Die Gartenlaube (1893)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

Nr. 44.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Ein Lieutenant a. D.

Roman von Arthur Zapp.
 (4. Fortsetzung.)

Erwin Hagen – diesen Namen beschloß der ehemalige Lieutenant als den seinen jetzigen Verhältnissen angemesseneren beizubehalten – war über das Gefühl der Verlassenheit, das ihn bei seiner Landung in der Neuen Welt so sehr daniedergedrückt hatte, schnell Herr geworden. Die neuen Eindrücke, die er auf Schritt und Tritt erhielt, brachten die böse Erfahrung mit Miß Carry Sumner bald in Vergessenheit, und wenn er sich der koketten gemüthlosen Amerikanerin je noch einmal erinnerte. so geschah es mehr mit Aerger und Beschämung als mit Schmerz.

Die ersten acht Tage verbrachte er ausschließlich damit, sich New York anzusehen. Er mußte doch erst einigermaßen bekannt werden auf dem Boden, auf dem er künftig zu arbeiten hatte. Dann fing er an, seine englische Grammatik und seinen Sprachführer hervorzusuchen, um die auf dem Schiff so jäh unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen, aber er machte auch auf dem Lande, wo ihn keine Miß Sumner störte, nur geringe Fortschritte, um so mehr, als er in seinem Kosthause fast nur Deutsch zu hören bekam. Nach weiteren acht Tagen, während deren er fleißig den Boden kennengelernt und sehr interessante vergleichende Studien zwischen den einheimischen und den importierten Austern angestellt, sich auch eine ausreichende Kenntniß der verschiedensten Vergnügungslokale erworben hatte – nach einer weiteren Woche also machte er die Entdeckung, daß seine Geldmittel sehr bedenklich zusammengeschmolzen waren und daß er binnen kurzem vor dem Nichts stehen würde. Die Folge dieser Wahrnehmung war, daß er ernstlich mit sich zu Rathe ging und beschloß, so rasch wie möglich irgend einen Erwerb zu ergreifen.

Aber da war guter Rath theuer. Was anfangen? Die wissenschaftlichen Kenntnisse, die er sich im Kadettenhause angeeignet hatte, gingen auf ein sehr bescheidenes Maß zusammen; mechanische Fertigkeiten besaß er nicht. Sein erster Gedanke war natürlich, in die amerikanische Armee einzutreten. Doch als er hörte, daß das Officierscorps der Vereinigten Staaten sich ausschließlich aus einheimische Kadetten ergänze und daß er als Ausländer gar nicht darauf rechnen dürfe, vorzurücken, gab er diesen Plan schnell wieder auf.

Er überlegte von neuem hin und her und beschloß, es zunächst einmal mit einer Anzeige in den Blättern zu versuchen. Anfangs schrieb er ganz allgemein: „Ein ehemaliger deutscher Offizier sucht eine seinem Stande und seinen Fähigkeiten angemessene Stellung,“ Aber obgleich er die Anzeige dreimal hintereinander abdrucken ließ, meldete sich niemand, der ihm diese „angemessene“ Beschäftigung gewähren wollte. Er erklärte sich nun etwas bestimmter: „Ein gebildeter junger Deutscher sucht Stellung als Sekretär oder Reisebegleiter.“ Doch auch mit dieser neuen Ankündigung erzielte er nur das eine, daß seine Börse vollends zusammenschrumpfte.

Er gab also diesen undankbaren Versuch auf und begann, sich die Anzeigen derer, die jemand suchten, einmal genauer anzusehen. Doch das, was er da fand, war nur geeignet, seine Bangigkeit vor der Zukunft zu erhöhen. Da wurden Fleischer, Bäcker, Tischler, Kellner und so weiter verlangt, aber für ihn fand sich durchaus nichts. Er konnte sich doch um Gotteswillen nicht als Kellner verdingen!

Sein Gemüthszustand wurde von Tag zu Tag gedrückter und er fing an, sich eine immer größere Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit anzugewöhnen.


Theodor Mommsen.
Nach einer Aufnahme von Löscher und Petsch, Hofphotographen in Berlin.

[742] Vergnügungslokale und feine Restaurants zu besuchen, dazu war ihm, ganz abgesehen vom Zustand seiner Börse, die Lust vergangen.

Eines Tages war er am Ende seiner Barschaft angekommen und mußte beginnen, vom Versetzen seiner Habseligkeiten zu leben. Uhr, Kleider und Wäsche wanderten zum Pfandleiher, und der Zeitpunkt, an dem er nichts mehr besitzen würde als das, was er auf dem Leibe trug, war sehr genau abzusehen. Dann aber setzte ihn die Wirthin des elenden Kosthauses, in dem er jetzt wohnte, auf die Straße, und dann – was dann?

Er fand keine Hilfe und keinen Freund, der ihm wenigstens einen Rath gegeben hätte. Abgestoßen von den Manieren seiner Hausgenossen, die meistens Arbeiter waren, hatte er sich von Anfang an in jene kalte stolze Unnahbarkeit gehüllt, die ihm noch von früher her zu Gebote stand. Das rächte sich jetzt schwer, denn niemand mochte ihn leiden, niemand kümmerte sich um ihn. Am meisten ärgerte es ihn, daß er damals in seiner zornigen Aufwallung, die ihm jetzt sehr unzeitgemäß vorkam, sich selbst von der Hilfe seines amerikanischen Reisegefährten für immer ausgeschlossen hatte. Mister Hopkins wäre gewiß imstande gewesen, ihm zu einer lohnenden Thätigkeit zu verhelfen, hatte er ihm doch freiwillig seinen Beistand angeboten! „Wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ – er erinnerte sich genau dieser Worte, die der Amerikaner beim Abschied zu ihm gesprochen hatte, leider aber gar nicht mehr der Adresse auf jener Karte, die er so achtlos ins Wasser geworfen hatte.

An einem trübseligen Vormittag kam Erwin am Deutschen Theater vorbei. Große Zettel verkündeten die bevorstehende Eröffnung der Spielzeit. Neben dieser Ankündigung, die einen breiten Raum einnahm und in einem pomphaften Stil gehalten war, befand sich eine kleine nüchterne Notiz: „Zu der Aufführung der ‚Jungfrau von Orleans‘ werden noch einige Statisten gegen hohe Entschädigung gesucht.“

Als Erwin diese Notiz las, gab es ihm ordentlich einen Ruck. Winkte ihm nicht hier die lange ersehnte Beschäftigung? Zum Statisten würde er sich doch so gut oder wohl besser eignen als die meisten anderen Bewerber! Und sein früheres Selbstgefühl hatte durch die Erfahrungen der letzten Tage schon einen so nachdrücklichen Stoß erlitten, daß auch nicht eine Sekunde lang der Gedanke in ihm aufstieg, es schicke sich für ihn am Ende doch nicht, sich um eine derartige Stellung zu bewerben. Nur um die Frage, auf welchen Betrag sich die in Aussicht gestellte „hohe Entschädigung“ belaufen möchte, drehte sich sein Interesse, Im übrigen bedachte er sich nicht lange, sondern sagte sich, daß er keine Minute Zeit zu verlieren habe.

Im Theaterbureau, das er mit leichter Mühe fand, hieß man ihn warten; der Herr Regisseur sei eben in der Probe beschäftigt. Und Erwin wartete, da ihm niemand einen Stuhl anbot, stehend unweit der Thür und fühlte sich nicht einmal beleidigt, daß man von seiner Anwesenheit so gar keine Notiz nahm. Er schätzte sich glücklich, daß er offenbar nicht zu spät kam, denn sonst hätte man ihn sicherlich von vornherein abgewiesen. Und in der That, als der Regisseur endlich nach einer Stunde erschien, die Erwin alle Qualen der Hoffnung und Ungewißheit hatte kosten lassen, da wurde er ohne weitere Förmlichkeiten und Fragen nach einem einzigen prüfenden Blick des Bühnenlenkers für das Theater angeworben.

Erwin empfand eine so jähe Freude über diesen Ausgang, daß er beinahe einen Freudenruf ausgestoßen hätte. Freilich, die Mittheilung des Registers; daß die angekündigte „hohe“ Entschädigung für den Tag fünfundzwanzig Cent betrage, dämpfte seinen Jubel nicht wenig. Immerhin verließ er das Theater innerlich froh. Der Anfang wenigstens war gemischt, mit der Zeit würde er schon weiterkommen. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, am Theater eine dauernde und bessere Stellung zu erringen!

Noch an demselben Nachmittag begann seine neue Thätigkeit. Der Regisseur hielt die erste Probe mit den frisch angeworbene Statisten ab, unter denen sich gestrandete Existenzen aller Art befanden. Erwin machte sich sofort dem scharfen Auge des Regisseurs durch seine angenehme Erscheinung und sein gewandtes Benehmen bemerklich und wurde daher zum Statistenführer ernannt. Damit war zugleich eine kleine Erhöhung seiner Einnahme verbunden, und Erwin pries sich überglücklich, daß er jetzt so viel verdiente, um zur Noth seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sein Optimismus baute auf diesem bescheidenen Anfang schon allerlei glänzende Luftschlösser auf.

Acht Tage später fand die erste Hauptprobe statt. Das gesamte Personal des Theaters war auf der Bühne versammelt. Da hatte Erwin, der sich mit seinen Rittern, die erst gegen den Schluß des erste Aktes zu thun hatten, im Hintergrund aufhielt, eine Ueberraschung, die ihn mit heftigem Schrecken erfüllte. In der Darstellerin der Agnes Sorel erkannte er zu seiner Bestürzung die ehemalige „Naive“ des Stadttheaters seiner Garnison. Er erinnerte sich ihrer ganz genau. Sie war besonders beliebt gewesen, mehr als alle ihre Vorgängerinnen, und war auch von den Offizieren außerordentlich gefeiert worden. Ja, als sie schied, hatte ihr das Offizierscorps einen silbernen Lorbeerkranz gestiftet und Erwin hatte zu der Abordnung gehört, die der Künstlerin das Erinnerungszeichen in ihrer Wohnung überreichte. Wenn sie ihn nun erkannte! Wie beschämend, wie demüthigend für ihn!

Verflogen war mit einem Mal die Befriedigung, die ihn die ganze Woche über erfüllt hatte. Wie ungeheuer war der Wechsel zwischen Ernst und Jetzt! Die Scham erdrückte ihn fast und er war ängstlich darauf bedacht, sich in der Schar seiner Gefährten vor den Augen der Schauspielerin zu verbergen.

Doch nun kam die Scene, in der er auftreten mußte. Der Zug der Ritter und Rathsherren, das Gefolge der Jungfrau, stellte sich auf. Erwin aber rührte sich nicht, bis endlich der Register ungeduldig rief: „Der Statistenführer! Wo steckt denn der Mensch? Herr, in des Teufels Namen, beliebt’s Ihnen endlich, anzutreten?“

Erwin erbleichte bei diesen rohen Worten. Seine Genossen aber schoben ihn nicht eben sanft vorwärts; und so geschah gerade das, was er vermeiden wollte – von allen Seiten lenkte sich die Aufmerksamkeit auf ihn.

„Mensch,“ begann der Regisseur von neuem, „ich glaube gar, Sie haben das Lampenfieber!“

Allgemeines Gelächter folgte, Erwin aber biß die Zähne zusammen und senkte das Gesicht, das über und über erglühte.

Und nun begann der Marsch und Erwin näherte sich mit niedergeschlagenen Augen dem „König“ und der neben diesem stehenden Darstellerin der Agnes Sorel. Da, als er dicht vor den beiden angekommen war, trat die Schauspielerin plötzlich einen Schritt vor und rief, Rolle und Probe vergessend, lebhaft aus: „Ja, sind Sie’s denn wirklich, Herr von Buschenhagen? Grüß Gott, Herr Lieutenant! Was thun denn Sie in Amerika?“

Ein Stocken kam in den langen Zug, ein Tuscheln und Raunen entstand, aller Augen richteten sich auf den Angeredeten. Heiß und kalt durchschauerte es diesen, der wie angewurzelt stehen blieb. Dann ging ein sichtbarer Ruck durch seinen Körper. „Sie irren, mein Fräulein,“ sagte er mit einem abweisenden Blick, „mein Name ist Hagen. Ich, bin nie Offizier gewesen.“ Und ehe sich die Schauspielerin von ihrer Ueberraschung erholt hatte, war er an ihr vorüber.

Wenn der so wenig in die Handlung des Stückes passende Auftritt damit auch sein Eude erreicht hatte, so war er doch für den Hauptbetheiligten keineswegs erledigt. Erwins Genossen, die ohnehin wegen seines raschen Avancements neidisch und erbost auf ihn waren, bot der Vorfall einen willkommenen Anlaß zu allerlei Witzen über den „Herrn Lieutenant“, so daß Erwin wie erlöst war, als endlich der Schluß der Probe kam. Er eilte davon, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Sein Entschluß war gefaßt, lieber zu hungern als sich noch einmal einer so demüthigenden Scene auszusetzen, und so bereitete er denn seiner kurzen schauspielerischen Laufbahn freiwillig ein Ende.

Aber wie einen anderen Broterwerb finden? Er machte die äußersten Anstrengungen, um einen Posten zu bekommen, der für seine Selbstachtung nicht ganz unleidlich war, allein er suchte vergebens. Seinen Ueberzieher, alle irgend entbehrliche Wäsche hatte er zum Pfandleiher getragen, das Elend in seiner bittersten Form war bei ihm eingezogen. Da endlich entschloß er sich, das letzte Aushilfsmittel zu ergreifen, das sich ihm bot – er machte sich auf den Weg, um in einem deutschen Bierlokal sich um die Stelle eines Kellners zu bemühen.

An der Bowery, der geräuschvollen großen Verkehrsstraße des deutschen Stadtviertels von New York, gab es neben unzähligen anderen kleineren Geschäften dieser Art ein Bier- und Vergnügungslokal von riesiger Ausdehnung, den „Atlantic Garden“, in dem allabendlich Tausende von Menschen, meist Deutsche, ihren Durst mit gutem Lagerbier zu löschen trachteten. Dort [743] gelang es Erwin, ein Unterkommen zu finden. Die Beschäftigung war einfach. Er hatte mit einer Anzahl gefüllter Gläser zwischen den endlosen Reihen der Gäste hin- und herzugehen mit dem Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“. Ein festes Gehalt gab es nicht, der Verdienst wurde nach dem Absatz berechnet.

Am ersten Abend war seine Einnahme nicht sonderlich hoch, denn er ging immer mit gesenktem Kopf umher und hatte das Gefühl, als bilde er für alle Anwesenden einen Gegenstand des Staunens und Spottes. Bei jedem Anruf fuhr er erschreckt zusammen, bei jedem Blick, der sich auf ihn heftete, erröthete er. Wenn ihn jemand erkannte!

Als ihm ein Gast – wahrscheinlich ein „Grüner“, ein Frischangekommener – das erste Trinkgeld bot, da fuhr er mit einem Ausruf des Zorns zurück und warf dem Menschen das Geldstück vor die Füße. Ein Trinkgeld – ihm!

Aber diese Stimmung, mit der er am ersten Tag seinen neuen Beruf versah, hielt nicht stand. Schon am zweiten Abend fühlte er sich freier, er tummelte sich nach Kräften und seine Einnahme stieg auf das Doppelte. Nach einer Woche hantierte er so flink und gewandt, als sei er von jeher Kellner gewesen.

