Die Heimath der feinen Handstickerei

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Heimath der feinen Handstickerei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 523-527
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[523]
Die Heimath der feinen Handstickerei.

Vor hundert Jahren noch kreiste der Lämmergeier über den Kämmen des Säntisstockes[1] und pfiffen die Murmelthiere zahlreich in den steilen Halden, welche die Meglisalp umsäumen; sie sind den Verfolgungen erlegen und mehr nach dem Innern der Centralalpen zurückgedrängt. Dafür hausen häufige Gemsenrudel in allen Theilen des Gebirgsstockes. Vor wenigen Jahren noch zählten wir am Hühnerberg einundzwanzig Stück in einem Weidgang, und dieser Tage jagte man selbst in den Vorbergen der Solalp einen Prachtbock auf. Die flüchtigen Thiere werden nicht häufig und nicht mit besonderem Geschick und Glück verfolgt. [524] Kaum, daß im Jahre ein Dutzend Stücke in Abschuß kommt, während der Zuwachs das Drei- und Vierfache betragen mag. Die Gehänge sind theilweise zu schwer zugänglich und bieten zugleich nach zu vielen Seiten hin bequeme Ausflucht, um die Jagd ausgiebig zu machen. Die zur Winterzeit silberweißen Schneehasen finden sich im obern Gebirge nicht häufig, zahlreicher im angelehnten Mittelgebirge bis gegen die Thäler hin, werden aber auch nicht häufig erbeutet. Bis zu den höchsten Gipfeln lebt das Schneehuhn in kleinen Ketten, während die prächtigen rothfüßigen Steinhühner (Pernisen), obwohl weit schöner als jene, auch in den Felsen und auf den Grasbändern der untern Berge zu finden sind. In allen Bergwäldern balzt im Frühjahr der Birkhahn und läßt sein sonores Kollern von Alp zu Alp ertönen; der herrliche Auerhahn ist überall seltener geworden; das schöne Haselhuhn, die Krone alles Wildgeflügels, erscheint fast überall in den gemischten Waldungen, wird aber nicht zahlreich erlegt. Der schimmernd gefärbte Alpenmauerläufer klettert unablässig an den Felswänden; die Schneefinken finden wir selten und zufällig, zur Winterszeit in ansehnlichen Flügen, während der zutrauliche Alpenflühvogel auf keiner Weide fehlt. Nur ein Alpenwald beherbergt den seltenen, gelbgescheitelten Dreizeherspecht in spärlichen Exemplaren; die nimmermüden Ringdrosseln aber erfüllen im Frühling schon vor Sonnenaufgang alle obern und mittlern Fichtenschläge mit ihrem weithinschallenden Geschmetter. Der König aller Alpenvögel, der kühne Steinadler („Berggyr“) hat wohl kein Dutzend Horste im ganzen Gebirgsstock und wird am seltensten erbeutet. Ein Horst ob dem Säntissee wird fast alljährlich der Jungen beraubt, ohne von den Alten aufgegeben zu werden. Unter den weißen und braunen Hasen und allen Hühnerarten richten diese Capitalräuber große Verwüstungen an und stoßen selbst auf ziemlich große Ziegen und Schafe. Die großen Raubthiere haben schon seit Beginn dieses Jahrhunderts unser Gebirge verlassen; in ältern Zeiten fehlte es weder an Luchsen noch Wölfen und Bären, und in der vorhistorischen Periode waren die kolossalen Höhlenbären hier zu Hause, die in der großen Höhle neben der Felseneinsiedelei des Wildkirchli’s ihre Knochen zahlreich zurückgelassen haben.

Gewiß, – ein interessantes Stück Alpenwelt, auf Vorposten gestellt; aber noch weit anziehender, als in seiner großartig malerischen Gebirgsbildung und seiner reichen Thier- und Pflanzenwelt, durch die so ganz verschiedenartig gestalteten, in sich abgeschlossenen Bevölkerungsfamilien, die sich rings am Fuße des Säntisstockes angesiedelt haben. Es ist als ob die Manigfaltigkeit der Naturbildungen sich in der Verschiedenartigkeit der menschlichen Cultur mit all ihren Contrasten abspiegle.

