sofort, daß er Pole sei; in dem schönen, echt nationalen Gesichte war eine große Aufregung unverkennbar, so sehr er sich auch mühte, diese zu verbergen.

Der Sohn, ein hochgewachsener, schlanker Mensch, zeigte dieselbe schönen Züge. Seine dunkelblauen, von schwarzen Wimpern umrandeten Augen hatten einen Blick, der Damen wohl gefährlich werden konnte; übriges schien er, trotz seiner Jugend, das Leben schon genossen zu haben. Es lag etwas Welkes in dem schönen Gesicht.

[665] In der verbindlich gewinnenden Weise der Polen erzählte mir der Vater, er habe es vorgezogen, den Sohn sofort als Freiwilligen anzumelden, obgleich er fest überzeugt sei, daß derselbe bei einer Musterung frei kommen würde. Es sei dies der letzte von drei Söhnen, die beiden ältesten wären an der Schwindsucht gestorben, eine Tochter trage den Keim derselben Krankheit in sich, und bei diesem Jüngsten würde es wohl ebenso sein, denn er sei den verstorbenen Brüdern ganz ähnlich. Dabei schimmerten, trotz aller weltmännischen Fassung, die dunklen Augen des Vaters von Thränen, und als ich den jungen Mann sich entkleiden hieß, nahm ich mir fest vor, Milde walten zu lassen, so weit es sich mit meinem Gewissen vertrüge.

Während ich den feingebauten Körper des jungen Polen sorgsam auskultirte, fiel mir ein, wie am Tage vorher ein junger Graf Malten mich angefleht hatte, nicht zu sehr aus seine schmale Brust zu achten, er könne wirklich viel ertragen, er sei nicht schwächlich, als Kavallerist brauche man ja keine Bärenkräfte.

Dies hier war ein ganz ähnlicher Körperbau – zart, angegriffen, aber noch vermochte ich kein eigentliches Symptom von Lungenleiden aufzufinden. Den jungen Grafen hatte ich angenommen, indeß hier – die Krankheit war nun einmal in der Familie, – erblich sogar, wie der Vater versicherte, es war sein letzter Sohn, wenn er nun doch den Strapazen nicht gewachsen wäre – ja, dachte ich bei mir, ich darf es diesmal thun, ich notire ihn als zu schwächlich.

Wie ich aufblicke, das Stethoskop noch in der Hand, um dem Vater die gute Botschaft zu verkünden, sehe ich, wie der Pole mit verbindlichem Lächeln drei Hundertmarkscheine auf meinen Schreibtisch legt.

Ich sehe noch heute die feingliedrige, weiße Hand vor mir, wie sie die Bestechungssumme auf meinen ehrlichen, alten Tisch legt. Es durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag. Denkt dieser polnische Aristokrat, daß ein bürgerlicher Doktor überall zu erkaufen ist, hier sowohl wie in Rußland, wo er vielleicht seine Erfahrungen gemacht hat? Das Blut steigt mir in den Kopf, es saust mir in den Ohren und ohne den Polen anzusehen, sage ich mit heiserer Stimme, indem ich zugleich die Notiz in das Attest eintrage: Tauglich für leichten Kavalleriedienst.

Ein Seufzer wie ein Stöhnen aus wunder Brust dringt an mein Ohr. Der Pole ist todtenblaß in einen Stuhl gesunken, aber wie ich auf ihn zueile, rafft er sich auf, tritt einen Schritt zurück und verbeugt sich Abschied nehmend mit kalter Würde.

Ich raffe die Scheine zusammen und reiche sie ihm.

‚Sie vergessen Ihr Eigenthum,‘ sage ich ruhig. Er nimmt sie und schreitet der Thür zu. Ich nähere mich dem jungen Polen und ermahne ihn, vorsichtig zu sein, er sei nicht krank, aber er sei sehr zart gebaut, ein wildes Leben könne ihn schnell an den Rand des Grabes bringen.

Ich spreche warm und dringend, er hört mich mit einem gleichgültigen Lächeln an, verbeugt sich verbindlich und folgt leichten Schrittes seinem Vater.

Ich starrte den beiden nach. Werden Sie es glauben, daß durch alle meine anstrengenden Berufsgeschäfte das schöne, ernste Gesicht des alten Polen mich verfolgte, daß ich immer wieder den tiefen, schmerzlichen Seufzer zu hören glaubte, mit dem er meinen Bescheid aufgenommen hatte?

Ich suchte mir einzureden, daß diese Polen überhaupt ungern gegen Frankreich kämpfen, daß man auf solche Gefühle keine Rücksicht nehmen dürfe – vergebens, ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß ich den alten Mann vielleicht um den letzten Sohn gebracht haben könnte.

Der junge Pole, ein Herr v. Malaszow, war beim hiesigen Husarenregiment eingetreten. Er sah bildhübsch aus in der Uniform und schien sich auch ganz wohl zu fühlen.

Trotzdem die Geschäfte in jenen heißen Tagen schwer auf mir lasteten, fand ich immer noch Zeit, mich nach dem ‚schönen Polen‘, wie er im Regimente hieß, zu erkundigen. Bald hörte ich denn auch so mancherlei.

Er spielte die Nächte hindurch mit leichtsinnigen jungen Kaufleuten, Herren vom Lande und einigen Kameraden, trieb allerhand Tollheiten in verwegenen Ritten und hatte sich in leichtsinnige Liebeleien eingelassen.

Ich gerieth in Aufregung; mir war, als sei ich dem alten Herrn v. Malaszow verantwortlich für Leben und Gesundheit des Sohnes.

