Die Haselnuß

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Autor: August Butscher
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Titel: Die Haselnuß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, 23, S. 347–351, 371–373
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Haselnuß.


Eine freundliche Geschichte aus dem Walde.


Es ging dem Frühling entgegen. Draußen im Forste keimte es schon lustig auf, und ein duftiger Harzgeruch strich mit dem Winde durch die Tannenreihen, um die sich das Unterholz gehorsam gruppirte, wie geneigt vor der Majestät der Kraft und Größe. So war es aber nur am Tage. Bei Nacht spukte noch der Winter mit Schneewehen oder kaltem Regengeriesel und rächte sich für die lauen Tageslüfte und die Sonnenstrahlen, die hurtigen Spinnen gleich in den Tannenalleen umhergehuscht waren, ein Netz von Licht auf dem Moosboden webend. Stürmisch und fröstelnd war es auch in der Nacht, in der diese Geschichte beginnt.

Um das Forsthaus, das eine Viertelstunde von dem Dorfe Ebensee sich so reinlich und weiß hineingebettet hatte in den grünen Forst, wie eine Glasperle in das Moos, pfiff der Wind, und die Schatten der Hasenußstauden, die das weiße Gebäude umkränzten, nickten gespensterhaft hinein in die braungetäfelte Stube, in der die Lampe so friedlich brannte und der Ofen so freundliche Wärme spendete.

Der Förster Waldraff war drüben in Ebensee in der „Blauen Ente“ und trank seinen Abendschoppen. In der braunen Stube waren nur seine beiden Kinder Ellen und Felix. Der kleine, etwa achtjährige Felix, lag auf dem Sopha und zog das Deckbett, das ihm Ellen gebracht, wie frierend über sich her. Er fieberte, und sein hübsches, kleines Gesicht brannte, während die Glieder froren. Der kleine, eigensinnige Knirps wollte nicht zu Bette, bis Papa käme, obwohl ihm Schwester Ellen aus mehr als zwanzig Gründen, die sie an den schlanken Fingern abzählte, die Nothwendigkeit des Schlafes demonstrirte.

Ellen war etwa zwanzig Jahre alt, hoch und schlank, biegsam wie eine Weide und sanft wie eine Taube; das hörte man schon an der Stimme, die so süß und beschwichtigend reden konnte. Ihr Haar war blond und ihr Auge blauschwarz, wie die Einbeere. Es lag viel Seele darin, und heute war es wie feucht verklärt, als habe sie einen Kummer und möchte lieber weinen als lachen. Sie setzte sich jetzt an ein kleines Piano, das vor dem Spiegel stand, von dem zwei riesige Hirschgeweihe herabdrohten, und sang mit ihrer zarten Altstimme zu dem sanften Tone des Instrumentes ein altes Schlummerliedchen und wiederholte mit eindringlich mahnender Stimme:

„Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du,
Schließe die blauen Guckäugelein zu!“

Aber die blauen Guckäugelein wollten sich eben nicht schließen, obwohl Ellen jetzt mit ihrer feinen weißem Hand darüber hinstrich und eine ihrer schweren Flechten, die sich gelöst, wie ein Windhauch die heißen Wangen des Kindes kühlte.

Auf einmal sagte das Mädchen, ganz in sich verloren, indem ihre schönen Augen das Fenster suchten:

„Wenn nur Felix nicht kommt. Es ist gar so stürmisch.“

„Ich bin ja schon da, lieb Schwesterchen,“ sagte der Kleine erstaunt. „Träumst Du? Sieh, wie die Haselstauden hereinnicken! Das ist schaurig, und – hu, ein Geist!“ schrie er auf einmal auf und preßte zitternd die Hand der Schwester, während seine glühenden Augen entsetzt an dem Fenster hingen, um das die Haselstauden wogten.

„Ein Geist?“ fragte Ellen zitternd, und suchte verwirrt den Boden mit den schönen Augen. „Du phantasirst, Felix. Schlafe doch, bis Papa kommt!“

„Ich sag’ Dir, ein Geist,“ behauptete der Kleine fest, „ich habe ihn deutlich gesehen; er hat sein Gesicht ganz an das Fenster gedrückt, und aus dem Gesichte sahen zwei große glühende Augen schrecklich nach Dir her.“

„Nach mir?“ forschte Ellen.

„Nach Dir – gieb Acht, er kommt noch einmal. Du hast gewiß noch nicht zu Nacht gebetet. Wenn er Dir nur nichts thut! O, er ist so schrecklich und hat einen so langen Bart.“ Und der Kleine spannte seine Arme aus, so weit er konnte.

Ellen mußte lächeln.

„Geister haben wohl keinen Bart,“ meinte sie. „Du hast jedenfalls geträumt. Schlafe jetzt – dann paßt das Träumen.“

Und der Knabe schloß wirklich die Augen und athmete bald tief und schwer. Er schlief.

Ellen schlich nun leise an’s Fenster. Sie schien keine Gespensterfurcht zu kennen, denn sie öffnete es, trotz des kalten Luftzuges, der straußfröhlich seinen Kampf mit dem Lampenlichte begann und daran zerrte, daß es ängstlich zitterte. Es war ja so schwach.

Das Mädchen hatte freilich nicht bemerkt, daß der kalte Luftzug auch den Knaben geweckt hatte, der nun mit weit offenen Augen nach dem Fenster starrte und während der folgenden Scene still und wie gebannt von Entsetzen verharrte. Und es war eigentlich gar nicht entsetzlich, was sich dort am Fenster begab. Aus den Haselstauden trat eine dunkle Gestalt und näherte sich schnell dem Fenster. Der Knabe sah nur einen Augenblick den langen Bart – es war also der Geist.

Der Geist aber faßte nach der Hand Ellen’s und fing an, sie heftig zu küssen. Dann, als er die weichen Haare an seiner [348] Wange fühlte, suchte er nach den frischen Lippen und trank sich dort fest wie ein stiller Zecher. Und Ellen fürchtete sich gar nicht, was dem Knaben schrecklich vorkam. Ja, sie begann sogar mit dem Geiste zu reden.

„Wie kalt Du bist,“ hörte der kleine Kranke sie sagen, „und bei diesem Wetter kommst Du aus dem Dorfe zu mir heraus, und es ist doch schon mehr als elf Uhr.“

„Die Geisterstunde,“ murmelte der kleine Felix, „er wird vom Dorfkirchhofe kommen. O Gott!“

„Alles um Dich, geliebte Ellen,“ sagte der Geist mit dem langen Barte. „Aber darf ich nicht ein wenig hinein in die warme Stube? Mich friert; nur meine Lippen sind warm von Deinen Küssen.“

„Bst!“ warnte Ellen, „der Kleine liegt dort auf dem Sopha; ich habe ihn nicht zu Bett bringen können, aber gottlob, er schläft wenigstens und ich kann doch wieder einmal eine Minute bei Dir sein, lieber Felix, eine Minute nur, denn Papa wird bald kommen.“

„O, er sitzt noch fest in der ‚Blauen Ente‘; ich bin eben erst noch dort gewesen,“ sagte heiter der Geist, der Felix hieß.

