Die Gartenlaube (1895)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[549]

Nr. 33.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.
(Schluß.)


11.

Auf den Wetterumschlag war ein zäher Kampf zwischen Nachtfrösten und auftauender Tagessonne gefolgt; endlich aber brach wirkliches Schmelzwetter mit stundenlangen Regengüssen herein, und die immer wieder gehärtete Eisdecke auf dem Fluß, zu einem schauderhaften Gemisch von Schlamm und Schnee, Schmutz und Neufrost geworden, verlor ihre Festigkeit. Die Schiffe lagen noch still, aber man brach eine offene Rinne für die Dampffähre, die zwischen den beiden Ufern fuhr und nun Monate lang im Eis geruht hatte. Am nächsten Sonntag wanderte sie zum ersten Mal wieder hin und her, durch den noch gefrorenen Fluß; von ferne gesehen wie ein Riesenschlitten, der langsam über die Eisfläche

Photographie im Verlage von J. Löwy in Wien.
Vergebliche Mühe.
Gemälde von J. Kinzel.

[550] ging, Noch am späten Abend schlenderte Volkmar auf wenige Minuten zum Hafen hinunter: er sehnte sich, das Wasser wieder rauschen und rieseln zu hören, und es war ihm wie eine Art Musik, wenn die kleinen Wellen der Fahrrinne in der dunklen Nacht an den zertrümmerten Schollen spielten. Dazu zauberte ihm der schwüle Wind schon Frühlingsträume ins Herz; freilich sehr verfrühte: man schrieb erst den sechzehnten Februar. In drei Tagen der neunzehnte, ein Entscheidungstag: das mündliche Examen …

Volkmar ging nach Hause zurück; Rudolf war nicht dort, auch beim Abendessen hatte er gefehlt: einige Freunde hatten ihn zu einem kleinen „Gelage mit Hausschlüssel“ abgeholt. Der vereinsamte Vater las lange in seinem Zimmer, die Schwester war zu Bett gegangen; endlich, da es zwölf geschlagen hatte, die Gedanken ihm aber noch keine Ruhe ließen, so that er, was ihm zuweilen ein eigenes Wohlgefühl, einen träumerischen, wechselnden Doppelzustand gab: er versenkte sich in einen Lehnstuhl, schloß die halbmüden Augen und ließ die Bilder, die Gefühle in seinem Hirn ziehen, wie sie wollten. Von Zeit zu Zeit schlief er darüber ein, ohne es zu merken; bald wieder erwacht, genoß er noch das Nachgefühl des von irgend einem Traum umgaukelten Schlafs, und lag doch auch so recht wie im Schooße des Lebens da. Draußen sang der Wind an den Fenstern, und spielte auf seinen Drehorgeln, den Wetterfahnen. Die geöffneten Augen sogen das milde, gelbe Licht der Hängelampe ein, als gehe von dieser kleinen Sonne das Leben aus, das den Körper so wohlig wärmte. Dann sanken sie wieder zu, und die Gedanken flossen langsam, wie Schifflein auf einem Strom, in den Schlaf hinab.

So war er von neuem eingenickt; plötzlich erwachte er und rührte sich, wie von irgend etwas aufgeschreckt. Er saß aufrecht und horchte. Nebenan im Speisezimmer stieß, wie es schien, ein Stuhl gegen den großen Tisch. Gleich darauf klirrte etwas; auf der Kredenz oder irgendwo. Wer ist da? rief Volkmar. Er wartete einige Augenblicke; es kam keine Antwort.

Geschwind war er an der Thür, öffnete sie und trat hinein. Im Speisezimmer war tiefes Dunkel. Wer ist da? fragte er wieder.

Verzeih, Vater, antwortete eine bekannte Stimme, aber jetzt mit schwerer Zunge. Ich bin’s! – Ich hatte nur sehen wollen, ob Du noch auf bist – und durch Dein Schlüsselloch sah ich Licht –

Junge, was hast Du? fragte Volkmar. Du sprichst ja, wie wenn –

Ja, es ist auch so, sagte Rudolf. Ich hab’ etwas zu viel – – Aber das thut nichts, Vater: es war für einen guten Zweck! O, wenn ich Dir erst sage – – Mir wird übrigens nur das Sprechen schwer; der Geist ist ganz klar. Es war eine heftige Kneiperei; dieser Fellenberg – –

Vater! rief er mit einem neuen Anlauf. Kann ich Dich noch sprechen?

Komm nur herein, sagte Volkmar. Rudolf stand noch immer an der Kredenz, an sie angelehnt. Mit etwas unsicherem Gang trat er in des Vaters Arbeitszimmer ein; in der offenen Thür blieb er stehen, als fühle er sich dort am Pfosten in erwünschtem Schutz. Das Licht der Hängelampe beschien sein sonderbar lächelndes, an den Wangen gerötetes Gesicht; die Haare wirrten sich zum Teil in die Stirn hinein; die Augen, auf den Vater geheftet, suchten ihn offenbar innig anzublicken, es lag aber eine gedunsene Röte wie ein Hindernis um sie her. Nur nicht erschrecken, lieber Vater, sagte er und blies den hörbar eingesogenen Atem durch die Lippen fort. Ich bin wohl kein angenehmer Anblick … Anders ging es nicht!

Setz’ Dich doch, sagte Volkmar. Du stehst da nicht gut. Setz’ Dich in den Lehnstuhl.

Ich danke Dir; ja, das will ich thun. – Mit einigen entschlossenen Schritten kam er zu dem Armstuhl hinüber und sank auch schon hinein. – Wie bist Du gut – zu so einem Sohn!

Es war ja für einen „guten Zweck“, wie Du sagst. Wo warst Du denn? Wo kommst Du her? Wenn Du sprechen kannst, dann sprich!

O ja, Vater, es wird wohl gehn. – Grade eine Woche ... Ich meine, eine volle Woche hat’s gedauert, bis ich so weit kam. Die ganze Woche, die Du mir auf meinen Brief zugestanden hattest – sie ging schon zu Ende – ich verlor die Wut. Nein – ich verlor die Geduld und ich kam in Wut! – Bitte, ärgere Dich nicht an meinem benebelten Kopf; und an meinem Sprechen –

Nein, ich ärgere mich nicht, sagte Volkmar, der nun statt Rudolfs am Thürpfosten stand. Laß Dir Zeit. Also Fellenberg –?

Wie kommst Du auf Fellenberg? fragte Rudolf.

Du nanntest ja schon seinen Namen. Was war’s denn mit ihm?

Lieber Vater! Das war der Gedanke – der ersehnte Gedanke – der mir nach dem Lichtausblasen kam: häng’ Dich an Fellenberg! – Ich hatt’ ihn schon beim Schlittschuhlaufen flüchtig kennen gelernt; – er läuft nicht besonders. Nun fing ich an, in die Kneipe zu gehen, wo er Billard spielt – und am Abend in seine Weinstube – – ein paar Abende, weißt Du, war ich nicht zu Hause; „bei Freunden“, sagte ich Dir – es war nicht gelogen: er nannte mich schon seinen Freund. Ich gefiel ihm – ich grüner Junge … Aber immer waren andere da – und – – Was wollte ich sagen. Ja, es waren immer auch Andere da; von dem, was mir auf der Zunge lag, konnte ich nicht sprechen – oder ich mochte nicht! ich bracht’s nicht heraus! Und die ganze Woche ging hin – und ich ging so um Dich herum, wußte nie, was ich sagen sollte – wußte kaum mehr recht, was ich fühlte, was ich dachte – – es war eine unsinnige Zeit!

Auch für mich, mein Rudolf –

Ja, wohl auch für Dich. O gewiß, natürlich auch für Dich! – Aber endlich heute Abend – –! O Vater!

Er stand auf, seine Gefühle rissen ihn empor. Eine Welt von Innigkeit wollte aus seinen Augen heraus; sie lag aber wie hinter einer Wolke, in dem trüben, schwimmenden Blick. Es war rührend lächerlich anzusehn; dem Vater zuckte es um den Mund, aber auch im Herzen. Schweigend trat er dann auf Rudolf zu und drückte ihn sanft in den Lehnstuhl zurück. Bleib’ nur, wo Du warst, mein Junge! Denken, sprechen und stehen wäre zu viel für Dich. Also heute Abend … Sag’ weiter. Ich ahne noch nicht, was es ist!

Ahnst Du es noch. nicht? fragte Rudolf treuherzig. Vater – diese Thea! Ich wollte ja wissen – um Deinetwillen – was die Wahrheit ist! Und als nun heut, am letzten Tag, meine Schulkameraden kamen, mich zu einem Fäßchen Münchener Augustiner zu holen, da wütete ich inwendig; wie ein Gefangener ging ich mit; meine einzige Hoffnung war: ich brenn’ ihnen durch! – Das that ich auch, nach einer Stunde. Länger hielt ich’s nicht aus. Ich erfand mir Kopfschmerzen – was sollt’ ich sonst machen, Vater – und ging „in die Luft“. Dann stürmt’ ich zu Fellenberg; ich wußte, wo er war. Im Ratskeller – ganz allein. Endlich ganz allein! Aber bei einem schweren Wein – – offenbar für mich zu schwer. Ich kann ja was vertragen, Vater; aber gegen ihn bin ich nichts. Und er trank so viel. Und ich mußte immer mit. Darum sitz’ ich nun so miserabel da. Ein trostloser Anblick. Ein „verlorener Sohn“!

Das thut nichts, sagte Volkmar ruhig. Erzähl’ nur zu Ende!

Ja; – ich dank’ Dir, Vater. Es war ja mein Glück, daß er so viel trank! Nun wurd’ er gemütlich, gesprächig – und zu mir fast zärtlich – – und ich kam auf Thea. – O Gott! Als ihm die Zunge gelöst war, was hat er erzählt! Von den Zeiten, in denen er auf andere eifersüchtig war; und von den Zeiten, in denen er das aufgegeben hatte; und von der Wette unter ihren guten Freunden, mit wem sie durchgehen wird. Und als ich hinwarf, sie werde ja wohl heiraten, ich hätte so was gehört – wie hat er gelacht! – „Aber wer heiratet so was, lieber grüner Junge!“ – Und dann wieder, in sein Glas guckend: „Es steht ihr aber alles so gut. Auch wenn sie zuweilen sentimental, melancholisch wird; dann plötzlich wieder ausgelassen wie ein Zigeunermädel; – immer aber schick. Graziös. Um die ist’s eigentlich Schade … Das heißt, warum Schade: sie erfüllt ihren Beruf!“ – – O Vater! Wie hab’ ich dagesessen. Wie hat nur das Herz gezuckt. Wie hab’ ich mich geschämt. So eine hab’ ich so geliebt! – Aber glaub’ mir, das ist mir nun wie vor hundert Jahren. Ich bin hier so frei – so frei. Und in allem Elend, in aller Scham freute ich mich doch fort und fort: „Das leid’ ich für meinen Vater. Es thut nichts! Wenn ich nur erst zu ihm komme – dann wird alles gut!“ – Nicht wahr, da hatt’ ich Recht. Ein Mann wie Du braucht das nur zu hören – dann kann er seine Hand nicht mehr ausstrecken nach so einem Weib. Du, Du kannst es nicht!

Volkmar lächelte; die Augen feuchteten sich ihm aber auch ein [551] wenig: so freute er sich an seinem Sohn. Nein, sagte er, ich kann’s nicht! – Wie gut hat sich aber Dein Wille bewährt: zuerst wollte die Zunge gar nicht, nun thut sie doch schon so ziemlich ihre Schuldigkeit. Und der Kopf, der „benebelte“, auch. Das ist die Herzenskraft: die hat nicht geruht, bis – – Mein geliebter Junge! Wie dank’ ich Deinem guten Herzen. An mir zweifle nicht. Müßt’ ich nur ganz so gewiß, daß auch Du geheilt bist!

So wahr ich hier sitze, Vater. Seit einer Woche war schon viel geschwunden – in all’ meiner Sorge um Dich – nun ist es hier totenstill! – – O wie schäm’ ich mich. Wie hatt’ ich mich verirrt. Wieder wie in dem Tagebuch – auf das ich so herabsah. Wieder wie ein Kind!

Volkmar trat zu ihm, legte ihm leise streichelnd eine Hand auf den dunkelblonden Kopf. Mein teurer Sohn, sagte er, mit heiter glänzenden Augen, es wird noch nicht Deine letzte Dummheit sein. Wenn sie alle so gut enden, dann ist’s noch nicht schlimm! – Ich muß Dir nun aber noch ein Geständnis machen; da Du mich so genesen anschaust, hab’ ich schon den Mut. Ich bin doch auch einmal falsch gegen Dich gewesen; „Erziehungsjesuiterei“ – die verachtete. Ja, zuweilen ist’s wahr: der Zweck heiligt das Mittel; so, dacht’ ich, in diesem Fall! Was hatte Dich gegen Thea so blind und so opfermutig gemacht? Nur Dein edler Sinn – Dein schwärmerischer – und darum gefährlich. Wenn ich diesen edlen Sinn nun herüberzog – die Liebe zum Vater darin zur großen Feuersbrunst machte, die in alle Winkel leuchtete und brannte … So ungefähr dacht’ ich mir’s, in meiner Vatersnot. So ist’s auch geglückt!

Rudolfs Augen, wieder umschleiert und fast ohne Blick, stierten zu Volkmar hinauf. Ich versteh’ noch nicht –

Kind, was war mir Thea! Ich hab’ sie besucht, ja, in der vorigen Woche jeden zweiten Tag; ich hab’ sie studiert, ihr „den Hof gemacht“, artig mit ihr geplaudert, sogar eine Rolle mit ihr durchgelesen; – an ihre kleine Hand oder ihr großes Herz hab’ ich nie gedacht. Es war eine Lüge, mein Junge, um Dich aufzuwecken; – sie ward mir schwer, glaub’ mir’s. Gott sei Dank, das ist nun vorbei. Du verzeihst mir, Rudolf. Du hast den Herzensverstand, der mit einem Schlag begreift, was ein anderes Herz gedacht! Ich mußte Dich aus dem Wasser ziehn – bin auch dabei naß geworden. Du aber – – wie stehst Du nun da. Das liebe „verschwierte“, umnebelte, tapfere Gesicht. Hast Deinem Herzen einen Preis getrunken, ’s ist Dein Ehrentag!

Vater –! stieß Rudolf nur hervor; er war aufgestanden; er mochte jetzt nicht sprechen. Diese Enthüllung, und dieses Lob, und dieses Glück – – ihm war’s wie ein Traum. Er fühlte wohl, so viel auf einmal könne sein schwerer Kopf nicht fassen. Doch griff er, in seiner grenzenlosen Liebe, nach Volkmars Hand und küßte sie. Volkmar ließ es geschehen, er wußte es kaum; dann zog er aber den Sohn an seine Brust, und wie zwei Männer hielten sie sich umschlungen. – –

Nun solltest Du aber schlafen gehn, sagte der Vater nach einer Stille. Du hast’s nötig, Rudolf. Wir wissen alles; und alles ist gut. In drei Tagen prüfen sie Dich. Also gute Nacht!

Ja, ja, flüsterte Rudolf. Es that ihm noch wohl, sich im Traum zu fühlen; die Geister des Weins gaukelten wieder in ihm – nun, da alles gut war – und die jungen Augen fielen ihm zu. Es schien ihm aber doch unmöglich, zu gehn, ehe er dem Vater noch Eines gesagt hätte: Dabei bleibt’s! fing er an, wenn auch mit müder und wieder schwerer Zunge. Wir beide trennen uns nie! – Wie wir’s neulich besprachen und abmachten: wir beide trennen uns nie!