Ich suchte den jungen Leichtsinn aus, gab ihm ganz unbegehrte ärztliche Rathschläge, bemühte mich, halb im Scherz, halb im Ernst, Einfluß auf ihn zu gewinnen, ja trotzdem ich abends müde und matt war und mich nach Ruhe sehnte, besuchte ich jetzt die tollen, lustigen Kreise, nur um mein Angstkind nicht aus den Augen zu verlieren.

Aber alle meine Sorgen und Ermahnungen waren vergeblich. Es wurde weiter geliebt, getrunken, gespielt – und während ich meine Hoffnungen darauf setzte, daß der Leichtfuß nun bald nach Frankreich müßte, kam das Verhängniß über ihn!

An einem sonnigen Morgen holte man mich um vier Uhr aus dem Bette; der junge Herr v. Malaszow hatte einen Blutsturz.

An den Vater war telegraphirt, seine Antwort lautete, er säße am Bette der todtkranken Tochter, er könne nicht kommen.

Wie habe ich den jungen Menschen gepflegt! Nicht aus den Kleidern bin ich in der ganzen Zeit gekommen, und wie ich ihn so weit hatte, schickte ich ihn mit meinem besten Krankenpfleger nach dem Süden.

Ich selbst mußte auf den Kriegsschauplatz nach Frankreich. Die aufregende Zeit, der stete Wechsel der Umgebung, die gehobene Stimmung, in der man sich befand, verwischten die Erinnerung an die traurige Episode.

Da, es war in den ersten Tagen des Oktober, bald nach der Kapitulation von Straßburg, saß ich in der verwüsteten Stadt an einer Wirthstafel. Ich führte einen Zug Verwundeter nach Berlin und schimpfte über das ungesunde, naßkalte Wetter.

Weiter unten an der Tafel sitzt ein Herr, der mir bekannt vorkommt, doch weiß ich nicht ihn unterzubringen. Schöne, tiefleidende Züge, das volle Haar schneeweiß, sitzt er mit gesenkten Augen theilnahmlos da, kaum daß er auf die Fragen seines Begleiters antwortet.

Als fühle er meinen forschenden Blick, hebt er die Lider, unsere Augen begegnen sich. Leichenblässe überzieht sein Gesicht, er sinkt wie ohnmächtig zurück. Ich ergreife ein Glas Wasser, in welches ich rasch ein paar belebende Tropfen schütte, und eile, es an die Lippen des halb Bewußtlosen zu halten. Schon will er trinken, da trifft mich wieder sein Auge. Nie im Leben werde ich dessen Ausdruck vergessen! –

Hoch auf spritzt das Wasser aus dem Glase, welches er von sich stößt; im nächsten Augenblick ist der Fremde, auf seinen Begleiter gestützt, aus dem Saal verschwunden.

‚Der arme Herr, er ist nicht ganz bei Verstande, er hat eben seinen einzigen Sohn in Mentone begraben,‘ sagt der Oberkellner, indem er dienstbeflissen mir das verschüttete Wasser abwischt.

Es war Herr v. Malaszow und er sah in mir den Mörder seines Sohnes. –

Was war ein Menschenleben in jenen Tagen!

Zu Tausenden sanken sie hin, edle, verdienstvolle Männer, hoffnungsvollste, blühende Jugend; alles raffte die wilde Kriegsfurie dahin, tiefe Lücken wurden in den Staat, die Familien gerissen. Hier hatte ein leichtsinniges, inhaltsloses Dasein seinen Abschluß gefunden, aber die Lücke wird nie ausgefüllt werden, öde und todt liegt die Welt für den Vater, dem der Herzschlag des einzigen Sohnes verstummt ist.

Unzählige hatte ich in diesen Tagen sterben sehen, warum ließ mir dieser eine Todte keine Ruhe?

War es denn wahr? Hatte ich schuld an seinem frühen Scheiden?

Ja, mein junger Freund, furchtbar habe ich in jenen Tagen gelitten. Ich fühlte etwas von dem Fluche Kains auf mir lasten. Mein Beruf wurde mir verhaßt, denn er weckte mir immer wieder die Erinnerung, daß damals das Wort, welches der Vater ersehnte, auf meinen Lippen schwebte, als er, in unseliger Verblendung, mich beleidigte und zum Widerspruch reizte.

Endlich überwand ich es. Ich sagte mir, daß bei einem vernünftigen Leben der junge Malaszow noch ebenso frisch einherschreiten könnte wie der Graf Malten, den das Leben im Kriege wunderbar gekräftigt hatte. Selbst an der Riviera war der leichtsinnige Pole ja mehr in Monte-Carlo an der Spielbank als bei den heilkräftigen Bädern in Mentone gewesen.

Aber etwas blieb mir aus jener schweren Zeit zueigen. Nie durfte ich zu Gunsten irgend eines Gefühls oder besonderer, Rücksicht heischender Umstände jemand freisprechen, der nicht wirklich gänzlich untauglich war. Bei jeder solchen Ausnahme hätte ich [666] die traurigen Augen des alten Herrn v. Malaszow gefürchtet mit der stummen Frage: ,Wenn diesen, warum nicht meinen Sohn, meinen letzten, einzigen Sohn?’“ –

Der alte Herr schwieg ergriffen. Auch mir war längst die Cigarre ausgegangen. Ueber uns im Weinlaub sang eine Drossel.

„Sehen Sie, mein junger Freund,“ sagte nach einer Pause der Doktor mit einem etwas anzüglichen Lächeln, „so wurde ich der alte Grimmbart, der keinen zehnzölligen Naturforscher mit einem Brustkasten wie ein Preiskämpfer als untauglich gelten läßt, mag er auch etwas entzündete Augen und eine bleiche Gelehrtenfarbe haben.