Von den anderen Kellnern des „Atlantic Garden“ zog sich Erwin soviel als möglich zurück; überdies war in der Wirthschaft selbst keine Zeit, um Privatgespräche anzuknüpfen. Nur nachts auf dem Nachhausewege hatte sich ihm schon ein paarmal einer seiner neuen „Kollegen“ angeschlossen, ihr Gespräch hatte sich jedoch ausschließlich um ihren Verdienst und andere Dinge ihres Berufs gedreht. In seinem Aeußeren hatte William – so nannte man ihn, da im „Atlantic Garden“ die Kellner nur beim Vornamen gerufen wurden – nichts Außergewöhnliches. Er trug wie alle seine Genossen eine kurze dunkle Jacke und während der Arbeit zugleich einen kleinen Lederschurz um die Hüften. Daß er schon einige Jahre im Lande war, entnahm Erwin einigen gelegentlichen Aeußerungen sowie dem Umstand, daß er im Gespräch vielfach englische Wörter und Redewendungen unter sein Deutsch mischte.

Nach alledem war Erwin ungemein überrascht, als William einmal spät nachts, nachdem sie eine Weile schweigend durch die Straßen geschritten waren, plötzlich stehen blieb, ihm die Hand auf den Arm legte und beim Schein einer Gaslaterne ihn scharf ins Auge faßte. „Sagen Sie ’mal – nicht wahr, Sie waren drüben Offizier?“

„Ich?“ stotterte Erwin verwirrt, „warum – wieso?“

„Nun“ – der andere lächelte leicht – „man sieht’s Ihnen immer noch deutlich an, wenn man einen Blick dafür hat. Die Art, wie Sie Ihr Haar tragen, der Ton Ihrer Stimme – na“ – er unterbrach sich und klopfte dem peinlich berührten Genossen beschwichtigend auf die Schulter – „Sie brauchen sich nicht zu genieren, vor mir nicht! Ich habe die Ehre, mich Ihnen als Kameraden vorzustellen: von Oeller, ehemaliger Lieutenant bei den Gardegrenadieren.“

Er legte mit einer salutierenden Bewegung die Hand an die Kopfbedeckung und auch Erwin fuhr unwillkürlich mit seiner Rechten an den Hutrand. Dann streckte er in freudiger Aufwallung dem Kameraden die Hand hin und stellte sich selbst in aller Form vor. Sein Vergnügen war ungeheuchelt. Endlich einmal ein Mensch, mit dem er auf gleichem Fuße verkehren konnte!

Fünf Minuten später saßen die beiden in einer der kleinen Nachtkneipen der Bowery einander gegenüber, in allerlei heitere und ernste Erinnerungen aus der schönen seligen Lieutenantszeit vertieft. Erwin schloß sein Herz auf, war es doch ein Stück Heimath, das er in dem Kameraden erblickte. Die Vergangenheit mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit zog an dem Geiste des lebhaft und angeregt Plaudernden vorüber. Noch nie, seit er Deutschland verlassen, hatte er sich so wohl gefühlt, noch nie eine so heitere schöne Stunde verlebt. Ja, ihm schwand minutenlang ganz das Bewußtsein seiner gegenwärtigen Lage, er fühlte sich wieder als Angehöriger des „privilegierten“ Standes und mehr als einmal tastete er unwillkürlich nach dem Monocle, das er mit den Abzeichen seiner Lieutenantswürde drüben in der Heimath gelassen hatte.

Auch Herr von Oeller gab seiner Genugthuung, in Erwin einen Kameraden entdeckt zu haben, lebhaften Ausdruck. „Waren Sie schon einmal in Peter Schwabs Biersalon in der zweiten Avenue?“ fragte er. Und als Erwin verneinte, fuhr er lebhaft fort: „Nicht? O, da müssen Sie einmal hin! Sie werden sich auf Ehre königlich amüsieren. Alle Sonnabende ist dort große Zusammenkunft von Kameraden. Wer weiß, ob Sie da nicht alte Bekannte treffen!“

Erwin fühlte sich wie elektrisiert. War es denn möglich – ein förmlicher Klub von Kameraden? Das war ja köstlich! Wieder einmal ganz unter sich zu sein, das war unbezahlbar!

Der Morgen dämmerte schon herauf, als die beiden noch immer plaudernd und trinkend beisammen saßen. Endlich erhob Herr von Oeller das ihm eben frisch eingeschenkte Glas und sagte: „Das letzte! Leeren wir es auf die Vergangenheit, auf die unvergeßliche unvergleichliche Lieutenantszeit. Sie lebe hoch!“

„Sie lebe hoch!“ stimmte Erwin begeistert ein. Als er sein Glas leer auf den Tisch zurückgestellt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er galt der goldenen Lieutenantszeit, der unwiederbringlich verlorenen.




7.

Am nächsten Sonnabend gegen zwölf Uhr nachts suchte Erwin in Begleitung des Herrn von Oeller Peter Schwabs Biersalon auf. Mit freudiger, fast fieberhafter Spannung betrat er das Lokal. Sein Begleiter stellte ihn den Herren, die an einem großen runden Tisch im Hintergrund des Saales saßen, in aller Form vor.

„Herr von Buschenhagen, Kamerad vom X. Infanterieregiment.“

Die Herren nannten nacheinander ihre Namen und begrüßten den Neuangekommenen mit liebenswürdiger Herzlichkeit. Erwartungsvoll sah sich Erwin im Kreise der Tischgenossen um, aber er bemerkte kein bekanntes Gesicht. Dennoch fühlte er sich bald heimisch unter den Kameraden. Ihre Art zu sprechen, die Lieblingsausdrücke im Gespräch, die immer wiederkehrten, ihre Formen und Gewohnheiten – alles das heimelte ihn an. Es war, wie wenn Freimaurer einander in der Fremde sich sogleich an ihren Bundeszeichen erkennen.

Die Unterhaltung drehte sich zum größten Theil um die Erlebnisse im neuen Vaterland. Und was Erwin staunend hier zu hören bekam, war ebenso interessant wie die Persönlichkeiten der Erzähler selbst. Der eine, ein Herr zu Anfang der Vierziger, von eindrucksvoller Persönlichkeit, über sechs Fuß hoch, breitschulterig, mit langem blonden Kotelettbart, war schon zehn Jahre im Lande. Er hatte sich in den verschiedenartigsten Lebenslagen befunden, hatte zeitweise im Ueberfluß geschwelgt, dann wieder wochenlang einen verzweifelten Kampf gegen den Hunger geführt. Im fernen Westen war er Farmarbeiter, dann Lehrer gewesen, darauf Kutscher und später Prediger einer Methodistengemeinde. Jetzt in New York hatte er die Stellung eines Reitlehrers an dem Institut eines Pferdeverleihers inne, wofür er fünfundzwanzig Dollar wöchentlich bezog.

Ein Zweiter, eine kleine zierliche Husarenfigur, ein Freiherr von Metzen, war erst ein Jahr in der Neuen Welt. Der Zufall hatte ihn mit einem deutschen Bäckermeister bekannt gemacht; jetzt arbeitete er bei diesem als „zweite Hand“. „Was wollen Sie,“ bemerkte er zu Erwin, der ein erstauntes Gesicht zu dieser Mittheilung machte, „man muß froh sein, wenn man sich durchschlägt. Wählerisch darf man hier zu Lande nicht sein. Hier heißt es: Friß, Vogel, oder stirb! Ich kann noch von Glück sagen. Die Tochter meines Prinzipals, sein einziges Kind, ist verschossen in mich bis über die Ohren. Der Alte ist ein wohlhabender Mann und – na, Sie verstehen mich, Herr Kamerad.“

Erwin schüttelte sich unwillkürlich. Der Schwiegersohn eines Bäckermeisters! Dafür würde er denn doch danken.

Dem Freiherrn gegenüber fast ein bildhübsches Herrchen mit frischen rothen Wangen, zierlichem wohlgepflegten Schnurrbart und zarten Frauenhändchen. Er hatte sich Erwin als ein Baron von Reussenstein vorgestellt. Seinem Aeußeren nach mußte er sich in guten Verhältnissen befinden, denn er war eleganter gekleidet als irgend ein anderer der Tafelrunde. Höchstens der Reitlehrer konnte sich in dieser Hinsicht mit ihm messen.

„Ein frisches Glas!“ rief er eben nach dem Schenktisch hinüber.

„Sagt ’mal, Reussenstein,“ nahm sein Nachbar, ein sehr würdig dreinblickender Herr mit gelichtetem Scheitel und ruhigen gravitätischen Bewegungen, das Wort, nachdem der Wirth das frisch gefüllte Glas auf den Tisch gestellt hatte, „Ihr seid für [744] mich ein lebendiges Räthsel. Ihr seid der erste Nähmaschinenagent, der bei seinem Geschäft auf einen grünen Zweig gekommen ist.“

Reussenstein lachte, während der Fragende, ein Graf Bürker, zur Zeit Oberkellner in einem deutschen Gasthaus in der Greenwich Street, sich würdevoll in seinen Stuhl zurücklehnte.

„Lieber Graf, die Sache ist sehr einfach,“ entgegnete Reussenstein, „man muß eben sein Geschäft verstehen. Reden muß man können, in allen Tonarten, zart und rauh, prahlend und klagend, lachend und weinend, wie es eben der einzelne Fall verlangt. Freilich, wenn man weiter nichts zu sagen hat als: ‚Brauchen Sie keine Nähmaschine? Nicht? Dann entschuldigen Sie, bitte!‘ so kann man getrost einpacken. Man muß den Leuten etwas vorschwatzen, bis ihnen der Kopf wirbelig wird und sie zu allem Ja sagen, bloß um einen loszuwerden.“ Der Sprechende lächelte wohlgefällig und strich sich den Schnurrbart. „Ich will doch die Frau sehen, die mir nicht einen Auftrag giebt, wenn ich schön bitte. Wenn nur nicht diese hartherzigen Ehemänner wären, die hinterher die Bestellungen wieder rückgängig machen!“ (Fortsetzung folgt.)     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VII.
Die moderne Philosophie als Weltverbessrerin.

Von den praktischen Versuchen eines Cabet, Owen und Rapp drüben in der Neuen Welt der nordamerikanischen Freistaaten wenden wir den Blick wieder zurück aufs europäische Festland. Hier war man um dieselbe Zeit, gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen. Die neuere Philosophie, insbesondere die deutsche, welche schon in Kant begonnen hatte, sich mit Eifer in das liebe Ich des Menschen selbst, in seine Anlagen und Kräfte zu versenken, suchte mit nie zuvor erreichter Gründlichkeit bis auf die tiefsten Wurzeln des menschlichen Daseins und der menschlichen Geschichte hinabzudringen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts setzten die bedeutendsten Geister, insbesondere auch Deutschlands, ihre Kraft für diese Arbeit ein. Das Ergebniß ihres Forschens war nicht bloß eine klarere, bestimmtere Erfassung der treibenden Ursachen der gesamten geistigen Entwicklung, man langte schließlich an bei einer umfassenden Kulturgeschichte des Menschengeschlechts überhaupt und schärfte so den Blick ganz besonders auch für die rein wirthschaftlichen Lebensvorgänge.

Schon Johann Gottlieb Fichte, der unmittelbare Nachfolger Kants, hat in seiner Staatslehre – insonderheit in dem genialen Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ – mit vollem Bewußtsein sich daran gemacht, gerade auch die materiellen Lebensbedingungen seines Volkes zu überblicken; Hegel vollends, der klassische Zeuge des ganzen inneren Umschwungs um die Wende unseres Jahrhunderts, ist mit seinem Satze: „Alles Wirkliche ist vernünftig“ nicht bloß der Vater eines wahrhaft großartigen Aufschwungs der Geschichtsauffassung und Geschichtsdarstellung geworden, er hat auch die wirthschaftlichen Schranken der Wirklichkeit, insbesondere des Staates, deutlich dem Auge der Zeitgenossen enthüllt. Es ist daher weder die Thatsache ein Zufall, daß von Hegel die glänzendsten Namen unserer zeitgenössischen Historiker ihren Ausgang nehmen, noch die andere, daß von ihm ebenso unsere bedeutendsten Vertreter der Wirthschaftslehre, insbesondere auch diejenigen sozialistischer Färbung, ihr Bestes gelernt haben. Karl Marx und sein noch lebender Geistesverwandter Friedrich Engels waren ebenso verständnißvolle wie begeisterte Schüler des berühmten preußischen Staatsphilosophen Hegel, und Ferdinand Lassalle hat seine dicksten wissenschaftlichen Werke unter dem unmittelbaren Eindruck der Hegelschen Geschichtsauffassung niedergeschrieben.

Noch eine ganze Reihe von Namen und charakteristischen Erscheinungen könnte hier angezogen werden, um diesen geistigen Umschwung zu kennzeichnen, der gleichzeitig durch die anthropologischen Entdeckungen eines Darwin und anderer einen neuen Anstoß erhielt – allein für den Rahmen, den wir uns abgesteckt haben, genügt es, den Verlauf im großen Ganzen angedeutet zu haben.

So kann man sagen, daß die ganze soziale Bewegung, in welcher wir heute stehen, zwar ihren äußeren Anlaß und Untergrund der eigenartigen und namentlich seit Einführung der verschiedenen Kraftmaschinen reißend schnellen Umgestaltung der Produktionsbedingungen entnahm und entnimmt, daß aber die Formulierung ihrer Gedanken und die Begründung ihrer Forderungen aus der modernen Philosophie stammen. Sie ist es, welche die letzten Ursachen bloßlegt, sie ist es, welche die Ziele bestimmt, sie ist es auch schließlich, welche die Massen in Bewegung zu setzen unternimmt, sei es nun durch Anpassung der bestimmten Forderungen an die Gedankenkreise der Menschen, sei es durch den Versuch, eine „neue“ Weltanschauung zu bilden. Bei der führenden Rolle, welche dem deutschen Sozialismus in Europa zukommt und welche sich erst vor kurzem wieder auf dem internationalen Kongreß in Zürich (August 1893) erwiesen hat, erscheint es nothwendig, die edelsten Typen, auf die sich seine Weltverbesserungspläne stützen, in kurzen Umrissen vorzuführen. Wir sehen dabei zunächst von den rein politischen Zielen und Forderungen ab und halten uns lediglich an die wirthschaftlichen Ideen und Ideale.