Doch wohl! erwiderte Volkmar wehmütig lächelnd. In ein paar Wochen ziehst Du mir davon; als Student der Philosophie.

Ja – aber im Sommer sehen wir uns wieder! – Und dann – dann freilich noch mein Freiwilligenjahr –

Irgendwo da draußen; – und noch ein fröhliches Semester am Rhein, das Du Dir gewünscht hast –

Ja, vielleicht auch das noch. Ich hatt’ es eben nicht im Kopf. Ich war – nur ganz einfach glücklich. Glücklich wie noch nie! – – Vater! Aber dann! Nach zwei Jahren wieder zusammen – und dann nie mehr Trennung! Hier oder in Berlin, in München, wenn sie Dich inzwischen berufen; es ist ja im Werk. Ich glaube jetzt an jedes Glück. Ich war nie so glücklich … Oder sagt’ ich das schon?

Ja, antwortete Volkmar lächelnd.

Nie, nie mehr Trennung! – Du mein bester Freund!

Du meiner auch; – ich bin aber doch auch noch Dein Vater und schick’ Dich zu Bett. Diese Nacht kannst Du ruhig und zufrieden schlafen –

Und frei !

Also gute Nacht!


12.

Es kam der große Tag; Rudolf erschien im Speisezimmer, seinen Morgenkaffee zu trinken, angethan mit dem neuen Prüfungsfrack und der weißen Binde; dann, mit dem feierlich heiteren Segen des Vaters, wanderte er zur Schule fort. Toni stand auf der Treppe und begleitete ihn bis zur Hausthür; sie entließ ihn zärtlich, was sie nicht oft that. Eine wohlthuend aufregende, dramatische Spannung lag ihr auf der Brust. Ihre Schule begann heute erst um neun; wenn der „lange Bengel“ vom mündlichen Examen freigelassen wurde, so konnte sie noch seine Rückkehr erleben. Sie lief daher unruhig treppauf, treppab, immer aus einer Wohnung in die andere; als könne sie so die Entscheidung etwas „fixer“ machen. Sie stieg auch in die Turnringe hinauf und schwenkte sich hin und her. Endlich sah sie Volkmar (der wohl auch nicht ganz ruhig war) in der Speisezimmerthür erscheinen, die zum Vorplatz führte. Sie kletterte aus den Ringen hinunter, lief zu ihm und faßte mit den beiden hurtigen Händen die Knöpfe seines Sammtrocks.

Du, wie lang’ das dauert! sagte sie mit einem vorwurfsvollen Seufzer. Diese alten Ueze, die Lehrer!

So respektlos schimpft man nicht, erwiderte Volkmar und zupfte ein wenig an ihrem Zopf. Lieber übt man sich in Geduld.

Ach, nun wirst Du auch so „gelahrt“! Wie Fräulein Müller I in unsrer Schule – sie sprach ihr mit gespitzten Lippen und überfeinertem Stimmchen nach: „Nur immer hübsch Geduld, meine kleinen Fräuleins! Und alles mit Grrrazie! – Mit Grrrazie, mit Grrrazie!“ wiederholte sie. Auf einmal lehnte sie sich an den Oheim an und ihre redlichen braunen Augen sahen mit drollig listiger Neugier zu ihm hinauf. Da wir grad’ allein sind, Onkel … Seit anderthalb Wochen, denk Dir, möcht’ ich Dich was fragen – und ganz komischerweise hab’ ich nicht den Mut. Jetzt will ich aber doch; dalli! – Was war das eigentlich, Onkel Albert, – als Rudolf an dem Sonntag Morgen in seinem Zimmer sang und dann plötzlich losschrie? Und dann kamst Du und gingst zu ihm, und Helene und ich liefen fort. Warum hat er denn so geschrieen?

Das ist sehr einfach, mein Herz, sagte Volkmar, ihr die Wange streichelnd. Seit ihr beide Dramendichter geworden seid, ist über Rudolf die Lust gekommen, zum Theater zu gehen. Darum fing er damals an, sich im Heldenschrei zu üben. Auch im tragischen Sturz.

Die Kleine sah ihm zweifelnd, dann mißbilligend ins Gesicht. Ach, das sagst Du nur so. Das glaub’ ich Dir nicht.

Das glaubst Du nicht?

Nein. Was Du Dir alles ausdenkst … Und was Du Dir alles mit mir erlaubst!

Volkmar lachte auf. Ja, es ist entsetzlich, Toni! – Gut, ich werd’ Dir sagen, wie es wirklich war –

Sie horchte auf.

Aber erst wenn Du heiratest; an Deinem Hochzeitsmorgen. Mein Wort darauf!

Ach, Du bist schlecht. – Ich heirat’ ja nie!

Helene! rief sie jetzt und sprang fort. Helene kam die Treppe herauf, in Mantel und Hut, ihre Schulbücher im Arm; ein Paar Schneeglöckchen hielt sie in der Hand. Da! sagte sie zu Toni; eine davon schenk’ ich Dir. Ich wollte Dich abholen, zur Schule; und hören, wie es mit Rudolf steht?

Ach, es steht noch gar nicht, antwortete Toni, an ihrem Schneeglöckchen riechend. Aber was hast Du für große Augen, Helene? Bloß um diesen Laban?

Ach, Du! sagte Helene. Wenn ich große Augen habe, wie Du sagst – das ist ganz was andres. Denken Sie, Herr Professor! Toni, halt’ Dich fest und fall’ nicht vom Stengel! – Sie ist fort! und wie!

Wer? fragte Volkmar.

Thea! Durchgegangen ist sie! – – Eben kam eine Tante und hat’s uns erzählt. – Mit Hinterlassung eines Briefchens an den Herrn Direktor. ... Toni schüttelt den Kopf. Gott, wie wird [552] sie blaß. So wurde mir ja auch! Aber sie wußte es ganz gewiß. Und – – mit einem Herrn!

Durchgegangen mit einem Herrn? fragte Volkmar, als überrasche ihn das sehr. Also mit dem Herrn von Fellenberg –

Ach nein! Nicht mit dem! – Das ist ja so schrecklich. Mit einem ganz Andern – Geßmann soll er heißen – ein blutjunger Mensch. Und vorher hat ae noch einen Andern dazu nehmen wollen; der hat aber nicht gewollt. Und an den Direktor hat sie in dem Brief geschrieben: sie pfeift auf ihn und sein Theater und die ganze Stadt! Und Herr von Fellenberg hat laut gesagt: er wird sich nicht das Leben nehmen, er freut sich, daß er sie los ist –

Jetzt hör’ auf! rief Toni und rannte fort. Sie stürmte ihre Treppe hinan. Oben, schien es, blieb sie stehn. Man konnte ihr lautes, heftiges Atmen hören. – Toni! rief Helene und wollte ihr nach.

Laß sie, sagte Volkmar leise. Er zog das Mädel sacht zur Thür und in sein Speisezimmer hinein. Nur Zeit lassen, fuhr er dann fort. Setz’ Dich, liebes Kind. Dir ist’s natürlich auch in die Glieder gefahren; – ja, was sind das für Schauermären über die Himmlische. Das Leben hat Täuschungen; was? – – Will nur einmal horchen, was die Andre macht!

Er öffnete leise die Thür. Toni saß auf ihrer Treppe, er konnte sie bis zu den Knieen sehn, weiter nicht. Eine ihrer Hände erschien nahe am Geländer; sie nahm etwas aus der andern Hand, wie es schien, und warf es auf Volkmars Vorplatz hinab. Ein kleines weißes Blättchen war’s; offenbar von dem Schneeglöckchen. Fünf andere folgten nach; dann auf einmal der ganze Rest.

Vater! rief aber jetzt eine jubelnde Baßstimme von unten herauf. Da bin ich!

Mit großen Sprüngen kam Rudolf nach oben, dem hervorgetretenen Volkmar grade in die Arme. Ich und noch einer sind frei. Die Andern blieben da!

Ein herzhafter, fröhlicher Aufschrei, nur ein wenig zitternd, ward auf der oberen Treppe laut; Toni sprang herab. Sie vergaß offenbar ihren großen Schmerz; sie warf sich dem Vetter an die Brust wie ein junger Panther. Dann erschien auch Helene, Rosen auf den Wangen. Sie gab dem „Sieger“ die Hand. Die Backfische zogen ihn ins Zimmer hinein; nun sah man erst, daß Toni etwas Nasses an den Augen hatte. Aber sie that, als bliese sie auf einer Trompete, und ging so durchs Zimmer: Trara! Trara! – –

Eine Stunde später saß Vater Volkmar in Rudolfs Zimmer, allein. Tiefe Stille war um ihn her. Die Mädchen waren zur Schule gegangen, Rudolf zu den Tanten und dann zum Gymnasium zurück, jüngeren Mitschülern sich in seiner „Freiheit“ zu zeigen und auf das Schicksal der weniger Glücklichen zu warten. An seinem Schreibtisch saß Volkmar; draußen fiel wieder Schnee, aber windlos, ganz sacht, in großen schimwernden Flocken, als schüttele wirklich Frau Holle ihr Federbett aus. Wie viel wohler war ihm doch heute in diesem Zimmer als drei Wochen früher, da er hier am Fenster stand, den Straßenschnee singen hörte, an die einsame Zukunft dachte – und dann auf die Eisbahn ging, wo er an seines Jungen Seite die „Himmlische“ entdecken sollte. Guter Junge! dachte er. Zwei Prüfungen überstanden; alle beide gut!

Die frohe Feiertagsstimmung drückte ihm die Feder in die Hand; hier an Rudolfs Arbeitstisch – dem von nun an verwaisten – wollte er das „Festgedicht“ gestalten, das ihm auf der Seele lag, mit dem er den Sohn am Abend überraschen wollte. Die Gedanken in seinem Kopf gaukelten auch so heiter und zugleich so friedlich, so sacht, wie draußen Frau Holle’s Federn. Die Verse flogen ihm zu; – es ward aber, wie so oft, anders als er gedacht hatte. Aus einem scherzenden Jubelgedicht ward ein rechter Herzenssang; gleichsam eine Zwiesprach vor dem Scheiden zwischen Vater und Sohn. Er sah, während er schrieb, wohl hundertmal Rudolfs Gesicht: wie das ihn heute Abend anleuchten würde, liebreich und gerührt, wenn die Verse erklängen ... Heute Abeud! dachte er und freute sich wie ein Kind.

Und der Abend kam. Um den großen Tisch im Speiseziwmer saßen die Hausgenossen, Helene als einziger Gast; der Bismarckpokal – des Reichskanzlers Namenszug war in ihn eingegraben – ging mit „Kaisersekt“ gefüllt herum. Die Gesellschaft war klein, aber Toni allein konnte für vier gelten: eine so wilde Lustigkeit war über sie gekommen, sie deckte damit ihre tragischen Gefühle zu. Ihren Champagnerkelch leerte sie wie ein alter Zecher; Rudolf, der übermütige Schelm, beeiferte sich, ihn heimlich wieder zu füllen, ohne daß „Mutting“ es sah. Sie blies zu jedermann Kußhände hinüber, dem einen so, dem andern so: Volkmar hatte sie allerlei Arten gelehrt. Als der Oheim endlich aufstand, um ans Glas zu klingen und eine kleine Festrede zu halten, schnellte sie auch in die Höhe und rief voreilig mit ihrer kraftvollen Stimme: Rudolf der Unmündliche hoch! Hip, hip, hurrah!

Laß sie nur, sagte Volkmar sanft, als die Mutter des Unbands einen etwas zornigen Verweis begann; das war gleichsam Volkes Stimme, und die soll man ehren. Also ja, unser Rudolf hoch! – Aber. eh’ ich zu diesem Jüngling noch ein paar Worte spreche, möcht’ ich das Handwerk begrüßen: meine neuen Kollegen in Apollo, die Blonde und die Braune; diese verjüngte und verniedlichte Wiederholung von Goethe und Schiller – – man weiß nur nicht, wer hier Goethe und wer Schiller ist? Zuweilen denk’ ich, Helene mit den sinnigen grauen Augen hat das Schillersche; dann lodert es wieder mehr aus der feurigen Toni auf, und Helene wird „olympischer“. Jedenfalls geben sie uns ein edles Beispiel, daß man auch das große Drama zu Zweien zusammendichten kann; wenn nur die Herzen ‚schwie‘ und die Wände schwarz sind. Zwei Akte, hör’ ich, sind bereits geschrieben; möchte bald auch hinter dem fünften stehn: der Vorhang fällt!

Toni stand wieder auf, aber mit zusammengepreßten Lippen und finsterem Gesicht. Sie warf eine Orange, die sie in die Hand genommen hatte, über den Tisch.

Das wird nie hinter dem fünften Akt stehen! warf sie dann der Orange nach. Nie, Onkel! Nie!

Oho! sagte Volkmar. Warum nicht?

Weil das Stück im Graben liegt. Da liegt es, Helene; nicht?

Helene zuckte die Achseln; doch dann nickte sie. Ihre grauen Augen gingen in die Höhe.

Volkmar schien sehr bestürzt. Aber meine teuren Schiller und Goethe, ich bin außer mir! Wie soll ich das verstehn?

Toni lächelte bitter, dann schlug sie aber mit der Hand wegwerfend in die Luft. Das wird nicht weitergedichtet! – Wir wollen nicht mehr, Helene; nicht?

Nein, wir wollen nicht mehr, murmelte Helene.

Aber warum nicht, lieber Goethe? fragte Volkmar, zur Aelteren gewendet.

Goethe kannst Du lange fragen, entgegnete Toni; die sagt Dir’s doch nicht, die ist zu genierlich. – Sie knipste gegen ihr Glas: Ach was; ich sag’s doch. Wir schreiben das Stück nicht weiter, weil Thea – –

Rudolf, weißt Du schon? rief sie jetzt über den Tisch, mit einem Anlauf zum Lachen, als laufe sie so ihrem Kummer weg. Thea ist schmachvoll durchgebrannt! Sie läßt Dich schön grüßen!

Daß sie aus dem Thor ist, o ja, das weiß ich, antwortete Rudolf ruhig. Jeder Mensch hat mirs heut’ erzählt.

Er schaute zum Vater hinüber, dessen Blick ihn suchte. Ein ganz eigenes Lächeln verklärte sein Gesicht. Nur durch eine leichte Gebärde sagte er, aber beredt genug: Sei ganz ruhig, Vater. Hier schlägt ihr keine Ader mehr!

Nun also! warf Volknnar hin, als hätte er wirklich Worte gehört. Kehren wir denn zu unserm siebenundzwanzigjährigen Dichter – denn vierzehn und dreizehn machen siebenundzwanzig – zurück! Sein großes Werk, hören wir, liegt am Graben; ein tragischer, gewaltiger Torso, wie die verhauenen Marmorblöcke Michelangelo’s. Nun ja, das ist „feudal“; aber der junge Meister selber steht aufrecht, und seine beiden langzopfigen Köpfe schauen noch frisch und lieblich in die Welt hinaus. In seinen vier Augen leuchtet noch das heilige „Schwie“, das ihn zu dieser Dichtung begeistert hatte; jetzt wohl mit etwas Schwermuth getränkt – aber einem richtigen Menschen thut das ja nichts. Möchte aus diesen vier Augen nie das helle „Schmie“ der Jugend entschwinden! Nie – hört ihr, Mädels – nie! Ihr wißt, wie ich’s nneine. Unser Goethe und Schiller hoch!

Rudolfs Stimme fiel schmetternd ein; alle Gläser klangen. Die Backfische liefen zum Oheim, lächelten, seufzten, dankten, stießen mit ihm an. Dann drückten sie einander geschwind an die Brust. Rudolf öffnete eine neue Flasche, schenkte wieder ein.