Im eigentlichen Schooße dieses Gebirges treffen wir gar keine ständigen menschlichen Bewohner. Kein Dörfchen, nicht einmal ein nennenswerther Weiler findet in der obern Bergregion hier die Bedingungen eines behaglichen Daseins, während doch das südliche Centralgebirge, namentlich im rhätischen Lande, noch Dörfer und Weiler in einer Meereshöhe zählt, die bis an tausend Fuß zum Säntisgipfel hinanreicht. Ringsum stehen hier die Dörfer am Fuße der Vorberge und Ausläufer, und nur die Sennen dehnen ihre sömmerlichen Streifzüge über alle Flanken hin bis in den Schooß des Gebirgsstockes aus.

Unter diesen Anwohnern des Säntis unterscheiden wir deutlich vier verschiedene Volksfamilien mit ausgesprochenem Culturcharakter.

Längs der ganzen Ostkette wohnen die Rheinthaler tief am Fuße derselben, echte Tiefthalleute. Ihr Gelände, ein reicher, theilweise noch nicht entwässerter Alluvialboden, wird vom Vater Rhein bespült und gelegentlich auch überfluthet, und die Eisenbahn vom Bodenseegestade her durchzieht es seiner ganzen Länge nach bis zur Pforte der rhätischen Alpen, immer noch harrend der Fortsetzung über und durch diese nach dem sonnigern Wälschland. Wir haben also hier ein vorgeschrittenes Culturvölklein, aber doch noch wesentlich agricoler Art. Auf reichem Ackerboden baut es seinen Mais, sein Getreide und seine Kartoffeln, und an den sonnigen Halden, in denen der Bergzug im Tiefthale aufsteht, zieht es seinen würzigen und feinen Rothwein in Fülle. Die Gemeinden und Corporationen sind reich an Grundbesitz, die Einzelnen durchschnittlich ziemlich wohlhabend; die Industrie tritt sporadisch auf, Handel und Wandel bezieht sich wesentlich auf Naturproducte und Bedürfnisse des täglichen Lebens; in den Rheinufergemeinden lockt der verführerische Schmuggel Viele auf gefährliche Pfade. Die confessionell gemischte Bevölkerung ist intelligent, im Besitze ziemlich guter Schulen, aber, wie das häufig bei gutem Klima und Boden der Fall ist, ohne allzugroße Rührigkeit.

Die zweite Gruppe, am Südfuße des Gebirgsstockes, bewohnt das ganze Hochthal der Thur, den obersten Theil des „Toggenburgs,“ zwischen dem Säntisstock und der Churfirstenkette. Es ist ein vorwiegend protestantisches Hirtenvölklein, alten Sitten und Gebräuchen zugethan, in rauhen Höhen dem kargen Boden mühsam des Lebens Nothdurft abgewinnend. Das oberste, freundliche Dörflein Wildhaus liegt dreitausend vierhundert Fuß über dem Meere; es ist der Geburtsort des großen Schweizerreformators Ulrich Zwingli, in dessen Charakter sich die echte Toggenburgerart, der verständige praktische Blick, die rührige Energie, die einfache Sitte, das ernste, fromme Gemüth seiner Landsleute so treu widerspiegelt. Das Völklein ist nicht wohlhabend, aber ohne allzugroße


[525] Bedürfnissne, hält große Stücke auf gute Schulen und pflegt mit warmer Vorliebe das Volks- und Kirchenlied, das, von der Hausorgel begleitet, so häufig am Sonntagnachmittag aus den braunen Holzhäuschen ertönt. Viehzucht und Alpwirthschaft bilden seine vorzüglichste Beschäftigung, und etwas Handweberei vermehrt die spärlichen Einnahmsquellen.