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte hat in seinem Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ schon im Jahre 1800 ein vollkommenes sozialistisches System entworfen. Er weist zunächst nach, daß das Eigenthumsrecht im tiefsten Grunde nicht das Recht auf bestimmte „Sachen“ sondern auf bestimmte „Handlungen, Thätigkeiten“ sei, daß der Zweck aller menschlichen Thätigkeit der ist, leben zu können, und zwar so angenehm als möglich, und daß ein „Vernunftstaat“ derjenige Staat sei, welcher jedem Einzelnen dies nach Möglichkeit gewährleiste. Das Leben nach seiner wirthschaftlichen Seite hin besteht nun in Hervorbringung und gleichzeitigem Verbrauch von unbearbeiteten wie bearbeiteten Stoffen, welche jedem Einzelnen in gewissen Mengen zugeführt werden. Demgemäß sind nach Fichte der „Produzent“, dann der „Künstler“ – d. h. Verarbeiter jeder Art – und endlich der „Kaufmann“ die Grundbestandtheile der Nation; selbstverständlich zerfällt jeder dieser drei Stände wieder in mancherlei Unterabtheilungen. Der erste Stand, derjenige der Produktengewinner, ist die naturgemäße und nothwendige Grundlage des Staats, der höchste Maßstab, wonach alles übrige sich richtet. Ist die Leistungsfähigkeit desselben noch in der Kindheit, so darf der Staat nur wenige „Künstler“, d. h. Verarbeiter aller Art haben. Und so wie die Zahl der „Künstler“ – heutzutage würden wir sagen: der Gewerbetreibenden – von derjenigen der Urproduzenten abhängig ist, so die Zahl der „Kaufleute“ – d. h. der im Warenverkehr Thätigen – von der Zahl der beiden ersten Kategorien. Es ist nicht bloß ein frommer Wunsch, sondern es ist die unerläßliche Forderung des Rechts der Menschheit, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so echt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. In einem gemäß dem Rechtsgesetze geordneten Staate müssen daher nach Fichte die drei Hauptstände der Nation gegeneinander genau berechnet und jeder auf eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern eingeschränkt, jedem Bürger muß ferner sein verhältnißmäßiger Antheil an allen Naturprodukten und Fabrikaten des Landes gegen seine ihm aufzuerlegende Arbeit ebenso wie den öffentlichen Beamten zugesichert sein. Zu diesem Behufe soll der Werth aller Dinge gegeneinander festgesetzt sein und jeder unmittelbare Handel der Bürger des Inlands mit dem Auslande wegfallen. Dieses Recht, andere von einer gewissen uns allein vorbehaltenen freien Thätigkeit auszuschließen, ist demnach für Fichte die einzige Grundlage alles Eigenthumsrechtes; er schließt daraus geradlinig, daß die Anordnung der wirthschaftlichen Thätigkeiten, d. h. der Arbeit im weitesten Sinn des Wortes, die von dem modernen Staat zu lösende Aufgabe sei. Während der Staat bisher nur einen abgesonderten [j]uridischen und politischen Körper bildete, setzt ihm

[745]

Herzogin Hadwig wird von Ekkehard über die Klosterschwelle getragen.
Nach einer Originalzeichnung von E. Kämpffer.

[746] Fichte das Ziel, nun auch ein abgesonderter und namentlich nach außen hin geschlossener Produktions- und Handelskörper zu werden, so daß innerhalb seiner Grenzen auch das ganze wirthschaftliche Leben der Staatsbürger einer genauen staatlichen Erfassung und Regelung unterliege. Und das erst ist nach Fichte ein Staat, der den Namen „Vernunftstaat“ verdient.

Fichte hat diesen seinen Entwurf des „Vernunftstaates“ dem damaligen preußischen Finanzminister von Struensee gewidmet; er stellte sich den wirklichen Staat als im allmählichen Fortschritt zum Vernunftstaate begriffen vor. Somit verband er eine vollkommen ruhige Würdigung des Bestehenden mit den weitestgehenden Ansichten über den zukünftigen Staat. Gerade dies ist die wahrhaft philosophische Art seiner ganzen Betrachtungsweise und erinnert uns an die geistige Höhe der Ausführungen eines Thomas Morus. Wir sehen in Fichte einen „Weltverbesserer“, der sich voll bewußt bleibt der Schranken der Wirklichkeit, der aber diese Wirklichkeit nicht als etwas Vollendetes, sondern als etwas erst zur Vollendung Hinzuführendes betrachtet und gleichzeitig mit Hand anlegt zu diesem Fortschritt.

Man kann fast ohne Einschränkung behaupten, daß der Verfasser der „Reden an die deutsche Nation“, daß Fichte der eigentliche geistige Vater des nationalen Sozialismus im heutigen Deutschland ist. Dieser „nationale“ Sozialismus bildet von Ferdinand Lassalle an bis zu Georg von Vollmar jene mehr oder weniger deutlich hervortretende Unterströmung der ganzen sozialen Bewegung, welche mehr durch den Werth als durch die Menge ihrer Anhänger bedeutsam ist.

Weitaus die Mehrzahl der gegenwärtigen Sozialisten bekennt sich jedoch zur internationalen Sozialdemokratie. Diese ist unmittelbar durch Karl Marx ins Leben gerufen worden; ihr geistiger Vater aber ist Hegel, dessen ganze Art und Schule Marx in seinem Hauptwerke erkennen läßt.

Marx hat der gegenwärtigen politischen Sozialdemokratie Deutschlands ihre Glaubenslehre gegeben; das Dogma dieses Hohepriesters ist der „ökonomische Materialismus“, die Bibel aber sein umfangreiches Buch „Das Kapital“.

Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle hierauf etwas näher einzugehen; ist doch jüngst bei den aufgeregten Verhandlungen des internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich der alte Friedrich Engels (der „Aaron“ Marxens), nachdem er wie ein Patriarch von den versammelten Genossen aus aller Herren Ländern gefeiert worden war, auf die Tribüne gestiegen, hat auf das an der Wand hängende Bildniß von Karl Marx hingedeutet und gesagt: „Die ehrenvolle Aufnahme, die Ihr mir bereitet, nehme ich an, aber für den großen Mann, der von da oben auf uns herabblickt!“

Was ist denn nun eigentlich die Theorie des sogenannten „ökonomischen Materialismus“?

Man hatte früher die Begebenheiten der Geschichte und der Gegenwart, wenn auch nicht ganz, so doch zum größten Theil aus rein geistigen Triebfedern und Strömungen zu erklären gesucht. Karl Marx und mit ihm sein Freund Friedrich Engels, welche eine Zeitlang gewissermaßen einen einzigen Denkapparat zu bilden schienen, traten mit der Behauptung auf, daß alle geistigen Bewegungen einer Zeit, und zwar von den politischen Redeturnieren an bis zu den charakteristischen Aeußerungen der Dichtkunst, keinerlei „metaphysische“ Hintergründe und Ursachen hätten, daß sie vielmehr einzig und allein durch den wirthschaftlichen Charakter der Gegend, der Thätigkeit eines Zeitalters bestimmt würden. Diese Anschauung wird in die Geschichte zurückverfolgt und aus ihr weiterhin geschlossen, daß die leitenden Gedanken und Grundsätze jedes Zeitalters und Volkes lediglich bedingt seien durch die „wirthschaftliche Unterstruktur“ der betreffenden Zeit, des betreffenden Volkes, daß also alle übrigen geistigen Aeußerungen nur als „Ueberbau“, gewissermaßen als zweites Stockwerk zu betrachten seien. Die Gegenwart, so wird weiterhin gesagt, trage „kapitalistischen“ Charakter, d. h., das bewegliche Geld- und Sachkapital beherrsche die Gütererzeugung, beherrsche daher auch die Gütererzeuger und eben damit bilde es die Denkapparate derselben in ganz bestimmte Formen. Der Einzelne erscheint hierbei als durchaus unselbständiges Erzeugniß seiner Umgebung, und für diesen Begriff der „Umgebung“ haben die Anhänger der Theorie den eigenthümlichen Ausdruck „Milieu“ gefunden. Keiner kann aus seinem „Milieu“, d. h. aus den wirthschaftlichen Bedingungen, in denen er lebt, herauskommen. Da der Besitz von Kapital in der gegenwärtigen Periode die unerläßliche Grundlage für die Produktion ist, eine Produktion, die sich als Marktproduktion bezw. Weltmarktproduktion kennzeichnet, so ist der Kapitallose von vornherein von jeder Betheiligung an derselben ausgeschlossen und der jeweils größere Kapitalist schlägt den kleineren aus dem Markte. Schließlich werden bei diesem Verdrängungskampfe die Kapitalbesitzer ganz groß, es existiert ihrer nur noch eine Handvoll, und ihnen gegenüber steht eines schönen Tages das ganze Heer kapitalloser, lediglich auf ihrer Hände Arbeit angewiesener „Proletarier“ der Hand-, Maschinen- und Geistesarbeit. Dann aber – dreht sich nach Marx plötzlich wieder der Stiel um, die seitherigen „Expropriateurs“ (Enteigner) werden ihrerseits durch das politisch und wirthschaftlich geschulte Proletariat expropriiert, mit anderen Worten, die jetzt noch bestehende sogenannte kapitalistische Gesellschaftsordnung wird abgelöst durch die sozialdemokratische, durch die wahrhaft „gesellschaftliche“, oder wie gewöhnlich gesagt wird, durch die „kollektivistische“.

Der wirthschaftliche Entwicklungsgang selbst wäre es demnach, der die Kräfte heranschult, welche die neue Zeit heraufführen sollen. Das Proletariat wird nach Marx um so „klassenbewußter“, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, und da alle Staaten der Gegenwart mehr oder weniger in die „kapitalistische Produktionsperiode“ eingetreten sind, so ist die logische Folgerung die, welche jener Mann auch bei der Gründung der sogenannten „Internationalen Arbeiterassoziation“ ausgesprochen hat: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Der Weltverbesserungsplan, den die moderne Sozialdemokratie mit dieser Grundanschauung hegt, geht also dahin, durch „Aufklärung“ der Massen über ihre wirthschaftliche Lage vermittelst des allgemeinen Wahlrechts die politische Macht in die Hand zu bekommen, um dann erst die jetzige kapitalistische Gesellschaft in die neue sozialistische zu verwandeln. Es genügt, in diesem Zusammenhange die Namen Bebel, Liebknecht und Singer als die Führer einer nunmehr 45 Köpfe starken, politisch sehr einflußreichen Partei im Deutschen Reichstage zu nennen, um anzudeuten, welche Entwicklung die „Internationale“ im Laufe ihres erst dreißigjährigen Bestehens genommen hat.

Die Vertreter der Sozialdemokratie erheben in ihren wissenschaftlichen Werken wie in ihrer Presse den Anspruch, nicht als „Weltverbesserer“ im schlimmen Sinn dieses Wortes behandelt zu werden. Sie weisen darauf hin, daß sie nicht bloß die „Bourgeoisie“, d. h. die von ihnen so ehrlich gehaßte „herrschende“ Klasse, sondern auch sich selbst und ihre ganze Auffassung der Lage als ein nothwendiges Erzeugniß der wirthschaftlichen Entwicklung ansehen und daß sie wohl wüßten: ehe nicht das Großkapital alle Schichten der überwiegenden Mehrheit eines Volkes zerrieben habe, sei von einem Siege ihrer Sache keine Rede. Allein dieser Einwand ist deshalb gegenstandslos, weil die Frage sich darum dreht, ob denn überhaupt diese ihre Ansicht über das Entwicklungsgesetz der „Gesellschaft“ richtig ist. Selbst wenn man annähme, daß die Zusammenziehung des Kapitals und die Verwandlung der Mehrheit der Bevölkerung in besitzlose Proletarier durch die Statistik in dem Maße bewiesen werden könnte, wie es die Vertreter der sozialdemokratischen Partei durch vielfach recht ungenügende Zahlenzusammenstellungen versuchen – selbst dann müßte man in höchstem Maße bezweifeln, daß dieses bisher rücksichtslos niedergedrückte und expropriierte Proletariat nun plötzlich sollte die wirthschaftliche und geistige Kraft besitzen, um eine gesellschaftliche Produktion zu üb[e]rblicken und einzuführen. Ganz abgesehen davon, daß von einer in allen Staaten gleichzeitig eintretenden Reife der kapitalistischen Produktionsweise und daher auch des Proletariats nun und nimmer die Rede sein kann, daß also die neue „Gesellschaftsordnung“ stets von irgend einem national abgegrenzten Gebiete ihren Ausgang nehmen müßte – – – ganz abgesehen davon giebt es einen Faktor, der jedem Versuch, ihn in eine demokratisch-internationale Schablone zu zwingen, stets Hohn sprechen wird.

Dieser Faktor ist die Landwirthschaft. Weitaus der größte Theil aller Erzeugnisse auch in den höchst entwickelten modernen Staaten ist vorläufig noch gar nicht einer maschinellen, vollkommen berechenbaren Erzeugungsweise zugänglich. Das Deutsche Reich beispielsweise hat im Jahre 1890 etwa 16 Millionen Tonnen Getreide aller Art im Werthe von etwa 2600 Millionen Mark, 23 Millionen Tonnen Kartoffeln im Werthe von etwa 1200 Millionen Mark und etwa 19 Millionen Tonnen Wiesenheu [747] im Werthe von vielleicht 600 Millionen Mark erzeugt; das sind allein 4 bis 5 Milliarden Mark Jahreseinkommen in nur 3 der wichtigeren landwirthschaftlichen Waren. Diese Mengen allein übertreffen schon den Werth der ganzen auswärtigen Handelsbewegung. Nun ist es zweifellos, daß auf dem Gebiete der Landwirthschaft, bei Anwendung genau derselben menschlichen Arbeitskraft und auch bei der höchst entwickelten Technik, infolge ungünstiger Temperaturen etc. im einen Jahre vielleicht Tausende von Millionen weniger an Werthen erzeugt werden als im anderen Jahre. Auch dann also, wenn die „antikollektivistischen“ Bauern sich heute schon der Lehre des rheinischen Advokatensohnes Karl Marx geneigter zeigen würden, als sie es thun – auch dann stieße eine „gerechte“ Behandlung der vorläufig noch den Ausschlag gebenden landwirthschaftlichen Warenerzeugung von Jahr zu Jahr auf so große Schwierigkeiten, daß jedenfalls nicht die menschliche „Arbeit“ das Entscheidende bei Bemessung des Antheils am gemeinsamen Produktionserfolg sein könnte. Nicht einmal für die Beurtheilung der Handarbeiter unter sich würde jener Maßstab ausreichen. Diese Voraussetzung liegt aber der ganzen Marx’schen Theorie zu Grunde, eben weil sie nichts anderes ist als eine voreilige und auf einseitiges Thatsachenmaterial aufgebaute Verallgemeinerung der industriellen Entwicklung Englands in den Jahren 1800 bis 1860.

Wir können also sagen: das Utopische, das Vergebliche in den Weltverbesserungsplänen unserer heutigen Sozialdemokratie liegt darin, daß die Führer die Vorstellungen, Begriffe und Wahrheiten, die sie der industriellen Wirthschaftsentwicklung entnommen haben und entnehmen, ohne weiteres auf die ganz anderen Gesetzen und Thatsachen unterworfene Landwirthschaft anwenden. Wer nur immer die Gewerbe- und Bevölkerungsstatistik der letzten fünfzig Jahre verfolgt, wird binnen kurzem finden, daß während die Erzeugung in gewissen industriellen Artikeln sich um das fünf-, zehn-, ja zwanzigfache gesteigert hat, die der Landwirthschaft sich vielfach gleichgeblieben ist oder nur sehr unwesentliche Fortschritte gemacht hat. Wer aber sein ganzes Leben innerhalb der Pflastersteine einer modernen Fabrikstadt zugebracht hat und nur ihr riesiges Anschwellen vor sich sieht, der ist leicht geneigt, das zu übersehen, was draußen im Lande geschah oder nicht geschah – – – und so dürfte die Weltanschauung des „ökonomischen Materialismus“ auch nichts anderes sein, als was so manche Weltanschauung vor ihr gewesen ist, nämlich eine einseitige und daher zur Erklärung des Ganzen unfähige Verallgemeinerung gewisser Theilwahrheiten und Entwicklungserscheinungen.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Zukunftsbilder der offiziellen Sozialdemokratie im allgemeinen ziemlich optimistisch angehaucht sind. Und doch könnten manche Erscheinungen der Gegenwart viel eher zu einer anderen, weit weniger erfreulichen Ansicht über die Zukunft der Völker Europas verleiten. Man könnte, im Rückblick auf den riesenhaften Verfaulungsprozeß des alten römischen Weltreiches, zu der Befürchtung geneigt sein, daß wie die „Großgrundbesitze Rom ins Verderben gestürzt haben“ – latifundia perdidere Romam – so die Zusammenballung des industriellen und sonstigen beweglichen Reichthums in wenigen Händen bei uns in anderer Form die Kultur zersetzen müsse.