Jetzt hätt’ ich noch ein Wort an meinen Jungen, sagte Volkmar, sich setzend; so ein Vaterwort! – Er zog das Gedicht aus der Tasche, das er am Nachmittag festlich abgeschrieben hatte; und während er nun Rudolfs Gedicht so vor sich sah, wie er’s am

[553]

In der Ferienkolonie.
Zeichnung von Aug. H. Plinke.

[554] Morgen geträumt, die von Wein und Freude durchglühten Wangen, die herzlich strahlenden Augen, nickte er ihm zu und fing an:

Und so sing’ ich denn Amen,
Mein herzlieber Sohn!
Vor’m mündlich’n Examen
Entließ man Dich schon.
Hast’s ihnen schriftlich gegeben,
Und das war genug,
Daß Du reif bist fürs Leben
Und weltprüfungsklug.

Zieh’ hin! Deine achtzehn
Schnurrbärtigen Jahr’
Nicht länger bewacht sehn,
Was hat’s für Gefahr?
Bist zur Freiheit erzogen,
Für eigenen Sinn;
Flieg’ hoch und verwogen
Ins Leben dahin!

Doch auf Ja und auf Amen
Sollst doch vor dem Gehn
Dein mündlich’s Examen
Vor mir noch bestehn.
Wie wirst Du’s nun halten
Ohne Vaters Hut
Mit des Lebens Gewalten,
Jung hitziges Blut?

„O es lacht mir das Leben,
Das Herz in mir lacht;
Drum wird wohl noch eben
Manche Dummheit gemacht.
Doch nicht schlecht werd’ ich werden,
Denn die Liebe mich hält
Zu den Brüdern auf Erden,
Zum Vater der Welt.“

Und so weiß ich’s, so kenn’ ich’s,
Dein lauteres Blut;
Dein Glühen – wie nenn’ ich’s? –
In heiliger Glut.
Doch wie wirst Du’s nun halten,
Du, so weltbrüderweich,
Mit der Heimat, der alten,
Und denn jungdeutschen Reich?

„Alle Menschen zu lieben
In opfernder Lust,
Hast nicht Du mir’s geschrieben
In die sehnende Brust?
Doch soll Gott mich verderben,
Verlier’ ich mein Pfand:
Zu leben, zu sterben
Für mein Volk und mein Land!“

Dich wird Gott nicht verderben,
Wie Dein Aug’ mich anblickt;
Noch der Teufel Dich werben,
Der die Deutschen berückt.
Doch wie wirst Du’s nun halten,
Das sag’ mir zuletzt,
Mit mir, Deinem „Alten“,
Der Dein Stab war bis jetzt?

„O Vater! Du weißt es!
Was fragst noch so viel?
Uns beide, uns reißt es
Zum nämlichen Ziel:
Der Junge, der Alte
Als Bruder und Freund
Bis ans Ende, das kalte,
Untrennbar vereint!“

Untrennbar! Das gebe,
Der die Welt hat erbaut;
Und die Erde erlebe,
Was sie nie noch geschaut!
Es wachs’ uns’re Liebe
Gen Himmel so hehr:
Ob Wahl oder Triebe?
Man weiß es nicht mehr.

Zieh’ denn hin! Kannst Dich weisen
Getrost allerwärts:
Die Muskeln von Eisen,
Doch liebreich das Herz;
Die Welt schmeckst Du gerne,
Jung jauchzt Dein Humor,
Doch es zieht an die Sterne
Dein Gott Dich empor!


Nachschrift.
Albert Volkmar an seine lieben Kinder
Rudolf und Toni.

Sechs Jahre sind dahin und ein viertel, seit wir diese Geschichte erlebten, die ich hier erzählt habe. Es ist gut gegangen, Rudolf! Es ist so gekommen, wie wir beide hofften: zwei Jahre wohl viel getrennt – und auch viel beisammen – dann miteinander in „unserm Haus“, in der Isarstadt. Zwei Studenten in verschiedenen Semestern: denn man studiert ja nicht aus. Vater und Sohn, Bruder und Freund!

Aber immer lag etwas wie eine ungezahlte Schuld auf mir: immer hatte ich der guten Toni noch nicht aufgeklärt, warum Rudolf damals schrie! – „An ihrem Hochzeitsmorgen“ sollte sie’s erfahren. Ja, wer hätte damals gedacht, meine liebe Toni, daß Du wirklich heiraten würdest, Deiner Widerrede zum Trotz; und daß Du gerade Den heiraten würdest, den „Laban“, den „dummen Bengel“ – jetzt Doktor der Philosophie, Weltverbesserer. Der Hochzeitsmorgen ist da; Helene Ammann als Brautjungfer; – doch die Eingeweihten versichern, sie wird bald selber so was brauchen. Sie lächelt zuweilen überirdisch reizend; die Eingeweihten versichern, das ist nichts als Glück. Nun, man wird ja sehn!

Ihr, meine beiden Geliebten, ein Paar! – Geahnt hab’ ich’s nicht, dazu war ich zu dumm; aber manchmal heimlich wünschend geträumt. Wie weit, wie weit wuchst ihr auseinander, als eure Knospen sprangen; und nun wiegen sich eure Kelche so nah’, so innig zusammengerückt, wie auf einem Stamm. Wunderlich, meine Teuren, ist es zugegangen: in Liebe wart ihr damals schon – aber beide für Thea, die nun verschollene „Himmlische“; die stand gleichsam zwischen euch, ihr liebtet sie von rechts und von links. Dann verdunstete dieses Irrlicht; zwischen euch war nichts mehr. Da fandet ihr am Ende euch!

Am Ende, sag’ ich; als die Zeit erfüllet war. Als Rudolfs Bart und Weltanschauung ungefähr die gleiche Fülle angenommen hatten; als aus den Fledermausflügeln des reizenden Kobolds Toni die schönen Engelsfittiche – – Nein! Ein Engel wird die nicht. Immer schneidig, Toni! – Aber ein holder, tapferer, sonniger, Heiterkeit und Liebe ausstrahlender Mensch!

Und ich mit euch – da ihr’s wollt – euer Vater und Freund! – Gar, gar viel Glück. Ich schüttle manchmal den Kopf vor Glück.

Und um der Toni Wort zu halten, hab’ ich gleich diese ganze Geschichte geschrieben; Rudolfs Schrei und alles; heut am Hochzeitsmorgen zu überreichen – mein eigentliches Hochzeitsgeschenk. Rechtzeitig vollendet; nicht Rumpfstück, Torso, wie das große Drama mit der ‚dunklen Schönen‘, der ‚glutvollen‘ Zigeunerin. Verzeiht mir, Schiller und Goethe, wenn ich etwa dies und das ein wenig ausgeschmückt habe, mit des Dichters Vorwitz. Der Cherub oder Seraph, der euch damals zusah, er wird doch wohl sagen, wenn er die Geschichte liest: ja, ja, ich erkenne sie, das sind meine Backfische!

Mög’ euch Neuvermählten das Büchlein von Vater und Sohn, dieses Stück von eurem Leben, ein Haus- und Gedenkbuch sein; und dereinst – – nun ja, euren Kindeskindern!


Als Deutsche in Paris.

Erinnerungen aus dem Kriegsjahr.
Von Clara Biller.
(Fortsetzung.)


Der behagliche Zustand christlicher Feindesliebe unter den Bewohnern der französischen Kapitale hielt indes nicht lange vor. Erst zeitweilig, später immer häufiger wurde auch ich von der gereizten Stimmung beherrscht, die seit der Kriegserklärung sich der Deutschen wie Franzosen bemächtigte, sobald sie zusammenkamen. Es war, als ob unser Augenwinkel plötzlich verrückt wäre und wir – Franzosen wie Deutsche – alles verändert sähen. Früher, da war kein Zweifel, daß es hüben wie drüben ehrliche Arbeit, gute Freunde und getreue Nachbarn gäbe. Jetzt hatten die Diplomaten drauf geblasen und alles war verwandelt. Nun bestimmte der Geburtsschein, was man gut oder schlecht finden durfte. Und wenn ich mir auch vorsagte: Die Menschen sind noch ganz dieselben wie vor der Kriegserklärung, nur anders beleuchtet! – es half nichts, der Krieg hatte das ruhige Denken auf beiden Seiten lahmgelegt. Kam ich mit den alten französischen Bekannten zusammen, gleich pochte mir das Herz vor lauter Nationalgefühl, und in jedem Wort witterte ich eine Beleidigung des Vaterlandes. Selbstverständlich hatte ich Deutschland stets allen andern Ländern vorgezogen; aber daß ich Frankreich einmal hassen – wirklich hassen würde aus Patriotismus, nie hätte ich das von mir erwartet. Und doch ist es eine Zeit lang so weit gekommen. –

Unsere Hausmannsleute, die Cartiers, schätzte ich nach mehrjähriger Bekanntschaft. Die Frau, eine hübsche Lothringerin, deren deutscher Accent und ehrliche blaue Augen die Abstammung verrieten, prahlte mitunter, daß sie alle „deutschen Barbaren“ vergiften könnte. Aber auf so grausamen Patriotismus war nicht zu rechnen. Ich traf sie den Tag nach meiner Rückkehr, wie sie einen alten deutschen Arbeiter, der per Schub ins Vaterland befördert werden sollte, vorher noch mit einer kräftigen Mahlzeit stärkte. Ihrem Mann wird sie das kaum erzählt haben, der war vom Kriegsfieber stärker gepackt. Er hatte unter Mac Mahon den Feldzug in Afrika mitgemacht und konnte später dessen Niederlagen nicht verwinden. Sobald er mich über den Hof kommen sah, wandte er sich ab, als hätte ich sie verschuldet. In seiner „Loge“ hing die Kriegskarte. Frau Cartier erzählte mir, jeder ausrückende Soldat erhielte sie zur Orientierung. Kaum denkbar! Ich sah sie später auch in ein paar Buchläden. Sie umfaßte Deutschland von der Rheingrenze ab; eine kleine Specialkarte Berlins befand sich an der unteren Ecke links.

Paris kam mir nach beinahe zweijährigem Aufenthalt in Spanien recht vornehm, schön und liebenswürdig vor, als ich es zum erstenmal wieder nach dem Bois de Boulogne zu durchwanderte. [555] Ungeachtet der trockenen Hitze des ersten August staubfreie Straßen, taufrische Grasplätze und Blumenanlagen. Im Louvre vergaß ich fast den Krieg. Drei weitläufige Säle waren neu eröffnet worden. Sie enthielten die herrlichen Skulpturen, die der erste Napoleon während seines italienischen Feldzuges annektierte. Ein halbes Jahrhundert lang hatten diese Marmorbilder in den Kellern des Louvre ihrer Auferstehung geharrt. Ich hörte, daß eine frühere Aufstellung das Eigentumsrecht an ihnen hätte gefährden können. Während ich bewunderte, klangen aus den Anlagen des Louvrehofs (Place Napoleon III.) die Kommandoworte, mit denen die Schulbataillone einexerziert wurden. Nette Jungen darunter, besonders fiel mir ein kleiner Trommler auf, der kaum zwölf Jahre alt sein konnte. In den blitzenden Augen schon etwas vom Kriegsfeuer kommender Zeit.

Als ich dann die Rivolistraße herunterging, hörte ich plötzlich ein besonders starkes Geplärr der unvermeidlichen Marseillaise. Vom Boulevard Sebastopol her kam ein Trupp Rekruten. Der erste trug einen Besen mit einem großen Plakat: „Pour balayer les Prussiens!“ Und ein Mützenschwenken und Lachen, ein Brüllen und Gezeter, sowohl der Soldaten, wie der sie begleitenden Volksmenge, als hätten sie wirklich die Preußen schon auf einen Haufen „zusammengefegt“, „Notre première victoire! Achetez notre première victoire!“ „Unser erster Sieg! Kauft unseren ersten Sieg!“ brüllten am dritten August die Zeitungsjungen vom frühen Morgen an. Zornig flog ich hinunter und erstand mir den Franzosensieg für zwei Sous. Man hatte im Vorgefühl dieses und der „folgenden Siege“ bereits eine neue Zeitung gegründet: „Bulletin de nos victoires“, darin ich noch auf der Straße las: „Ungeachtet der Stärke des Feindes, reichten einige Bataillone hin, die Höhen von Saarbrücken zu erstürmen etc.“ Ich knitterte das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche und trat mit der Miene erheuchelter Gleichgültigkeit ins Haus zurück. Die Hausmannsfrau stand strahlend vor Freude an der Thür, sah mich etwas mitleidig an und versuchte mich folgendermaßen zu trösten: „Ach, Fräulein, grämen Sie sich nur nicht erst! Jetzt sind wir schon über die Grenze, und da wird der Krieg ja auch bald vorüber sein!“

Von meinen Pariser Bekannten war so ziemlich alles schon fortgeflogen. Was die Hundstage nicht nahmen, hatte der Krieg vertrieben. Die liebsten deutschen Freunde indes hatte ich noch behalten: die Familie des Doktor M ....., des Arztes unserer Gesandtschaft. Einen beliebten Arzt halten die Patienten fest. Frau und Schwägerin aber mochten ihn gerade in dieser Zeit nicht allein lassen. So war sein gastliches Haus damals die Zufluchtsstätte bekümmerter deutscher Seelen. Keine aber hat den Weg nach der Place Royale au Marais wohl öfter zurückgelegt wie ich. Viel verkehrte ich damals mit einer Hamburgerin, einem Fräulein Agnes T. Sie s–prach nicht viel, hatte aber ein gewisses fatalistisches Phlegma, das meiner Unruhe oft einen Dämpfer aufdrückte. Den Unfehlbarkeitsglauben der Franzosen z. B., der mich täglich ärgerte, fand sie höchstens ers–taunlich; für uns sogar vorteilhaft. „Wenn sie sich vor uns fürchteten, würden sie sich besser vorsehen,“ meinte sie.

Dieses Siegesbewußtsein herrschte auch in dem Damenatelier, das an das meine stieß. Ich kannte die meisten der Malerinnen von früher und klopfte am Tage, nachdem man Saarbrücken gefeiert, bei ihnen an. Mein Eintritt unterbrach offenbar ein Kriegs- und Siegesgespräch, wie ich an einzelnen Ausrufen schon vor der Thür hörte. Die Begrüßung war herzlich und auch wieder etwas unsicher, als ob man der „Prussienne“ gegenüber nicht gleich den rechten Ton fände. Dann eine Menge Fragen, die keinen interessierten – es gab ja doch nur eine, an die wir alle dachten und die zu berühren jede brannte …

Endlich fing die Vorlauteste an – ein leidenschaftliches kleines Weib mit provençalischem Blut in den Adern; dreiundzwanzig erst und schon Witwe, amüsant, pikant und hochbegabt –: „Wir glaubten eigentlich, Sie würden direkt nach Preußen zurückkehren, denn es kann für Sie doch nicht angenehm sein, solche Nachrichten hier zu hören, wie die von Saarbrücken …“

„Und es ist ja sehr möglich, daß es so weitergeht,“ bemerkte eine Zweite.

„Glauben Sie wirklich, daß ,Jhr König von Preußen’ etwas gegen uns ausrichten wird? Man ist ja in seinem eigenen Lande sehr gegen diesen Krieg eingenommen?“

So ging es weiter und bald schon war Entfremdung und keimende Abneigung an die Stelle der früheren guten Beziehungen getreten. Die Theater blieben trotz Hitze und Krieg noch ziemlich besucht. Was sollte man auch anfangen – zum Arbeiten war niemand aufgelegt. Ich dachte ans Fortgehen; meine Sachen waren bald zusammengepackt, aber ich bekam keinen Paß, ebensowenig eine Aufenthaltskarte. Gleich nach meiner Ankunft hatte ich mich mit meinem Paß im Polizeibureau gemeldet. Man hatte eine so genaue Personalbeschreibung von mir aufgenommen, als gelte es einen Steckbrief, meine Legitimationspapiere dann behalten und mich auf schriftliche Antwort verwiesen. Sie blieb aus. Ein Erinnern war erfolglos. Andern ging’s ähnlich. Man lief dahin – lief dorthin, stillte seinen Hunger und lief dann rastlos wieder auf die Straße. Diese Ungewißheit und Rastlosigkeit war’s wohl auch, die auch wenig vergnügungslustige Menschen ins Theater trieb. So beschlossen auch Fräulein Agnes und ich am 6. August ins Vaudevilletheater zu gehen.