„Er ist also unsichtbar,“ calculirte der Knabe, „sonst müßte man ihn in der ‚Blauen Ente‘ gesehen haben. Und Felix heißt er – das ist schrecklich.“ Er schloß die Augen und zog die Decke über die Ohren, um nichts mehr zu hören.

„Es kann nicht gut enden, Felix,“ sagte Ellen, „wenn der Vater von unserer Liebe erfährt. Du bist nur ein armer Unterlehrer, und er ist so stolz und hat mich, wie Du weißt, einem Andern versprochen; sein Wort hält er, und wenn er mehr als ein Herz damit bräche.“

„Wir sind jung, Ellen, und können warten,“ erwiderte der Geist leichthin. „Wenn er sieht, daß Du lieber eine alte Jungfer wirst, als daß Du Dein Herz um Geld verkaufst, wird er nachgeben. Und noch etwas – der Schuldienst in Ebensee ist vacant, weil der alte Lehrer sich pensioniren läßt; ich werde um ihn anhalten.“

„Das wäre etwas, aber nicht viel,“ war Ellen’ s Antwort. „Und dann ist es auch so ungewiß. Der alte Baron Bisam hat das Patronatsrecht, und der ist mehr als kindisch, denn er mag fast hundert Jahre alt sein. Er lebt in nichts als in seiner Münzsammlung, und ich glaube, wer ihm eine alte Münze bringt, die er noch nicht hat, der erhält den Dienst –“

„Und wenn er Bileam’s Esel wäre,“ meinte der Geist, der um einen Schuldienst anhalten wollte, „immerhin! Ich werde es thun; ich verlasse mich auf meinen Mutterwitz, und mit dem alten Herrn wird sich auch reden lassen.“

„Etwas Gutes mag es freilich haben,“ meinte Ellen, „wenn Du den Dienst erhältst; man kann Dich dann doch nicht nach Belieben versetzen, und Du kannst bei mir bleiben.“ Sie preßte den Geist fest an sich und drückte ihr Gesichtchen in den langen schwarzen Bart. Es war ja so kühl draußen.

„Ja – kommt Zeit, kommt Rath,“ erwiderte mit der Logik der Liebe der Geist. „Noch etwas jetzt, Ellen. Sehen wir uns bald wieder in der alten Waldkirche drüben?“

„Bald, aber wann, weiß ich noch nicht,“ gab das Mädchen zurück, „Du wirst es an der Zahl der Rosen erkennen, die ich am Sonntage an der Brust trage. Mein Vater schilt immer, daß ich unsere Topfrosen so schrecklich plündere – o, wenn er die Wahrheit ahnte! Wenn er wüßte, daß der Mann, der mir Clavierstunden gab, mehr mit wegnahm als das Honorar! Es ist eine Sünde von mir, und ich bin so schwach.“

„Drum bist Du ein Weib geworden,“ tröstete der Geist, der früher Clavierstunden gegeben hatte. „Noch eins“, fügte er bei, „ehe ich gehe. Heute habe ich die erste Schlüsselblume gefunden, da ist sie. Und einen Vers habe ich auch dazu gemacht, für Dich und mich.“ Er sagte heiter, indem er die Blume an Ellen’s Brust befestigte:

„Diesen Schlüssel will ich stecken
An Dein Herz, das freudenwarme,
Und es dann voll Kraft bedecken
Mit der Klammer meiner Arme.“

Und er that, wie er gesagt, umklammerte die zarte Gestalt und löste die Klammern nicht eher, als bis er in der Ferne einen Hund anschlagen hörte. Jetzt gab es ein schnelles Trennen. Der Geist verschwand, wie weggehaucht, unter den Haselstauden, und Ellen schloß das Fenster. Gleich darauf trat der Förster ein und hing die Flinte an das Hirschgeweih, das über dem Sopha angeheftet war.

„Ich habe lang warten lassen,“ begann er, „es ist aber auch ein Hundewetter und der Wein war gut. Dann ist auch noch der alte Baron Bisam heruntergekommen und hat eine ewige Geschichte von seinen Münzen erzählt. Und man muß ihn doch anhören. Wie geht es denn dem kleinen Schlingel da?“ fuhr er fort, während Ellen sich in den Schatten vergrub, der in der Tischecke herrschte. Waldraff beugte sich über den Knaben, der schweißgebadet unter der Decke lag und die kleinen Hände zitternd um die großen des Vaters schlang.

„O Papa,“ konnte er nur sagen; dann fing er zu weinen an.

„Es ist schlimmer mit dem armen Felix,“ meinte der Förster und sah besorgt in die großen Pupillen des Kleinen. „Ich will Dich hinauftragen – aber weine nur nicht! Thut Dir etwas weh, liebes Herz?“

Der Knabe richtete sich auf und sagte dann hastig:

„O Papa, Ellen muß sterben.“

„Sterben? – warum sterben?“

„Sie hat einen Geist geküßt.“

Ellen stieß einen leisen Schrei aus; sie wollte vorspringen und ihre Hand auf den Mund des Schwätzers legen. Aber der Förster sagte beschwichtigend zu ihr:

„Er phantasirt; wir müssen morgen zum Arzt schicken.“

„Was heißt phantasiren, Papa?“ fragte hartnäckig der Knabe.

„Das heißt im Traume reden von Dingen, die gar nicht sind, oder verkehrt reden,“ erläuterte der Förster, dem eben keine bessere Erklärung bei der Hand war und der eine genauere auch nicht für nöthig hielt.

„Aber ich habe ja nicht geträumt und träume auch jetzt nicht,“ sagte eigensinnig der Knirps. „Ich bin wach gewesen. Dort am Fenster sind sie beieinander gewesen, Ellen und der Geist, und haben sich geküßt, o, so oft, es war schrecklich. Der Geist hat einen langen Bart und heißt Felix, wie ich. Er hat gesagt, er sei auch in der ‚Blauen Ente‘ gewesen und habe Dich gesehn. O, ich hab’ es wohl verstanden, dann aber habe ich die Decke über die Ohren gezogen. Es ist so schrecklich, und Ellen muß gewiß sterben.“

Die Genannte verhüllte das Gesicht, und Todesangst durchzitterte ihr Herz.

Der Förster hatte sich stumm erhoben, trat auf sie zu und zog sie in das Licht der Lampe. Er sah in ein todtenbleiches Gesicht mit scheuen Augen, und die Hand, die er hielt, zitterte wie draußen die Zweige der Haselstauden.

„Rede!“ donnerte er sie an und die Enden seines weißen Schnurrbarts zitterten.

Aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht reden. „Hat Dir der Geist die Blume da gegeben?“ fragte mit zornigem Hohne der Förster, „ich habe sie vorher im Knopfloche eines Menschen gesehen. Rede!“ donnerte er noch lauter.

Und der Donner fand endlich ein schwaches Echo.