Von diesen überängstlichen Bedenken werden in der That manche heiße Vaterlandsfreunde gepeinigt: ihr Blick richtet sich daher hinaus in eine andere Welt, aber nicht in eine solche des phantastischen Nirgendwo, nicht in eine blasse Zukunft – sondern in erreichbare noch unkultivierte Erdtheile und Landstriche.

Die landlosen Kinder einer überfeinerten Kultur sehnen sich hinaus nach einem neuen, nach einem „freien Land“!


Theodor Mommsen.

Ein Gedenkblatt zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum.

In jammervoller Ohnmacht lag Deutschland am Boden, geknebelt von der mächtigen Faust des korsischen Eroberers. Die Willkür des Imperators entschied über Sein oder Nichtsein alles dessen, was man als geschichtlich Gewordenes mit Achtung zu betrachten gewohnt war; die Heiligkeit, welche die Jahrhunderte verleihen, gab es nicht mehr.

Es war nur der natürliche Rückschlag gegen eine solche Mißachtung aller geschichtlichen und nationalen Ueberlieferungen, daß in eben dieser Zeit die moderne deutsche Geschichtsforschung und Geschichtschreibung geboren wurde. Weil die Zerstörungswuth des Fremdlings so brutal aufräumen wollte mit den alten Staaten und Dynastien, mit überkommenen Rechten und liebgewordenen Sitten unseres Volkes, eben deshalb hingen sich die Besten der Nation mit besonderer Liebe daran, versenkten sich mit Eifer und Begeisterung in die nationale Vergangenheit und suchten in ihr nicht etwa die Kraft der Entsagung, sondern den Muth des Widerstandes. Jakob Grimm sammelte die Reste des alten deutschen Volksglaubens, des Volksrechts und der Sprache, Eichhorn arbeitete an seiner deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, und der Freiherr von Stein entwarf den Plan zu einer wissenschaftlichen Sammlung aller Quellenschriften der deutschen Geschichte, den Plan, aus dem dann das großartige Unternehmen der „Monumenta Germaniae historica“ hervorwuchs. Die Schärfung des kritischen Blicks, die Schulung in planmäßigem Forschen wirkte befruchtend auch auf die anderen Gebiete der Geschichte, unter dem geistigen Hauche dieser Zeit hat Barthold Georg Niebuhr, der einstige Bankdirektor, seine bahnbrechenden Vorlesungen über die römische Geschichte an der neugegründeten Berliner Universität gehalten. Mit ebensoviel Gelehrsamkeit wie kühner Anschauungsgabe machte er sich daran, aus dem Wust der römischen Ueberlieferung die römische Geschichte der älteren Zeit herauszusondern, durch den Wirrwarr von Sagen, Fabeleien, Entstellungen und zuverlässigen Nachrichten, welchen die Schriftsteller des Alterthums darbieten, zum wahren Kern der Thatsachen durchzudringen.

Auf den Bahnen, die Niebuhr gezeigt hat, ist keiner zu größeren Erfolgen fortgeschritten als Theodor Mommsen.

Als Niebuhr am 2. Januar 1831 starb, war Theodor Mommsen ein dreizehnjähriger Knabe, der daheim in seinem elterlichen Hause von seinem Vater, einem Prediger, auf das Gymnasium vorbereitet wurde. Für den Geist, der in diesem Hause herrschte, ist es bezeichnend, daß nicht bloß der älteste Sohn, der am 30. November 1817 zu Garding in Schleswig geborene Theodor, sondern auch seine beiden jüngeren Brüder Tycho und August auf dem Gebiet der Philologie und Alterthumskunde Hervorragendes geleistet haben. Theodor Mommsen ist allerdings nicht von der Philologie, sondern von der Jurisprudenz aus, der er sich von 1843 bis 1844 zu Kiel widmete, auf die Bahn des Historikers gelangt. Auch die ersten akademischen Professuren, die er bekleidet hat, zu Leipzig in den Jahren 1848 bis 1850, zu Zürich 1852 bis 1854, zu Breslau 1854 bis 1858, waren juristische, und erst in Berlin erhielt er eine Professur für alte Geschichte, die er nunmehr seit 35 Jahren innehat. Aber schon die Dissertation, „De collegiis et sodaliciis Romanorum“ („Ueber das politische Klubwesen in Rom“), mit welcher er sich vor nunmehr fünfzig Jahren den Doktorhut erwarb, wies auf die Bahnen seiner späteren Lebensaufgabe hin, und die ersten drei Bände seines Hauptwerkes, der „Römischen Geschichte“, erschienen noch, als ihr Verfasser in Zürich und Breslau als Professor des römischen Rechts wirkte.

Diese „Römische Geschichte“, die seitdem in acht Auflagen verbreitet wurde, hat Mommsens Ruhm in der Oeffentlichkeit begründet und wird ihn noch lange lebendig erhalten weit über den Kreis seiner Fach-, ja seiner Volksgenossen hinaus. Zu der gewaltigen Wirkung, welche dieses gelehrte Werk zu erzielen vermochte, hat nicht am wenigsten der wahrhaft glänzende Stil beigetragen, den Mommsen schreibt: anschaulich und knapp, ausgezeichnet durch Fülle und Rundung der Sätze, gespickt mit schlagenden Wendungen, wie ein mit Edelsteinen geschmücktes Gewand. Besonders tritt seine Neigung hervor, antike Verhältnisse durch ganz moderne Ausdrücke wiederzugeben. Da liest man von Junkerthum und hoher Finanz, von Generalen und Stabsoffizieren, von Konservativen, Demokraten, Klubwirthschaft u. dgl. m. Man hat vielleicht nicht mit Unrecht behauptet, Mommsens historischer Stil verrathe die Schule des politischen Agitators und Schriftstellers, und diese Schule hat er allerdings durchgemacht. Nach Vollendung seiner Kieler Studien hatte Mommsen nämlich eine Zeitlang als Privatlehrer in Altona gelebt, war dann auf wissenschaftliche Reisen nach Italien und Frankreich gegangen, und als er zurückkehrte, fand er seine meerumschungene Heimath in hellem Aufruhr gegen Dänemark. In dieser heißen Zeit hielt auch er es nicht aus in der stillen Gelehrtenstube. Er leitete ein paar Monate des Jahres 1848 hindurch die „Schleswig-Holsteinische Zeitung“ in Rendsburg, und hier mag er sich in der Kunst einer zündenden Schreibweise geübt haben, einer Kunst, die ihm später voll zu Gebote stand. Freilich, seine Theilnahme an den politischen Kämpfen dieser Tage hatte auch ihre Kehrseite; kaum war er außerordentlicher Professor an der Universität Leipzig geworden, als die erstarkende Reaktion auch nach ihm ihre Hand ausstreckte und ihm den Prozeß machte, der 1850 zu seiner Absetzung führte. Uebrigens ist Mommsen, um dies hier gleich anzufügen, auch in den späteren Jahren seines Lebens politisch thätig gewesen und hat neun Jahre lang, 1873 bis 1882, als liberaler Abgeordneter den Wahlbezirk Kottbus-Spremberg-Kalau im preußischen Landtag vertreten.

Wenn die „Römische Geschichte“ dasjenige Werk Mommsens ist, das seinen Namen in weite Kreise des Volkes getragen hat, so ist sie doch nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil seiner Lebensarbeit, die im übrigen allerdings unmittelbar mehr dem Fachgelehrten zu gute kommt. An Wichtigkeit steht jenem Werke gleich Mommsens Darstellung des römischen Staatsrechts, worin die in seiner Person verkörperte Vereinigung des Juristen und Historikers die glänzendsten Früchte zeitigte. Dann aber hat er, um von zahllosen Einzeluntersuchungen zu schweigen, auf einem Felde bahnbrechend gewirkt, das ist die Inschriftenkunde. Nicht bloß hat er wie Boeckh für das griechische, so für das lateinische Sprachgebiet die Grundlinien gezogen, auf denen eine streng wissenschaftliche Sammlung und Sichtung der sei es in natura, sei es in schriftlichen Zeugnissen uns erhaltenen Inschriften sich aufzubauen hat, er hat es auch meisterhaft [748] verstanden, aus diesen kleinen und kleinsten Stückchen geschichtlicher Ueberlieferung deutliche anschauliche Bilder von sonst kaum faßbaren Gebieten des antiken Lebens zu formen – der fünfte Band seiner „Römischen Geschichte“, der lange nach den ersten drei im Jahre 1885 erschien[2] und die Zustände der römischen Provinzen von Cäsar bis auf Diokletian behandelt, ist fast ausschließlich auf solche Zeugnisse gegründet. Schon vor seiner Züricher Lehrthätigkeit und dann während derselben hatte er durch Sammlung der Inschriften aus dem damaligen Königreich Neapel und aus der Schweiz seine Grundsätze an praktischen Proben vorgeführt, und als dann anfangs der sechziger Jahre die Berliner Akademie der Wissenschaften den schon von der Pariser Akademie gefaßten, aber wieder aufgegebenen Plan einer Sammlnug sämtlicher lateinischer Inschriften ins Werk setzte, konnte sie keinen Besseren mit der Leitung betrauen als Mommsen. Auf vierzehn Großfoliobände berechnet – wobei übrigens der sechste, die Inschriften der Stadt Rom enthaltende „Band“ selbst wieder in eine ganze Anzahl von äußerst stattlichen Unterbänden zerfällt – ist das großartige Unternehmen heute noch nicht abgeschlossen. Noch fließt ihm ein wesentlicher Theil von Mommsens erstaunllcher Arbeitskraft zu, und sein Geist lebt in einer wackeren Schar trefflich geschulter Mitarbeiter.

Die römische und deutsche Geschichte fließen an einem Punkte ineinander. Man weiß, wie vom den Tagen Cäsars an die Römer auch hinübergriffen in germanische Lande, man weiß, daß sie ein paar Jahrhunderte lang sich darin seßhaft machten und zugleich ein massenhaftes Einströmen germanischer Elemente in den römischen Reichskörper stattfand. Als nun die Centralleitung der oben von uns erwähnten „Monumenta 6ermaniae historica“ an die Aufgabe kam, die für diese Zeit wichtigen Quellenschriften in neuen mustergültigen Ausgaben ihrer Sammlung einzuverleiben, da war Mommsen derjenige, dem die Oberleitung dieser Abtheilung am besten übertragen wurde; einige der wichtigsten Bände derselben sind von ihm selbst bearbeitet worden. Und als es die Auswahl der Männer galt, welche im Auftrage des Reichs jenes Zeugniß der römischen Herrschaft über den deutschen Südwesten, den sogenannten Limes, einer planmäßigen Erforschung zu unterziehen hatten, da war wiederum Mommsen die erste Autorität, an die man sich wandte. Und dem sechsundsiebzigjährigen Gelehrten ist keine Mühe zu viel; in jugendlicher Frische zieht er trotz Wind und Wetter mit den Streckenkommissaren hinaus, um mit seinem sachkundigen Auge den Spuren des alten Römerwalls nachzuforschen.

Das sind nur ein paar Hauptzüge aus dem wissenschaftlichen Wirken des Gelehrten; ihnen zur Seite geht der weitreichende Einfluß des Lehrers. Wohl hat Mommsens Lehrthätigkeit durch vielfache hauptsächlich im Dienste des großen Inschriftenwerks unternommene Reisen oftmals eine kürzere oder längere Unterbrechung erleiden müssen; trotzdem hat er im Laufe der Jahrzehnte Tausende von Hörern mit seinem Geiste und Wissen aufs tiefste angeregt, und von den heutigen Führern der archäologischen Wissenschaft haben wohl die meisten eine kürzere oder längere Zeit zu seinen Füßen gesessen.

Auf ein reichgesegnetes Leben blickt somit Theodor Mommsen an dem Tage zurück, da er sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum feiert, auf ein Leben reich an Arbeit und reich an Erfolgen der edelsten Art. Und noch ist es nicht so weit, daß er bloß rückwärts schauen dürfte; noch ist sein Geist stark und die Riesensumme dessen, was er geleistet, hat ihm nichts von seiner Spannkraft geraubt. Fürwahr, ein ehrwürdiges Kollegium, mit dem Theodor Mommsen an der Berliner Universität und in der Akademie der Wissenschaften zusammenwirkt! Da ist der 79jährige Eduard Zeller, der ebenso alte Ernst Curtius, der 77jährige Rudolf v. Gneist, der 76jährige Heinrich v. Sybel, der 75jährige du Bois-Reymond, der 74jährige Wilhelm Wattenbach, die beiden 72jährigen Virchow und Helmholtz! Und alle diese Männer noch in der Fülle ihrer Kraft, als hätte das Beispiel eines Ranke auch sie gegen jedes Altern gefeit! Mögen sie der deutschen Wissenschaft noch lange erhalten bleiben!

Eine Anzahl der oben genannten Männer haben mit anderen aus dem Reiche, wie Gustav Freytag, Adolf Menzel, Eduard v. Simson, sich zusammengethan und Anregung gegeben zur Sammlung einer „Mommsen-Stiftung“, die dem Gefeierten an seinem Ehrentage überreicht werden soll, damit er nach eigenem Ermessen darüber zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke in seinen Arbeitsgebieten verfüge. So würde der Name Mommsens berufen, auch in dieser Form bis in ferne Zukunft befruchtend auf das Studium der klassischen Alterthumswissenschaft zu wirken, wie seine Werke es thun werden. H. E.      


  1. Vergl. Nr. 24 dieses Jahrgangs.
  2. Der 4. Band steht noch aus.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Weltausstellungsbriefe aus Chicago.

Von Rudolf Cronau.
VI.
Der Frauenpalast und die Völkerstraße der Midway Plaisance.

In unseren bisherigen Berichten haben wir einer Großmacht nur flüchtig gedacht, durch deren Betheiligung die Kolumbische Weltausstellung ein besonders eigenartiges Gepräge erhalten hat: der Frauen. Auf keiner früheren Weltausstellung hatte man dem schönen Geschlecht eine eigene Abtheilung eingeräumt oder gar mit solchen Kosten einen Palast gebaut. In Chicago erhielten die Frauen zu einem eigenen Heim das schöne Sümmchen von 150000 Dollar bewilligt, und damit schufen sie einen von der 22jährigen Miß Sophia Hayden im Stil der italienischen Renaissance entworfenen Palast, in dem sie zahllose Dinge ausstellten, die ihren Ursprung ausschließlich weiblichen Händen verdanken. Hallen und Säle sind gefüllt mit kostbaren Handarbeiten, an den Wänden hängen zahlreiche von Frauen geschaffene Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen und Stiche, in einigen Räumen wird die Thätigkeit der Frauen in der Krankenpflege, der Kindererziehung und der Kochkunst veranschaulicht. Auch eine umfangreiche, ausschließlich von Frauen geschriebene Bibliothek ist vorhanden, und in den Sprechsälen werden allerhand Gegenstände erörtert, welche auf die große zeitbewegende „Frauenfrage“ Bezug haben.