Auf dem Boulevard wurden die Zeitungen ohne den Siegesspektakel ausgeboten, der seit Saarbrücken an der Tagesordnung war – gutes Zeichen! Wir erstanden eine Abendzeitung und lasen zu unserer schwer zu verbergenden Freude, daß bei Weißenburg ein Gefecht stattgefunden hätte, bei dem nach anfänglich siegreichem Kampf die Franzosen schließlich einer Uebermacht von eins zu sechs gewichen waren. Innerlich jubelnd, übersetzten wir mit patriotischem Scharfsinn: die Franzosen sind bei Weißenburg gründlich geschlagen worden. Und nun waren wir auch in der richtigen Stimmung, das Rheinlied von Roger singen zu hören, der auf dem Theaterzettel stand. Jeden Abend wurden nämlich in jedem Theater nach Schluß der Vorstellung noch die Marseillaise und das Rheinlied gesungen. Das letztere war die Mussetsche Antwort auf unser Beckersches Rheinlied:

„Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein! etc.“

„Jubelt Roger zu laut,“ sagte ich zu Agnes, „so wollen wir innerlich ein Tedeum anstimmen.“

Das Lustspiel des Abends ging spurlos an mir vorüber. Ich sah in Gedanken das mir bekannte, hübsche Grenzstädtchen Weißenburg voll anstürmender Deutschen und fliehender Franzosen. Da verbreitete sich kurz vor dem Fallen des Vorhangs eine eigentümliche Bewegung im Theater. Auf den Gesichtern bemerkten wir zu unserm Schrecken etwas wie Genugthuung und Freude. Kaum war das Stück aus, lachte, lärmte und jauchzte alles durcheinander. Auf einmal wurde es auch neben uns laut: die Nachricht von einer großen Niederlage der Deutschen sei soeben eingetroffen, das Armeecorps des Kronprinzen in wilder Flucht! …

Der Umschlag war so entsetzlich für uns, wie ich kaum beschreiben kann.

Jetzt rollte der Vorhang wieder auf. Roger trat vor. Nie werde ich den übermütig spottenden Ausdruck vergessen, mit dem er das Rheinlied hinausschmetterte:

„Nous l’avons eu, votre Rhin allemand,
(Wir haben ihn gehabt, euren deutschen Rhein,)
Son vin a perlé dans nos verres . . .“
(Sein Wein hat geschäumt uns im Glas.)

Die letzte Strophe schleuderte er ins Publikum wie eine Triumphfanfare. Dann rief er laut, eh’ er abging:

„… et nous le prendrons votre Rhin allemand!“
(Und mir werden ihn nehmen euren deutschen Rhein.)

Ein wahres Siegesgeheul war die Antwort.

Unten auf den Boulevards aber scheint ganz Paris zusammengekommen zu sein. Das treibt, das wogt! Nur langsam schleichen wir uns vorwärts. Die Siegesnachricht hat gewirkt wie Sekt. Es ist, als ob alle Franzosen plötzlich die intimsten Freunde geworden wären und eben zusammengekommen, um ein gemeinschaftliches Fest zu feiern. Aus den Cafés, deren kleine Tische bis in die Mitte des Trottoirs reichen, hört man Pfropfen knallen, Gläser anklingen. Vor uns geht ein Herr, an jedem Arm eine Dame eingehenkelt. Er ruft einem Entgegenkommenden zu: „Zwanzigtausend Gefangene – vive la France!“

„Nein – dreißigtausend!“ korrigiert ein Zweiter, der offenbar nicht zu ihm gehört. Drauf ergänzt die Stimme eines Dritten von einem der kleinen Tische: „Meine Herren, die Depesche spricht von fünfzigtausend Gefangenen, die Mac Mahon gemacht – darunter der Kronprinz!“

Dies nur ein Beispiel der Stimmung, die in tausend Varianten jenen Abend in Paris laut wurde, hervorgerufen durch eine Depesche, welche an der Börse angeschlagen war. Agnes und ich empfanden das Lachen und Jauchzen wie persönliche Beleidigungen, nachdem wir erst eben im Weißenburger Siege geschwelgt hatten.

[556] Monsieur Cartier, der sonst, nachdem man geläutet, nur die Schnur anzog, die das Hausthor öffnete, und ruhig weiter schlief, war diesmal noch auf. Strahlend saß er am Fenster und rief mir zu: „Hé – bonne nuit, Mademoiselle!“

Nie wohl hat mich ein Gruß tiefer verletzt. Ich fand es empörend, jemand eine gute Nacht zu wünschen, dessen Landsleute eben eine Schlacht verloren hatten.

Lange saß ich im Finstern, ohne mich zu regen. Besiegt – besiegt! Dazwischen sah ich Cartiers triumphierendes Gesicht und hörte sein „bonne nuit!“ Endlich raffte ich mich auf, zündete meine Lampe an und sprach mich in einem Briefe an die geliebten Menschen daheim gründlich aus.

Am nächsten Tage war Paris noch ganz anders geschmückt wie nach Saarbrücken. Ueberall flatterten Fahnen. Teppiche hingen aus Fenstern und über Balkongeländern; viele Laden waren geschlossen.

Mein erster Gang ist nach der Place Royale; ich kann’s kaum erwarten, die treuen, deutschen Freunde zu sehen. Sie sind alle beim Frühstück. Der Doktor ist schon von seiner ersten Besuchstour zurück. Es ist mir unbegreiflich – da sitzt er und schmaust so behaglich, wie ihn der Maler Henneberg auf einem der drastischen Karikaturbilder gezeichnet hat, die im Eßzimmer hängen. Ich fange zu lamentieren an – da schreit er nur: „Haben Sie heute schon ’was Ordentliches gegessen? Nein? Nun dann gleich niedergesetzt und zugelangt – Anna – sieh, daß sie ’was auf den Teller bekommt.“

Und richtig, ich konnte essen – es schmeckte mir sogar, da ich seine Ruhe sah.

„Abwarten – abwarten!“ meinte er dann, nachdem mir endlich Redefreiheit erteilt worden war. „Eine Regierung, die so ein winziges Siegchen wie Saarbrücken mit Trompetenstößen feiert – die läßt einen Triumph wie den gemeldeten nicht hingehen, ohne ihn gleich an die große Glocke zu hängen. Vorläufig ist noch keine offizelle Bestätigung da – abwarten!“

Und damit trat er seine zweite Krankenwanderung an. Mich sollte man ja nicht fortlassen, bis die Geschichte aufgeklärt sei, hatte er vorher noch geboten. Es kamen den Nachmittag wohl ein Dutzend Deutsche zu Doktors; jeder brachte etwas Neues. W.s, die an der Börse wohnten, hatten die Depesche gelesen „Einnahme von Landau, der Marschall Mac Mahon hat 50000 Gefangene gemacht.“ Massenhaft ständen die Leute noch davor und warteten auf die offizielle Bestätigung. Capoul (Tenor der Komischen Oper) hatte von der Imperiale eines Omnibus die Marseillaise singen müssen, dann war in seinem Hut für die Verwundeten gesammelt worden.

Endlich kam der Doktor zurück. Er trat nur herein, da wußten wir schon, daß er eine gute Nachricht brachte. Er hatte die englische „Times“ gelesen, die einen glänzenden Sieg der Deutschen meldeten. Der Franzosensieg war eine Täuschung – die Depesche von der Einnahme Landaus das Bubenstück eines Börsenspekulanten, der Hausse damit bezweckte. Nach unsrer Qual war die Freude nun doppelt süß. Wein und Gläser wurden auf den Tisch gesetzt; aber anklingen durften wir auf unsere Sieger nicht, wegen der französischen Hausbewohner.

Doktors ließen mich nicht allein nach Hause gehen, sondern begleiteten mich über die Boulevards. Hier wirkte bereits die Nachricht der „Times“. Es grollte in dem erbitterten Volk, das an den Straßenecken die neueste Proklamation las und mit lauter, greller Stimme sein Urteil sprach. Der Anschlag verkündetet: Mac Mahon hat keine Zeit gehabt, einen Rapport ins Hauptquartier zu senden. Er ist aber immer noch in einer sichern Stellung.

„So sicher, daß er zum Rückzug hat blasen müssen!“ hieß es. An dem Eckhaus der Richelieustraße und des Boulevard Montmartre mußte es scharf hergegangen sein; hier hatte man den Urheber der falschen Depesche vermutet, einen jüdischen Bankier, und das Haus stürmen wollen. An der mit Eisenstangen geschlossenen Thür stand in dicken weißen Kreidestrichen:

Maison française et non prusienne.

Sicher wollte man es durch diese Worte vor weiteren Angriffen schützen.

Als ich diesmal heimkam, wär’s an mir gewesen, meinem Hausmann: bonne nuit! zu wünschen. Der arme Kerl! Wie ich ihn so verstört, so ganz verzweifelt sitzen sah, that er mir leid. Ich konnte mir ja vorstellen, wie ihm zu Mute sei, nach dem, was ich so kurz vorher selbst empfunden hatte.

Als ach am folgenden Tag von St. Eustache zurückkam, wo der berühmte Organist der Kirche, Baptist, mich jeden Sonntag durch seine Präludien entzückte, waren die Depeschen unserer großen Siege vom 6. an den Ecken angeschlagen. Die einfachen Worte der offiziellen Meldung machten den Eindruck der Wahrhaftigkeit, zugleich der Entmutigung. Die Proklamation der Kaiserin-Regentin, welche bald darauf folgte: sie sei von St. Cloud hereingekommen, um die Fahne Frankreichs hochzuhalten – erweckte anstatt Begeisterung nur Mißbilligung und Spott.

Das impulsive Volk, bei dem Freude wie Schmerz gleich stark nach außen wirken, zeigte nach den verlorenen Schlachten, deren Tragweite es bald begriff, eine allgemeine Bestürzung und Verzweiflung. So wie die erste Depesche, die gefälschte Siegesnachricht, alle Pariser in einem kurzen Jubelrausch zu Brüdern machte, erschienen sie in der Trauer auch wie eine große Familie, die der Schmerz nur enger verbindet.

Da ich, wie schon erwähnt, keine hellen Haare habe, die als anerkannte Barbareneigentümlichkeit verdächtig waren, wurde auch ich von Stockfremden angeseufzt und angesprochen. An jenem Sonntag der Bekanntmachung unsrer Siege kaufte ich abends den „Temps“. Die Verkäuferin hatte verweinte Augen. Als sie mir die Zeitung mit einem Blick auf die großgedruckten Depeschen übergab, flossen neue Thränen.

„Sie haben wohl einen Sohn im Kriege?“

Sie schüttelt den Kopf. „Wir sind besiegt, Madame, besiegt!“ ruft sie vorwurfsvoll, daß die Schmach, die Frankreich betroffen mir nicht genügend scheint, um Thränen zu vergießen.

Tags drauf steuern Agnes und ich mit den neuesten Zeitungen auf eine Tuilerienbank und ich beginne vorzulesen. Ein alter Herr – pensionierter Militär augenscheinlich – der dies bemerkt, fragt, ob er zuhören dürfe. – „Selbstverständlich,“ antworten wir, obwohl unsere Kritik des Gelesenen dadurch beschränkt wird. Während einer Pause stöhnt er: „Ach – so alt geworden zu sein, um das zu erleben! Aber die Revanche kommt noch – geben Sie acht! In Bayern ist die Not so groß, daß sie schon Brot von Lupinen essen. Und in Hannover und Schleswig stehen sie auf, um Rache an den Preußen zu nehmen für frühere Sünden! Das walte Gott, daß ich diese Preußen noch am Boden sehe!“

Bis zu den Lupinen war es (9. Aug.) in Paris noch nicht gekommen, aber die Not machte sich hier bereits fühlbar. Wer von Arbeitern nicht im Kriege war, hungerte mit den Seinen daheim. Alles schlug auf, selbst die Zeitungen, sobald der erste Vorrat in den Kiosken verbraucht war. Besonders interessante Nachrichten wurden dann oft drei-, viermal so hoch bezahlt wie gewöhnlich. Wer sie nicht erschwingen konnte, bat um die gelesenen Blätter. So verfolgten mich einmal zwei kleine Gamins, die sicher ein paar Jahre vorher noch Abcschützen waren. „Les nouvelles, Madame! – s’il vous plait, les nouvelles!“ riefen sie, als sie mich langsam gehend, die Zeitung lesend, trafen. Ich hätte sie den kleinen Franzosen nicht abschlagen können, obwohl ich sie eigentlich in dem schändlichen Verdacht hatte, die Zeitung ungelesen zu verkaufen. Zu meiner Beschämung gewahrte ich dann, wie eifrig sie sogleich zu buchstabieren anfingen.

Kaum waren übrigens die ersten Kummerthränen getrocknet, die Wörth und Spicheren den Franzosen ausgepreßt hatten, als ihr prahlerischer Uebermut sich auch schon wieder Luft machte. Einer der unverschämtesten Lärmtrompeter war damals Emil de Girardin in seinen Artikeln der „Liberte“. Die Blätter erhoben aufs neue den Ruf: „A Berlin! à Berlin!“ Allen voran Girardin, der außer dem linken Rheinufer auch noch Ostende und Amsterdam als zur Sicherung Frankreichs ganz unentbehrlich verlangte.

Am 13. August hatte man einen Anblick der an jene Märchenzeiten erinnerte, die von Säcken, ja Wagen voll Geld erzählen. Die Nationalbank diskontierte an jenem Tage zum letztenmal Papiergeld. Von früh fünf Uhr ab standen da lange Reihen von Menschen, Markthelfer zumeist. Gold war längst unsichtbar geworden. Die Summe von ein paar hunderttausend Franken in Fünffrankenthalern aber bedeutete schon ein ansehnliches Gewicht, konnte schon eine hübsche Menge Säcke füllen, die dann auf bereitstehende Wagen geladen und ihren Eignern zugefahren wurden.

Zwei Tage vorher hatte ich den besorgten Brief eines Verwandten erhalten, dessen Bruder den Krieg als Landwehroffizier mitmachte. Nachricht von diesem war längere Zeit ausgeblieben und ein Gerücht, daß er verwundet sei, schien damit bestätigt. Mein Verwandter hatte gehört, die deutschen Verwundeten – die gefangenen natürlich – wären nach Paris gebracht worden; könnte ich Näheres darüber erfahren?

Die Hamburgerin war gerade bei mir und begleitete mich in das nächste Militärhospital St. Martin.

(Schluß folgt.)


[557]

Die kaiserliche Matrosenstation bei Potsdam.

Von Johannes Wilda. Mit Abbildungen von W. Stöwer.

Weite glitzernde Seeflächen, umrahmt von dichtbewaldeten ernsten Fichtenhügeln, von Pappeln, Weiden und von herrlichen Parks, aus denen hier Schlösser und Villen hervorlugen, dort eine malerisch gelegene Kirche oder Ruine ragt, – enge gewundene Wasseradern zwischen Wald und Wiese, wo Schwäne entlang gleiten, während ein hohes weißes Segel hinter dem anderen auftaucht oder Dampfer die Schilfrohrsäume in wiegendes Neigen versetzen: das ist die große Wasserheerstraße der Mark, das sind die grünumkränzten blauen Havelseen! Kunst und Natur, Absicht und Zufall haben sich vereinigt, um mit bescheidenen Mitteln hier eine Fülle der lieblichsten Scenerien zu schaffen, über welche der überraschte Fremde staunt, und an denen selbst das verwöhnte Auge, das berühmte Glanzpunkte unserer schönen Erde schauen durfte, immer und immer wieder sich erfreut.