Donnerwetter, Sie werden sich wundern, wie Sie nach sechs Wochen aussehen werden. Wollen Sie bei der Artillerie eintreten?“

Ehe ich antworten konnte, verdunkelte ein leichter Schatten den Eingang der Laube und eine weiche Stimme sagte: „Verzeih’, Onkelchen, daß ich Dich störe, aber oben ist der Medizinalrath Scholten, der Dich gleich sprechen will.“

„Scholten! ja dann ist es vorbei mit dem Plauderstündchen, wir haben eine Konsultation zusammen. Seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen davonlaufe, wir sehen uns ja wohl noch öfters. Liebe Erna, geleite Herrn Werner bis zur Gartenthüre, hier ist der Schlüssel. Auf Wiedersehen, lieber Werner!“

Damit eilte der kleine, kurzbeinige Herr so schnell er konnte ins Haus.

Fräulein Erna hielt den großen Schlüssel verlegen in der zierlichen Hand. Aus der wenig ceremoniösen Art der Einführung und dem kurzen Sommerkleidchen, welches allerliebste Füße frei ließ, glaubte ich den Schluß ziehen zu dürfen, daß die junge Dame noch zu der Species der Backfische gehöre, obgleich über der ganzen Erscheinung schon der Zauber holdester Jungfräulichkeit lag.

Ich machte ein paar nicht sehr geistreiche Bemerkungen über den hübschen Garten und die Rosen, aber wie ich ein schelmisches Lächeln über das reizende Gesicht huschen sah, nahm ich mich zusammen und suchte, anknüpfend an eine seltene Pflanze in unserer Nähe, ihr ein kleines botanisches Privatissimum zu halten.

Sie hörte zwar aufmerksam zu, sah aber mit einem Ausdruck zu mir empor, daß ich sofort innerlich überzeugt war, ihr Litteraturlehrer in der ersten Klasse der höheren Töchterschule sei in sie verliebt. Ich wurde auf den Mann ordentlich eifersüchtig, denn die Litteratur ist entschieden ein ergiebigeres Feld als die Botanik. Indessen hatten wir uns auch in dieses trockene Studium so vertieft, daß ich zusammenschrak, als die Equipage des Medizinalraths am Gitter vorbeirasselte und Doktor Römer verwundert zu uns herüberblickte.

Schleunigst nahm ich nun Abschied, aber noch oft konnte man an schönen Sommerabenden die lange Gestalt eines Freiwilligen in der Weinlaube sitzen sehen und auch die privatissima wurden eifrig fortgesetzt.

Jahre sind vergangen. Der Herr Oberstabsarzt ist ganz sicher vor meiner Rache, vorausgesetzt natürlich, daß er nichts dagegen hat, mein Schwiegeronkel zu werden. –




Blätter und Blüthen.
Ein Denkstein auf dem Schlachtfeld von Auerstädt. Die großen Denkmäler gelten den Siegen der Nationen, aber auch, wo ein Heer tapfer, doch unglücklich gekämpft, verdient die Stelle des Kampfes für die Nachwelt bezeichnet zu werden. Auf der Hochebene zwischen Kösen und Eckartsberga liegt das Dorf Hassenhausen, um dessen Besitz am 14. Oktober 1808 heftig gekämpft wurde, an jenem Tage, der als Schlachttag von Auerstädt in der Geschichte bezeichnet wird. Drei Divisionen schlugen sich hier gegen die Truppen des Marschalls Davoust mit solcher Hartnäckigkeit, daß der beiderseitige Verlust übereinstimmend auf ein Drittheil der Kämpfenden angegeben wird. Hier fiel der Oberstkommandirende der preußischen Armee, der Herzog von Braunschweig, tödtlich getroffen; ein kleiner Denkstein in einem Tannengebüsch bezeichnete die Stelle. So lange die Napoleonische Herrschaft dauerte, war es bei einer in den Boden eingelassenen Steinplatte mit einem Kreuz und der Inschrift „14. Oktober 1806“ geblieben – im Jahre 1816 wurde der auf dem Kirchhofe von Taugwitz seit 1807 befindliche Denkstein nach dem durch jene Platte bezeichneten Platze überführt. Jetzt ist es den Bemühungen des Landraths von Naumburg, Barth, und des Brigade-Adjutanten Hauptmann Jäger gelungen, durch die Liberalität der braunschweigischen Regierung an dieser Stelle ein neues nach den Rissen vom Rathsbaumeister Fr. Töpfer in Kösen entworfenes und von demselben ausgeführtes Denkmal zu schaffen, einen etwa 4 Meter hohen Obelisken mit der Inschrift: „Hier ward am 14. Oktober 1806 Karl, regierender Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, tödtlich verwundet. P.(osuit) C.(arolus) A.(ugustus) D.(ux) S.(axonaie) V.(imariae). (Auf Deutsch: Gesetzt von Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar.) Erneuert von der Herzoglich Braunschw. Staatsregierung 1888.“ Das Denkmal wurde am 9. September in Gegenwart mehrerer Vertreter der braunschweigischen Regierung und der Kriegervereine der Umgegend festlich eingeweiht.
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Eine kirgisische Sultanin. Der Sultan der Kirgisen der Orenburger Steppe, Suleiman, den Heinrich Moser auf seiner großen asiatischen Reise besuchte, gemüthlich angeregt durch die Branntweinflasche seines Gastes, ließ ihm die größte Ehre widerfahren, welche einem Christen zu Theil werden kann: er drückte ihm den Wunsch aus, ihn seiner Lieblingsgemahlin vorzustellen. Moser schildert uns, wie ihn schon bei ihrem Eintritt in das Zelt Fatme durch ihre Schönheit und den Reichthum ihres Kostüms blendete. Sie war eine etwa zwanzigjährige, frisch aussehende, wunderhübsch gebaute Frau; sie trug einen cylindrischen sammetnen Kopfputz, der buchstäblich mit Edelsteinen bedeckt und am unteren Rande mit Zobel besetzt war. Eine Art Sack, ähnlich wie an den alten ungarischen Kalpaks, an dessen Ende ein Türkis von seltener Größe befestigt war, fiel auf das linke Ohr herab. Als Unterscheidungszeichen ihrer Würde trug die Favoritin einen Busch von Reiher- und Straußfedern auf dem Kopfputze. Als sie bemerkte, daß der Reisende ihre Person und ihr Kostüm bewunderte, ließ ihn ein Lächeln der Befriedigung ihre hübschen spitzen Zähne sehen. Mit offenbarem Vergnügen und echt weiblicher Koketterie machte sie ihn auf die einzelnen Theile ihrer Kleidung aufmerksam. Vom obern Rande der Mütze fielen von Goldfransen eingesäumte Musselinschleier bis auf die Schultern herab. Eine Art Priestermeßgewand aus weißem Atlas, das mit breiten Goldborten und einer hinter dem Kopfputze beseitigten Franse aus reinem Golde besetzt war, reichte bis auf die Kniee herab. Unter dem Meßgewand sah man einen Sarafan aus Goldbrokat. Dieses zierliche Kostüm wurde durch ein goldgesticktes Beinkleid aus sehr dünner weißer Seide, das an den Knöcheln fest anschloß, vervollständigt. Die sehr kleinen Stiefelchen aus rothem Maroquin bedeckten ebenfalls Goldstickereien und Edelsteine. Fatme nahm arglos die übertriebenen Schmeicheleien des Reisenden hin und obschon eine verheirathete Frau niemals wagen darf, ihr Haar sehen zu lassen, ließ sie ihn doch ein Endchen ihrer kohlschwarzglänzenden Zöpfe erblicken. Er faßte es zart an und war boshaft genug, daran stark zu ziehen, um sich zu überzeugen, ob der Stoff wahr oder falsch sei. Selbst in Europa hätte eine Frau sehr stolz auf diesen Haarschmuck sein können.