„O Vater, zürnt nicht zu sehr! Ich will ja Alles gestehen,“ sagte Ellen mit bebenden Lippen. „Es ist der Felix gewesen. Es war in allen Ehren – und – und wir lieben uns und können uns nicht lassen.“

„Ich kenne den Felix,“ knurrte der Alte, „Du brauchst nicht weiter zu reden.“ Er schleuderte die Hand seiner Tochter hinweg und durchmaß die Stube mit mächtigen Schritten. Er kämpfte schwer mit sich, sonst wäre wohl die sehnige Faust auf das blonde Haar seiner Tochter niedergefallen, die jetzt mit gefalteten Händen im Lichte der Lampe stand – eine büßende Magdalena.

„Du weißt,“ grollte jetzt Waldraff dumpf, „daß ich Dich mit meinem Mannesworte dem jungen Leon Eiler versprochen habe, seinem Vater eigentlich, aber das ist dasselbe. Geh’ zu Bett!“ fuhr er dann auf einmal auf. „Hinter dem Rücken des Vaters sich an einen jungen Menschen wegwerfen, ohne Amt, ohne Vermögen, heimlich, einem gegebenen Worte entgegen. Und das ist meine Tochter! Geh’ zum – geh’ zu Bett!“ verbesserte er sich.

[349] Ellen ging stumm mit schwankenden Schritten; sie konnte nicht mehr gute Nacht sagen.

Als der Vater den kleinen Felix, der wie Espenlaub zitterte, hinauftrug in die Kammer, sagte dieser mit Thränen in den Augen: „Du wirst sehen, Papa, Ellen muß sterben.“




Der Baron Bisam hauste fast wie ein Einsiedler in dem alten verwitterten Schlosse Ebensee. Er hatte Niemanden bei sich als eine taube Haushälterin und einen uralten Diener, der seinem Herrn im Alter wenig nachstand und ebenso kindisch war wie der gnädige Herr, den unser Herrgott vergessen hatte von der Welt abzurufen. Der Verwalter wohnte im Dorfe und führte Rechnung für seinen Herrn, der reiche Forsten und viele hundert Morgen Felder besaß. Er selbst kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt als um seine Münzsammlung, für die er sein altes Leben gelassen hätte, wenn sie mit ihm gegangen wäre in’s Jenseits. Im Sammeln alter Münzen war der Alte von Ebensee unermüdlich, und seine Gedanken drehten sich nur um diese seine Welt. Es hatte sich in seinem Gehirne eine Art Manie festgesetzt, die den Mittelpunkt seiner geistigen Thätigkeit schon seit langen Jahren bildete. Er wußte nicht mehr, wie alt er war. „Fast hundert,“ sagte er, wenn man ihn fragte.

An dem verrosteten Klingelzuge am Schlosse zog, einige Tage nach den eben erzählten Begebenheiten, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der einen langen schwarzen Bart trug. In seinen braunen Augen blitzte froher Muth, und ein etwas schwärmerischer Zug um den Mund ließ ihn jünger erscheinen, als er war.

Der uralte Diener öffnete und fragte mit einem faden Lächeln nach seinem Begehr.

„Ich wünsche den Herrn Baron Bisam zu sprechen,“ erklärte bescheiden der Ankömmling.

„Droben bei seinen Kindern,“ sagte der Alte mit einem schlau sein sollenden Lächeln, indem er mit den beiden Zeigefingern eine kreisende Bewegung machte. „Frau Mike wird Sie hinaufführen.“ Dann fügte er noch leise hinzu:

„Haben Sie einen?“

„Was für einen?“

„Einen Nero?“

„Ist mir unverständlich.“

„Wird schon werden. Gehen Sie nur!“

Frau Mike, eine uralte Person mit schneeweißen Haaren, führte unsern Geist, denn er war es, die alte Eichentreppe hinauf und suchte in seinen Zügen zu lesen, was ihn wohl herführe.

Felix redete sie freundlich an, indem er sie auf die Schulter tippte und sagte:

„Es geht eben etwas langsam im Alter, gute Frau.“

„Ein neues Kleid, meinen Sie?“ antwortete sie mitleidig lächelnd. „Es ist wenigstens seine vierzig Jahre alt.“ Sie hatte aus seiner Handbewegung die Frage nach dem Alter ihres Kleides geschlossen.

Er rief ihr jetzt laut in das Ohr: „Können oder wollen Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen bei dem gnädigen Herrn? Ich bin ein Bewerber um den Schuldienst in Ebensee.“

„Ein Gerber sind Sie aus Ebensee?“ war die erstaunte Antwort. „Dann müssen Sie wohl noch nicht lange in das Dorf gezogen sein; mir ist nichts von Ihnen bekannt. Nimmt mich Wunder, was Sie bei dem Baron wollen. Haben Sie vielleicht in einer Lohgrube Münzen gefunden?“

„Nein,“ sagte er lachend und schüttelte den Kopf.

„Dann haben Sie einen ‚Metzgergang‘ gemacht,“ meinte die Alte mitleidig.

„Einen Metzgergang als Gerber?“ murmelte Felix leise und klopfte an die bezeichnete Thür.

„Herein!“ schnarrte eine unangenehme Fistel.

Der Unterlehrer von Ebensee befand sich in einem hohen gewölbten Gemach mit zwei Fensterstöcken, durch deren bleiumrahmte kleine Fenster das Morgenlicht fiel. Der Baron, ein gebücktes Männchen mit einem weißen Haarkranz unter dem schwarzen Hauskäppchen, schlittete in ungeheueren Filzschuhen in dem Gemache auf und ab und warf die Schöße seines Schlafrockes immer wie fröstelnd übereinander. Von Zeit zu Zeit blieb er vor einem riesigen Secretäre stehen, in dem eine Unmasse kleiner Fächer sich befand, so daß er mit seinen Aufschriften auf Porcellan fast einem Arzneikasten glich.

Er schien den Eingetretenen schon wieder vergessen zu haben, denn er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein wasserfarbenes Auge streifte den Besuch so kalt, als ob er ein Luftgebilde wäre, durch das er hindurchsähe. Endlich schien er sich zu finden und schnarrte:

„Wie heißen Sie?“

„Felix, gnädiger Herr,“ war die Antwort.

„Felix – der Glückliche,“ murmelte der alte Baron und schien an diesen Namen eine lange Reihe von Gedanken zu knüpfen, denn er schlittete wieder emsig murmelnd auf und ab.

„Wie noch?“ fragte er endlich. „Den Geschlechtsnamen meine ich.“

„Kaiser, Herr Baron.“

„Kaiser? Kaiser Nero?“ entfuhr hastig den Lippen des Alten. Doch besann er sich gleich wieder und sagte wie entschuldigend: „Ich muß immer an ihn denken. Aber –“ und er trat eilfertig näher – „haben Sie vielleicht einen?“

„Was für ‚einen‘?“ fragte Felix erstaunt, wie vorher unten am Schloßthore.

„Einen Nero meine ich, haben Sie keinen Nero?“ fragte der Baron ungeduldig.