Auch der deutsche Kaiser hat eine große Vorliebe für diese heimatlichen Binnenseen, die sich mit seiner Begeisterung für Seefahrt und Flotte vereinigt. So hat er denn an einem jener, dem weitgedehnten Jungfernsee, eine Matrosenstation anlegen lassen. Die Lage des Sees gestattet, auf der einen Seite die Pfingstbergtürme und die Kuppel von St. Nicolai in Potsdam zu sehen; auf der andern schweift der Blick über die blaue Fläche des Sees zur Basilika von Sakrow und zur Pfaueninsel, dann rechts nach dem Schloß und der langen Bogenbrücke von Glienicke mit dem weißen Schloß Babelsberg im Hintergrunde.

Früher bestand die Matrosenstation aus einer kleinen Bootsanlage und einem nicht häßlichen, wenn auch unbedeutenden Gehöft. Das alte Haus, dessen Vorgarten von einer wundervollen Linde beschattet wird, dient heute noch dem Schiffsführer zur Wohnung; im Herbst aber dürfte das neue Vorsteheramtsgebäude der Station vollendet sein. Im übrigen ist die jetzige Anlage, die Schöpfung Kaiser Wilhelms II., fertig, denn das im vorigen Jahre erbaute, in Norwegen gezimmerte originelle Kasernement ist bereits von den Mannschaften bezogen worden.

Den Mittelpunkt bildet das hart am Wasser liegende, von Rasen und junger Pflanzung umgebene Empfangs- und Einsteigehaus der kaiserlichen Familie. Es ist ein ebenfalls in Norwegen gearbeitetes Blockhaus, das in seinem braunen Ton, mit den schön geschnitzten phantastischen Giebeln, Galerien und sonstigen Verzierungen eigenartig und malerisch wirkt. Nach der Wasserseite zu ist es von einer Quaimauer umschlossen. Links (vom Wasser aus) zeigt sich unter grüner Bettung eine Batterie von sechs kleinen Achtcentimeter-Geschützen, die zum Salutieren und zum Exercitium für die Mannschaften dienen. Daneben ist der Bootshafen, in dem unter anderem zwei hochgeschnäbelte norwegische Boote liegen, und dann der Bootsschuppen für die Dampfpinasse, mit welcher der Kaiser sich auf seine Segelfahrzeuge übersetzen läßt. Rechts ist wieder ein norwegischer Bau. Es ist das Bootshaus für die Dampfjacht „Alexandria“. Im Hintergrund, jenseit der vorüberführenden Straße, neben der alten Kaserne liegt abermals ein höchst eigentümliches geräumiges, norwegisches Haus, das die Wohnung des Maschinisten nebst Werkstätten umfaßt.

An der Straßenfront des Einsteigehauses sehen wir Jagdtrophäen des Kaisers: Walrippen und -wirbelknochen, einen lebenden, etwas verdrießlich veranlagten norwegischen Adler und einen russischen Geier.

Das Empfangs- und Einsteigerhaus

Im Einsteigehaus liegt rechts und links je ein Toilettenzimmer, während der sonstige Raum aus einer geräumigen, mit bunter Holzmalerei diskret geschmückten Halle besteht. Zwei große Tische mit Sesseln und der Schreibtisch des Kaisers, alles in Holz ausgeführt, bilden in der Hauptsache die Ausstattung. Wir [558] bemerken noch verschiedene Trophäen und Erwerbungen von den nordischen Reisen, so den knöchernen Schreibtischsessel, einen Spazierstock aus dem Bein des vom Kaiser erlegten Wales, Malereien auf Knochen etc. Von der Halle führt eine Thür auf die Veranda und direkt nach der Treppe, die zum Einsteigen in die Boote dient.

Von der kleinen Flotille sind am sehenswertesten die Dampfjacht „Alexandria“ und die Miniatursegelfregatte „Royal Louise“.

Die „Alexandria“ ist ein langgestreckter, stattlicher Doppelschraubendampfer, der mit seinem weißen Anstrich sich recht elegant ausnimmt, zumal wenn über ihm, zwischen der „Gösch“ am Buge und der preußischen Flagge am Heck, die Standarte des Kaisers flattert.

Den Hauptraum der „Alexandria“ nimmt der in Hellgelb, Weiß und Gold gehaltene Decksalon ein, dessen einfache aber geschmackvolle Möbel mit einem kleingeblümten, zartgemusterten, hellen Stoff überzogen sind. Oben auf dem Salon befindet sich das Promenadendeck, auf dem die Fahrgäste in bequemen Korbdeckstühlen zu sitzen pflegen. Die Küche und die Nebenräume liegen hinter der starken Maschine über der Schraubenwelle. Die erstere würde mit ihrem zierlichen Gaskochherde das Entzücken jeder Hausfrau erwecken. Die „Alexandria“ wurde an Stelle eines gleichnamigen älteren Fahrzeuges nach den Angaben des Kaisers, des damaligen Prinzen Wilhelm, gebaut. Der Monarch benutzt das Schiff viel zu Fahrten mit seiner Familie, auch zu Dienstfahrtcn nach Spandau, Charlottenburg, zu den Regatten auf der Oberspree etc.

Die Dampfjacht „Alexandria.“

Neben dem Bootshaus für die „Alexandria“ erhebt sich noch ein Schuppen für eine Vierriemer-Mahagoni-Gig und einen kleinen, einruderigen „Seelenverkäufer“, der seine Seetüchtigkeit einst auf offenem Ocean bewiesen haben soll.

Die „Royal Louise“ ist ein vom englischen Hofe stammendes Geschenk. Diese dem Wasserstande der Havel angepaßte Miniaturfregatte ankert hier bereits seit vielen Jahrzehnten; sie bot den ersten Anlaß zur Gründung der Matrosenstation. Das Schiffchen macht von fern wirklich den Eindruck eines echten Kriegsfahrzeuges; in der Nähe bemerkt man erst, daß es nicht größer als eine mittlere seegehende Segeljacht ist. Die aus den Pforten hervordrohenden Geschütze bestehen aus Holz, aber die Takelage ist in allen Einzelheiten bis zu den Oberbramraaen hinauf einer Vollschiffstakelage nachgebildet. Unter dem geschlossenen Oberdeck gelangt man in einen Salon, der einer kleinen Gesellschaft hinlänglich Raum bietet. Die roten Lederpolster, die grüne Tischdecke sind noch von altväterischem Geschmack. Vor dem Salon sieht man die Stoppervorrichtungen für die Anker, hinter ihm liegt eine niedrige Schlafkajütte nebst Kabinett. Ganz hinten, nur vom Oberdeck zugänglich, öffnet sich eine Luke, in der das Steuerrad sich dreht; hier steht auch der die Radspeichen Handhabende, also häufig der Kaiser, der es liebt, selbst mit der Fregatte nach allen Regeln der Kunst zu manövrieren. Etwa zehn Mann bedienen die Takelage; die Kommandos sind die sonst in der Marine üblichen. Die „Royal Louise“ ist durch viel Ballast sehr steif gemacht. Ein Dampferfahrzeug begleitet sie in der Regel auf den Ausflügen.

Der Kaiser an Bord der „Royal Louise“

Die aus Wilhelmshaven und Kiel den Sommer über auf die Potsdamer Station kommandierten Mannschaften, etwa zwölf an der Zahl, sind natürlich ausgesuchte Leute. Die Matrosen unterstehen einem Oberbootsmannsmaaten. Die Station ressortiert vom Reichsmarineamt, von dem ein Offizier die Kontrolle übt. Der dauernd hier befindliche Schiffsführer ist ein ehemaliger, verdienter Deckoffizier. Der Dienst ist natürlich meist ein leichter. Es besteht eine regelrechte Routine mit Musterungen, Segelexerzieren (auf der Fregatte), Geschütz- und Handwaffenexerzieren, Dienstinstruktion, Postenstehen etc. Die Mannschaften erhalten zur Verpflegung 90 Pfennig auf den Tag, wofür sie sich selbst zufriedenstellend beköstigen, indem sie das Geld zusammenschießen. Urlaub wird reichlich bewilligt. Ueber die Freundlichkeit des Kaisers bei den Ausfahrten wissen die Leute viel Rühmendes zu erzählen.

Abgesehen von dem Zwecke, die königlichen Fahrzeuge sachgemäß zu konservieren, dient die Matrosenstation in erster Linie der Erholung des Kaisers, dann als eine Art Seeschule für die Prinzen und zur Unterhaltung für die kaiserliche Familie und deren Gäste. Aber auch das Publikum hat einen Vorteil davon. Je mehr die grüne Havel von einem wechselnden Schiffstreiben belebt wird, ein desto reizvolleres Bild bietet sie dem Besucher.

Die Segelfregatte „Royal Louise.“

Die Berliner wissen so etwas zu schätzen; sie [559] zählen viele begeisterte „Wasserratten“ zu ihren Mitbürgern, von denen manche sogar gleich den Wikingern kühn die Ostsee mit ihren kleinen Fahrzeugen durchqueren und den Seglern in Kiel, Stettin und Kopenhagen erhebliche Konkurrenz machen. Aber auch der Fremdenstrom, der mehr und mehr in die Berliner Umgebung dringt, findet eine Fülle des Interessanten, und nicht am wenigsten wird den auswärtigen Besucher die Matrosenstation anlocken, zumal wenn es ihm gelingt, dort die kaiserliche Familie zu sehen und mit anzuschauen, wie der Kaiser selbst die vom Winde schräg geneigte „Royal Louise“ unter vollen Segeln durch die bewegten Fluten führt.


Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

     (1. Fortsetzung.)

Am Tage nach seiner Ankunft wurde Wildenberg früh morgens mit den Vögeln wach und kam vor den Hausgenossen als erster in das Frühstückszimmer. Es gab erstaunte Blicke und mißbilligendes Kopfschütteln, als er dann sein nächtliches Erlebnis berichtete, denn in diesem geordneten regelmäßigen Haushalt war man an dergleichen Sonderlichkeiten nicht gewöhnt und in Sorge, wie die „Gnädige“ die Sache aufnehmen werde. In seiner Unbefangenheit merkte er indes nichts davon und begann mit Eifer seinen Tag auf die zweckmäßigste Weise einzuteilen. Es interessierte ihn, Dampfpflug und Säemaschine in Thätigkeit zu sehen, und er begleitete den Oberinspektor zu diesem Zweck auf die hinter dem Pastoracker gelegenen Felder. Es traf sich dabei, daß der Pfarrer Lewrenz mit seiner kleinen Schar zu einem Morgenspaziergang auszog und bei den Herren stehen blieb, um die Bekanntschaft des Fremden zu machen. Die Kinder sprangen voraus, nur die beiden großen Mädchen, Anna Lewrenz und Lili Wentzel, hielten sich dem Vater zur Seite und boten Wildenberg freundlich die Hand. Dieser erzählte, daß er sie schon gestern abend durch die Hecke bemerkt habe – da wurden die beiden rot und Anna senkte in unbeholfener Verlegenheit den Kopf, während Lili hell auflachte – Wildenberg glaubte, noch nie ein reizenderes Lachen gehört zu haben. Lili war ein zierliches graziöses Geschöpf voller Leben und Bewegung. Das einfache blaue Morgenkleid umschloß knapp die anmutige Gestalt, und wie sie jetzt den häßlichen braunen Strohhut abnahm und ihr weißes Gesichtchen, dessen haselnußfarbene Augen etwas von dem Glanz des Goldtopas besaßen, unbekümmert der Sonne preisgab, spielte der Morgenwind mit den luftigen dunklen Löckchen, die sich liebkosend um Stirn und Nacken schmiegten.

Während Wildenberg sich von dem Geistlichen unterhalten ließ, hörte er zu, wie sie lustig die Neckereien des Oberinspektors beantwortete, und verwünschte seine Unbeholfenheit jungen Mädchen gegenüber, die ihn verhinderte, ebenfalls einen heiteren leichten Ton mit ihnen anzuschlagen. Wie linkisch mußte es Lili erscheinen, daß er kein Wort für sie fand! Ein wenig verstimmt zu Boden blickend, sah er plötzlich zu seinen Füßen ein vierblätteriges Kleeblatt, und rasch sich bückend, pflückte er es und stand nun vor ihr, das kleine grüne Ding unsicher zwischen den Fingern drehend.

„O,“ rief sie unbefangen, „ein Vierklee! Bitte, schenken Sie es mir! Sie wissen ja! daß es dem Finder kein Glück bringt, sondern nur dem, der es geschenkt erhält?“

„Und ich soll ganz leer ausgehen?“ scherzte er.

„Einen schönen Dank sollen Sie haben!“ Sie zog eine flache silberne Kapsel hervor, die sie um den Hals unter dem Kleide trug, und legte das Blättchen hinein. „Da, nun kann mir kein Unheil begegnen! Sie lachen mich wohl aus? Kluge Leute wie Sie sind über dergleichen erhaben, aber ich glaube daran und strecke gern dem Glück eine kleine Handhabe entgegen, an der es sich bei mir, wenn auch nur ganz aus Versehen, festhaken kann.“

„Das Glück müßte doch ganz thöricht sein, wenn es sich von Ihnen nicht willig festhalten ließe. Ich kann Ihnen übrigens noch eine ganze Reihe einschlägiger Mittel nennen.“

„Da bin ich aber begierig! Wenn Sie mir etwa vorschlagen wollen, silberne Pilze oder Schweinchen an der Uhr zu tragen, so muß ich Ihnen sagen, daß sich das in meiner Praxis nicht bewährt hat.“

„O nein, meine Auskunftsmittel sind bedeutend tiefsinniger. Zur Zeit des Neumondes stellen Sie sich so, daß Sie die Mondsichel über die rechte Schulter hinweg erblicken, und sprechen dabei:

‚Eins zwei drei!
Guter Mond, ich bin so frei,
Bitt’ dich, wenn du kehrst zurück,
Bring’ mir mit ein wenig Glück!‘

Nun, Was sagen Sie dazu?“

Sie wiederholte den Spruch, und dann lachten sie beide. Dazwischen hinein erklang ein Zetergeschrei. Das jüngste der Pfarrerskinder war über einen Stein gefallen und hatte sich das Näschen arg zerstoßen. Lili sprang schnell hinzu und hob den kleinen Schreihals auf, ihn mit scherzhaften Worten beruhigend. Wie sie das Kind, welches schluchzend das blonde Köpfchen an ihre Schulter barg, sorglich in den Armen hielt, bot sie ein überaus liebliches Bild.

Die Unterbrechung gab Veranlassung zum Aufbruch für die Spaziergänger, und Wildenberg hatte nur noch Zeit, dem jungen Mädchen zuzurufen: „Auf Wiedersehen bei Tisch!“ Sie hatte aber offenbar noch keine Aufforderung vom Schloß erhalten und schüttelte verwundert den Kopf.

Es war ihm ganz froh und leicht zu Sinn und der Pflichtenkreis, der für den Vormittag noch vor ihm lag, dünkte ihn eher ein Vergnügen als eine Arbeit. Mit Spannung sah er der Mittagsstunde entgegen.