An der westlichen Seite des Gebirgsstockes und über dessen hügeliges Vorland zerstreut, finden wir die dritte Gruppe, die Appenzell-Außerrhoder, von verwandter Art, aber doch wieder specifisch von den Obertoggenburgern verschieden. Ebenso intelligent und energisch wie diese, überbieten sie dieselben weit in Rührigkeit und Lebhaftigkeit. Sie sind von der Natur wie jene auf Viehzucht und Alpwirthschaft angewiesen; aber diese würden nur einen kleinen Theil der starken Bevölkerung, die zu den dichtesten auf dem Continent gehört, ausreichend ernähren. Daher haben sie sich, angeregt von der nahen Handelsstadt St. Gallen, mit erstaunlicher Energie und musterhaftem Geschicke auf die Industrie verlegt und leisten Großes in diesem Gebiete. In den frühern Jahrhunderten war es die Leinenindustrie in allen ihren Phasen, welche Tausende von Händen beschäftigte und mit ihren Fabrikaten die Messen von ganz Süddeutschland, Leipzig, Botzen, ja von Beaucaire versah. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an, wo der Linnenhandel in Verfall gerieth, warf sich das Völklein mit gleicher Energie auf die Baumwollenindustrie und die Weiber verstanden es bald, den neuen Stoff so außerordentlich fein zu spinnen, daß eine Spinnerin im Dörflein Stein aus vierzig Loth einen Faden von 833,300 Fuß oder fast sechzig Stunden Länge zog, während das feinste englische Garn es nur auf 630,000 Fuß brachte. Die neue Industrie wurde mit glänzendem Erfolge gepflegt; es entstanden neben der Handweberei, die in jedem Hause betrieben wurde, bald Färbereien, Druckereien, Appreturen und Bleichereien für die Baumwollstoffe und seit 1760 wurde auch die Handstickerei von St. Gallen aus eingeführt. Mit welcher Kunstfertigkeit damals die Weberei betrieben wurde, davon zeugen noch zwei Hemden, ohne Naht gewoben, von denen das eine in Herisau, das andere in England aufbewahrt wird und bei deren kunstvoll ineinander gewirkten Fäden weder Anfang noch Ende zu erkennen ist.


Appenzeller Handstickerinnen.
Nach einer Originalzeichnung von Rittmeyer.


Seither machte Außerrhoden alle Stadien in der Entwickelung der Baumwollenindustrie durch. Vom Cambrik, der Perkale und Indienne wurde zur Mousselinegaze, zum Calico, Tüll und der Jacquardweberei fortgeschritten, und die Handelswege über alle Meere benutzt. Das Völklein verdankt dieser industriellen Thatkraft einen sehr großen durchschnittlichen Wohlstand, in dessen Scala freilich die Bauern, die Spuler und Weber heutzutage auf den untern, die Fabrikanten und Kaufleute auf den obern Stufen stehen. Blühende Dörfer und Flecken von zweitausend bis achttausend Einwohnern und von einer Nettigkeit und Sauberkeit, die jeden Fremden höchlich überrascht, bedecken das wellige Hügelland.

Diese Volksgruppe des Säntisgebiets steht ohne Frage unter allen vieren auf der höchsten Stufe der Cultur; sie schreitet im Guten wie im Schlimmen lebhaft mit der Zeit fort. Sie besitzt ausgebildete und mit Liebe gepflegte politische und ökonomische Gemeinwesen und bringt große Opfer für gute Volksschulen, für Straßen etc. Die Volkstracht haben die Außerrhoder, wie die früher genannten Familien, schon längst abgelegt; ihre Kleidung und ihre hellen, vielfenstrigen Häuser verrathen eine ganz besondere Reinlichkeitsliebe. In ihrem Charakter sind sie gewissermaßen die Nordamerikaner der Schweiz, unternehmend, durch und durch praktisch, auf Gewinn und Verdienst erpicht, ohne Sinn für Kunst (mit Ausnahme des wohl gepflegten Gesanges) und Literatur, dabei [526] aber ziemlich engherzig, oft von beengtem Gesichtskreis, aufgeweckten, fröhlichen Humors, politisch in eidgenössischen Fragen sehr liberal, in innern Cantonal- und Gemeindedingen dagegen stark bezopft, gern mit der Ahnen Großthaten prunkend, aber auch von grosser Heimathsliebe, vielredend, phrasenliebend, dem äußern Scheine zugethan, dabei gemeinnützig, höchst haushälterisch, streng Ordnung haltend, für religiöse und politische Interessen leicht entzündlich und reizbar, sonst verständig, vorsichtig, berechnend. Neben einer bestimmten, strengprotestantischen Kirchlichkeit läuft zwar allerlei Sectenwesen, neben einer gewissen Aufklärung allerlei Aberglauben (Schatzgräberei etc.), neben einer gewissen Bildung mancherlei Rohheit, Trotz und Gewaltthätigkeit her; was aber die Secten betrifft, so müssen sich diese eine so intolerante Behandlung gefallen lassen, wie sonst nirgends in der protestantischen Schweiz.