Felix vermochte die Frage nicht zu fassen. Dann glaubte er endlich den Sinn derselben zu verstehen und sagte bescheiden:

„Der kärgliche Gehalt eines Unterlehrers erlaubt den Luxus eines Hundes nicht.“

Mit kindischem Erstaunen betrachtete ihn der alte Baron von oben bis unten und schien nicht zu begreifen, wie man mit solch einem langen Barte so einfältig sein könnte.

„Einen Kaiser Nero meine ich, erklärte er endlich.

„Ich habe noch nicht die Ehre, die Frage des gnädigen Herrn zu begreifen.“

„Nun, so will ich sehr deutlich sein,“ sagte der Alte wichtig. „Ich suche schon viele Jahre nach einem Goldstücke aus der Zeit und mit dem Bildnisse des Kaisers Nero. Es gehört zur Vervollständigung meiner Sammlung, und ich habe keine Ruhe, bis ich einen Nero habe.“

„Nero, Nero,“ schnarrte auf einmal eine sonderbare Stimme aus der Ecke des Gemachs, so daß Felix erstaunt herumfuhr.

Er mußte unwillkürlich lachen, als er eine Dohle herbeihüpfen sah, die unermüdlich „Nero, Nero!“ knarrte und die scharfen Augen auf die glänzenden Stiefeln des Besuchers richtete, um diese gleich nachher mit ihrem Schnabel zu bearbeiten.

„Mein kleiner Nero,“ sagte kindisch lächelnd der Baron und ließ die Dohle eine Krume Brod von seinen Lippen nehmen. „Sie erinnert mich immer an das, was mir fehlt.“ Dann schlittete er, mit der Dohle auf der Hand, wieder auf und ab und sagte wie zu sich selber: „Ja, der Graf Hinko drüben auf Hackenburg, der hat einen herrlichen Nero, und ich soll ihn erben, wenn er stirbt. Aber er ist fast dreißig Jahre jünger als ich – und ich bin fast hundert,“ sagte er mit weinerlicher Stimme. – „Ja, was wollen Sie denn,“ wandte er sich endlich wieder an Felix, den er eine Zeitlang vergessen hatte, „wenn Sie keinen Nero haben?“

Dem Bewerber war es ziemlich schwül und unheimlich zu Muthe hier, in diesem engen Gemache bei dem kindischen Alten und seiner boshaften Dohle. Doch wagte er einen Anlauf und sagte laut: „Ich bin gegenwärtig Unterlehrer in Ebensee, wie der gnädige Herr wohl wissen, und da der Schuldienst erledigt ist, bitte ich geziemend, der gnädige Herr Baron möchte ihn mir kraft seiner Patronatsgerechtigkeit übertragen. Hier ist meine Supplik mit den nöthigen Zeugnissen. Er zog ein Paket aus der Rocktasche und überreichte es dem Patronatsherrn, der es mit einer wichtigen Miene entgegennahm und dann kurz sagte:

„So? Richtig. Wie alt sind Sie denn?“

„Dreißig Jahre, gnädiger Herr.“

„Ein halbes Kind noch,“ murmelte der Alte und betrachtete dann wie erstaunt den langen schwarzen Bart. „Haben Sie gar nichts mitgebracht?“ forschte er weiter.

„Ich besitze nichts als meinen guten Namen und sehr gute Zeugnisse. Belieben der Herr Baron nur zu lesen!“

[350] „Hm, das ist ungeschickt,“ sagte der Alte mitleidig. „Es sind schon drei Bewerber hier gewesen, und jeder hat mir ein interessantes Stück gebracht.“ Er riß einige der Schubladen auf und nahm aus einem Sammetetui eine dreieckige Münze. „Sehen Sie, das ist ein seltenes Stück; der hat Aussichten, gegründete Aussichten. Aber,“ fügte er hinzu, „Sie gefallen mir. Bringen Sie mir einen Nero, dann sollen Sie den Dienst haben!“ Er schlittete wieder weiter und rieb seine alten runzeligen Hände.

„Das ist sehr schwer, Herr Baron,“ wagte Felix einzuwerfen. „Dürfte es nicht ohnedem gehen? Offen gestanden, ich habe mein Herz an ein holdes Mädchen verloren, und – ich denke, wenn ich den Dienst nicht erhalte, so sind Herz und Dienst und Mädchen zugleich verloren.“

Er konnte den Humor selbst jetzt nicht lassen und erwartete die Wirkung seiner Argumente.

„Hm, hm, gerade da fällt mir ein,“ sagte wichtig der Alte, „der Förster war neulich bei mir und meinte, man solle darauf hinwirken, daß der Unterlehrer von Ebensee versetzt werde. Hm, hm, wissen Sie auch, warum?“

Felix erbleichte, erwiderte aber nichts.

„Die Ellen, die schöne Ellen!“ kicherte der Baron. „Ich begreife es, erinnere mich auch – – in den Haselstauden im Herbste, … nicht wahr? hm, hm!“

„Ja, da haben wir Nüsse gesucht, Herr Baron,“ versicherte Felix mit möglichster Unbefangenheit.

„Nüsse und Küsse, hab’s wohl gesehen,“ krächzte der Alte und schlittete weiter. „Nun, junges Blut, kann mir gleich sein; aber dem Förster ist es nicht gleich,“ fuhr er fort.

„Nero, Nero,“ krächzte die Dohle aus ihrem Winkel und kollerte einen goldenen Ring über die Diele, den ihr der Baron zum Spielen gegeben hatte.

„Ja, ja, Wütherich, gut gemacht, gut gejagt, kleiner Nero! Aber“ – er blickte stumpf auf seine Fächer – „einen Nero müssen Sie mir schaffen! Dann bekommen Sie den Dienst und vielleicht die schöne Ellen auch. Der Förster ist hochmüthig, fast hochmüthiger als ich,“ setzte er mit naiver Selbstironie hinzu. „Ich werde noch einmal mit ihm reden.“ Sogleich aber auf den alten Gedanken überspringend, den er wie ein Tretrad bearbeitete, sagte er, indem er ein altes vergilbtes Register aus einem Fache hervorholte:

„Mein Großvater hat eine herrliche Münzsammlung angelegt. Hier ist Stück für Stück verzeichnet und darunter war ein Nero –“

„Nero, Nero,“ heulte die Dohle als Echo.

„Ein Nero, sage ich Ihnen, wie der Graf Hinko keinen hat. Es ist zum Verzweifeln. Denken Sie, die Münzsammlung ist fort, gestohlen, verkauft, versteckt, verloren, was weiß ich!“ Er weinte fast, der alte kindische Mann, und schlittete in heller Verzweiflung auf und ab. „Geben Sie mir meinen Nero wieder, und Sie sollen den Dienst und die schöne Ellen und Alles haben. Nur meinen Nero möchte ich.“

„Nero, Nero!“ echote die Dohle.