Lili war schon da, als er um ein Uhr ins Schloß hinüberkam, wenigstens sah er ihren Hut auf dem Vorplatz hängen. Aber als ihm der Diener die Thür zum Gartensaal öffnete, der als allgemeiner Empfangs- und Wohnraum diente, sah er nur die stolze Gestalt der Hausherrin, die in der Mitte des Gemachs stand und ihm entgegenblickte. Heute, in dem weichen dunkelgeblümten Foulardkleide, ein zartes Rot auf den Wangen, in den blauen Augen einen freundlichen Ausdruck, erschien sie ihm weniger statuenhaft und unnahbar, dafür aber weiblicher als gestern abend im Mondschein. Ihre ganze Umgebung stand mit ihr in Einklang. Da war nichts Häßliches oder Kleinliches; jedes Stück der Einrichtung, deren sanfte Farben mit dem dunklen Ton der Wände und dem weißen Stuck der Decke zusammenstimmten, war mit gefälligem Geschmack geordnet.

„Ich freue mich, daß Sie zu den pünktlichen Menschen gehören,“ sagte sie, ihm die weiße kräftige Hand reichend. „Willkommen! Darf ich Sie zunächst meiner Tante Lina vorstellen, und hier, meiner Lili, Fräulein von Wentzel!“

Jetzt erst wurde er die anderen gewahr, die ältliche Dame mit dem guten sanften Gesicht und das junge Mädchen im weißen Waschkleidchen; die beiden erschienen ihm aber für den Augenblick nur wie eine nebensächliche Staffage, so vollständig erlosch die ganze Umgebung in Gegenwart von Hellas imponierender Erscheinung.

„Das sind meine Lieben alle!“ fuhr die Schloßherrin fort, die beiden heiter umfassend. „Und man wird uns das Zeugnis geben, daß wir ein verträgliches Kleeblatt sind, dessen Eintracht bisher noch durch nichts gestört wurde.“

Gleich darauf ging man zu Tisch und Wildenberg erhielt seinen Platz zwischen Hella und Lili. Das Gespräch war lebhaft und angeregt und bewegte sich zumeist um Politik und Nationalökonomie, auf welchen Gebieten Fräulein von Ostrau sich vollständig sattelfest fühlte. Sie hatte die Rede sehr in ihrer Gewalt und verstand, fesselnd und glänzend zu sprechen; Wildenberg hatte Mühe, sich neben ihr zu behaupten und seine Ansichten, welche von den ihrigen abwichen, durchzufechten. Er aß nur wenig und zerstreut, wußte kaum, was ihm gereicht wurde, und war einzig erfüllt von dem Bestreben, sich dieser bedeutenden Frau gegenüber keine Blöße zu geben. Ihre Wangen röteten sich bei dem Gefecht, das sich so entspann, es kam Leben und Bewegung in das streng geschnittene Gesicht, offenbar gewährte es ihr Vergnügen, vielleicht zum erstenmal seit langer Zeit einen Gegner zu haben, der ihr nicht nur ebenbürtig, sondern in vielen Dingen überlegen war. „Genug!“ rief sie endlich lachend. „Lassen Sie uns Waffenstillstand schließen! Sie sehen, meine Tante und Lili sind bereits gänzlich verstummt.“

Es fiel ihm das jetzt erst auf – er hatte gar nicht mehr an die beiden andern gedacht und wandte sich ihnen nun mit einer höflichen Entschuldigung zu. Lili schälte gerade einen Apfel, [560] und es war hübsch, ihren schlanken weißen Fingerchen dabei zuzusehen. Als Wildenberg sie jetzt fragte, warum sie so schweigsam sei, hob sie die braunen Augen lächelnd zu ihm empor und antwortete neckend mit einem klassischen Citat: „Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.“

„Bravo, Kleine!“ rief Hella; ihm aber wurde ganz warm ums Herz, denn er fühlte instinktiv, daß seine kleine Nachbarin zur Linken für ihn Partei nahm. Das gab ihm die wohlige Empfindung einer heimlichen Zusammengehörigkeit.

Man trank den Kaffee nach Tisch im Gartensaal, dessen Glasthüren geöffnet waren, und hatte Wildenberg vorher alles andere neben der königlichen Gestalt der blonden Hausherrin übersehen, so konnte er jetzt kaum die Blicke von dem jungen Mädchen wenden, das wie ein lebendiger Sonnenstrahl durch das Zimmer glitt, Tassen, Zucker und Sahne geschäftig hin und her tragend. Frau von Ostrau hatte sich mit einer Häkelarbeit in ihre Sofaecke zurückgezogen und zeigte nicht übel Lust, sich hier an diesem ungestörten Plätzchen ein verstohlenes Nachmittagsschläfchen zu gönnen.

Hella nahm auf einem Bambussessel unweit der offenen Thür Platz und winkte dem Gast, sich neben sie zu setzen. „Du könntest wohl etwas Musik machen!“ rief sie Lili zu.

„Gewiß, Tante Hella!“ gab das Mädchen bereitwillig zur Antwort und eilte zum Notenschränkchen.

„Nun, was sagen Sie zu meinem Pflegetöchterchen?“ fragte Hella halblaut, sich zu Wildenberg wendend.

„Sie ist ein gottbegnadetes Menschenkind!“ gab er begeistert zurück, obgleich er für dieses Urtheil nichts anderes hätte in die Wagschale werfen können, als daß sie ihm über die Maßen gefiel.

Sie dankte ihm mit einem warmen Blick. „So sind auch Sie dem Zauber der Kleinen verfallen, dem sich niemand entzieht? Mir ist sie förmlich ins Herz gewachsen – wenn sie meine Schwester wäre, könnte sie mir nicht lieber sein. Habe ich sie mir doch mühsam erkämpft und beinahe mit Gewalt ihren Eltern genommen, die im Begriff waren, das junge Geschöpf völlig zu verderben. Ich hoffe, das Kind bald auf eigene Füße zu stellen und seinen Platz in der Welt ausfüllen zu sehen.“

„Und was haben Sie sich als Beruf für die junge Dame gedacht?“

„Hören Sie Lili nur erst singen und Sie werden nicht mehr nach ihrem künftigen Beruf fragen. Ich beabsichtige, sie im Winter unter dem Schutz der Schwägerin unseres Pastors nach Berlin zu schicken, damit sie dort die Hochschule für Musik besucht und ihr Talent in jeder Richtung ausbildet. Sie hat es dann in der Hand, neben ihrem Auftreten als Konzertsängerin zugleich Gesangsunterricht zu erteilen und sich in irgend einer großen Stadt niederzulassen.“

„So jung schon auf eigenen Füßen?“ entfuhr es ihm. „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber haben Sie überlegt, welche Gefahr darin liegt?“

„Zunächst hat es wohl noch einige Jahre Zeit, bis diese Selbständigkeit für Lili beginnen kann. Dann aber glaube ich, daß sie durch die Erziehung, welche sie hier erhalten hat, genügend gefestigt sein wird, um ohne Gefahr ihren eigenen Weg gehen zu können. Natürlich werde ich stets dafür sorgen, daß sie Anschluß an zuverlässige Menschen findet.“

„Ich bitte um Vergebung, aber nach meiner Ansicht gehört ein so junges Wesen doch in die Familie.“

„Ja, wenn sie eine hat!“ warf sie dazwischen. „Aber ich habe das Gefühl völliger Unfähigkeit, selbst für seine Existenz zu sorgen, in meinem eigenen Leben zu bitter empfunden, um nicht jede, die mir nahe steht, vor diesem Gefühl bewahren zu wollen.“ Er verstand sie nicht, sie sah es seinem Gesicht an. „Ja, meinen Sie denn, ich hätte immer im Ueberfluß gelebt wie jetzt?“ fuhr sie rasch fort. „Freilich, in meiner Kinderzeit wurde ich an Luxus gewöhnt; meine Mutter hatte ihrem Gatten, der selbst nichts besaß, ein bedeutendes Vermögen in Grundbesitz mit in die Ehe gebracht. Mein Vater übernahm wie etwas Selbstverständliches die Bewirtschaftung des Gutes, trotzdem er nichts davon verstand und meine Eltern nicht in Gütergemeinschaft lebten. Natürlich ging die Sache nicht. Von Jahr zu Jahr wurden die Einnahmen kleiner, die Ausgaben größer, man war es ja dem Namen schuldig, auf großem Fuß zu leben, von Jahr zu Jahr bewog mein Vater seine Frau, ihre Zustimmung zur Aufnahme neuer Hypotheken zu geben, die zu immer höherem Zinsfuß auf ihren Besitz eingetragen wurden. Endlich wurde selbst ihr argloses Gemüt stutzig; sie verstand zwar nichts von geschäftlichen Dingen, da man sie ja von jeher in vollständiger Unkenntnis darüber gelassen hatte, aber die unaufhörlichen Unterschriften, die von ihr verlangt wurden, fielen ihr doch auf, und sie bat wiederholt um Aufklärung über den Stand ihrer Angelegenheiten. Endlich erfuhr sie durch einen Zufall, daß ihr Vermögen nahezu verbraucht war, daß nur noch ein günstiger Verkauf eine kleine Summe für sie retten könnte. Aber von diesem Ausweg wollte mein Vater nichts wissen, er lachte meine Mutter aus und versprach ihr, beizeiten schon einen besseren Ausweg zu zeigen. Sie wollte sich aber nicht dabei beruhigen, dachte auch an mich und meine Zukunft und bestand auf dem Verkauf. Er verweigerte seine Zustimmung. Sie wandte sich mit der Bitte um Rat und Beistand an Freunde und Verwandte – man zuckte die Achseln, niemand wollte sich einmischen. Sie hatte ja in der Person ihres Mannes ihren Vormund und Vertreter. Es fanden sich zahlungsfähige Käufer, aber meine Mutter war nicht imstande, den Verkauf abzuschließen, weil ihr Gatte seine Zustimmung verweigerte und ihre Unterschrift allein unter einem Vertrag, der ihr eigenes Hab und Gut betraf, keine Gültigkeit besaß.

Nun, Sie können sich wohl vorstellen, daß mein Vater den versprochenen Ausweg nicht fand. Schlechte Zeiten kamen dazu, Zeiten, in denen die Einnahmen nicht mehr die Zinsen deckten und als ich siebzehn Jahre alt war, trat der vollständige Zusammenbruch unserer Verhältnisse ein. Onkel Gotthardt, der Besitzer von Strehlen, ein Bruder meiner Mutter, erbot sich sofort, sie und mich hierher zu nehmen und dem Vater ein Jahrgeld zu zahlen. Aber die Art, in der dies Anerbieten geschah, verletzte sein noch immer sehr reges Selbstgefühl, er lehnte rundweg ab mit dem Bemerken, er werde schon selbst für seine Familie sorgen. Ich denke mit tiefem Grauen an die zwei Jahre zurück, welche nun folgten. Von Ort zu Ort gezerrt, von einer Enttäuschung zur andern, täglich mit Sorgen und Entbehrungen kämpfend, unter der steten Mißstimmung meines Vaters leidend, führten wir ein trauriges Dasein, um so trauriger, als ich meine gänzliche Unfähigkeit erkannte, auch nur das Geringste selbst zu erwerben, da nach keiner Richtung hin irgend eine meiner Fertigkeiten gründlich ausgebildet war. Dieses Bewußtsein einer vollständigen Unzulänglichkeit des eigenen Könnens war das Härteste, was ich zu ertragen hatte, und wenn mein Charakter sich seitdem vielleicht etwas zu energisch entwickelt hat und Schärfen und Ecken aufweist, die nicht mit den landläufigen Begriffen von Weiblichkeit zusammenstimmen mögen, so tragen daran meine damaligen Erfahrungen die Schuld. – Auf einer seiner Reisen als Beamter einer Feuerversicherungsgesellschaft verunglückte mein Vater und starb kurze Zeit darauf an den Folgen einer inneren Verletzung. Wenige Wochen später siedelten meine Mutter und ich hierher nach Strehlen über. Was ich seitdem geworden bin, verdanke ich dem edeln Mann, der uns eine Heimat bot und mich geistig zu sich emporzog, mich selbständig machte in jedem Sinn. Sie werden es sich jetzt vorstellen können, daß ich es als meine Aufgabe betrachte, meinen Mitschwestern soviel als möglich die helfende Hand zu reichen und unermüdlich zu kämpfen für die vernünftige Entwicklung der Frauenrechte.“

Trotz der Nüchternheit und Knappheit ihrer Ausdrucksweise hatten sich ihre Wangen lebhaft gefärbt und aus den blauen Augen strahlte ein Ausdruck beinahe fanatischen Eifers. Sie hatte wohl gar nicht beabsichtigt, so weit in ihren Eröffnungen zu gehen, und war mehr gegen ihren Willen von dem Thema und der Bitterkeit, welche diese Erinnerungen in ihr erregten, fortgerissen worden. Der Blick, den sie ihrem Zuhörer in ihr Leben und Denken thun ließ, hatte diesen mit einem träumerischen Zauber umsponnen, und als sie jetzt schwieg, blieb es einen Augenblick so still im Gemach, daß man die Fliegen an den Fensterscheiben summen hörte. Plötzlich kam durch die Stille vom Klavier her ein süßer Klang. Lilis Stimme erhob sich in jubelnden Tönen und zerriß mit einem Schlage den Bann, der ihn umfangen hielt. Er war ein leidenschaftlicher Freund und gründlicher Kenner der Musik und erkannte sofort, daß diese Stimme, die bis jetzt freilich noch wenig geschult war, in der That alle Erfordernisse besaß, der Eigentümerin eines Tages eine glänzende Stellung zu sichern. Unwillkürlich stand er auf und ging zu ihr hinüber.

Lili war Evastochter genug, um die offenbare Huldigung, die in seinen Augen lag, zu verstehen, und lächelte ihm nicht ohne einen Anflug von Koketterie zu. Die Töne quollen ihr so mühelos und leicht aus der Kehle wie einem Vogel, und sie fand vollauf Zeit, sich daneben mit Wildenberg zu beschäftigen, der mit verschränkten Armen in ihrer Nähe stand und entzückt lauschte.

[561]


Auf der Alpenreise.
Gemälde von A. Müller-Lingke.

[562] „Genug!“ sagte Hella ruhig, als das Lied zu Ende war und Lili sich anschickte, auf Wildenbergs Bitte hin ein zweites zu singen. „Tante Lina will schlafen. Es ist besser, wir heben die Musik für ein andermal auf.“

„Meinetwegen musiziert nur ruhig weiter!“ ließ sich die freundliche alte Stimme vom Sofa her vernehmen „Ich bin’s gewohnt.“

„Nein!“ wiederholte Hella mit Bestimmtheit. „Es ist mir lieber, wenn Lili nicht weiter singt.“

Das Mädchen fügte sich mit derselben freundlichen Bereitwilligkeit, mit der es vorhin ans Klavier gegangen war, aber Wildenberg empfand eine leise Verstimmung, auf so unbegründete Weise um den erwarteten Genuß gebracht zu sein und da der Nachmittag mittlerweile schon vorgeschritten war, so empfahl er sich bald darauf.

*  *  *

Eine Woche verging, ohne daß sich die Einladung aus dem Schloß wiederholt hätte, und es schien, als sollte es vorläufig bei jener ersten sein Bewenden haben. Wildenberg hatte inzwischen auch an Pfarrhause seinen Besuch gemacht und war samt dem Oberinspektor zu einem Pastorenkränzchen gebeten worden, bei dem aber Anna Lewrenz allein ihres Amtes am Theetisch waltete und Lili unsichtbar blieb. Dann nahmen wirtschaftliche Interessen seine Zeit vollauf in Anspruch, so daß er keine Muße fand, der herzlichen Aufforderung des Pfarrers folgend, seinen Besuch zu wiederholen. Er hatte seine Pferde nachkommen lassen und ritt viel in Feld und Wald umher. Bei einem dieser Ritte war es, daß er Hella begegnete, die gleichfalls zu Pferde die Schneidemühle am Fluß besucht hatte. Sie wandte ruhig ihre Fuchsstute und ritt an seiner Seite weiter, ohne irgendwie merken zu lassen, ob sie sich freue, ihn zu sehen oder nicht. Sie schickte nur den Reitknecht heim und schlug vor, den Rückweg über das etwas abseits liegende Forsthaus anzutreten, wo sie den Förster zu sprechen wünsche. Seine Begleitung wurde also von vornherein als etwas Selbstverständliches angenommen.