Auf der Nordseite des Säntisstockes, tiefer in diesen hineingedrängt als die andern Völklein, am Ursprung und im ersten Plateau der Sitter, wohnt die vierte Familie, die katholischen Appenzell-Innenrhoder, gleichen Ursprungs mit den Außerrhodern und doch himmelweit von ihnen verschieden. Sie haben fast nichts mit einander gemein, als die naive, mutterwitzige Art sich auszudrücken, den heitern Humor und die Vorliebe für den Gesang. Allein während die Außerrhoder mit besonderem Eifer und Glück auch den Kunstgesang pflegen, begnügen sich die Innerrhoder mit ihrem Jodel und dem Volkslied.

Im Gegensatze zu jenen sind diese ein einfaches, armes, schlichtes Hirtenvölklein geblieben wie selten anderswo. Nur Wenige sind im Besitze einer höhern Bildung; aber überall findet sich heller Verstand und oft überraschende Fassungskraft. Autodidakten von bedeutendem Talente sind nicht selten, zeigen aber kaum ein Bedürfniß, sich mit der großen Welt in Verkehr zu setzen. Wie die meisten Bergvölker sind sie neugierig, aufs Erzählenhören erpicht, aufgeräumt, genügsam, aber auch wieder genußsüchtig und trotz der gewöhnlichen Sparsamkeit in gewissen liederlichen Zeiten verschwenderisch. Sie sind sehr friedfertig und zutraulich; aber einmal mißtrauisch gemacht, bleiben sie es nachhaltig. Gewohnter, nicht allzu harter Arbeit zugethan, sind sie daneben bequem und behaglich. Nicht gerade gemeinnützig, erweisen sie sich doch in der Nähe herum wohlthätig und gutherzig. Im Haus und Kleid (mit Ausnahme der Sennen) reinlich, nehmen sie es im Stall und am eigenen Körper weniger genau. Nach fremden Schilderungen lüstern, halten sie nur um so zäher an den eigenen alten Gewohnheiten. In kirchlich-religiösen Dingen höchst tolerant, wahren sie doch die Observanz der katholischen Kirche nach allen Seiten und sind zu volksthümlichem Aberglauben jeder Art geneigt. Respectvoll gegen die selbstgewählte „hohe Obrigkeit“, beweisen sie doch stets ein volles Bewußtsein republikanischer Unabhängigkeit, zumal an Landsgemeinden und Markttagen. Dabei treiben sie wenig Politik; zufrieden an ihrem Heerde, beschränken sie sich auf das eigene Glück und Leid, von der übrigen Schweiz, ja von der ganzen Welt nichts verlangend, als daß man sie in Ruhe lasse, ihre Stickereien kaufe und im Sommer ihre Ziegenmolke trinke.

Ein Völkchen, das in Beschäftigung und Besitz so gleichartig ist, in dem es in Vermögen und Bildung keine allzugroßen Abstufungen und Unterschiede giebt, konnte sich in dieser allgemeinen Gleichartigkeit des Charakters lange Zeit behaupten. Selbst die wenigen Reichen und Gebildeten wirkten bisher um so weniger modificirend ein, als sie weder ihren Besitz anders als in der bequemsten Weise benutzen, noch mit ihren Kenntnissen etwa auf Besserung der staatlichen und geselligen Zustände besonders einwirken. Sie benutzen großentheils das Privilegium des Nichtarbeitenmüssens in des Wortes verwegenster Bedeutung und das des Zechendürfens oft mit einer Ausdauer, die einer bessern Sache würdig wäre, denken weder an industrielle Unternehmungen noch an gemeinnützige Schöpfungen, sind zufrieden mit dem urväterlichen Hause, dem angestammten Rathsherrenstuhl und dem Ehrenplatze am Wirthstisch, bleiben im Lande und nähren sich redlich. Auch die Geistlichkeit theilt fast durchweg das allgemeine anmuthige Behagen.