Theatralische Vorstellung im javanischen Dorfe.

Leider haben wir nicht die Muße, jetzt den Verhandlungen dort drinnen zu folgen. Wir müssen unsere Schritte weiter lenken und wollen nunmehr in die vielgenannte Völkerstraße der Midway Plaisance einbiegen.

Es war auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1889, daß zum ersten Male der Gedanke angeregt wurde, neben den Erzeugnissen der einzelnen fremden Länder auch die Bevölkerung derselben in ihren Sitten und Gebräuchen, ihren Trachten und Wohnstätten den aus aller Welt herbeiströmenden Besuchern vorzuführen. Die Ausführung dieses Gedankens ließ sich nur in beschränktem Umfang bewerkstelligen, hatte aber trotzdem so großen Erfolg, daß die Leiter der Kolumbischen Weltausstellung sich entschlossen, den Gedabkeb wieder aufzugreifen und in weitestem Sinne auszubilden.

Damit aber der einheitliche Charakter der amtlichen Ausstellungspaläste nicht durch fremdartige Bauten gestört werde, verwies man die buntfarbigen, mannigfaltig gestalteten Tempel und [749] Wohnstätten der ausländischen Völker nach einem Theil des Ausstellungsplatzes, wo eine solche Schädigung ausgeschlossen war, nach einem über 1500 Meter langen und 150 Meter breiten Landstreifen, der westlich an den Weltausstellungsplatz anstößt und eine Verbindung mit dem benachbarten Süd- oder Washingtonpark bildet. Dort brachte man die fremden Völkerschaften derart unter, daß ihre Hütten und Tempel eine breite Straße bilden, in deren Mitte der Strom der Besucher dahinfluthet.

Eine merkwürdigere Straße als diese sogenannte Midway Plaisance, einen reichhaltigeren Völkerjahrmarkt, ein buntfarbigeres, tolleres und abenteuerlicheres Leben hat es sicherlich nie gegeben.

In der Straße von Kairo.


Schon von fernher vernehmen wir den merkwürdigen Zusammenklang der verschiedenartigsten Instrumente: das scharfe Gequietsche des schottischen Dudelsacks, das dumpfe, eintönige Dröhnen orientalischer Kesselpauken, die schmetternden Klänge deutscher Militärmusik, das Gerassel samoanischer Tänzer, das Gefiedel chinesischer Schauspieler und die wiegenden Weisen eines von den „Deutschmeistern“ gespielten Wiener Walzers. Ein ebenso seltsames Gemisch fremdartiger Architekturen verwirrt den Nähertretenden; da sind polynesische Rohrhütten, altirländische Wartthürme und Burgruinen; chinesische Pagoden und übermäßig schlanke türkische Minarets; Indianerzelte und javanische Bambushäuser; altdeutsche, mit Wetterfahnen gekrönte Dachgiebel und lappländische Fell- und Erdhütten. Augen und Ohren sind von einem fremdartigen Zauber umfangen, und nicht ohne Grund ist Midway Plaisance der Zielpunkt aller derjenigen, welche nach der harten Arbeit des Sehens und Lernens in den Weltausstellungspalästen eine leichtere Zerstreuung suchen.

Da ist zunächst auf der rechten Seite von Midway Plaisance ein langgestrecktes, blendend weißes Gebäude, dessen weithin sichtbare Aufschrift einen „internationalen Kongreß der Volkstrachten und eine Ausstellung weiblicher Schönheiten“ verheißt. Da darf man nicht fehlen; wir erlegen unsern Obolus und betreten eine weite Halle, in welcher auf einer an den Wänden entlang laufenden Bühne gegen vierzig Schönheiten aller Rassen und Nationen sitzen: die Polin mit hohen Stiefeln und weißer, pelzverbrämter Kassabaika, die Griechin im edlen, klassischen Gewand, die Ungarin mit farbigem Rock und bauschigen, reichbestickten Hemdärmeln, die Spanierin mit ihrer unerläßlichen Mantilla, die Tirolerin mit Spitzhut und Mieder, das blonde Mädchen aus dem Schwarzwald mit rothem Rock und schwarzen Haarbändern etc. Die „Manager“ oder Unternehmer dieser Schönheitengalerie haben es sich, was die Echtheit der Nationalitäten betrifft, offenbar leicht gemacht, denn die Mehrzahl der Damen hört merkwürdigerweise sehr gut auf die Wiener Mundart, während sie, will man sie in der Sprache desjenigen Landes anreden, welches sie vertreten, fast ausnahmslos versagen. Nur da, wo sich der Mangel an „Nationalität“ nicht so leicht durch Perücke und Schminke verdecken ließ und wo echte Vertreterinnen billig genug zu haben waren, sehen wir wirklich echte Typen, wie z. B. die sich vorzüglich auf die Fächersprache verstehende Cubanerin, die unausgesetzt Cigaretten rauchende Creolin, die träge Negerin, die gluthäugige Quadronin und die krüppelfüßige Chinesin. –

Aus dem Schlot des nächsten Gebäudes quellen mächtige Dampfwolken hervor. Im Innern des runden Bauwerks hantieren zahlreiche Männer um einen riesigen Hochofen, dessen Oeffnungen sie mit langen Eisenstäben weißglühende Massen geschmolzenen Glases entnehmen, um daraus allerhand Gefäße, Schmucksachen und Spazierstöcke zu formen. An einer Stelle werden die Glasklumpen sogar zu unendlich feinen Fäden ausgezogen und diese Fäden zu – dauerhaften Damenkleidern versponnen. Das erste der hier verfertigten Damenkleider, das sich ebenso weich und geschmeidig anfühlte, als ob es aus Seide gewoben wäre, kam in den Besitz der gerade anwesenden spanischen Infantin Eulalia.

Schreiten wir weiter die breite Straße entlang, so kommen wir an einem elektrischen Theater, an japanischen Bazaren und einem irländischen Dorf vorüber zu der ausgedehnten, an 50 Häuser umfassenden Niederlassung der Javanen.

Welch ein liebenswürdiges, bescheidenes Völkchen diese Javanen sind! Da leben sie in ihren Bambushütten ein friedliches anspruchsloses Dasein. Die gütige Mutter Natur gewährt ihnen alles, was sie bedürfen, in reichem Maße, Brotfrüchte, Kokosnüsse, Reis, Pifang und Hühner, und so blühen, reifen und welken diese Menschenkinder, ohne etwas von dem schweren, mühseligen Kampf zu ahnen, den so viele, viele ihrer weißen Mitbrüder tagaus tagein ums tägliche Brot zu führen haben! Da sitzen sie und leben ihren einfachen Beschäftigungen. Die Franen weben und färben in derselben kunstlosen Weise ihre Zeuge, wie ihre Ururgroßmütter es gethan; die Männer flechten Strohhüte, drehen Cigaretten, üben sich mit langen Blasrohren im Scheibenschießen oder lauschen dem Glockenspiel, nach dessen melodischen Klängen schöne Serimpis und maskierte Schauspieler dieselben Tänze aufführen, wie sie, den Skulpturen an den großartigen Tempelruinen zu Boro Budor nach zu schließen, schon vor einem Jahrtausend in Java getanzt wurden. –

Vom Javanischen Dorf haben wir nur wenige Schritte zum Deutschen Dorf, dessen Schilderung wir bereits in einem früheren Artikel (Nr. 37) gegeben haben. Ihm schließt sich ein persisches Theater an, wo halbnackte persische Athleten aufregende Ringkämpfe und Kraftproben vollführen. Gleich dahinter zieht sich die höchst malerische Straße von Kairo dahin, eine enge, gewundene Gasse mit Bazaren und verschlagähnlichen Kaufläden, in denen buntfarbige Seidenzeuge, Rosenöl, wohlriechende Gebetkränze, Muscheln aus dem Rothen Meer, sudanesische Waffen, Töpfereien, Alterthümer und tausend andere Dinge feilgeboten werden, während in dem Gewühl der Gasse die nimmermüden Eseltreiberjungen mit heiserer Stimme ihre „Cleveland-, Bismarck-, Gladstone- oder Patti-Esel“ zu Benutzung anpreisen.

Am oberen Ende der Straße von Kairo sehen wir die wohlgelungene Nachbildung des altägyptische Tempels zu Luksor, in dessen weiten Hallen nicht nur der ganze Ritus des altägyptischen Gottesdienstes vollzogen wird, sondern auch zahlreiche Mumien und Grabstätten gezeigt werden.

Gleich neben diesem Tempel, mitten in der Völkerstraße, erhebt sich das weithin sichtbare Wahrzeichen der Midway Plaisance, Ferris Rad, nach seinem Erbauer so genannt, eine „russische“ [750] Riesenschaukel, in deren 36 Wagen nicht weniger als 2160 Personen eine gemeinsame Rundreise durch die Lüfte zu unternehmen vermögen. Wenn auch, was die Ueberwindung technischer Schwierigkeiten betrifft, dies aus Eisen und Stahl bestehende Riesenrad nicht mit dem Eiffelthurm der Pariser Ausstellung verglichen werden kann, so ist es immerhin eine außergewöhnliche, kühne Leistung der vor keiner Schwierigkeit zurückschreckenden amerikanischen Ingenieurkunst.

Der große chinesische Drache im Völkerzuge auf der Midway Plaisance.

Wir kommen nun an algerischen und tunesischen Tanzhäusern vorüber, in deren reich ausgestatteten Hallen die merkwürdigen Aïssauahs sich in den von der „Gartenlaube“ schon früher (im Jahrgang 1891, Nr. 39) beschriebenen Selbstquälereien ergehen. Weiterhin stoßen wir auf ein Zeltlager der Winnebago- und Pottawatomie-Indianer, die früher in der Gegend von Chicago, sowie im südlichen Wisconsin ihre Jagdgründe hatten. Dann folgt ein mächtiges Panorama, von dessen Plattform wir einen Blick in den gewaltigen Krater des Vulkans Kilauea auf Hawaii werfen können. Es ist Nachtzeit und wir stehen auf einem aus erstarrter Lava aufgethürmten Vorgebirge, von dem aus der Blick über den Krater hinweg bis tief hinab ins Flachland und bis auf den mondbeglänzten Spiegel des Großen Oceans fliegt. Rings um uns ist überall feurige Lohe; uns zu Füßen kocht ein glühender See, dessen Wogen die zerrissenen Kraterwände peitschen. Ueberall steigen Schwefeldämpfe empor, man glaubt das Krachen der zusammenstürzenden Wände zu vernehmen, welche dieses Feuerloch umgürten.

Das nächste Gebäude ist ein Tempel, dessen Doppelthürme mit lauter Glöckchen behängt sind. Hier wohnen die schlitzäugigen Söhne des Reichs der Mitte und bemühen sich vergeblich, die Besucher der Weltausstellung in die unergründlichen Geheimnisse eines jener historischen Schauspiele einzuweihen, deren Dauer sich manchmal über Monate hinzieht. Der Lärm, mit dem sie diese Kunstgenüsse begleiten, wird unter Zuhilfenahme verschiedener Tamtams, zahlloser Metall- und Holzklappern, schriller Blech-Hoboen und durchdringender Streichinstrumente erzeugt und macht auf die Vorübergehenden den Eindruck, als sollte ihnen eine Katzenmusik gebracht werden.

Werfen wir nur einen flüchtigen Blick auf die kalifornische Straußenfarm, auf den Fesselballon, auf die brasilianische Tanzhalle und auf das die obersten Plätze der Midway Plaisance einnehmende Kadettenlager, um nunmehr auf der linken Seite der Straße den Rückweg anzutreten.

Da stoßen wir zunächst auf eine gewaltige Einfriedigung, innerhalb deren gegen 200 Beduinen mit zahlreichen Kamelen, Dromedaren und Pferden allerhand kühne Reiterkünste zum besten geben. Hart neben diesen braunen Söhnen der Wüste hausen Leute aus dem Lande der Mitternachtssonne, Lappen aus dem nördlichen Schweden, deren nächste Nachbarn wieder Horden echter Dahomey-Neger sind. Darauf folgt das einzig schöne Alt-Wien mit seiner langen Ringmauer, seinen Bastionen und Gräben, seinen Thoren und Thürmen, eine getreue Wiedergabe des Marktplatzes der alten Kaiserstadt, wie er zur Zeit der großen Maria Theresia bestand. Allabendlich verkündet der im Kostüm jener Zeit steckende Thorwart uralte Weisheitssprüche, zum Ergötzen jener Besucher, die sich hier einfinden, um den Weisen der Hoch- und Deutschmeister zu lauschen.

An dies malerische Architekturbild reihen sich Rutschbahnen, eine französische Apfelmostpresse, ein großes Modell der St. Peterskirche zu Rom, ein maurischer Palast, in welchem das Castansche Panoptikum aus Berlin seine Feen- und Teufelsgrotten, Labyrinthe, unergründlichen Brunnen, Wachsfigurenkabinette und Schreckenskammern zeigt.

Wollten wir die Sehenswürdigkeiten des nunmehr folgenden türkischen Dorfes aufzählen, so müßten wir darüber fast einen besonderen Artikel schreiben. Sehen wir doch unter anderem das überaus stimmungsvolle Innere eines Palastes aus Damaskus, kostbare Kriegszelte seldschukkischer Herrscher, eine konstantinopolitanische Feuerwehrbrigade mit ihren die Lachlust herausfordernden Löschgeräthen, ferner Nomadenstämme, die in derselben ureinfachen Weise ihr Leben fristen, wie es vor drei- bis viertausend Jahren Abraham, Jsaak und Jakob in Ur und Chaldäa thaten.

Dicht neben dem türkischen Theater, wo Drusen und Maroniten vom Libanon, Bewohner von Jericho und Jerusalem die Sitten und Gebräuche des modernen Palästina veranschaulichen, erhebt sich ein im Schweizerstil aufgeführtes Panorama, in dem wir einen entzückend schönen Rundblick auf die Berner Alpen genießen können. Es ist derselbe, den A. Francke den Lesern der „Gartenlaube“ erst kürzlich in Nr. 32 beschrieben hat. Von den übrigen [751] Schaustellungen heben wir nur noch das Dorf der Samoaner hervor, die venetianische Glasbläserei, Hagenbecks Menagerie, die mit ihren Vorstellungen in der Thierdressur täglich neue Scharen anlockt, das Goldbergwerk aus Kolorado, das irische Dorf mit seiner Hausindustrie und dem alten Schloße Blarney, in dem sich der berühmte Blarney-Stein befindet, der die eigenthümliche Fähigkeit besitzen soll, jedem, der ihn küßt, unfehlbar die Gabe sprühender Beredsamkeit zu verleihen und unglücklich Liebende zusammenzuführen. –

Noch sind wir bemüht, die tausendfältigen Eindrücke, die wir während unserer Wanderung erhielten, zu ordnen, noch sind wir in Schauen versunken, da theilen sich plötzlich die Menschenmassen. Berittene Sicherheitswächter sprengen auf und nieder, drängen die Neugierigen rechts und links zur Seite und schaffen eine breite Gasse, an deren oberem Ende inmitten der Staubwolken eine eigenartige Karawane erscheint. Die fremden Bewohner der Midway Plaisance haben heute ihren Paradetag und sich zu einem Völkerzug vereinigt, wie ihn eigenartiger noch kein Zeitalter erlebte.