Wildenberg beobachtete von der Seite ihren tadellosen Sitz, und sein Herz klopfte schneller beim Anblick der schlanken blonden Frau, mit der er so allein durch den stillen harzig duftenden Kiefernwald dahinritt. Sie gab sich ungezwungen, war liebenswürdig und heiter, wie er sie bisher noch nicht gesehen hatte, während sie auf mosigen Wegen, die den Hufschlag dämpften, dahinsprengten, aber in ihrer ganzen Art und Weise lag doch immer etwas, was ihn an die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen erinnerte, die sie respektiert zu haben wünschte. Endlich parierte sie ihr Pferd und zwang es, im Schritt neben dem seinigen zu gehen.

„Sie haben mir noch gar nicht von Ihrer Heimat gesprochen,“ sagte sie. „Wo leben Sie und wie? Nachdem ich Ihnen letzthin so offen meine Verhältnisse erzählt habe, darf ich wohl von Ihnen ein Gleiches erwarten, damit ich mir ein ungefähres Bild von Ihnen machen kann. Sie müssen das nicht als müßige Neugier auslegen. Hier auf dem Lande geht man nicht so gleichgültig an den Menschen vorüber wie in der Stadt.“

Ihm ging bei der Frage das Herz auf und er berichtete von dem alten traulichen Hause, dessen weinumrankte Fenster auf die Elbe hinaus sahen, von den dunkelgetäfelten Zimmern mit dem altmodischen Hausrat und den breiten grünen Kachelöfen. Er besaß eine hübsche anschauliche Art zu beschreiben, die das Kleinste mit einem Hauch von Poesie zu umgeben wußte. Hella meinte, die behaglichen Räume, denen der Geist des Besitzers seinen Stempel aufgedrückt hatte, deutlich vor sich zu sehen: an den Wänden in schwarzem Rahmen englische Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, in den Schränken Bücher, deren Zusammenstellung eine ausgesprochene Vorliebe für die Romantiker der alten Schule verriet, hochlehnige bequeme Armstühle, lauttickende schwarzwälder Uhren, dunkle Teppiche und durch alles hindurchgehend ein gewisser genialer Zug von Unordnung und ein leiser Duft von türkischem Tabak. Dann schilderte er den Garten, der, ein wenig verwildert, durchaus einer ordnenden Hand bedürfe, und ging endlich nicht ohne Humor auf seine verfehlten landwirtschaftlichen Versuche über, auf die Beziehungen zu den Nachbarn und seine Erfahrungen dabei.

Das Leben, wie er es beschrieb, war durchaus anders als das ihrige und gab zugleich von dem ganzen Menschen ein so klares und liebenswürdiges Bild, daß Hella völlig davon gefesselt wurde. So ritten sie an dem Forsthause vorüber, ohne daß eines von ihnen dessen gewahr geworden wäre.

„Demnach sind Sie die große Partie Ihrer Gegend?“ fragte sie mit gutmütigem Spott, als Wildenberg endlich lachend rief, daß er von sich nun nichts mehr zu erzählen wisse.

Sein Erstaunen war ganz ungekünstelt. „Ich habe wirklich noch nie darüber nachgedacht.“

„Und man hat Ihnen auch noch nie den Gedanken nahegelegt? Dann müssen die Mütter in Ihrer Gegend anders geartet sein als bei uns. Haben Sie auch noch nie daran gedacht, diesem Junggesellenheim, das Sie mir so anschaulich schilderten, eine Herrin zu geben?“

„O gewiß, das schon! Aber ich warte den richtigen Zeitpunkt ab.“

„Wie meinen Sie das?“

„Den Angenblick, in dem mein Herz ganz unzweideutig sprechen wird: diese oder keine!“

„Das wird schwer festzustellen sein. Die eine wird von den Eigenschaften, welche Sie hochschätzen, diese besitzen, die andere jene, und über dem Abwägen und Ueberlegen werden Ihnen Zweifel kommen, welche die rechte ist.“

„Sie leugnen also die Allgewalt der Liebe, die über jeden Zweifel hinwegträgt?“

„Ja.“

Er sah sie erstaunt an. „Ich mei ne, gerade die Frauen müßten vor allem daran glauben.“

„Ihnen gelten demnach ‚vor allem‘ die Frauen als Wesen, die nach Liebe schmachten müssen? Der Gedanke ist Ihnen wohl noch gar nicht gekommen, daß eine Frau auch ohne eine andere als die rein menschliche Liebe zum Nächsten durchs Leben gehen könne?“

„Ich gestatte mir, an dieser Thatsache zu zweifeln, die Neigung zum Mann ist dem Weibe als Naturtrieb ins Herz gelegt, und wenn es auch gewiß Frauen giebt, die diesen Trieb unterdrücken und dann ob des siegreich bestandenen Kampfes triumphieren, so werden doch auch sie im geheimen die Einsamkeit ihres Lebens oft genug beklagen und es bitter bereuen, den rechten Augenblick des Glücks ungenutzt versäumt zu haben. Die Liebe ist das eigentliche Reich der Frau und rächt sich an der, die sich selbst daraus verbannt.“

Sie lachte kühl und gelassen. „Vielleicht bin ich dann anders geartet als meine Mitschwestern – eine geistige Mißbildung, wenn Sie wollen, denn ich muß bekennen, daß es mich bisher nicht einmal einen Kampf gekostet hat, einsam zu bleiben. Ich schätze meine Freiheit viel zu sehr. Uebrigens werden wir uns über diesen Gegenstand wohl nie vereinigen.“ Mit diesen Worten setzte sie ihr Pferd in Galopp und schweigend erreichten sie den Gutshof.

Trotzdem dieser erste Spazierritt auf diese Weise mit einem Mißton geendigt hatte, trafen Wildenberg und Hella öfters zu Pferde zusammen, ob zufällig, ob von seiner Seite absichtlich, blieb dahingestellt. Jedenfalls duldete die Schloßherrin seine Begleitung und wartete sogar zuweilen auf ihn, wenn er sich verspätete. Er unterhielt sie angenehm, obgleich sie gewöhnlich anderer Ansicht war. Sie hatte bisher niemand gehabt, mit dem sie so sprechen konnte und der doch nie die Grenzen überschritt, die sie eingehalten wünschte. Ab und zu stellte sie daher nach diesen Spazierritten zu zweien noch die Aufforderung an ihn, den Abend im Schloß zu verbringen, Wildenberg hatte die Gewohnheit angenommen, den Damen bei solchen Gelegenheiten vorzulesen. Auch Lili war dann gewöhnlich dabei, und die Notwendigkeit, die Wahl der Bücher, die ihm überlassen blieb, mit Rücksicht auf die Zuhörerschaft eines jungen Mädchens zu treffen ließ seine Gedanken mehr als geboten war, bei ihr verweilen. Er liebte es, aufblickend, ihre sanften Augen auf sich gerichtet zu sehen und den Ausdruck naiven gespannten Anteils in ihnen zu lesen. Unwillkürlich nahm seine Stimme dann einen weicheren wärmeren Klang an, als lese er nur für sie allein. Wenn aber Hella ihn mit einer Frage unterbrach, die bewies, wie genau sie gefolgt war, und ihm Veranlassung zu lebhaftem Meinungsaustausch gab, so regte das seine Nerven prickelnd auf. Er wurde nicht müde, heimlich immer wieder die beiden Köpfe zu betrachten, die sich ihm gegenüber über die Handarbeit neigten, von denen jeder in seiner Art vollkommen schien, der blonde in seiner strengen klassischen Regelmäßigkeit, der dunkle in der lieblichen Jugendfrische und Kindlichkeit.

Wie die Zeit verging, trat der eigentliche Zweck seines Hierseins für ihn allmählich in den Hintergrund, und diese stillen Leseabende im Schloß wurden immer mehr der Mittelpunkt seines ganzen Denkens. Er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, wer der Magnet sei, der ihn festhalte. Fehlte Lili einmal, so war er unruhig und zerstreut und meinte, den Abend ohne sie nicht überstehen zu können; die Sehnsucht nach ihrem frohen Gesichtchen wurde [563] dann bisweilen so groß, daß er den ersten besten Vorwand zu frühem Aufbruch benutzte und noch für einen Augenblick nach dem Pfarrhause hinüberlief, um womöglich ein paar Worte von ihr zu erhaschen, wenn auch oft nichts weiter als einen Gutenachtgruß zum Fenster heraus. Wurde aber Hella, was hie und da geschah, zu geschäftlicher Beratung mit einem der Beamten abgerufen, so schien ihm der eigentliche Mittelpunkt des kleinen Kreises zu fehlen. Er gestand sich dann heimlich, daß die stolze Herrin des Schlosses mehr und mehr Einfluß auf ihn gewinne, er fragte sich, wohin das führen werde, ohne eine Antwort darauf geben zu können, ja ohne es zu wollen. Mit seiner Abreise im Spätherbst mußte ja ohnehin alles ein Ende haben, bis dahin wollte er mit geschlossenen Augen die glückliche Zeit genießen.

Eine Störung dieses traulichen Verkehrs durch unwillkommene Gäste gehörte zu den Seltenheiten, denn der Umgang mit der Nachbarschaft war kein sehr reger und beschränkte sich auf vereinzelte große Feste. Um so unangenehmer überraschte es ihn, als Hella eines Abends die für den nächsten Tag bevorstehende Ankunft ihrer Cousine, der Gräfin Lenzen, ankündigte, die einige Zeit in Strehlen zu verweilen gedenke. „Mit unseren Leseabenden wird es da wohl für die nächsten Wochen vorbei sein,“ fügte sie hinzu, ohne daß er bemerken konnte, ob sie es bedaure oder nicht. „Die Gräfin ist eine Frau der großen Welt und interessiert sich nicht sonderlich für Litteratur. Aber es wird sie interessieren, Sie selbst kennenzulernen.“

Er verbeugte sich schweigend, die Gräfin innerlich dorthin wünschend, wo der Pfeffer wächst. (Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten


Die neunhundertjährige Jubelfeier der Stadt Krems. (Mit Abbildung S. 564.) Als die älteste unter den uralten Städten Niederösterreichs begeht Krems an der Donau in den Tagen vom 11. bis 18. August l. J. durch ein großartiges Volksfest die Erinnerung an die Thatsache, daß es schon in einer Urkunde des Kaisers Otto III. vom 16. August 995 – also etwa zwei Jahrzehnte vor Tulln und zwei Jahrhunderte vor Wien – als „urbs“, als „Stadt“ bezeichnet erscheint. Die ersten geschichtlichen Nachrichten über Krems stammen jedoch aus weit früherer Zeit. Als nämlich der heilige Severin im Donauthale sein Bekehrungswerk vollbrachte, bestand schon gegenüber dem heutigen Mautern am linken Ufer des Stromes ein „Jahrmarkt der Barbaren“, worunter nur das spätere Krems zu verstehen sein kann, das – zwischen Berg und Strom gelegen – eine gegen feindliche Ueberrumpelungen gesicherte und durch die unmittelbare Nachbarschaft der Donau zu einem Mittelpunkte des bescheidenen Handelsverkehrs jener Tage vorzüglich geeignete Niederlassung der Rugen war. Während der Völkerwanderung bildete Krems den Tummelplatz jener Horden, welche zwischen den Ausläufern der Karpathen im Osten und jenen des deutschen Mittelgebirges im Westen über den Donaustrom setzten. Unter der glorreichen Regierung der Babenberger entwickelte sich Krems rasch zu einem Gemeinwesen, das jahrhundertelang mit Wien rivalisierte und noch von Maximilian II. als die vornehmste Stadt nach Wien bezeichnet werden konnte. Die wesentliche Rolle, welche Krems in der Geschichte Oesterreichs spielte, kam es jedoch teuer zu stehen. Denn während der Einfälle der Böhmen unter Ottokar und der Ungarn unter Matthias Corvinus, während der Kriege mit den rebellischen Bauern und mit den Schweden, sowie während der Napoleonischen Eroberungszüge wurde die Stadt wiederholt belagert, verloren und wieder zurückerobert, von Feind und Freund mit gleicher Rücksichtslosigkeit geplündert und gebrandschatzt und dadurch immer wieder in Schulden gestürzt, welche die besten Kräfte der Bürger verzehrten.

Sowohl diese kriegerischen Ereignisse als auch die allmähliche Veränderung in den Stromverhältnissen der Donau, welche ihr Bett seit Jahrzehnten immer weiter von der Stadt wegrückt, haben dazu beigetragen, daß in Krems das Alte nie lange standhielt. Ganze Häusergruppen verschwanden und an ihrer Stelle, sowie dort, wo der weichende Strom ein blühendes Auland zurückließ, entstanden neue Stadtviertel. So hat sich Krems nur im Einzelnen die eigentümliche, Behagen erweckende Physiognomie einer mittelalterlichen Stadt erhalten. Zu seinen „Wahrzeichen“ gehört vor allem das uralte „Steinerthor“ mit dem prächtigen Quadernturm und den zwei seitlich vorgeschobenen, von Spitzdächern gekrönten Rundtürmen, der mächtige Pulverturm am Ostende der Stadt, die auf weit ausschauender Höhe gelegene Piaristenkirche und das „Mandl ohne Kopf“, eine Steinfigur im Harnisch, der der Kopf fehlt und die angeblich daran erinnert, daß auf dem „Lueg-ins-Land“, während Torstensson die Stadt besetzt hielt, einem frevelhaften Offizier eine Kanonenkugel das Haupt vom Rumpfe riß.

Das Krems von heute ist durch mannigfache Eisenbahn- und Dampfschiffverbindungen zu neuer Blüte gelangt. Es zählt etwa 11000 Einwohner. Handel und Wandel, Industrie und Gewerbe sind im Schwunge. Der Weinbau wird im großen Stile betrieben. Zahlreiche Schulen gedeihen unter trefflicher Leitung. Auf dem Piaristengymnasium haben Hamerling und Joseph Misson, der unsterbliche Dichter des „Naz“, Johannes Nordmann und Canon studiert. Kirchenfürsten, hervorragende Professoren, Beamte, Aerzte und Litteraten sind Söhne der Stadt Krems gewesen. Und wie etwa einst in Krems Margaretha, die unglückliche Gattin Ottokars, verstoßen und verraten, den Untergang ihres Geschlechtes, der Babenberger, beweinte und Philipp von Kärnten als Ex-Erzbischof von Salzburg, Ex-Patriarch von Aquileja und Ex-Herzog von Kärnten im Exile lebte, so ist bis heute Krems ein Lieblingsaufenthalt der österreichischen Pensionisten geblieben. Dies ist wohl begreiflich; denn für das materielle Leben ist in Krems glänzend gesorgt, das Klima der an Rebengelände lieblich hingebetteten Stadt ist außerordentlich milde und die Bewohner derselben sind ein treuherziges Völkchen, das den Fremden stets gastfreundlich entgegenkommt.

Also konnte Krems froher Teilnahme von vornherein sicher sein, als es das ganze Oesterreich anläßlich seines neunhundertjährigen Stadtjubiläums zu Gaste lud. R. v. Enderes. 