Nun mußte ihr Moser von seiner Heimath und der dortigen Frauenwelt erzählen; er zeigte ihr das Medaillon einer jungen Dame in Balltoilette. Da ergab es sich, wie verschieden die Begriffe von dem, was sich ziemt, in der Orenburger Steppe und in den Salons von Paris, Wien und Berlin sind; denn Fatme konnte sich anfangs nur denken, daß eine Dame in solcher Weise ihre Schönheit nur dem Geliebten zeigen könne, und glaubte daher, der Reisende habe das Bild selbst gemacht. Als sie erfuhr, daß ein anderer es gemalt, sagte sie: „Diese Frau liebt Dich nicht, sonst hätte sie sich nicht so wenig bekleidet einem Dritten gezeigt.“ Und als sie gar erfuhr, daß sämmtliche Frauen auf den Bällen in Europa so erschienen und von dem Arm eines Tänzers in den eines andern übergingen, da wuchs ihre Verwunderung.

Später vergrößerte sich der gesellschaftliche Kreis: es kamen Verwandte und Freundinnen der Sultanin und andere Gäste. Es wurden Gesellschaftsspiele gespielt, die mit den europäischen große Aehnlichkeit haben, Taschentücher versteckt, der Wirbelknochen eines Schafs in die Höhe geworfen, was an das Spiel „Kopf oder Wappen“ erinnern mag: fällt er auf die Seite, so hat der Spielende verloren und es werden ihm Strafen zudiktirt, die allerdings einen stark asiatischen Beigeschmack hatten. So mußte ein anwesender dicker Militärarzt aus Orenburg einen Hund nachmachen, und wenn er im Bellen nachließ, wurde er durch die Peitsche des Sultans und der Sultanin zur Fortsetzung seiner Rolle ermuthigen. Andere mußten mit den Zähnen ein Geldstück aus einem mit saurer Milch gefüllten Gefäße herausholen. Der Reisende selbst aber hatte eine liebenswürdige Nachbarin, eine Verwandte der Sultanin, die in großem Nationalkostüm neben ihm Platz genommen. Ihre Augen waren zwar nicht groß, aber ausdrucksvoll und tiefschwarz, ihre wenig plastische Nase hatte bewegliche Flügel und die Zähne waren von merkwürdiger Weiße; der kleine Kopf auf dem prächtig gebauten Körper erhöhte das Anziehende ihrer Erscheinung. Chalisa war der melodische Name des hübschen Mädchens. Sie streckte ihrem Nachbar, sobald sie Platz genommen, zwei weiße Händchen entgegen, welche dieser recht herzlich drückte. Diese Gastfreundlichkeit erschien ihm reizend. Beim Abschied bemerkte er einen Ring am Finger der reizenden Nachbarin; auf seine Frage, woher sie ihn habe, zog sie ihn ab und bot ihm denselben mit folgenden Worten an: „Nimm ihn hin! Ein armes Kind der Steppen giebt ihn Dir! Möge er an Deinem Finger stets nur eine befreundete Hand berühren, das wünscht Dir Chalisa.“

Er erwiderte das Geschenk mit einer alten Reliquie, die er an der Uhr trug und ihr mit den Worten überreichte: „Du wirst diese Reliquie Deinem künftigen Geliebten schenken. Möge er Deiner würdig sein, das wünsche ich Dir.“

Mit der stolzen Amazone machte er noch viele schöne Ritte durch die Wüste, und lange noch sah er sie vor sich, wie sie am Tage seiner Abreise aus der Kirgisensteppe zu Pferde, in den Steigbügeln stehend, eine Hand an der Stirn, die andere aufs Herz gelegt, sich von ihm verabschiedete.