Felix wußte nicht, sollte er lachen oder weinen. Er that aber keines von Beidem, sondern sagte mit sauersüßem Gesichte, indem er sich empfahl:

„Ich will einmal nachforschen und bitte nur, die Verleihung des Dienstes nicht übereilen zu wollen. Kommt Zeit, kommt Rath,“ sagte er wie beschwichtigend zu dem alten Kinde, das wieder trostlos auf seine Fächer starrte.

„Meinen Sie?“ fuhr der Baron auf. „Also suchen Sie – aber nicht Nüsse und Küsse – suchen Sie meinen Nero!“

„Nero, Nero!“ kreischte die Dohle noch, und im nächsten Augenblicke stand Felix auf dem Gange und freute sich, wenigstens nicht ganz dem Wütherich Nero zum Opfer gefallen zu sein.

Er ging an dem uralten Diener vorbei, der ihn wieder fade anlächelte, und schlug den Weg nach der sogenannten Waldkirche ein. –

Die Waldkirche war der Rest eines alten Klosters, dessen Bewohner längst weggezogen waren. Sie gehörte zu dem Gute des Barons Bisam, diente aber längst nicht mehr zum gottesdienstlichen Gebrauche. Unter ihren Steinfliesen, die mit alten Figuren und ausgetretenen Steinlettern bedeckt waren, ruhten die ehemaligen Aebte des Klosters in Metallsärgen. Alles war alt und zerfallen; das Weihwasserbecken war umgestürzt; die Fenster waren zerborsten; selbst das Crucifix auf dem Hauptaltare, der noch stand, war in Stücke zerfallen, und nur der eiserne Fuß ragte kahl in die Höhe. Die Steine hatten alle Risse und Höhlungen, und aus ihren Ritzen krochen die Ranken der Brombeere und falbes Moos. Zu den Fenstern herein nickten, wie am Forsthause, Haselstauden, die sich eben begrünten. Sie waren das Bild des Lebens gegen den Tod da innen. Ueberall zitterte der Staub nieder, wenn ein Fußtritt in dem alten Gemäuer hörbar wurde, und dann schrieen die Schwalben und Elstern, die in den alten Winkeln hausten.

Auf den Stufen des Altars saß Ellen; sie glich einem Engel, der an den Gräbern der Vergangenheit trauert. Ja, sie trauerte, aber über die Gegenwart, die so gar nicht frühlingsgrün war für sie, sondern herbstlich kahl. Sie war heimlich herübergeschlichen vom Forsthause, das nicht weit entfernt war – sie wartete auf Felix.

Was hätten wohl die alten Herren da unten gesagt, wenn sie gesehen hätten, wie es da oben ein Stelldichein gab zwischen Liebenden? Wer weiß es? Sie hätten vielleicht trübe gelächelt mit ihren bleichen Gesichtern und geschwiegen, wie jetzt.

Bald saß Felix an der Seite Ellen’s und drückte sie fest an sich, denn es war gar kühl in den alten dicken Mauern. Er hatte an den Rosen, die sie am Sonntage an der Brust getragen, die Bestellung für den heutigen Tag erkannt.

„Was bringst Du Gutes?“ fragte sie.

„Wenig,“ antwortete er. „Der Baron ist ein completer Narr, und wenn ich ihm nichts vorschwindeln kann, mit einer Goldmünze nämlich, die er verlangt, kann mein Stündlein in Ebensee bald schlagen.“ Er erzählte kurz, aber mit so komischen Randglossen seine Audienz, daß auch über Ellen’s Lippen ein Lächeln hinzitterte.

„Es könnte schlimmer sein,“ meinte sie, „obwohl es schlimm genug ist, daß mein Vater auf Deine Beseitigung sinnt. Ich bringe Schlimmeres.“ Und jetzt erzählte sie die Begebnisse jener Sturmnacht, deren Nachwehen ihn bei diesen Eröffnungen kühl durchschauerten. „Das Schlimmste ist,“ endete sie, „daß mein Vater den Sohn seines Freundes, dem er meine Hand zugesagt, zum Besuche eingeladen hat. Warum, kannst Du Dir denken. Es ist drei Jahre, daß er auf Besuch bei mir war, und ich fürchte für diesmal Alles.“

„Es muß bald eine Wendung zum Bessern nehmen, Ellen,“ beruhigte Felix. „Mein fröhlicher Sinn hat mich noch nicht verlassen, und das ist ein gutes Zeichen. Da, ein neues Andenken!“ Er nahm ein Sträußchen von Veilchen aus dem Knopfloche und steckte es, wie damals die Schlüsselblume, an Ellen’s Brust, indem er sagte:

„Erst wenn Du ein Paar Thränen auf diese Blümchen geweint hast, paßt mein Vers, den ich dazu gemacht habe, denn bei dem Thau habe ich an Deine Thränen gedacht.“ Er recitirte:

„O mein Veilchen, zartes, blaues!
Sag’ mir eine Blume, welche
Schöner sei als mit des Thaues
Perlrund du in deinem Kelche.“

„O wie schön das ist und wie lieb Du bist!“ sagte Ellen mit ihrer verschleierten Stimme und gab ihm einen süßen Kuß.

„Jetzt mußt Du mir aber auch ein Andenken schenken,“ bat Felix.

„Was kann ich Dir geben, daß es der Vater nicht erführe?“ meinte sie sorgend. „Einen Ring vermißt er sogleich; die Halskette hier ist von meiner Mutter selig und sonst habe ich nichts.“ Sie suchte in ihrer Tasche, und plötzlich ging ein schelmisches Lächeln sonnig über ihre frischen Lippen. „Weißt Du noch, Felix,“ sagte sie dann mit einem Anfluge des frühern Jugendübermuthes, „wie wir im letzten Herbste so oft Haselnüsse zu suchen gingen und –“

„Nüsse und Küsse,“ lachte Felix, dem der Baron Bisam einfiel.

„Ich habe einen ganzen Korb voll zusammengebracht. Aber wie gewonnen, so zerronnen; der große Felix hat sie mit Mühe und Noth gesammelt und der kleine Felix hat sie leichtfertig aufgegessen – bis auf eine, die ich heute gefunden habe und aufheben wollte als Andenken an Dich. Da Du aber eines [351] von mir willst und ich nichts Besseres habe, sollst Du sie bekommen, bis etwas Besseres nachkommt.“

Sie nahm eine schön gebräunte Haselnuß aus der Tasche und hielt sie mit ihren rothen Lippen fest. Sie sah dabei so komisch aus, daß Felix laut auflachen mußte.

„Ich will sie von Deinen Lippen picken oder küssen, wie man sagen will,“ rief er scherzend und erhaschte wirklich mit einem Kusse die Frucht, die aus einer so schönen Blume wuchs. Und beide lachten wieder herzlich miteinander nach langer Zeit.