So branden die Strömungen der Zeit kraftlos an des Hochländchens Grenzen. Das Gerathen der Futterernte in „Grund und Grath“, der Gang der Viehpreise berührt sie lebhafter, als alle Krisen des politischen und geselligen Lebens. Luxus ist nicht vorhanden. Die braunen, über alle Hügel gesäten Holzhäuschen mit ihren nach Mittag gekehrten Fensterreihen und niedrigen Stuben, deren beträchtlichsten Theil oft der wohlgegründete, nur in wenigen Sommerwochen erkaltende Ofen einnimmt, sind noch eingerichtet wie vor Jahrhunderten, und Käse, Schotte, Kaffee, Butter sind die Hauptnahrungsmittel geblieben wie ehedem. Auf die Volkstracht dagegen, die mehr bunt, als geschmackvoll ist, und bei der weiblichen Bevölkerung in einem kurzen, reichgefältelten braunen Rocke, farbiger Schürze, buntem Mieder, Silberketten und kleinem Käppchen mit rothem Boden und Band besteht, hat die französische Mode, die selbst noch mächtiger ist, als die französischen Ideen, einigermaßen eingewirkt. Nur die Frauen und Sennen halten die Landestracht noch aufrecht. Die Spiele und Feste des Volkes, seine Lieder, Sprache und Sitten haben sich im Laufe der Jahrhunderte kaum merklich geändert. Leider gilt dies aber auch noch theilweise vom Schul- und Armenwesen und dem ganzen Gange des Staatslebens, in das freilich die jüngste Entwickelung des Schweizerbundes manche Keime gelegt hat, die allmählich zur Umgestaltung der patriarchalischen Zustände führen müssen.

So dünn und genügsam auch die kaum zwölftausend Köpfe starke Bevölkerung Innerrhodens ist, so vermöchte sie doch aus Viehzucht und Alpwirthschaft nicht ihre Existenz zu fristen. Sie griff daher schon vor Jahrhunderten zur Industrie, aber in einer von Außerrhoden ganz abweichenden Weise. Hier sind die Männer ihre Träger, in Innerrhoden sind die Weiber die Industriellen. An beiden Orten wird die Industrie hauptsächlich nicht in besondern Etablissements, sondern im eigenen Hause betrieben, in Außerrhoden im Keller mit dem Webstuhl, in Innerrhoden in der Stube mit dem Stickrahmen. Innerrhoden ist so recht eigentlich die Heimath der kunstvollen Handstickerei, und aus seinen armen Holzhütten gehen die kostbarsten und reizendsten Producte hervor, welche fern draußen die Fürstinnen und die Paläste schmücken, und welche in Paris und im Glashaus des Hydeparks die Bewunderung der Welt gewannen.

Betrachten wir die Organisation dieser Industrie, die gewissermaßen einzig in ihrer Art ist, etwas näher. Es ist gewiß bezeichnend für die Gemächlichkeit der Wohlhabendern und Gebildetern des Landes, daß sie die heimische Betriebsamkeit nicht zu leiten und zu benutzen wissen, sondern dies den Fremden überlassen. Die Handelshäuser St. Gallens und Außerrhodens sind die eigentlichen Träger der Stickereiindustrie. Sie veranlassen und verwerthen dieselbe. Mit der feinsten Aufmerksamkeit verfolgen sie den Gang der Mode und die Entwickelung des Geschmackes, um ihren Dessinateurs die nöthigen Winke zu geben. Diese sind in den betreffenden Häusern angestellt und hoch bezahlt; doch werden auch einzelne Dessins von Paris bezogen.