Man sieht, das Bild der schönen Kirgisensultanin Fatme wird durch das der reizenden Chalisa etwas in Schatten gestellt.
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[667] „1000 Mark Belohnung!“ Das Leben der Großstadt ist unerschöpflich in der Abwechslung: bald locken die Theater mit Lustspielen oder Ausstattungsstücken die Menge an, bald übt dieser oder jener Cirkus seine Anziehungskraft; zu den Wettfahren, Wettläufen, Pferde- und Velocipedrennen wandern Tausende von Neugierigen hinaus; Sommerfeste, Konzerte mit großen Feuerwerken finden reiche Betheiligung. Wer aber an all diesen mehr oder minder rauschenden Festlichkeiten sich nicht betheiligen will, findet der buntesten Abwechslung genug in dem vielgestaltigen Straßenleben, in den buntzusammengewürfelten Lokalberichten der Zeitungen, in den Cafés, an den Anschlagsäulen, und hin und wieder ist es ein sensationelles Ereigniß, das alle Schichten der Gesellschaft in gleichem Maße erregt. Ein solches ist es, das unserm Künstler zu seinem nebenstehenden Bilde den Stoff gegeben hat. „1000 Mark Belohnung“, so lautet die verlockende, weithin sichtbare Ueberschrift einer polizeilichen

1000 Mark Belohnung.
Originalzeichnung von Fr. Stahl.

Bekanntmachung an der Anschlagsäule, welche auf eilige Geschäftsleute, befrackte Diener, sorglose Spaziergänger und selbst auf das schöne Geschlecht eine magische Anziehung ausübt. Ein Verbrechen hat jüngst die Stadt in Aufregung gesetzt, die Polizei fahndete vergeblich nach den Urhebern, jetzt wird der Eifer aller irgendwie Interessirten durch die ausgeschriebene Belohnung angespornt. Aller Interessirten – dazu gehören vielleicht auch die beiden fragwürdigen Gestalten, deren Aeußeres und scheues Benehmen den Argwohn, mit welchem sie beobachtet werden, wohl nur zu gerechtfertigt erscheinen lassen. Das Kainsmal ist beiden auf die Stirne geschrieben, und die 1000 Mark Belohnung mögen ihnen eher ein Gegenstand des Schreckens als der Anziehung sein. – Ein lebenswahres großstädtisches Bild! An der Seite des geachteten Bürgers unmittelbar unter den Augen des Wächters der Gerechtigkeit der gebrandmarkte Verächter der Ordnung und des Gesetzes, und an der buntscheckigen Anschlagsäule mitten unter den Anzeigen rauschender Vergnügen hart und nüchtern der Aufruf der Nemesis,der Steckbrief!
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Eine moderne Manie. Wir haben in Nr. 3 dieses Jahrgangs Mittheilungen über die „Geschichte der öffentlichen Vorträge“ gemacht und das Verdienstliche derselben hervorgehoben; doch diese Vorträge haben auch ihre Schattenseite, wie das Ferdinand Groß in seinen pikanten „Blättern im Winde“ hervorhebt. Er spricht von einer täglich zunehmenden Manie. „Fast jeder will vorlesen. Die Wahl thut einem weh, so mannigfaltig sind die sich darbietenden Genüsse. Litteratur, Malerei, Bildhauerei, Politik, Naturwissenschaft, Philosophie, Gesundheitspflege – kein Gebiet menschlichen Wissens und Erkennens fehlt in dem Verzeichnisse; sogar Vorlesungen über die vierte Dimension sind nicht ausgeschlossen.“ Gewiß muß man zwischen Vorlesungen und Vorträgen unterscheiden; für den Vorleser steht der Stoff oben an, für den Vortragenden die Form. Ohne Frage entspricht es den Mustern des ehrwürdigen Alterthums, wenn der Dichter selbst sein Werk vorträgt wie Homer und die andern Rhapsoden; doch dann muß ihm auch die Gabe des Wortes verliehen sein, wie das bei Wilhelm Jordan zutrifft, bei Charles Dickens u. a. der Fall war. Dagegen gab es große Dichter, die, wie Schiller, schrecklich.waren, wenn sie poetische Dolmetscher ihrer Muse sein wollten; bekannt ist, wie dieser bei einer Vorlesung seines „Fiesco“ mit seiner Dichtung eine höchst traurige Wirkung hervorrief.

Die meisten Dichter lesen mangelhaft und die feinsten Wendungen fallen bei nicht genügender Nüancirung unbeachtet zu Boden. Ebenso kann aber auch die gewinnende Persönlichkeit eines Poeten leicht über den Unwerth seiner Dichtung täuschen. Ob der Vorleser im Augenblicke wirklich erfindet, schafft oder nicht, ist gleichgültig, wenn er nur zu schaffen, zu erfinden scheint. Saint Beuve vergleicht den Vorleser mit einem Führer, der einen auf eine Bergspitze geleitet und, sobald die Sonne aufgeht, die beleuchteten Höhen aufzählt und nennt. Ob der für Vorlesungen Begabte sein Manuskript liest oder Notizen zu Rathe zieht oder gänzlich frei spricht, ist gleichgültig; Gutzkow konnte sich nie entschließen, öffentlich zu lesen, weil er wußte, er sei nicht im Stande, den Schein einer Improvisation hervorzubringen. Viktor Hugo las öffentliche Reden von Papierbogen ab, auf welchen zollhohe Buchstaben, weithin sichtbar, gemalt waren. Groß erklärt, daß ihm der Gelehrte oder Schriftsteller am Vorlesetisch lieber ist als der Schauspieler, aber auch nur dann, wenn er twas Neues und zwar in einer Form zu sagen weiß, welche die Zuhörer glauben macht, das Vorgebrachte oder ein Theil desselben sei nicht am Schreibtisch ausgeheckt worden, sondern falle als eine Frucht der Begeisterung dem Hörer in den Schoß.