Näher und näher kommt die seltsame Kavalkade, immer deutlicher blitzen aus den Staubmassen die funkelnden Speere, leuchten die kostbaren Gewänder hervor, immer phantastischer klingen die verschiedenen nationalen Melodien – Weisen, die wir nie zuvor gehört.

Da ist die erste Gruppe des Zuges heran: Lappländer sind’s mit Renthieren und Zughunden, geführt von einem Greis, der mit seinem meterlangen schneeweißen Bart wie der leibhaftige Knecht Ruprecht aussieht. Der grellen Sonnengluth ungewohnt, kneifen die Bewohner des hohen Nordens zwinkernd die Augen zusammen; dicke Schweißperlen stehen auf ihren von Pelzmützen beschatteten Stirnen; wie mögen den Leuten die schweren Woll- und Pelzgewänder unter diesem Himmelsstrich unerträglich werden! Da haben’s die Dahomey-Neger, die ihnen hart auf den Fersen folgen, weitaus bequemer. Sie hüllen sich in wenige grellfarbige Tuchstreifen und begnügen sich im übrigen mit buntem Kriegsschmuck. In ihrer Mitte befinden sich einige Dutzend tiefschwarzer Amazonen, die ihre mit gräßlichen Widerhaken versehenen Speere schwingen und dabei jenen schauerlichen Schlachtruf ausstoßen, der in den Wildnissen Guineas die Herzen der französischen Eroberer gar oft erbeben machte.

Bewohner der Nordwestküste von Nordamerika und ihre Totempfähle.

Dicht hinter diesen Barbaren wird in goldenem Tragsessel ein schwarz gekleideter Mann getragen, wohl ein Missionär – doch nein, es ist der Führer oder „Manager“ der chinesischen Schauspielertruppe, die im vollen Schmucke ihrer überaus kostbaren, mit Gold- und Silberstickereien überladenen Seidengewänder erscheint. Einen komischen Eindruck machen einige Mandarinen in altchinesischen Heroenkostümen. Ihre sonderbaren Kopfputze sind mit unendlich langen Federn besteckt; die übermäßig geschminkten Fratzen erhalten durch lang herabwallende Ziegenbärte ein gar zu drolliges Aussehen.

Doch was ist das, was sich hinter diesen Reitern einherwälzt? Etwa ein ungeheurer, mit menschlichen Füßen versehener Heerwurm? Nein, es ist der große Drache, der heute zum ersten Male auf amerikanischem Boden auftritt. Welch eine Ausgeburt der zu abenteuerlichen Extravaganzen so sehr geneigten chinesischen Phantasie! Ein ungeheurer, aus Leinwand und Bambus gefertigter Kopf mit mächtigen Glotzaugen, Bockshörnern, langen Fühlfäden und einer blutrothen Zunge, die in dem mit fürchterlichen Zähnen besetzten Rachen hin und her schlenkert, bewegt sich auf uns zu. An dem dünnen Halse setzt der schier endlose Riesenleib des Scheusals an, dessen Träger, einige Dutzend Chinesen, sich bemühen, das Unthier all die charakteristischen Bewegungen einer Schlange nachahmen zu lassen.

Noch hat sich unsere Verwunderung ob des seltsamen Anblicks nicht gelegt, da werden einige kostbar geputzte chinesische Frauen in goldblinkenden Palankins vorübergetragen, dann kommen braune Bewohner der Sandwichsinseln, hinter denen wieder rothwangige Schönheiten der Bretagne in klappernden Holzpantoffeln einhertrippeln. Voll feierlicher Grandezza ziehen dann einige päpstliche Schweizergardisten auf, die mächtigen Hellebarden geschultert, als folge gleich hinter ihnen der Herr der katholischen Christenheit. Doch es sind nur einige cylinberhutbedeckte und in tadellosen Salonanzügen steckende Japaner, die in der feinen Kalesche stolz einherfahren, sich mit einem umfänglichen japanischen Sonnenschirm beschatten und so recht die Thatsache verdeutlichen, wie scharf im Lande des Sonnenaufgangs uralte heimische Gewohnheiten und die neuesten Errungenschaften abendländischer Kultur nebeneinanderstehen. –

Grasgrüne, mit einer Leier geschmückte Fahnen verkünden jetzt das Nahen der Söhne und Töchter Grün Erins. Die ganze Gruppe ist grün gekleidet, und grün sind selbst die Strümpfe des Tänzers, der nach den Tönen eines Dudelsackes den irländischen Gig mit einer Unermüdlichkeit tanzt, die einer besseren Sache würdig wäre.

Blutrothe, mit dem Halbmond verzierte Fahnen, mit flatternden Roßschweifen versehene Feldzeichen, mit Koransprüchen bestickte Banner, sowie hoch über die Menge hinwegsehende Köpfe von Kamelen und Dromedaren bereiten uns nun auf das Erscheinen der Orientaten vor. So zahlreich ziehen die verschiedensten mohammedanischen Völkerschaften an uns vorüber, daß es ist, als habe sich der ganze Orient von Marokko bis zum Euphrat, vom Goldenen Horn bis zum Blauen Nil auf die Wanderschaft begeben. Da sind Kabylen vom Atlasgebirge, Tunesier und Aegypter, Tuaregs und Tibbus aus der Sahara, Beduinen vom Sinai und aus den Steppen Yemens, Kurden und Armenier, Derwische, Priester und Handelsherren aus Beirut, Smyrna und Damaskus.

Welch ein farbenprächtiger, an die phantastische Märchenwelt von „Tausend und eine Nacht“ erinnernder Aufzug! Da rasen auf weiten, freigelassenen Strecken die Beduinen auf windschnellen Rossen dahin und geben höchst verwegene Kampfspiele zum besten. Meister der Fechtkunst sind auch die ihnen folgenden Mameluken, hagere, sehnige Gestalten, die in alterthümlichen Panzerhemden und stählernen Cirkassierhelmen erscheinen, welch letztere noch denselben Wangenschutz und dieselbe Nasenberge haben, wie sie an Ritterhelmen des 11. Jahrhunderts üblich waren. Das sind die echten Krieger des Orients, dieselben Menschen, die in fanatischem Ansturm einst halb Europa unterwarfen. Blitzschnell lassen sie die Krummsäbel auf die Helme und Rundschilde ihrer Gegner niedersausen, so daß man vermeint, jeden Augenblick müsse einer derselben unter den Schwerthieben zusammenbrechen.

Doch die Kämpfer sind zu gewandt, um sich irgend welchen Schaden zuzufügen und so dürfen wir uns ohne Besorgniß jenen [752] hinter ihnen herschreitenden Athleten zuwenden, die anscheinend mühelos mit kolossalen Holzkeulen und schweren Eisenstangen spielen. Mehrere Bursche, deren mit Oel eingesalbte, im Sonnenlicht glänzende Körper in wunderbar ausgeprägter Weise das ganze Muskelsystem zeigen, sind die Ringer des persischen Palastes; ihnen folgen tiefschwarze, in schneeweiße Gewänder gehüllte Sudanesen, die ihre weit abstehenden Haardächer mit Unmassen von Hammeltalg beschmiert haben.

Bronzefarbige, nur mit einem Bastschurz bekleidete Bewohner von Samoa schließen sich an. Sie tragen lange, mit Haifischzähnen und Fischgräten besetzte Speere und Lanzen, centnerschwere Keulen aus Eisenholz. Während ihre schönen, mit überaus sanften Augen versehenen Weiber lustige Marschlieder erklingen lassen, entlocken die Krieger den eigenthümlichen Muscheltrompeten schauerliche, weithin hallende Töne.

Bereits eine volle Stunde währt der Vorbeimarsch aller dieser fremden Völkerschaften, da endlich naht das Ende: gegen dreißig mit Rosengewinden bekränzte Wagen, in denen die Schönheiten des „internationalen Kongresses der Volkstrachten“ sitzen. –

Außer jenen Völkerschaften der Midway Plaisance besitzt die Kolumbische Weltausstellung noch einige andere sehenswerthe Gruppen, von denen nur die Eskimos von Labrador und die Bewohner der Nordwestküste von Nordamerika, die Indianer von Vancouver-Island und Britisch-Kolumbia, genannt sein mögen. Namentlich das Dorf der letzteren erregt mit seinen eigenartig bemalten Bretterhütten und den absonderlichen Totempfählen, welche in aufsteigender Reihenfolge den Stammbaum der Familien in Thierbildern festhalten, die Aufmerksamkeit jedes Besuchers, der Sinn hat für die mitunter so seltsame Wendungen einschlagende Entwicklungsgeschichte der Menschheit.

Diesen Sinn suchte die Leitung der Kolumbischen Weltausstellung dadurch rege zu halten, daß sie dann und wann ähnliche Veranstaltungen traf wie den oben geschilderten Völkerzug. So wurden z. B. internationale Völkerkonzerte und Tanzfeste, Wettschwimmen, Wettruder- und Segelfahrten abgehalten, und stets haben derartige Schaustücke wie auch die häufigen großen Feuerwerke ein zahlreiches Publikum herangezogen.

So bot die Kolumbische Weltausstellung nicht nur des Belehrenden, sondern auch des Unterhaltenden so unendlich viel, daß es kaum möglich war, alles in sich aufzunehmen und zu bewältigen. Gewiß hatte auch die Kolumbische Weltausstellung ihre Mängel und Fehler. Wenn wir in unseren Berichten, die wir hiermit schließen, im großen und ganzen über dieselben hinweggegangen sind, so geschah dies nicht etwa aus Liebe zur Schönfärberei, sondern weil uns diese Mängel gegenüber der ungeheuren Summe von Belehrung zu bedeutungslos erschienen, als daß wir sie hätten ausdrücklich hervorheben sollen. Möge sich auch das afinanzielle Ergebniß der Weltausstellung gestalten wie es wolle, möge der Rechnungsabschluß Gewinn oder Verlust ausweisen, so wird die Geschichte doch die Erinnerung an die Kolumbische Weltausstellung festhalten und sie als eines der glänzendsten Ereignisse des 19. Jahrhunderts verzeichnen.


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Sein Minister.

Novelle von E. Merk.

 (2. Fortsetzung.)

Die Zeitung brachte eine ausführliche Schilderung über den Empfang des Ministers, in der auch Doras Name genannt wurde, und diese fürchtete sich ein wenig vor dem nächsten Briefe von zu Hause, wo auf diese Weise ihr Auftreten bekannt werden konnte. Zu ihrer peinlichen Ueberraschung erhielt sie auch nach etwa einer Woche eine Karte, auf der ihr Vater schrieb, er sei eben mit dem Morgenzug angekommen und im Bahnhofhotel abgestiegen; er habe mit ihr zu sprechen und werde sie um zwölf Uhr besuchen. Für den Fall, daß in dem fremden Hause eine Unterredung unmöglich wäre, erbitte er sich Nachricht, wann sie ihn im Gasthof aufsuchen könne.

Das klang nicht sehr vertrauenerweckend; ihr Vater mußte sehr entrüstet über ihr öffentliches Hervortreten sein, da er persönlich zu ihr kam. Sie zog es vor, ihn in ihrem Stübchen zu erwarten; aber je näher die Mittagsstunde kam, desto banger wurde ihr zu Muth, und ihr Herz klopfte heftig, als endlich ihr Vater bei ihr eintrat. Dennoch that es ihr wohl, seine Stimme wieder zu hören; sie wäre ihm gern an den Hals geflogen. Aber Herwald hatte seinen Kindern stets fremd gegenübergestanden, so wagte sie auch in der Fremde nicht, eine wärmere Zärtlichkeit zu zeigen.

Zu ihrer Ueberraschung erkundigte er sich freundlich nach ihrem Befinden und sah ihr dabei forschend ins Gesicht, als fürchtete er, daß ihre Gesundheit gelitten haben könnte. „Warum schriebst Du uns kein Wort von Deinem Auftreten und von der Auszeichnung, die der Minister Dir zu theil werden ließ?“ fragte er dann, sich neben ihr niederlassend.

Sie war froh, daß er ohne lange Einleitung diesen Gegenstand berührte, und staunte nur, daß seine Stimme dabei so ruhig blieb. Jetzt lächelte er sogar! Sie kannte ihren Vater gar nicht wieder.

„Ich fürchtete, Ihr würdet zanken. Aber ich bin so gedrängt worden –“

„Nun, die Mama war über Dein Schweigen etwas gekränkt,“ unterchrach er sie mit einer gewissen Ungeduld, wieder zum Wort zu kommen: „In Deinem letzten Brief stand ja keine Silbe über die Festlichkeit. Weißt Du, wer mir zuerst von der Sache gesprochen hat? Der Minister selbst.“ Er hatte ihre Hand ergriffen und streichelte sie, was er noch nie gethan hatte.

Dora war glücklich über dieses liebevolle Entgegenkommen. Sie fühlte, wie ihr die Augen feucht wurden; zum ersten Mal, seit sie von Hause entfernt war, ergriff sie das Heimweh. Bisher hatte sie in ihrer Familie einen gewissen Unmuth gegen sich vorausgesetzt; nun schien es doch, als werde sie nirgends besser geliebt, als habe die Entfernung selbst den strengen Vater weicher gegen sie gestimmt.

„Ja, mit begeisterten Worten hat mir der Minister von Dir gesprochen, Dora. Und kurz und gut, ich will es Dir ohne Umschweife sagen: um seinetwillen bin ich hier! Er bittet durch mich um Deine Hand.“

Dora sprang empor, bleich, erschrocken. „Aber – aber Papa, er ist doch so viel älter als ich – und ich kenne ihn kaum!“

„Ich meine, daß heutzutage jedes Mädchen sich glücklich schätzen darf, einen ernsten zuverlässigen Mann an der Seite zu haben. Was willst Du denn? Freiherr von Telf ist in den besten Jahren. Er war lange verwitwet, hat lange nicht mehr das Glück gehabt, ein rechtes Heim zu besitzen. Welch bessere Aufgabe kann sich ein Mädchen wünschen, als einem Manne, der wie Telf seine Zeit, sein Leben dem Vaterland opfert, das Dasein zu verschönern?“

Dora hörte nicht mehr, was ihr Vater sprach. Sie rief sich die gütigen Augen des Mannes zurück, sie suchte sich an die friedliche, vertrauensvolle Stimmung zu erinnern, die sie in seiner Nähe empfunden hatte – aber dabei war es ihr doch, als hätte der Herbst für sie begonnen und in einem versteckten Winkel ihres Herzens sei noch eine Hoffnung wach auf den vollen Frühling; als sollte ihr heimlicher scheuer Wunsch nach Glück nun ganz vernichtet werden.

Noch immer stand sie blaß und stumm vor dem Vater. Sein Gesicht ward finster. Ihm hatte die Werbung des Ministers seit seiner Entlassung aus dem Dienste des Königs die erste freudige Stunde gebracht. Dora hatte auf einmal seine Achtung gewonnen seit sie die Gattin des Mannes werden sollte, dem sich Herwald wohl eine Zeitlang gleichberechtigt an die Seite gestellt hatte, der ihn aber jetzt wieder weit überragte. Ein heißer Zorn erfaßte ihn, wenn er an die Möglichkeit dachte, daß sein Ehrgeiz an Mädchengrillen scheitern könnte, die zum ersten Mal für ihn eine ernste Bedeutung gewannen. Aber er mußte seinen Unmuth unterdrücken; er durfte Dora nicht zum Widerstand reizen; sie hatte ja bewiesen, welch ein Starrkopf sie war. Darum versuchte er es mit schmeichelndem Zureden.