Parfümierte Früchte. Die Farbenpracht der Blumen ist unerschöpflich, und doch ist der Mensch vor kurzem auf den Gedanken gekommen, Blumen zu färben, indem er die abgeschnittenen Stengel in Lösungen von Anilinfarben stellte! Die Pariser Blumenmädchen, die zum ersten Male „grüne Nelken“ auf den Markt brachten, sollen kein schlechtes Geschäft gemacht haben. In ähnlicher Weise vergreifen sich die Menschen auch an Früchten, die sie zwar nicht färben, dafür aber um so fleißiger parfümieren. Wenn die Früchte den müden und durstigen Wanderer so köstlich erfrischen, so ist dies zum großen Teil dem Aroma zuzuschreiben, das sich bei vollendeter Reife in ihnen entwickelt. Der Züchter ist darum bestrebt, nicht nur süße, saftige und große, sondern auch duftende Früchte zu erzeugen. Es gelingt ihm indessen nicht immer, bei einer Frucht alle diese Eigenschaften zu erzielen. Eine aromalose Frucht wird aber von dem Kenner als schal zurückgewiesen.

Bei der großen Masse der civilisierten Menschheit ist allerdings der Geruch zu einem abgestumpften Sinne geworden, nur eine „auserwählte“ Schar von Obstliebhabern schwärmt auch für das Aroma, und aus Rücksicht auf diese sind verschiedene Wege zum Parfümieren der Früchte erdacht worden. Die von altersher bekannten sind sehr einfach. Hat man frische Hollunderblüten rasch getrocknet und in luftdicht verschlossenen Büchsen aufbewahrt, so kann man frühe Aepfel damit parfümieren, indem man sie für einige Tage mit den Hollunderblüten in einem gut verschlossenen Gefäße einsperrt. In England ist dieses Parfüm sehr beliebt. Auf diese Weise lassen sich verschiedene Düfte den Früchten beibringen. Obstkenner sollen jedoch diese Schliche nicht unschwer zu entdecken vermögen; ihr Gaumen und ihre Nase sind sehr gewiegte Chemiker.

Eine Frucht, die zu großem Verdruß der Gärtner in der Entwicklung des Duftes sich äußerst unzuverlässig erweist, ist die Melone. Man hat darum besondere Mittel ersonnen, um sie zur Aromaentfaltung zu zwingen. Die einen steckten die reifen Melonen in warme Oefen, die anderen brachten sie in kalte Räume und die Extreme der Temperatur sollen in der That die Melone bei der Nachreife zur Aromaentwicklung gebracht haben. In Amerika ist man dagegen auf einen anderen Einfall gekommen. Dort parfümiert man Melonen in ähnlicher Weise, wie man in Frankreich Blumen mit Anilinfarben geschminkt hat. Die reife Melone wird mit einem guten Stück der Ranke abgeschnitten und das Ende der Ranke in ein Trinkglas hineingesteckt, welches zum Teil mit Portwein oder Sherry gefüllt ist. In drei Tagen saugt die Frucht den Wein auf und besitzt alsdann ein deutliches Portwein- oder Sherrybukett.

Nach Proben, die wir selbst angestellt haben, ist das Verfahren durchaus nicht so einfach, d. h., es gelingt nicht immer. Am meisten eignen sich dazu noch Früchte, die einer Nachreife bedürfen. Jedenfalls dürften für Obstliebhaber weitere Versuche dieser Art nicht uninteressant sein. Die Wohlgerüche sind ja heute nicht teuer, die Düfte der Vanille, des Waldmeisters und des Heliotrop, ja selbst die Quintessenz des Fliederduftes werden in der Retorte des Chemikers künstlich hergestellt; das neue Citral ersetzt den Duft des Citronenöls, auch die Fruchtäther macht man nach. Da ließe sich schon den aromalosen Früchten aufhelfen. Jedenfalls kann man durch ein geschicktes Parfümieren des Obstes diesen oder jenen Freund vorübergehend in Staunen über die „neue“ Obstvarietät versetzen. *      

Vergebliche Mühe. (Zu dem Bilde S. 549.) Das Lästern muß doch ein recht vergnügliches Geschäft sein, nach dem Eifer zu schließen, den der boshafte Alte und sein dreister Herr Sohn dabei an den Tag legen. Schade nur, daß es zuweilen seinen Zweck verfehlt: das hübsche Wirtstöchterlein lacht so vergnügt vor sich hin, als hätten die beiden bösen Zungen eitel Loblieder auf einen gewissen Abwesenden gesungen. Jetzt wendet sie den Kopf seitwärts, der aufgehenden Thür zu, und im nächsten Augenblick werden die beiden Lästermäuler voll Schrecken verstummen, denn der bewußte, soeben Eintretende hat kräftige Fäuste und versteht sie zu gebrauchen! Es wird also nichts übrig bleiben als eiliger Rückzug; die geistige Ueberlegenheit muß, wie so oft, der rohen Gewalt weichen, aber in dem besonderen hier dargestellten Fall dürfte die Sympathie des Beschauers ausnahmsweise einmal ganz auf seiten der letzteren sein! Bn.     

In der Ferienkolonie. (Zu dem Bilde S. 553.) Wie herrlich spielt es sich doch hier in dem bäuerlichen Grasgarten voll Sonnenschein und Höhenluft, statt in den heißen Hinterhöfen der Stadt! Das fühlen die kleinen Kolonisten alle Tage neu und genießen recht aus Herzensgrund alles, was die goldenen Ferientage bringen: Spaziergang, Bad und nach der abendlichen Heimkehr die ungeheuren Schüsseln voll Milch und Eierspeisen, zu deren Bereitung die Bäuerin ihre größten Pfannen nehmen [564] muß. Und dann geht’s nochmals hinaus in den Garten, wo die freundliche Lehrerin mit den Mädchen einen Reihen macht, während sich die Jungen auf ihre Weise unterhalten. Das Auge des Menschenfreundes hat hier oft genug Gelegenheit, mit wahrer Befriedigung das sichtliche Aufblühen der blassen, oft recht verkümmerten Stadtkinder wahrzunehmen, die auffallende Veränderung in Haltung und Bewegung, den glücklichen Gesichtsausdruck der kleinen Menschen, die hier zum erstenmal Wald, Vogelsang und Wiesengrün kennenlernen. Wer weiß, ob nicht diese tiefempfundenen Natureindrücke bei manchen den stillen Grund legen zu einem künftigen „Zug aufs Land“ im Gegensatz zu dem unseligen Zug in die Städte, der heute so viel Enttäuschung und Elend schafft. Das wäre denn auch noch eine Wirkung der Ferienkolonie und wahrlich eine sehr erwünschte! Bn. 

Auf der Alpenreise. (Zu dem Bilde S. 561.) Man sieht, es sind gute Freunde, die hier voneinander Abschied nehmen. In manchem früheren Herbst erschien der lustige Maler mit Skizzenbuch und Feldstaffelei, um wochenlang von dem gemütlichen tiroler Wirtshäusel aus seine Streifzüge zu machen, und sie hatten ihn alle gern, die Wirtin samt ihren Buben und Mädeln. Heuer nun brachte er statt des Malgerätes ein liebliches junges Frauchen mit und jetzt geht es nach eintägiger Rast weiter, über die Paßhöhe dem Süden zu. Für die zarte Städterin, die übrigens mit etwas mißtrauischem Blick die harmlose Vertraulichkeit ihres jungen Eheherrn mit seinen schmucken Wirtsleuten betrachtet, mußte ein Maultierchen geschirrt werden, der älteste Bub’ wird es führen, während der junge Gatte auf derben Nägelsohlen nebenher marschiert und ihr all die Schönheit zeigt, die ihn früher entzückte und heute doppelt entzückt. Auf dem Rastplatz kommt dann der vom alten Hausknecht sorglich gefüllte Proviantsack zu Ehren und dort auf luftiger Höhe bei Tannenrauschen und Quellgeriesel mit dem weiten Ausblick über Thal und Berghöhen würde das junge Paar nicht mit den Größten und Reichsten dieser Welt tauschen. Wer einmal ähnliche Glückszeiten erlebt hat, wird das hübsche Bild mit besonderem Anteil betrachten, aber auch andere dürften sich an dem Anblick dieses gemütlichen Bergidylls abseits von dem Getöse der großen Verkehrsstraßen erfreuen. Bn. 

Ansicht von Krems von der Ostseite.
Nach einer Photographie von Franz v. Prandtstetter in Krems a. D.

Das Bildnis der beiden Söhne des Rubens. (Zu unserer Kunstbeilage.) Nach einem Ausspruch Michel Angelos gehört die Kunst keinem Lande an, sie stammt vom Himmel. Drei Städte: Köln, Antwerpen und Siegen, haben sich um die Ehre gestritten, der Geburtsort Peter Paul Rubens’, des Hauptmeisters der Brabanter Malerschule, zu sein. Siegen, eine seiner Zeit nassauische, heute westfälische Stadt hat den Sieg davongetragen. Streit und Sieg haben die Welt nicht sonderlich bewegt, denn auch das Genie gehört keinem Lande an, sein sonnenhaftes Leuchten umfaßt nicht bloß ein begrenztes Stückchen Erde, es hat sein Vaterland überall da, wo es verstanden und geschätzt, wo es geliebt wird. Und so dürften wir den Großmaler der Renaissance auch dann den unserigen nennen, wenn die Wiege des einer Antwerpener Familie entsprossenen Knäbleins auch nicht zufällig am Ufer der Sieg gestanden hätte. In allen Galerien finden sich Werke des fleißigen und vielseitigen Künstlers, der mit dem Instinkte des Genies die Besonnenheit des Talentes und eine nie versagende Schaffenskraft in wunderbarer Weise vereinigte. Die Dresdener Galerie allein besitzt 31 Bilder, die mit einigen wenigen Ausnahmen ausschließlich von Rubens’ eigener Hand gemalt sind. Hinsichtlich der beiden ausgezeichneten Kniestücke „Bildnis eines Herrn, der seine Handschuhe anzieht,“ und „Bildnis einer Dame mit einem Kinde“ herrscht jetzt in Kennerkreisen allerdings die Ansicht, daß sie nicht von Rubens, sondern von seinem besten Schüler, Anton van Dyck, herrühren. Die „Dame mit einem Kinde“ ist wahrscheinlich Jsabella Brant, Rubens’ erste Gemahlin, mit dessen erstgeborenem Sohne Albert. Die bereits etwas spitz gewordenen Züge haben unverkennbare Aehnlichkeit mit dem runderen schönen Frauenantlitz, das Rubens selbst auf dem in der Münchener Pinakothek befindlichen Bilde „Rubens und seine Gemahlin Jsabella“ und dem in den Uffizien zu Florenz hängenden Bildnisse seines jungen Weibes in wunderbarer Feinheit wiedergegeben hat. Den großen, schönen Augen des Kindes, welche denen der Mutter gleichen, begegnen wir auf jenem um 1627 entstandenen Doppelbildnisse der Dresdener Rubensabteilung wieder, das als die Perle derselben und zugleich als eine der herrlichsten Schöpfungen des Meisters bezeichnet werden darf: „Rubens’ Söhne Albert und Nikolaus.“ Aus den liebenswürdigen und durchgeistigten Zügen des den Bruder zärtlich umfassenden älteren Knaben leuchten sie uns wie geheimnisvolle dunkle Sterne entgegen, während der jüngere Knabe seine Blicke auf das Spielzeug in seiner Hand, einen gefesselten Stieglitz, gerichtet hält.

Rubens war nicht bloß ein großer Künstler und ein bedeutender Diplomat, sondern auch ein edel veranlagter, liebenswürdiger Mensch, ein vortrefflicher Gatte und Vater. An seinen Kindern aus erster und zweiter Ehe – vier Jahre nach dem Tode der trefflichen Jsabella Brant, 1630, vermählte sich der Dreiundfünfzigjährige nochmals, und zwar mit einer Verwandten, der sechzehnjährigen, reizenden Helene Fourment – hing er mit einer tiefen und zärtlichen Liebe, doch scheint der hochbegabte Albert seinem Herzen ganz besonders nahe gestanden zu haben. Am 29. Dezember 1628 schreibt er aus Madrid, wohin ihn seine diplomatische Thätigkeit gerufen, an seinen bewährten Freund, den als Historiograph Kaiser Ferdinands III. bekannten Antwerpener Stadtschreiber Gevaerts, welchem er seinen ältesten Sohn anvertraut hatte: „Mein Albertchen bitte ich Dich, wie mein Bild, nicht in Deiner Betstube oder dem Hausgötterheiligtum, sondern in Deinem Wissenschaftstempel zu halten. Ich liebe den Jungen und ernstlich empfehle ich Dir, Fürst meiner Freunde und Führer der Musen, daß Du die Sorge für ihn bei meinen Lebzeiten und nach meinem Tode gemeinschaftlich mit meinem Schwiegervater und meinem Schwager Brant übernimmst.“ Albert Rubens hat die hohen Erwartungen, welche der Vater an seine Geistesanlagen knüpfte, nicht getäuscht. Er stand erst im 17. Lebensjahre, als ihn Philipp IV., hingerissen von der Gewecktheit und Klugheit des liebenswürdigen Künstlerkindes, zum Nachfolger seines Vaters in der Würde eines Sekretärs des geheimen Rats bestimmte. Seine Gelehrsamkeit bekundete er später namentlich als Altertumsforscher. Das Alter des Vaters erreichte er nicht: er starb in seiner Geburtsstadt Antwerpen, erst 43 Jahre alt, am 1. Oktober 1657. Von Nikolaus Rubens’ Lebenslauf ist so gut wie nichts bekannt. Wir wissen nur, daß er bereits im Alter von 37 Jahren vom Tod dahingerafft worden. Das berühmte Doppelbildnis, welches die „Gartenlaube“ mit der vorliegenden Nummer in ausgezeichneter Wiedergabe ihren Lesern vorführt, ist von Rubens bis auf den letzten Strich mit der gleichen künstlerischen Hingabe ausgeführt worden wie die zahlreichen Porträts seiner beiden Gattinnen; in alle diese herrlichen, besonders in der Licht- und Farbenwirkung unübertrefflichen Bilder hat er recht deutlich die Liebe zu den Seinen hineingemalt. Wie mächtig, und fruchtbringend er auch übrigens auf die Kunst der Niederländer gewirkt, von den vier Söhnen des unsterblichen Meisters ist ihm keiner in seinem Künstlerberufe gefolgt; auch lebt sein großer Name nur in seinen Werken fort. Schramm-Macdonald. 


manicula Hierzu Kunstbeilage IX: „Die beiden Söhne des Rubens.“ Von Peter Paul Rubens.

Inhalt: Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt (Schluß). S. 549. – Vergebliche Mühe. Bild. S. 549. – In der Ferienkolonie. Bild. S. 553. – Als Deutsche in Paris. Erinnerungen aus dem Kriegsjahr. Von Klara Biller (Fortsetzung). S. 554. – Die kaiserliche Matrosenstation bei Potsdam. Von Johannes Wilda. S. 557. Mit Abbildungen S. 557 und 558 – Freiheit. Novelle von A. von Klinckowstroem (1. Fortsetzung). S. 559. – Auf der Alpenreise. Bild. S. 561. – Blätter und Blüten: Die neunhundertjäbrige Jubelfeier der Stadt Krems. Von R. v. Enderes S. 563. (Mit Abbildung S. 564.) – Parfümierte Früchte. S. 563. – Vergebliche Mühe. S. 563 (Zu dem Bilde S. 549.) – In der Ferienkolonie. S. 563. (Zu dem Bilde S. 553.) – Auf der Alpenreise. S. 564. (Zu dem Bilde S. 561.) – Das Bildnis der beiden Söbne des Rubens. Von Schramm-Macdonald. S. 564. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.