Die geistreichen Bemerkungen von Ferdinand Groß lassen sich vielfach ergänzen. Die Vorträge sind eine Modesache geworden. Liest ein Dichter vor, der Ruf hat, so kommt die Damenwelt, nur fein Porträt nicht bloß in effige anzuschauen. Bei wissenschaftlichen Vorträgen, die doch alle ihren Gegenstand nur streifen können, sucht ein Theil des Publikums einen gewissen Schein und Firniß von Bildung zu gewinnen, sich auch bildungsdurstig zu zeigen. Wohl aber fehlt es glücklicherweise auch nirgends an einem Publikum, das sich von dem dichterischen Werke begeistern läßt und aus dem wissenschaftlichen Vortrag die Anregung schöpft zu eigenem Forschen und Studium.
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Das Schwanrupfen in Schildhorn. (Mit Illustration S. 649.) Die trotz aller Anmuth doch etwas einförmigen Wasserpartien der Mark werden durch zahllose Schwäne in reizvoller Weise belebt. Spree und Havel sind von ihnen bevölkert, die stolzen Vögel schwimmen stromauf- und abwärts, brüten auf unzugänglichen abgelegenen Inselchen oder sonstigen geschützten Plätzen und erfreuen sich fast immer ihrer Freiheit. Nur einmal im Jahre, meist im Frühjahr, findet auch für diese lebenden Geschöpfe eine „Einstellung in den königlichen Dienst“ statt. Auf Anordnung des königlichen Hofjagdamtes, dem die Schwäne als „Wild“ unterstellt sind, beginnt ein großes Kesseltreiben. Zu Wasser und zu Land werden die Vögel nach der Richtung von Spandau und von dort die Havel abwärts bis zur Landzunge Schildhorn, gegenüber der vielbesuchten Insel Pichelswerder, getrieben, und viel Ausdauer erfordert es, die starken Thiere einzeln einzufangen, um sie der aus geübten Frauen bestehenden „Rupfkompagnie“ auszuliefern. Mit großer Geschicklichkeit und ohne den Thieren nennenswerthe Schmerzen zu verursachen, zupfen die Angestellten ihnen die am Bauch und an der Brust sitzenden feineren Federn aus. Empfindlicher ist die zur Verhütung der Flugfähigkeit nothwendige Entfernung einiger langer Schwungfedern. Mit großem Jubelgeschrei verlassen die Gerupften die Marterkammer, werden draußen von ihren Leidensgefährten verständnißvoll begrüßt und suchen nun schleunigst alle wieder das Weite. Die Federernte, welche ein bedeutendes Kapital repräsentirt, wird der königlichen Hofbettkammer abgeliefert, deren Aufgabe es ist, viele tausend Betten in Stand zu halten und alle preußischen Schlösser damit zu versehen.

Volksthümliche Leibspeisen – eine nicht immer unbedenkliche Geschmackssache – besitzen alle Nationen, und wir Deutsche erfreuen uns eines besonders großen Vorraths derselben. Die in einer Land- oder Ortschaft vorzugsweise erzeugten oder gepflegten Gaben des Thier- oder Pflanzenreichs bieten den Grundstoff des Leibgerichts und bestimmen dessen Benennung. Dafür zeugen Westfälischer Schinken und Pommersche Gänsebrüste ebenso sehr wie die Backhändl, Rostbratwürste, grauen Erbsen, Spätzle und Waldklöße, jegliches an seinem Orte. Bei letzteren aber wollen wir ein wenig verweilen.

Unter Waldklößen verstehen wir die Thüringer und Vogtländischen Kartoffelklöße, welche die Sonntags- und Feiertagshauptspeise in allen Familien, bei Reich und Arm im ganzen Gebiet ihrer Herrschaft sind. Dieses Gebiet erstreckt sich in Thüringen und Franken über das Land [668] der ehemaligen gefürsteten Grafschaft Henneberg, namentlich vom Kamm des Thüringer Waldes bis nach Koburg hinab, das sich als die südliche Hauptstadt dieses Nationalspeise-Reiches auszeichnet.

Die wesentlichste Eigenthümlichkeit derselben besteht aber darin, daß zur Bereitung dieser Klöße die Kartoffeln nicht erst gekocht, sondern in rohem Zustande gerieben werden. Ist dieser Brei gehörig (eine Nacht über) entwässert, so wird er tüchtig ausgepreßt, mit Milch angebrüht, mit scharf gerösteten Semmelbröckchen gefüllt und mit der Hand zu Kugeln geballt in das kochende Wasser geworfen. Wenn ihre Herstellung geglückt ist, so steigen sie, sobald sie „fertig“ sind, an die Oberfläche des Wassers und müssen nun auch sogleich auf den Tisch kommen. Wenn ein solcher Kloß auf dem Teller liegt, so darf er nicht mit dem Messer geschnitten werden, das wäre eine schwere Verletzung für jedes sachkundige Auge; der Kloß muß schon zittern, wenn man nur am Teller wackelt, und es braucht nur geringer Nachhilfe mit der Gabel, um ihn aus einander fallen und seine knusperige Fülle zeigen zu lassen. Neben der Klöße- hat allezeit die Bratenschüssel zu stehen, denn Klöße ohne Braten mit kräftiger fetter Brühe sind eine reine Unmöglichkeit und gälten für ebenso unannehmbar wie Braten ohne Klöße.