Die Zeichnungen gelten für Modewaaren, Frauen- und Kindertoilette und Bettlinge, als: Kragen, Taschentücher, Kleider, Hauben und Garnituren aller Art. Die hierzu verwendeten Stoffe sind sehr verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs: feine Mousseline, in Außerrhoden fabricirt, Jacconats und Nanzone aus dem Toggenburg und Batiste aus den Fabriken Frankreichs und Belgiens. Dabei ist es merkwürdig, daß die oft versuchte Batistweberei in Außerrhoden nie gelingen wollte. Das gleiche Material, feines Leinengarn, auf den gleichen Stühlen (Métiers) in diesen Gegenden gewoben, ergab einen ganz andern Stoff und konnte die Weichheit und den eigenthümlichen Seidenglanz des französischen und belgischen Productes nie erreichen, als ob rauhere Luft und Wasser bei uns diesen zarten Geweben feindlich wären.

Die Dessins werden mittels einer einfachen Maschine auf ein eigens präparirtes Papier eingestochen („gestüpfelt“) und dann mit Zuhülfenahme einer Pulverfarbe auf den Stoff durchgerieben, auf dem dann die so übertragene Zeichnung durch Dampf oder glühendes Eisen fixirt wird.

Die rohe, aufgezeichnete Waare geht nun aus der Hand des Kaufhauses in die der angestellten Factoren („Ferker“) über. Dies sind innerrhodische Männer oder Frauen, welche die regelmäßigen Vermittler zwischen dem Handelshause und den Stickerinnen bilden. Sie empfangen allwöchentlich die genaueren Anweisungen über die Ausführung der Stickarbeit, vereinbaren sich mit dem Auftraggeber über den zu leistenden Preis, wählen sich dann in ihrem Kreise die passenden Arbeiterinnen aus und bestimmen diesen den Lohn, oft nicht ohne Willkür und Eigennutz, und geben ihnen das benöthigte Stickgarn ab.

Dort sitzen sie in ihren hundertjährigen Stuben auf der Bank, die sich längs der kaum unterbrochenen Fensterreihe hinzieht, zu [527] Berg und Thal, oft selbst in verlorenen Alphütten, die fleißigen Kinder, Mädchen und Weiber, vom siebenjährigen Kinde bis zur siebenzigjährigen Matrone hinter dem runden, beweglichen Stickrahmen („Maschine“), mit scharfem Blicke die Spinnfäden des Gewebes ermessend, um die zarten Arabesken, Blattgewinde und Bouquets auf den Stoff zu zaubern. Merkwürdig, daß auch Männer, die sonst die Axt und Sense zu führen gewohnt sind, nicht selten zur Winterszeit mitsticken und häufig die Nadel gar geschult zu führen wissen. Die kleinen und die alten Arbeiterinnen besorgen die gröbere, ordinäre Stickerei. Die feine und feinste wird von den gewandtesten Mädchen und Frauen besorgt, und an großen Prachtstücken arbeiten oft drei bis sechs derselben Monate lang mit unausgesetztem Fleiße. Ein Theil der Sticharten ist durch das Dessin vorgeschrieben; die à jour-Arbeit aber ist meist dem Geschmacke der Arbeiterin überlassen und es ist in der That bewunderungswürdig, mit welcher Phantasie und welchem Kunstgeschick diese in unaufhörlicher Abwechselung und den reizendsten Formen angebracht wird.

Junge Mädchen lieben es, mit dem Stickrahmen zur „Spini“ (d. h. zum Spinnbesuche zu einer Freundin zu gehen, und in großen, hellen Stuben finden sich oft ganze Stickgesellschaften zusammen. Da wird reichlich geplaudert, von der letzten oder nächsten „Kilbi“ (Kirchweih) oder dem Markte und Tanze, von einer Leiche oder Hochzeit, und die „Toneli, Sepheli, Mareili“ wissen immer etwas Neues. Oft wird auch hübsch gesungen oder eine alte Geschichte oder Sage, je grauslicher, desto lieber, erzählt, und wenn Abends die „Buben“ am Ofen oder auf demselben sitzen und liegen, so fehlt es nicht leicht an Neckerei und Kurzweil. Der Abend ist übrigens eine schlimme Zeit für diese haarfeine Arbeit, und ohne Beihülfe der zwar augenmörderischen, aber bei dem schlechten Talglichte unentbehrlichen wassergefüllten Glaskugel müsste sie gänzlich eingestellt werden.