„Wer weiß, zu was die Nuß gut sein mag,“ meinte Ellen mit komischer Wichtigkeit. „Man muß nichts verachten, sie kann vielleicht Glück bringen und wir könnten es wohl brauchen.“

„Hoffen wir es,“ sagte Felix heiter, dem schon wieder Alles voll Sonne erschien, „Sieh, wie die Haselstauden hereinwinken! Sie wünschen uns Glück.“

„Jawohl, wir wünschen Euch Glück,“ rief eine zarte Stimme zum hohen Kirchenfenster herein und eine große Haselstaude verneigte sich bis in die Fensteröffnung. Obenauf saß der kleine Felix und klatschte in die Hände.

„Jetzt weiß ich,“ rief der boshafte Knirps, „wer der Geist ist, der Felix heißt und einen so langen Bart hat.“ Er spreizte die Hände auseinander und schaukelte übermüthig auf der schwanken Staude. Indem er aus der Fensteröffnung auf den Altar sprang und von diesem zu den zwei Bestürzten, setzte er mit kindischer Wichtigkeit hinzu:

„Ich weiß jetzt, daß Ellen nicht sterben muß,“ und indem er sie küßte, flüsterte er ihr in’s Ohr: „Ich werde Papa nichts sagen. Bist Du dann zufrieden, lieb Schwesterchen?“

Und sie war zufrieden.

[371] Ein Herbstnachmittag lag blau und sonnig über dem Walde, still und feierlich, als wäre Sonntag und Alles wäre versunken in ein inbrünstiges Gebet. Die Birken standen wie gelbe Standarten im grünen Haselgesträuch, und die Nüsse des letzteren fielen überreif nieder in’s Moos.

Felix und Ellen konnten nicht mehr mit einander gehen, um Nüsse und Küsse zu pflücken, denn der alte Waldraff hielt sie streng geschieden. Er hatte keine fernere Annäherung bemerkt und glaubte, Ellen ergebe sich in ihr Schicksal und der langbärtige Unterlehrer sei ungefährlich geworden. Noch war der Schuldienst in Ebensee unbesetzt, denn es hatten sich Competenzstreitigkeiten erhoben, die der alte Baron mit merkwürdiger Hartnäckigkeit zu einem für ihn günstigen Ende führte. Er verglich sich nach Beendigung der Streitsache mit großer Selbstgefälligkeit mit Kaiser Nero, der Alles durchgeführt habe, sogar den Brand der Stadt Rom. Es mußte sich jetzt bald für Felix entscheiden, und wenn ihm nicht Kaiser Nero zu Hülfe kam, war guter Rath theuer.

Er war heute wieder zur alten Waldkirche gegangen, aber nicht um Nüsse, sondern um Küsse. Das Rosenorakel hatte ihn auf heute berufen, und er erwartete Wichtiges vom heutigen Tage. Im Forsthause war nämlich, wie er wohl wußte, Besuch aus der Stadt, der vom Vater protegirte Nebenbuhler, den Felix in’s Pfefferland wünschte. Er war begierig, was Ellen sagen und thun werde.

Die alte Kirche war wundersam vergoldet von der Herbstsonne, und ein breiter Strahl ruhte auf den Altarstufen, auf denen Felix saß oder eigentlich lag. Er hatte sich nämlich weit vornübergebeugt und schnitzelte eifrig an einem kleinen Gegenstande herum. Es war die Haselnuß, die er von Ellen’s Lippen gepflückt und in die er sorgfältig etwas gravirte.

Bald traten die Buchstaben deutlich hervor, und er flüsterte leise den Namen vor sich hin, den er hineingeschnitten in die braune Nuß: „Ellen.“

„Ich bin ein ganzes Kind,“ murmelte er, „obwohl der Baron meint, ich sei nur ein halbes. Ich werde die Nuß an meiner Uhrkette tragen, dann ist Ellen gut angebunden.“ Er mußte lächeln über seine Phantasien. „Jetzt noch ein Herz darüber als Symbol meiner Liebe,“ fügte er hinzu und ging sofort an die Arbeit.

Auf einmal wich ihm die Nuß unter einem zu starken Drucke unter den Fingern, machte einen Satz und kollerte dann die Stufen hinunter, so daß er sie einen Augenblick aus den Augen verlor. Er begann sofort Jagd auf sie zu machen und entdeckte sie auch bald in einer Steinritze, wo sie sich eingezwängt hatte und unter dem Drucke seiner Finger sich noch weiter in die Spalte hinunterschob. Mit aller Anstrengung vermochte er nicht sie heraufzuzwängen.

„Was fangen wir jetzt an?“ fragte er sich und suchte nach einem Gegenstande, den er als Hebestange hätte benutzen können. Sein Auge fiel sofort auf den eisernen Fuß des ehemaligen Crucifixes, der noch in dem metallenen Sockel stand. Rasch drehte er ihn aus dem zerbröckelnden Steine und hatte den kräftigsten Hebel gewonnen.

„Was thut man doch um eine Nuß!“ schalt er sich selber lächelnd, als er das Eisenstück in die Steinfuge einsetzte. Ein Druck – die Platte wich, und eine Wolke von Staub quoll aus der Oeffnung herauf, in welche die Haselnuß mit einem klingenden „Tipp“ hinuntergefallen war. Als die Wolke verschwommen, stand Felix sprachlos vor der Oeffnung und rieb sich wiederholt die Augen, denn ihm war, als träume er. Die entsprungene Nuß lag wie eine braune Perle in einer mit Silberstücken gefüllten Urne obenauf, und der Name „Ellen“ blickte so harmlos aus dem Schatze herauf, als gehöre er zu demselben.

Der Schatzfinder hatte sich aber bald wieder gefaßt, hob die Last schnell zu Tage und stellte sie in den breiten Sonnenstrahl, der auf dem Altare schlief. Felix setzte sich nieder, denn seine Kniee zitterten. Er sah von Zeit zu Zeit schüchtern zur Seite, wie um sich zu überzeugen, daß es kein Spuk sei. Eine ganze Reihe von Combinationen drängte sich in seinem Kopfe, auf den er beide Hände preßte, so daß er den Eintritt Ellen’s gar nicht bemerkte.

Ellen wußte offenbar auch nicht, wie ihr geschah, denn sie starrte lange mit verwunderten Blicken auf den Silberschatz, der wie eine Krone leuchtete und eine Haselnuß als Gipfelperle trug.

„Ellen,“ fuhr Felix auf, „Ellen, ich bin reich. Dort“ – er wies auf die dunkle Oeffnung – „dort habe ich den Schatz gefunden, gefunden durch die Haselnuß, die ich von Deinen Lippen naschte und in die ich Deinen süßen Namen eingrub. Ellen, wir werden glücklich sein.“ Er zitterte vor Aufregung.

„Gott sei’s gedankt!“ flüsterte das erregte Mädchen. „Es ist hohe Zeit. Der mir bestimmte Bräutigam aus der Stadt ist angekommen, und der Vater hat mir schon bedeutet, daß er ein Ende machen werde mit mir. O, es wäre ein Ende mit Schrecken! Aber Alles wird nun gut werden. O Felix, Du hast einen bedeutungsvollen Namen, Felix – der Glückliche.“

Und er trank glücklich, der Glückliche, an den Lippen, die für ihn blühten.