„Dora, ich habe Dich immer für ein kluges Mädchen gehalten, das ein Stück meines Charakters geerbt hat. Mir aber hat das Herrschen stets besser zugesagt als das Dienen. Mache Dir doch einmal Deine zukünftige Stellung an der Seite des Ministers klar! Wie werden sich alle die Herren Räthe und Assessoren vor der Excellenz von Telf verneigen, wie werden die Damen Dich

[753]

Vor dem Wettrennen.
Nach einem Gemälde von C. Thoma.

[754] beneiden, welche Rolle kannst Du in der glänzenden Gesellschaft spielen, die sich in dem Palais in der Parkstraße versammeln wird!“

Es schien fast, als habe der Vater mit seinen Worten den richtigen Punkt getroffen, denn eine plötzliche Röthe überzog die bleichen Wangen seiner Tochter; herausfordernd hob sie den Kopf, ihre Augen blitzten wie im Triumph, und um ihre Lippen zuckte ein ihr sonst fremder hochmüthiger Ausdruck. Ein Gedanke hatte mit einem Male das Dunkel vor ihr mit grellem Licht durchzuckt – der Freiherr von Telf, er war ja Emils Minister! Seltsam, daß ihr dieser Zusammenhang nicht sofort klar geworden war! Nun weckte diese Gewißheit einen Sturm in ihrer Seele, nun jagten sich in ihrem Kopfe die Bilder. O, er sollte sich vor ihr verneigen, der Herr Assessor Wienburg! Er sollte die Macht fühlen, welche die Gattin seines höchsten Vorgesetzten in Händen hielt! Da winkte ihr Genugthuung, Glück – das einzige Glück, das ihr noch werden konnte!

„Nicht wahr, Dora“ begann ihr Vater wieder, durch die Verwandlung in ihren Zügen sehr erleichtert, „Du hast überlegt und siehst ein, daß ich gute Nachricht brachte? Und Deine Antwort?“

„Ich will den Minister heirathen, Vater!“ Ihre Stimme klang hart, aus ihrem Gesicht war alle Weichheit verschwunden. Sie blieb auch ruhig und gemessen, als der Vater sie jetzt stürmisch an sich zog. Ihr war, als habe sie ihrem Herzen das Todesurtheil gesprochen und müsse nun lernen, kühl, unnahbar, stolz zu werden und nie wieder ein warmes Gefühl zu verrathen.

Ihr Vater eilte sofort zum Telegraphenamt, um dem Minister die Einwilligung seiner Tochter mitzutheilen. Zwei Stunden später kam die Antwort. „Dora, meine liebe Braut – ich danke Ihnen in tiefem Glück! Ihr Bernhard.“

Das Mädchen blickte mit ernstem traurigen Gesicht auf das Blatt. „Bernhard“ hieß er. Sie. hatte ihm ihr Wort gegeben, ohne seinen Vornamen zu wissen! Es schien ihr ganz unglaublich, daß sie ihn jemals mit diesem Namen nennen, daß er je aufhören würde, für sie etwas anderes als der „Herr Minister“ zu sein.

Frau von Heinel wurde durch die Nachricht von dieser Verlobung in förmliche Ekstase versetzt. Die Karten hatten wieder einmal recht gehabt und das große Glück vorhergesagt! Und dann, welcher Genuß, ihren Bekannten eine Neuigkeit mitzutheilen, die sich wahrlich nicht alle Tage ereignete: ihre Gesellschafterin die Frau eines Ministers! Die Freude über diesen Gesprächsstoff tröstete die Witwe sogar einigermaßen über Doras rasches Scheiden. Denn der Freiherr bat dringend um die Rückkehr seiner Braut. Er sei in den Jahren, schrieb er, da man schon geize mit jeder sonnigen Stunde und einen Aufschub des Glücks nicht zu ertragen vermöge. Da er die Hauptstadt nicht verlassen konnte, hatte er den Verlobungsring mit einem Brief voll der wärmsten Worte seiner Braut zugeschickt. Er schien ganz zu vergessen, wie viel auch er seiner künftigen Gattin zu bieten habe; er sprach nur von dem unverdienten Glück, das ihm zu theil werde durch ihre Jugend, ihren Liebreiz.

Das sichere Bewußtsein seiner tiefen Neigung hätte Dora mit Vertrauen auf die Zukunft durchdringen müssen. Aber gerade vor der großen Güte, die aus seinen Zeilen sprach, beschlich sie ein Bangen, das Gefühl einer Verantwortung, die sie fast erdrückte.

*  *  *

Drei Monate waren seitdem vergangen. Dora kam mit ihrem Gatten von der Hochzeitsreise zurück. Sie hatten an der Riviera, an all den Plätzen geweilt, an denen trotz der frühen, fast winterlichen Jahreszeit blauer Himmel und Sonne zu erhoffen gewesen war. Mit staunenden dankbaren Augen hatte Dora, die bisher über ihre Heimat nicht hinausgekommen war, die Schönheit dieser Welt bewundert. Nun aber brachte ihr die Heimkehr nach all dem Neuen, nach dem stürmischen Umschwung, den ihr Leben erfahren hatte, eine große Stille, in der sie sich erst auf sich selbst besinnen konnte. Noch immer schien es ihr wie ein Traum, daß sie plötzlich in eine Persönlichkeit verwandelt worden war, der man mit Ehrerbietung begegnete, mit der selbst die Eltern, die alten Freundinnen in einem veränderten Tone sprachen. Wenn sie durch die hohen Zimmer ihrer Wohnung schritt, so war es ihr stets, als sei sie eine Fremde, die hier nur Gastfreundschaft genieße, und ihre neue Würde wie ihr Besitz dünkten ihr nur geborgt. Der selige Rausch, der eine liebende Frau in der Ehe erfaßt, hatte sie nicht ergriffen. Es blieb eine gewisse Scheu zwischen ihr und dem Gatten, und die rechte Vertraulichkeit wollte sich nicht finden lassen. Und doch liebte der Freiherr seine Gattin, liebte sie um so heißer und tiefer, als es trotz seines ergrauenden Haares der erste Herzensfrühling war, den er genoß. Zeit seines Lebens war er ein Mann der Arbeit gewesen, der schweren mühevollen Gedankenarbeit, welche die ganze Kraft für sich fordert und keine Zeit übrig läßt für persönliche Wünsche. Er war keiner von jenen Ehrgeizigen, die sich mit rücksichtsloser Energie emporkämpfen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Nur die Pflichttreue war es, die ihn trieb, von sich selbst wie von anderen im Berufe das Höchste zu fordern; jene Pflichttreue, die sich nie genug thut, kein Abweichen vom Wege gestattet. Dabei war er viel zu bescheiden, um einen ungewöhnlichen Lohn für seinen ungewohnlichen Eifer zu erwarten; er meinte eben nur seine Schuldigkeit zu thun.

Zum Verkehr mit Damen hatte er schon als ganz junger Mensch wenig Zeit gehabt. Seine erste Heirath war eigentlich eine That der Gutmüthigkeit gewesen. Das Mädchen war viel zu seiner Mutter gekommen und hatte der alten Frau, die keine Tochter besaß, kindliche Anhänglichkeit bewiesen. Die Mutter hatte dann ihr Möglichstes gethan, um dem Sohne die Vorzüge der stillen sanften Bertha ins beste Licht zu rücken. So war Bertha seine Frau geworden, seine treue sorgsame Gefährtin. Er hatte keinen Grund gehabt, die Wahl zu bereuen. Seine Ehe war sturmlos gewesen, freilich auch niemals von einer rechten Liebessonne durchleuchtet worden.

Seine Gattin war schon lange tot, als er die bevorzugte Stellung erlangte, welche seine Kenntnisse und seine Arbeitskraft verdienten. Gerade weil er niemals auf eine solche Würde gehofft hatte, ergriff ihn für die erste Zeit fast ein Schwindel. Dann aber trat er sicher und fest auf, denn er glaubte an sich. Ganz seinem großen Wirkungskreise sich widmend, hatte er auch als Excellenz ein still zufriedenes Leben geführt, bis beim Anblick Doras der große Wunsch nach Glück mit unabweisbarer Macht über ihn gekommen war. Zum ersten Male fand er jetzt den Muth, für sich selbst eine Forderung an das Schicksal zu stellen. Fast überwältigt von Dank, hatte er die Gewährung seiner Bitte vernommen. Er faßte es kaum, daß sich über den Abend seines Lebens so glänzender Sonnenschein ergießen sollte.

Auch als Dora seine Gattin geworden war, blickte er auf das stolze bezaubernde Frauenbild, dessen Schönheit nun ihm allein angehörte, immer noch wie auf ein holdes Wunder. Aber er schämte sich der zärtlichen Geständnisse, für die er sich zu alt vorkam! Daß er Dora liebe, schien ihm so klar erhärtet, daß es keiner Betheuerung mehr bedürfe, und er wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, daß keine Frau, auch die seinige nicht, solche Versicherungen des Gefühls entbehren wolle. Er hätte viel tyrannischer, viel selbstsüchtiger sein dürfen und er würde Doras Seele doch ganz anders beherrscht haben, wenn er ihr zugleich einen Einblick in sein Herz gestattet hätte. –

Am ersten Sonntag nach der Rückkehr sollten der jungen Excellenz die Beamten ihres Mannes vorgestellt werden und sie sollte zum ersten Mal an seinem Tische die Honneurs machen. Auf der Liste der zu dem Diner Eingeladenen hatte Dora auch den Namen Wienburg gelesen. Wie ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an dieses Wiedersehen! Wie oft sie sich die Miene zurechtlegte, mit der sie ihn begrüßen wollte – ernst, unnahbar, mit einem fremden Lächeln, das ihm sagen mußte: ein Ocean liegt zwischen mir und Dir! Aber sie schmückte sich doch mit besonderer Aufmerksamkeit und freute sich über den vornehmen Schnitt des dunklen Atlaskleides, das mit langer Schleppe an ihr niederfloß und ihren Wuchs noch stattlicher und majestätischer als sonst erscheinen ließ.

Selten nur gestaltet sich eine oft ausgemalte, oft überdachte Stunde genau nach unserer Erwartung. Schon Emils Eintritt in Doras Empfangssaal war anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte geglaubt, daß er als der jüngste unter den Beamten bescheiden im Vorzimmer bleiben und warten würde, bis nach all den Würdenträgern, den Direktoren und Räthen, auch an ihn die Reihe kommen würde, vorgestellt zu werden. Stattdessen erschien er als einer der ersten; der Minister ging auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand, und den Arm des jungen Mannes in den seinigen legend, führte er ihn zu seiner Frau.

[755] „Hier stelle ich Dir meinen jungen Hilfsarbeiter und Freund vor, Herrn Assessor Wienburg – gewissermaßen meine rechte Hand!“

Mit ganz besonderem Wohlwollen hingen die Augen des Freiherrn an den hübschen Zügen des jungen Mannes, der sich mit seinem gewinnendsten Lächeln verneigte.

„Ich habe bereits das Vergnügen gehabt,“ erwiderte Dora. Emil stand ehrerbietig vor ihr und brachte in den glattesten Worten seine Glückwünsche dar. Und nun war sie eingeschüchtert und verwirrt, nicht er; sie hatte Mühe, Gelassenheit zu zeigen. Den ersehnten stolzen Triumph über ihn empfand sie nicht.

Während der Minister sich einem neuen Gaste zuwandte, hoben sich Emils Augen plötzlich mit beredter Sprache zu Dora empor. Sie drückten tiefe Trauer aus, einen entsagungsvollen Schmerz, einen stummen Vorwurf, sie schienen zu sagen: „Ich habe mich geopfert für Dich! War es nicht gut für Dein Glück? Bist Du mir nun dankbar? Ich habe Dich geliebt und Du hast einen anderen erwählt!“

In der That hatte Emil in dieser Minute gar nicht die Empfindung, als habe er an Dora ein Unrecht verübt. Im Gegentheil. Da für seine Begriffe eine hohe beneidete Stellung das höchste Erdenglück bedeutete, so erschien er sich wirklich wie ein Großmüthiger, der mit Rücksicht auf das Glück des geliebten Mädchens eine jugendliche Liebesthorheit in der selbstlosesten Weise abgebrochen hatte. Und Doras Ehe war ihm ein Beweis, daß auch ihr jenes Gefühl nicht besonders tief gegangen, daß sie weltklug und berechnend und ehrgeizig sei wie er selbst. So war er kühn genug, zu hoffen, daß die einstige Neigung der Excellenz ihm für alle Zukunft ihr Wohlwollen sichern würde, worauf er um so mehr Gewicht legte, als er überzeugt war, die schöne junge Frau werde über ihren Gatten eine immer größere Herrschaft gewinnen.

Dora war bleich geworden in seiner Nähe. Sie hatte seit jener Trennung im Gewittersturm sein Gesicht nicht mehr gesehen und hatte geglaubt, es habe jede Macht über sie verloren, ihre Liebe sei völlig überwunden. Und nun, wie sie diese Züge, diese Augen wiedersah, da schien alles zu verblassen und zu verschwinden, was seit jenem abendlichen Heimweg im Lindenduft geschehen war. Sie fühlte deutlich das wunderbare Entzücken wieder, mit dem sie eine Sekunde lang an seiner Brust geruht hatte, und der Rausch, den sein Kuß in ihr geweckt hatte, erfaßte sie aufs neue, nur mit heißerer Sehnsucht. Sie sagte sich, daß ihre Gedanken Sünde seien, ein Verbrechen gegen das Vertrauen ihres Gatten – umsonst, die Erinnerung wich nicht. Sie mußte ihre Pflichten als Wirthin erfüllen, mußte sich verneigen und lächeln und freundlich zuhören – doch beständig verfolgte sie der angstvolle Wunsch, der aus der Tiefe ihres Herzens empordrang: „O, müßte ich ihn niemals wiedersehen! Wie kann ich ihn für immer aus meiner Nähe entfernen?“

Emil saß am untersten Ende der langen Tafel, aber sie begegnete doch immer wieder seinen Augen, in denen ein Ausdruck entsagungsvoller Bewunderung lag, diesen dämonisch bestrickenden Augen, die sie glauben machen wollten, daß er sie geliebt habe, immer noch liebe. Unter allen Stimmen hörte sie die seinige heraus.

Wie eine Erlösung dünkte es sie, als die Cigarren gebracht wurden und sie sich zurückziehen durfte. In Gewissensqualen saß sie dann in ihrem Zimmer, drückte die Hände an die hämmernden Schläfen und fragte sich immer wieder: „Durfte ich denn Bernhards Frau werden, wenn dieser andere einen solchen Sturm in mir wachzurufen vermag? Und doch – es war keine Lüge, wenn ich sagte, mein Herz sei frei, Ich kannte es ja selbst nicht! Aber ich will nicht, will nicht an ihn denken!“ Trotzdem schien sich der Sturm nicht so rasch zu beruhigen, die fremde Gewalt in ihr nicht so rasch zu weichen, denn sie murmelte ein paarmal düster vor sich hin: „Er hat Dich ja nicht gewollt, hat Dich verschmäht! Erinnere Dich doch dieser Schmach!“

Ihr Gatte war in sehr vergnügter Stimmung, als er eine Stunde später bei ihr eintrat. Er zog sich einen Sessel an das kleine Sofa heran, auf dem sie saß, und legte seinen Arm um ihren Nacken.