Die Stickerinnen genossen – früher mit mehr Recht – den Ruf, daß sie nicht nur schön arbeiten, sondern selbst schön seien; doch ist reine Schönheit nur selten zu finden, wohl aber häufig ein sehr fein geschnittenes Profil, reiche, blonde Haare, helle, lebhafte Augen, von starken Brauen überschattet, schöne Zähne, zarter Teint und eine sehr feine, weiße Hand. Die angestrengte Arbeit veranlaßt oft eine leicht vorgebeugte Haltung, welche zu der gewöhnlichen Mittelgröße und der kurzen Taille der Landestracht nicht gerade gut steht.

Der Tagesverdienst der fleißigen Arbeiterinnen steht mit dem aufgewendeten Eifer und Geschick und dem Ueberreiz und der Schwächung der Sehkraft nicht in günstigem Verhältniß. Für gröbere Arbeit beträgt er blos etwa drei Silbergroschen, für feinere bis sieben und für ganz ausgezeichnete bis zehn oder elf Silbergroschen, während der Verkaufspreis der Waare für reiche Braut- oder Hoftoilette auf fünfhundert bis tausend Franken zu stehen kommt.

Immerhin ist auch der karge Verdienst für dieses geldarme Ländchen von hohem Werthe, und die Stickerinnen klagen eher über Unterbrechung der Beschäftigung, als über die Kleinheit des Erwerbs. Die Anzahl der Arbeiterinnen dürfte auf zweitausend fünfhundert bis zweitausend sechshundert anzuschlagen sein und der jährliche Arbeitsverdienst auf die bedeutende Summe von 350,000 bis 400,000 Franken.

Jede Woche bringen die Factoren die fertige Arbeit, welche sie von der Stickerin in Empfang genommen und unter oft unbilligen Abzügen für kleine Fehler oder Schäden verrechnet haben, dem Handelshause. Die Waare ist noch in einem sehr unansehnlichen Zustande, grau in grau, und erfordert eine äußerst sorgfältige Behandlung, ehe sie in ihrem wahren Werthe und Glanze erscheint. Sie wird nun gewaschen, gebleicht, appretirt und ausgerüstet. Namentlich erfordert der Appret, der nirgends in dieser Vollkommenheit bewirkt wird, wie in den sanct-gallischen und appenzellischen Etablissements, eine äußerst kundige Behandlung, während die Ausrüstung und Verpackung in elegante Schachteln Sache des guten Geschmackes ist. Die feinen und kostbaren Stoffe erleiden bei jenen Manipulationen leicht kleine Beschädigungen durch Rißchen, für deren unbemerkbare Reparatur eigene, äußerst geschickte Arbeiterinnen („Verwiflerinnen“) angestellt sind. Ein Theil der feinen und feinsten Waare aber bleibt in dem rohen Zustande, wie er von der Stickerin kommt, und wird auf gewissen Wegen, die wir hier nicht näher bezeichnen, nach Frankreich geschmuggelt, wo er gebleicht und fertig gemacht und dann als französisches Fabrikat verkauft wird. Für die ausgerüstete Waare sind Deutschland, Italien, Spanien und auch Rußland und Amerika die Hauptabsatzplätze.

Appenzell ist freilich nicht der einzige Bezirk, wo die genannten Handelshäuser ihre Stickerinnen haben, auch im Rheinthal wird eine kleine Quantität feine, mehr aber mittelfeine und billige Arbeit, sowie Grobstickerei in Gardinen und Stückwaare geliefert. Ebenso lassen jene Häuser im Vorarlberg und Bregenzerwald viel Grobstickerei fertigen.