[372] „Und wo sind sie?“ fragte er dann.

„Im Walde, sonst hätte ich nicht gehen können,“ war die Antwort.

Die beiden Glücklichen hatten das Anfahren eines Wagens überhört, denn die ganze Welt war für sie untergegangen, sie hätten die Posaunen des jüngsten Gerichtes nicht vernommen.

„Jetzt wollen wir aber auch nach unserm Schatze sehen,“ begann Felix, der ruhiger geworden war. „Er wird sich hoffentlich unter unseren Händen nicht in dürres Laub verwandeln.“

Nachdem er die schönste Perle, die Haselnuß, sorgfältig geborgen hatte, ging er an die Untersuchung des Schatzes. Er nahm Stück um Stück heraus und murmelte beim Lesen der Inschriften und der Jahreszahlen: „Maria Theresia, Kaiser Ferdinand, Hamburg, 1246, 1525 – das sind ja lauter alte Münzen, einige Jahreszahlen sind gar nicht mehr zu erkennen. Herr des Himmels!“ fuhr er auf einmal auf, „das ist nichts Anderes als die alte Münzsammlung, von der mir der Baron Bisam erzählte. O Gott, jetzt ist Alles verloren. Das Geld gehört Niemandem anders, als dem Barone.“ Er schlug die Hände vor’s Gesicht.

„Jawohl, dem Baron, Niemand anders als dem Baron,“ krächzte eine überschnappende Fistel aus dem Schiffe der Kirche herauf, und der alte Baron schlittete in höchster Eile in den Chor herauf, während er die Arme in die Luft warf und kreischend lachte.

Ihm nach trippelte die Dohle und schrie aus Leibeskräften: „Nero, Nero!“

An der Kirchthür aber stand der alte Diener in seiner fadenscheinigen Livrée, rieb die Hände und lächelte stumpf vor sich hin. Als wäre ein Geist erschienen, fuhren die beiden Liebenden auf und sahen mit neugierigem Entsetzen, wie der kindische Bavon die Arme um die Urne schlang, dann mit den Händen in den Silberstücken wühlte und wie wahnsinnig auflachte.

Auf einmal schien er einem neuen Gedanken zu folgen, denn er schüttete den ganzen Inhalt der Urne auf die Altarplatte, wühlte darin mit zitternden Händen umher und schrie dann mit seiner spitzen Stimme, wie wahnwitzig: „Ein Nero, mein Nero, mein Kaiser Nero!“

„Nero, Nero!“ kreischte auch die Dohle und flatterte auf den Altar, um dem alten Barone das gefundene Goldstück aus den Händen zu picken. Aber er ließ es nicht los, sondern murmelte immer nur entzückt vor sich hin:

„Jetzt kann sich der Graf Hinko von Hackenburg trollen mit seinem Nero. Der meinige ist zehnmal schöner, jawohl, zehnmal schöner.“

Und es war wirklich ein schönes Goldstück, mit deutlicher Inschrift und dem scharfausgeprägten Brustbilde des Kaisers Nero. Ellen und Felix mußten es wohl zwanzigmal von beiden Seiten betrachten, und der Alte wurde nicht müde, ihnen den hohen Werth des Goldstücks zu erklären. Er war ruhiger geworden, denn die schönste Hoffnung seiner alten Tage war erfüllt. Er schien die Anwesenheit der Beiden gar nicht auffallend zu finden, und erst nach einer langen Pause fragte er, welches Wunder ihn in den Besitz der alten Münzsammlung gesetzt habe.

Felix erklärte ihm Alles, und der Alte starrte mit Verwunderung auf die Haselnuß, der er eine eigenthümlich geheimnißvolle Kraft zuzuschreiben schien, denn er streichelte sie schüchtern mit seinen kleinen runzeligen Händen und flüsterte andächtig: „Ellen – Nüsse – Küsse! Es ist merkwürdig! – Sie brauchen nicht so traurig zu sein, junger Mann!“ sagte er dann zu Felix. „Der alte Baron Bisam weiß schon, was sich schickt.“ Er rieb die Hände. „Felix heißen Sie? Felix – der Glückliche. Hm, wir werden’s schon machen. Sie sollen Geld genug haben und – der Kaiser Nero wird’s recht machen.“ Er versank wieder in den Anblick des goldenen Wütherichs.

Zu der schweigenden Gruppe traten auf einmal der Förster Waldraff mit dem kleinen Felix und einem hübschen jungen Manne, der aufmerksam die alten Inschriften an den Wänden betrachtete.

„Was zum Henker ist denn da?“ fragte Waldraff mit einem Gemische von Zorn und Verwunderung.

Ellen war todtenbleich, Felix aber stand mit hochgehobenem Haupte. Er wollte ein Mann sein in der Gefahr.

„Ei, Papa, sieh doch das viele Geld!“ jauchzte der kleine Felix. „Und der Geist ist auch dabei. Man sagt ja, bei einem Schatze müsse jedesmal ein Geist sein.“

Der Baron lachte wie ein Kind bei dem unbeabsichtigten Witze des kleinen Knirpses und fragte dann: „Wie kommen wir denn hier eigentlich zusammen?“

„Entschuldigen Herr Baron!“ sagte Waldraff trocken, „wir haben den gnädigen Herrn schon auf eine große Strecke jubeln und declamiren hören, und wir gingen der Stimme nach.“

„Ebenso ist’s mir gegangen,“ kicherte der Alte, „ich habe den jungen Mann da schon von weiter Ferne jauchzen hören und fuhr dem Klange nach. Es war Felix – der Glückliche, bei meinem Nero! Hurrah!“

„Was thust Du hier, Ellen?“ fragte der Förster mit grollender Stimme, aber der Baron fiel ihm in die Rede und erzählte in seiner abgebrochenen Weise den seltsamen Vorgang von der Auffindung der Münzsammlung. Felix mußte auch die Haselnuß zeigen, und Waldraff faltete finster die Stirn, als er den Namen „Ellen“ und das eingravirte Herz erblickte.

Der Fremde hatte staunend zugehört und sagte dann lächelnd:

„Es liegt also auch eine merkwürdige Kraft in der Frucht des Haselnußstrauches; sie entdeckt Schätze wie der Zweig, der als Wünschelruthe dient. Wie mag aber diese werthvolle Sammlung da unter den Stein gekommen sein?“

Der Förster antwortete leise:

„Wenn der frühere Besitzer, der Großvater des Barons, so kindisch war wie sein Nachfolger, so war es eben eine Schrulle. Er machte es wie die Elstern und Dohlen, die alles Glänzende verstecken, so daß man es erst nach Jahren findet.“

Herr Eiler lächelte fein und sagte zum Baron:

„Es mögen vielleicht Kriegsereignisse den früheren Besitzer dieser Münzen zum Begraben derselben veranlaßt haben.“

Den Alten schien das wenig zu kümmern; er starrte nur mit einem blöden Lächeln auf den jungen Mann, den ihm der Förster dann mit den Worten vorstellte:

„Herr Leo Eiler aus der Hauptstadt, der Bräutigam meiner Tochter.“

Maßloses Erstaunen malte sich auf dem Gesichte des Vorgestellten, während Felix überrascht ausrief: „Bist Du’s wirklich, Leo? Ich hätte Dich kaum wiedererkannt.“

„Jawohl bin ich’s,“ rief der Angeredete, „und Du bist Felix – der Glückliche, wie wir Dich auf dem Gymnasium hießen. Komm an mein Herz, altes fideles Haus!“ Und die beiden Studiengenossen umarmten sich zum Erstaunen aller Anwesenden.