Diese Klöße, welche im Vogtland „grüne Klöße“, im Meiningischen Henneberg „Hütes“ und im Preußischen „Knolle“ oder „Knödel“ genannt

Kartoffelpresse.

werden, erfreuen sich der doppelten Ehre, indem sie von Fürsten des Landes als Hausmannskost hoch gehalten werden und von Dichtern des Landes poetisch verherrlicht worden sind. Ganz bestimmt wissen wir ersteres vom Koburger Hofe, von wo aus übrigens alle in Koburg erzogenen Prinzen des Hauses ihre heimathliche Leibspeise mit auf ihre hohen Lebensstellungen in die Fremde trugen. So kann Herzog Ernst II. von Koburg in seinen Memoiren (Band 1, IV. Kapitel) uns von seiner ersten Reise nach Portugal, wo sein Geschwisterkind Ferdinand von Koburg-Kohary als Gemahl der Maria II. da Gloria König war, erzählen, daß die dortige Küche „mit unserer Hausmannskost“ viele Ähnlichkeit habe und daß er in Lissabon auch schon mit Koburger Klößen überrascht worden sei. Wenige Volksleibspeisen können sich solcher Treue ihrer Liebhaber in der Fremde rühmen. Was aber die Poeten betrifft, so hat nicht nur schon ein Dichter in der Henneberger Mundart treffliche Belehrung über die Bereitung dieser Klöße ertheilt, wie z. B.:

„Klenner, röst’ die Bröckle,
Laß se net verbrenn’,
Mach hinsch kläne Stöckle,
Bin s’ ins Mäule genn’ –“

sondern der gefeiertste Henneberger Dichter der Gegenwart, Rudolf Baumbach, hat den „Hütes“ ein Lied gesungen, welches weit über das Klößegebiet hinaus, das übrigens auch jenseit der Meere seine Kolonien hat, unzählige Menschen erquickt.

Das Hauptinstrument zur Kloßbereitung ist die Kartoffelpresse. Sie gilt als so wichtig für den Haushalt, daß sie beim Aufbau des Ausstattungswagens früher immer ihren Ehrenplatz neben der Wiege gefunden hat. Erfährt ein solches Werkzeug eine wesentliche Verbesserung, so sind wir derselben unsere Aufmerksamkeit schuldig. Wie bei der Buchdruckerkunst die Presse lange Zeit von Holz war, bis die eiserne sie verdrängte, so tritt jetzt auch für die Kartoffelpressung an die Stelle der alten, oft recht unförmlichen hölzernen eine eiserne Presse, und zwar ist diese Erfindung in der südlichsten Hauptstadt des Klößegebiets, in Koburg, ins Leben getreten. Daß wir dieselbe sofort selbst probirten, ist selbstverständlich, und so können wir sie und ihren Verfertiger und Verkäufer, Joh. Nic. Dehler in Koburg, um so freudiger empfehlen, als seine neue starke und zierliche Eisenpresse uns die Veranlassung gab, diesen Gegenstand einmal vor unser Publikum zu bringen.
Fr. Hfm.     


Die Kornblume im Garten. Die Lieblingsblume Kaiser Wilhelms I. ist auch eine dankbare Gartenblume. Sie hat die Eigenschaft, daß sie beim Anbau oft ihre Farbe verändert; man kann aus ihr weiße und dunkelpurpurne, fleischfarbene, ziegelrothe und rosa Varietäten ziehen; manchmal wird sie sogar mehrfarbig. Ihr Anbau bereitet viel Vergnügen und die Blumen lassen sich sehr gut zu Sträußen verwenden. Allem Anschein nach ist sie auch einer Veredelung fähig und verdient darum eine besondere Aufmerksamkeit der Blumenliebhaber.
*     
Skat-Aufgabe Nr. 10.
Von K. Buhle.

Wie sitzen die übrigen Karten, wenn auf:

(p. As.)
(p. K)
(p. D)
(p. B)
(p. 8)
(p. 7.)
(c. 9.)
(c. 7)
(car. 9.)
(car. 7.)

Null oder Null ouvert bei richtigem Gegenspiel verloren werden muß?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 9 auf S. 500:

Die Karten sind so vertheilt: Skat: rK, s7.

Vorhand: cZ, gD, gO, g7, rD, rZ, rO, r9, r8, sZ.
Mittelhand: gW, g8, eK, eO. e9, sK, sO, s9, s8. r7.

Nimmt der Spieler die vorgespielten eZ, e9 mit dem eD mit, so folgt dann:

2. eW, g7, g8 (+2),
3. rW, gD, gW (– 15),
4. eK!, c7, sZ (– 14),
5. e0, c8, rD (- 14),
6. sK! sD, g0 (– 18),

und die Gegner haben 61 Augen. Hätte dagegen der Spieler den Stich laufen lassen, so folgte

2. sZ,[1] s8, sD (+ 21),
3. eW, g7, g8 (+ 2),
3. rW, gD, gW (– 15)
5. eK, c8, rD (– 15),
5. eO, eD, g0 (– 17))

und die Gegner hätten nur 57 Augen. Es ist übrigens kein Fehler, wenn der Spieler den ersten Stich mitnimmt, nur die eigenthümliche Sitzung bewirkt den Erfolg.