„Solche Sonntagsruhe mit einem lieben Gesicht in der Nähe, das ist schön,“ sagte er mit einem warmen Lächeln. „Früher, wenn es so still und einsam in meiner Behausung war, ging ich oft auch an diesem Tage an die Arbeit, nur um nicht melancholisch zu werden. Du lehrst mich den Feiertag heiligen, Dora.“

Sie plauderten eine Weile von den verschiedenen Herren, die ihre Gäste gewesen waren. Der Minister wußte von jedem ein lebendiges Bild zu entwerfen; er war ein Menschenkenner, wenn ihm auch seine Güte hier und da einen Streich spielte.

Auch Dora fand, es sei ein trauliches Zusammensitzen in dieser späten Nachmittagsstunde, während Glockengeläute zum offenen Fenster hereinklang und aus der Ferne zuweilen das Geräusch der Straßen herüberschwirrte. Aber ihr Behagen wollte nicht standhalten. Wie gut alles wäre, dachte sie, wie friedlich, wenn nur jener Eine ihr nie wieder vor die Augen käme!

Sich zusammennehmend, fragte sie plötzlich: „Du hältst große Stücke auf den Assessor Wienburg?“

„O ja! Er ist ein gewandter Mensch, Vielleicht gefällt es mir auch, daß er mir so diensteifrig ergeben ist, daß er eine so feine Höflichkeit besitzt. Ich verachte die plumpe Devotion, der ich nur allzu oft begegne. Aber kein Mensch ist unzugänglich für eine liebenswürdige Unterordnung, die ja in diesem Falle von seiten des jüngeren Mannes auch nichts Unnatürliches hat.“

„Und der Assessor wird oft in unser Haus kommen?“

„Bisher habe ich nur ab und zu einige Herren bei mir gesehen, nicht öfter, als es in meiner Stellung dringend geboten war. Doch jetzt, da dies Haus eine so junge und hübsche Herrin besitzt, werden wir ja wohl geselliger leben müssen, und der Assessor ist jedenfalls eine gute Figur für einen Salon; außerdem wird er als Ordner bei Deinen Festen seinesgleichen suchen, wenn Du ihn als Hilfsarbeiter heranziehen willst. Er ist Dir doch nicht unangenehm?“

„Nein,“ erwiderte sie leise. Sie kämpfte mit sich. „Wahrheit, Wahrheit ist das Einzige, das Dich retten kann!“ rief es in ihr. Sie senkte die Augen auf die halb verwelkten Rosen, die sie noch am Kleide stecken hatte, und zupfte in nervöser Unruhe an den Blättern. Aber ihre Stimme beherrschte sie so gut wie möglich, als sie begann: „Ich will Dir nur gestehen, Bernhard: Herr Wienburg hat mir in meiner Mädchenzeit – erst letzten Sommer war’s – sehr den Hof gemacht. Glaubst Du nicht, daß man es seltsam finden, daß man sich Bemerkungen erlauben wird, wenn er öfter zu uns kommt?“

Der Minister war aufgestanden. Doras Worte berührten ihn peinlich. Wer ein Weib mit ganzer Seele liebt, den verletzt jeder Blick, den ein anderer auf sie geworfen hat. Aber nichts dünkte Bernhard lächerlicher und sinnloser als die Rolle des eifersüchtigen Gatten. Dora war sein. Er hätte sich jeden Zweifels an ihr geschämt und es wäre ihm ihrer und seiner selbst unwürdig erschienen, mit ihrer Vergangenheit zu eifern, auf ihre Tänzer zu grollen und vor jedem jungen Menschen zu zittern, der sich einst in ihre Nähe gedrängt hatte. So wurde es ihm nicht schwer, ihre Bedenken leicht zu nehmen.

„Liebes Kind, ich glaube, der Assessor macht allen hübschen Mädchen und Frauen den Hof. Man steht das bei ihm gar nicht so ernst an, das ist so seine Art! Seit einem Jahre habe ich schon ein halbes Dutzend nennen hören, die er besonders ausgezeichnet haben soll.“

Damit war Bernhard seiner augenblicklichen Verstimmung auch schon Herr geworden, und es dauerte nicht lange, so hatte er die Worte seiner Frau ganz vergessen. Er mußte so viel Ernstes in seinem Amt bedenken!

Aber Dora hatte keine wichtige Arbeit; sie war viel allein und grübelte beständig über ihre Empfindungen. Es verletzte sie, daß ihr Gatte ihr Geständniß so leicht nahm. Sie hatte Schutz bei ihm gesucht, hatte gehofft, daß er ihr Emil fernhalten werde. Warum wollte er nicht verstehen, daß es sich nicht um ein flüchtiges Spiel, sondern um etwas weit Ernsteres gehandelt hatte? Oder legten die Männer überhaupt kein so großes Gewicht auf Herzensregungen? War es thöricht von ihr, sich zu ängstigen und zu quälen wegen einer unabweisbaren Erinnerung? Jedenfalls wollte sie dem Assessor mit eisiger, unnahbarer Kälte begegnen. Wenn sie das tolle Herzklopfen, das sie in seiner Nähe befiel, verbarg, wenn kein Athemzug, keine Bewegung, kein Blick verrieth, was in ihr vorging, dann war diese Schwäche ein Unglück, das sie ganz allein zu tragen hatte, das niemand in seinen Rechten verletzte.

(Fortsetzung folgt.)


[756]


Blätter und Blüthen.

Das neue Hauptpostgebäude in Köln. Schon längst genügte das alte Hauptpostamt in der Glockengasse zu Köln nicht mehr den Bedürfnissen des heutigen Verkehrs, ebenso hatte das Postamt 2 in der Marzellenstraße, dem vorzugsweise der bedeutende Auslandverkehr oblag, über große Knappheit des Raumes zu klagen. Nach langem Harren sollte der alten Colonia am Rheine endlich auch ein würdiges Posthaus beschieden sein. Es erhebt sich auf dem Grundstücke der ehemaligen Artillerie- (der sogenannten Dominikaner-) Kaserne als eine Zierde der Stadt und ein mächtiges Denkmal des gewaltigen Postverkehrs unserer Zeit. In der Architektonik des Gebäudes zeigt sich eine glückliche Vermischung der Frühgothik mit modernen Elementen und Formen. Die Fassade, die nach der Straße „An den Dominikanern“ liegt, hat eine reichgegliederte, dabei keineswegs übertriebene Ornamentik. Trotz ihrer Breite ist das kühn Emporstrebende des gothischen Stiles gewahrt, die Eintönigkeit einer langen Fensterreihe ist durch den schmucken Bau des Mittelportales, der aus der Fluchtlinie hervortritt, und durch die Eckthürme völlig überwunden. Ueber dem Hauptportal erblicken wir links die Steinfigur des Kaisers Wilhelm I., rechts die des regierenden Kaisers, über dem linken Portal ragt die Gestalt des Kaisers Friedrich, über dem rechten das Standbild des Königs Friedrich Wilhelm IV. empor.

Das neue Hauptpostgebäude in Köln.

Wie das Aeußere, so ist auch das Innere stilgerecht durchgeführt. Bei der Ausschmückung hat sich hier zur Bildhauerabeit die Farbe gesellt. Die Wände erhalten durch die in Grün und Roth ausgeführten Malereien etwas Anheimelndes und Freundliches. Die Bequemlichkeit und praktische Anordnung der Diensträume wird von den Postbeamten sehr gelobt, und ohne Zweifel wird auch das Publikum nach der feierlichen Einweihung des Gebäudes am 15. November d. J. mit den inneren Einrichtungen zufrieden sein; denn dem praktischen Bedürfniß ist ebenso wie dem Schönheitssinne Rechnung getragen worden.

Das Erdgeschoß enthält die Räume für das Briefpostamt, dessen Schalterhalle eine Sehenswürdigkeit ist, das Paketpostamt, die Telegrammannahmestelle, die Zollabfertigung und die Dienstzimmer der Oberpostkasse; das erste Stockwerk ist für die Oberpostdirektion und die Wohnung des Oberpostdirektors bestimmt; im zweiten Stocke ist bereits das Telegraphenamt untergebracht, außerdem sind dort die Dienstwohnungen der beiden Postdirektoren und des Telegraphendirektors sowie die Bauabtheilung der Oberpostdirektion; das Dachgeschoß endlich birgt die Räume für die Batterien des Telegraphenamtes.

Die Breite des Gebäudes beträgt 67,90 Meter, seine Tiefe 112,90 Meter, das Grundstück einschließlich des Posthofes und der Pferdestallungen umfaßt weit über 20000 Quadratmeter. Die Gesamtkosten belaufen sich auf mehr als 6 Millionen Mark. Mit dem nahen Hauptbahnhof, um dies noch zu erwähnen, ist das Postamt durch einen unterirdischen Gang verbunden.

Herzogin Hadwig wird von Ekkehard über die Klosterschwelle getragen. (Zu dem Bilde S. 745.) Das zweite Kapitel von Scheffels „Ekkehard“, dieser vielgelesenen und weitverbreiteten Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert, berichtet uns, wie Hadwig, die Herzogin im Schwabenland, mit großer Gefolgschaft das Benediktinerkloster zum heiligen Gallus in der Schweiz besuchen kommt. Ihr Vetter, der Abt Cralo, zögert anfangs, sie zu empfangen, da kanonische Satzung ihr als Frau das Thor sperrt, die Herzogin aber besteht auf ihrem Wunsch. Da läßt der Abt die Brüder in den Kapitelsaal laden zur Berathung und hier ist es der junge Mönch Ekkehard, der das lösende Wort findet. „Die Herzogin von Schwaben,“ meint er, „ist des Klosters Schirmmacht und als solche so gut wie ein Mann. Und wenn nach den Satzungen kein Weib den Fuß über des Klosters Schwelle setzen darf, so kann man sie ja darüber tragen.“ Der Vorschlag findet allgemeine Zustimmung und Ekkehard selbst wird dazu ausersehen, des eigenen Rathes Vollstrecker zu sein.

Das ist die Scene, die uns Eduard Kämpffer in seinem Bilde vorführt. Den Mittelpunkt desselben bilden die Herzogin und ihr Träger, und wer diese lieblichen feingeschnittenen Gesichter, diese edlen Gestalten nebeneinander sieht, der ahnt den Herzensroman, der sich an diese seltsame Begegnung knüpft. Ganz der Zeichnung des Dichters entspricht auch der Abt in seiner Kutte, mit dem schmalen Büschel Haare, das ihm inmitten des kahlen Schädels noch stattlich emporwächst gleich einer Fichte im öden Sandfeld, mit dem güldenen Kettlein, an dem das Klostersiegel hängt, und dem Abtsstab von Apfelbaumholz mit dem reichverzierten Elfenbeingriff. Große Freude über das seltene Schauspiel zeigen die Klosterknaben, welche das Weihrauchfaß schwingen, und der Kämmerer und die Dienstmannen der Herzogin, welche ihr und ihrem Träger auf dem Fuße folgen.

Vor dem Wettrennen. (Zu dem Bilde S. 753.) Es ist keine kleine Kunst, sich zurechtzufinden in dem unendlichen Menschengewirre, das die alljährlichen Herbstrennen zu versammeln pflegen, und so ist es denn auch unserem Bäuerlein nebst würdiger Ehehälfte nicht zu verargen, wenn sie nicht gleich den richtigen Eingang getroffen haben. Als thatkräftiger Mann, der sich nicht verblüffen läßt, benutzt unser Bauer nun zum Vorwärtskommen eine Straße, die merkwürdigerweise ganz freigeblieben ist von Menschen – ohne eine Ahnung, daß er in die Rennbahn selber gerathen ist. Wohl hört er die spottenden Zurufe der Menge, die sich an den Schranken drängt, und eine entfernte Ahnung, daß etwas nicht ganz richtig mit ihm sein könnte, steigt in seiner und noch deutlicher in seiner Gattin Seele auf, noch aber fehlt ihm die klare Vorstellung seiner Schuld. Nicht lange, und diese Klarheit wird ihm von einem grimmig polternden Schutzmann beigebracht, der die wackere Familie so wüthend anfährt, daß das fünfjährige Töchterlein ängstlich den Vater am Rock rückwärts zieht, als müßte es ihn möglichst schnell aus dem Bereich des Zürnenden entfernen.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

K. G. in Bingen. Das deutsche Weingesetz datiert vom 20. April 1892. Sie finden dasselbe nebst Erläuterungen und mit Anschluß von Rathschlägen für Bereitung und Pflege des Weines in einem Büchelchen des Chemikers Dr. A. Bujard, das unter dem Titel „Die Weinbereitung und Weinbehandlung und das deutsche Weingesetz“ jüngst im Verlage von G. Wildt in Stuttgart erschienen ist. Dasselbe dürfte um so mehr Ihren Wünschen entsprechen, als es gerade auf die Kleinpraxis besondere Rücksicht nimmt.

D. G. in Florenz. Das Vorkommen des Marmors in Deutschland ist nicht so selten, wie man allgemein annimmt. Die Werke in Oberschlesien (Groß-Kunzendorf); ebenso in Nassau (Diez und Villmar) liefern brauchbare Steine und beschäftigen viele fleißige Hände. Nicht mehr im Betriebe sind die gräflich Stolbergischen Werke bei Rübeland im Harz, ferner die Werke bei Brilon und Attendorn (Westfalen) und bei Neanderthal (Rheinland). Auch im Erz- und im Riesengebirge kommt Marmor vor.

F. K. in Annaberg. Am besten wird Neumanns Ortslexikon Ihrem Bedürfniß entsprechen. Es ist soeben eine neue, die dritte, Auflage im Erscheinen begriffen (Leipzig, Bibliographisches Institut), welche über alle Orte mit mehr als 300 Einwohnern, außerdem über alle kleineren Orte, in welchen eine Verkehrsstation, eine Pfarrkirche, ein größeres Gut, eine nennenswerthe Industrie sich befindet, erschöpfende Auskunft giebt. An Kartenmaterial enthält es eine politische Uebersichtskarte, zwei statistische Karten und 31 Stadtpläne.



Inhalt: Ein Lieutenant a. D. Roman von Arthur Zapp (4. Fortsetzung). S. 741. – Theodor Mommsen. Bildniß. S. 741. – Weltverbesserer. Von Dr. J. O. Holsch. VII. S. 744. – Herzogin Hadwig wird von Ekkehard über die Klosterschwelle getragen. Bild. S. 745. – Theodor Mommsen. Ein Gedenkblatt zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum. S. 747. – Weltausstellungsbriefe aus Chicago. Von Rudolf Cronau. VI. S. 748. Mit Abbildungen S. 748, 749, 750 und 751. – Sein Minister. Novelle von E. Merk. (2. Fortsetzung.) S. 752. – Vor dem Wettrennen. Bild. S. 753. – Blätter und Blüthen: Das neue Hauptpostgebäude in Köln. Mit Abbildung S. 756. – Herzogin Hadwig wird von Ekkehard über die Klosterschwelle getragen. S. 756. (Zu dem Bilde 745.) – Vor dem Wettrennen. S. 756. (Zu dem Bilde S. 753.) – Kleiner Briefkasten. S. 756.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.