Dann wandte sich Herr Eiler an den Förster mit den Worten:

„Bitte, Herr Waldraff, erklären Sie mir doch, wie ich zu der Ehre komme, von Ihnen als der Bräutigam Ihres Fräulein Tochter vorgestellt zu werden!“

Ellen horchte in athemloser Spannung.

„Ja zum Henker,“ fuhr der Förster auf, „hat Ihnen denn Ihr Herr Vater nichts von unserer Verabredung gesagt?“

„Keine Silbe.“

„Ich kam doch mit ihm überein, daß Sie mit Ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahre unser Vorhaben erfahren sollten. Auch hat Ihnen meine Ellen bei Ihrem letzten Besuche bei uns sehr gefallen.“

„Das ist nicht zu leugnen,“ lächelte Herr Eiler, „ich finde sie auch heute noch höchst begehrenswerth. Leider kann ich aber auf Bräutigamsehren keinen Anspruch mehr machen, da ich schon zwei Jahre verheirathet bin.“

Es ließe sich schwer sagen, wer am meisten überrascht war. Wer aber förmlich aufathmete, das war Ellen, das war Felix.

„Und warum habe Sie mir das nicht gesagt?“ brauste der Förster auf.

Herr Eiler erwiderte ruhig:

„Sie haben mich nicht darnach gefragt, und ich schwieg auch, weil ich aus Ihrem seltsamen Gebahren seit meinem Hiersein nicht recht klug werden konnte.“

„Da werde der Teufel klug!“ polterte Waldraff. „Warum hat mir denn Ihr Herr Vater nicht geschrieben?“

[373] „Er ist schon fast drei Jahre todt,“ gab der Gefragte ernst zur Antwort.

Auch der Förster wurde ernst und murmelte für sich: „Also darum? Man sollte nie speculiren und besonders nicht mit Wesen, die einen eigenen Verstand und ein eigenes Herz haben.“ Er war höchst verdrießlich, Ellen aber und Felix drückten dem genialen jungen Manne innig die Hände.

Der beglückte Baron kicherte. Ihn amüsirte das Wortgeplänkel, von dem er genug verstand, um jetzt mit wichtiger Miene zu beginnen:

„Hm, hm, da schlage ich einen andern Bräutigam vor, nicht mich,“ fügte er grinsend hinzu, als er die erstaunten Blicke des Försters sah, „ich bin zu alt, fast hundert; aber den da. Er heißt Felix – der Glückliche; und kennt seine Ellen.“

„Und die Wünschelruthe hat er auch gekannt,“ meinte Herr Eiler lachend.

„Ja, Nüsse – Küsse,“ sagte der Alte und rieb sich die Hände.

„Bah –“ sagte mürrisch der Förster, „davon kann keine Rede sein.“

„Nero, Nero!“ kreischte die Dohle, die der Baron mit seinem großen Filzschuh getreten hatte.

„Hi, hi, hören Sie es, Waldraff?“ rief der Alte. „Nehmen Sie Sich eine Lehre daran! Nero – Wütherich, hi, hi. Uebrigens“ – setzte er hinzu, „soll der junge Mann da den Schuldienst in Ebensee haben, denn er hat mir meinen Nero verschafft, und an Geld gebe ich ihm soviel, wie all die Thaler da werth sind.“ Er wühlte mit seinen zitternden Händen in dem Silberhaufen und blinzelte schlau nach dem Förster hinüber.

„Vater!“ sagte Ellen und Felix zugleich.

„Papa,“ schmeichelte der kleine Felix, „sei nicht so bös! Sie haben sich schon so oft geküßt, und wenn Du nicht Ja sagst, so muß Ellen doch sterben.“

Diese Argumente leuchteten dem Förster wohl am besten ein, denn er sagte in seiner rauhen Weise: „Ich bin rein selber schuld. Nun denn in Henk–, in Gottes Namen!“

Er drehte sich auf dem Absatze um und ging. Aber die Glücklichen holten ihn schnell ein, und er machte bald gute Miene zum bösen Spiel.

Der ganze Zug ging nach dem Forsthause, voran die Kutsche des Barons mit der Urne, in die der Silberschatz wieder eingefüllt worden war und auf die der alte Diener ein zärtliches Auge hatte. Dann folgten der Förster und der junge Eiler, der einem Schwank nach dem andern erzählte. In der Mitte ging Ellen mit dem Baron, der ganz selig neben ihr herschlittete und ihr immer wieder die Schönheiten seines Nero anpries. Er hatte einen Kranz wilden Hopfens um Ellen’s weiße Stirn gelegt und rieb sich vergnügt die Hände über seinen guten Einfall. Dann kamen die beiden Felix. Der Kleine durfte die glückbringende Nuß tragen und sang laut in den schweigenden Wald hinein:

„Mein Schwager heißt Felix, wie ich, Vallera!“

Den Schluß bildete die Dohle, die emsig nachtrippelte und nicht müde wurde zu krächzen:

„Nero, Nero!“

Beim Weine noch und bei einer dampfenden Pfeife fertigte Baron Bisam die Nominationsurkunde für Felix aus und reichte sie dann dem Förster. Dieser mußte laut auflachen, als er sie gelesen, und erwiderte den erstaunten Blick des alten Patronatsherrn mit den Worten:

„Sie haben ja ‚Kaiser Nero‘ unterzeichnet.“ Wieder lachte er laut, und die Anwesenden mußten unwillkürlich einstimmen.

„Hm, hm,“ machte der Alte, „das ist fatal.“ Dann strich er den Namen aus und schrieb säuberlich: „Baron von Bisam,“ sagte aber dann mit seinem kindischen Lächeln:

„Und er muß doch noch auf die Urkunde.“

Er drückte seinen Nero in das Siegellack und sammelte ringsum die Münze des Beifalls ein für seinen guten Einfall.

Felix aber setzte sich an’s Clavier und spielte eine muntere Tanzweise, zu deren Tact Ellen mit ihrem ehemaligen Bräutigam sich im Kreise drehte, während der alte Baron mit seinem Nero am Weinglase klingelte. –

An ihrem Hochzeitstage trug Ellen ein herrliches Perlenhalsband, ein Geschenk des Barons von Bisam. Vorn in der Mitte saß eine Perle ohne Glanz und hatte doch all diesen Glanz gestiftet. Es war – die Haselnuß.

August Butscher.