  1. Spielt Vorhand statt sZ Roth vor, so ergiebt sich dasselbe Resultat.
Skat-Briefkasten.

I. F. W. in N. Die eingesandte Lösung der Skat-Ausgabe Nr. 8 der „Gartenlaube“ ist richtig. Ihrer Ausstellung, daß jeder Spieler Grand auf die fragliche Karte gespielt haben würde, können wir deshalb nicht beipflichten, weil Eichel- (Kreuz-) Solo mit vier Matadoren, Schneider angesagt, 7 x 22, also 84 kostet, während Grand nur 5 x 16 = 80 gekostet haben würde. (Die Berechnung richtet sich nach den Bestimmungen der „Allgemeinen Deutschen Skatordnung“, welche von dem vom 7. bis s. Juli d. J. zu Dresden tagenden Skatkongreß für den Deutschen Skatverband als gültig angenommen worden ist, nachdem sie schon vor zwei Jahren vom Altenburger Skatkongreß on bloc angenommen worden war. Die Deutsche Skatordnung, entworfen von K. Buhle, erschienen bei Th. Thomas in Leipzig 1886, ist durch jede Buchhandlung für 50 Pfennig zu beziehen.)


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. H. in P An Büchern, welche dem Laien Anleitung geben, wie man Blumen im Zimmer pflegen soll, fehlt es nicht. Viele von denselben sind Jedoch recht umfangreich und enthalten Details, welche für die große Masse der gewöhnlichen Blumenliebhaber ohne Belang sind. Ein kurzes Büchlein, welches in klarer übersichtlicher Form das Wichtigste auf diesem Gebiete vorführt, ist aber namentlich dem Anfänger zu empfehlen. Ein solcher trefflicher Leitfaden ist „Der Zimmergarten“ von Davidis-Hartwig (Leipzig, J. Bädeker). Das Büchlein ist als Ergänzungsband zu Henriette Davidis’ „Küchen- und Blumengarten für Hausfrauen“, der bereits 15 Auflagen erlebt hat, erschienen. Die Zahl der Hausfrauen, welche auf den Bau der Küchenkräuter verzichten müssen, aber Blumen im Zimmer gern ziehen und pflegen möchten, ist sehr groß und ihnen wird der „Zimmergarten“ von Davidis-Hartwig besonders willkommen sein.

E. T. in Zw. Sie finden die gewünschte Auskunft in dem Werke „Die Berufswahl im Staatsdienst“ von A. Draeger (Leipzig, C. A. Kochs Verlag).

R. L. in Budapest. Wir bitten um Angabe der genauen Adresse behufs brieflicher Auskunft.

A. N. in Leipzig. Nicht nur Wildschweine sind Feinde und Vertilger der Kreuzotter: auch die Igel und eine ganze Anzahl von Vögeln vertilgen dieselbe. Selbst unser Haushahn kann mit der Giftschlange fertig werden und ihr den Garaus machen. Die natürlichen Feinde können jedoch, wie die Erfahrung lehrt, diese Giftbrut nicht ausrotten. Darum sollte der Mensch in dem Vernichtungskampf systematisch vorgehen.

Carl K. in Essex, Iowa. Das Wort „Glast“, welches Ihnen in der ersten Strophe des Gedichtes: „Kaiser Friedrich todt!“ (Nr. 25, Halbheft 14 und Ganzheft 7 dieses Jahrgangs) auffällt, ist gut deutschen Ursprungs und bedeutet soviel als „Glanz“; allerdings findet man es meist nur in dichterischen Erzeugnissen verwandt.

A. K. in Breslau. Von Ihrer Mittheilung, daß außer der von uns in Nr. 27 erwähnten Panoramenkarte in Kreisform auch eine solche, welche den im schönsten Theile des Salzkammerguts belegenen Schafberg zum Mittelpunkt hat, im Buchhandel erschienen ist, nehmen wir hier gern Notiz. Weitere gute Panoramakarten sind Stolles „Brockenpanorama“, entworfen und gezeichnet von Oskar v. Bomsdorff (Verlag von C. R. Stolles Hofbuchhandlung in Harzburg), „Panorama vom Königstein“ von A. von Gutbier (Verlag von Hermann Burdach in Dresden) und „Rundsicht von der Hohen Mense“ von Max Krause in Glatz.

Privatgelehrter H. in B. Sie behaupten, die Quadratur des Zirkels gefunden zu haben, und wollen Ihre Lösung an diejenige Akademie senden, welche „den hohen Preis“ dafür ausgesetzt hat. Wir können Ihnen nur mittheilen, daß ein solcher Preis nirgends ausgesetzt ist. Die Quadratur des Zirkels, das heißt die Verwandlung eines Kreises in ein flächengleiches Quadrat mit alleiniger Anwendung von Zirkel und Lineal, ist unmöglich. Es ist dies von hervorragenden Mathematikern wiederholt bewiesen worden, zuletzt von Professor Lindemann. Wir können Ihnen bestimmt erklären, daß keine Akademie sich der fruchtlosen Mühe, derartige Lösungen zu prüfen, unterziehen wird.


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman
von E. Marlitt.
Vollendet von W. Heimburg.
2 Bände eleg. broch. M. 7,50 Eleg. geb. in 1 Lnbd. M. 8,50.
Das Loggbuch des Kapitäns Eisenfinger.
Roman
von Balduin Wöllhausen.
Zweite Auflage
3 Bände eleg. broch. M. 9.–. Eleg. geb. in 3 Lnbde. M. 11.–.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.