Unsere appenzellische feine Handstickerei hat in neuerer Zeit doppelte, wenn auch nicht gerade gefährliche Concurrenz erhalten. In Sachsen, in Frankreich und in Schottland wird ebenfalls Handstickerei gepflegt, aber diese Industriedistricte bringen es ausschließlich nur zu geringer bis mittelfeiner Waare. Mit bedenklichern Augen sah man das geheimnißvolle und rasche Aufblühen der Maschinenstickerei im eigenen Lande an, die im Stande ist, auf mechanischem Wege außerordentlich billige Arbeit zu liefern, und sich namentlich der südeuropäischen Handelsplätze bemächtigte. Allein so ingeniös auch diese Stickstühle construirt sind und so kunstvolle Prachtstücke sie an die Weltausstellungen geliefert haben, so vermögen sie doch nur in Baudes und Entredeux massenhaft und billig zu arbeiten; für Dessins à disposition und Schnittwaare ist Maschinenstickerei nicht ausführbar. Und so wird denn Appenzell-Innerrhoden nach wie vor, wie die ursprüngliche, so auch die einzige Heimath der hochfeinen Handstickerei bleiben,[2] welche die Bewunderung der eleganten Damenwelt verdient und die edelsten und kunstvollsten Bestandtheile ihrer Toilette liefert. Dabei bleibt es immer interessant und bedeutungsvoll, wie in verschiedenen Theilen des Schweizergebirges so verschiedene specielle Industriezweige gepflegt werden: hier die Stickerei, in Ausserrhoden die Weberei, im Jura die Uhrmacherei und Spitzenklöppelei, im Berner Oberlande die Holzschnitzerei.

Diese Industriezweige haben den unschätzbaren Vorzug, daß sie im eigenen Hause betrieben werden können. Die Arbeiter werden nicht in große Etablissements zusammengepfercht, wo sie so oft körperlich und sittlich versiechen oder als lebendige Ergänzungen todter Maschinen in ewiggleicher Sclavenarbeit verdumpfen. Die Hausindustrie bewahrt dem Arbeiter die Freiheit und Individualität und entreißt ihn nicht dem Familienverbande. Die stickende Mutter pflegt den Säugling in der Wiege, bleibt die Gehülfin ihres Mannes und besorgt unbehindert das einfache Hauswesen. Doch ist auch die Stickindustrie nicht ohne Schattenseite. Das ewige vorgebeugte Sitzen am Rahmen von zarter Jugend auf ist für die kräftige Körperentwickelung nachtheilig. Daher so viele zarte, blasse, früh alternde Gestalten unter den Stickerinnen. Auch überreizt die angestrengte, besonders die nächtliche Feinarbeit die Augen und es bleibt unerklärlich, daß ausgesprochene Kurzsichtigkeit nicht stärker verbreitet ist. Dabei zeigt sich hie und da die unerfreuliche Erscheinung, daß die Töchter des Hauses, welche freilich die einzige Vermittelung bilden, durch die regelmäßig das sonst so seltene baare Gelt in’s Haus fließt, diese ihre Stellung über- und ihre Verpflichtungen unterschätzen, daß sie, sobald sie eines ordentlichen Verdienstes sicher sind, die Familie verlassen und sich anderswo verkostgelden, oder aber gegen Kostgeld im elterlichen Hause bleiben, ihren Verdienst in der Tasche behalten und sich sogar für die Betheiligung an den Hausgeschäften bezahlen lassen. Nur eine bessere sittliche Erziehung wäre im Stande, diesem häßlichen Mißbrauche wirksam entgegenzuarbeiten.

So hätten wir denn flüchtig Umschau gehalten in dem Säntisstock und den kleinen Volksgruppen seiner Anwohner. Wer etwa vom Weißbade, dem reizendsten und heimeligsten Standquartier am Ursprung des Sitterflusses, aus sommerliche Streifzüge in den Schooß dieses wundervollen Gebirges und in die Hütten seiner aufgeweckten und einfachen Leutchen macht, wird sich diese Skizze mit interessanten und genußvollen Anschauungen bereichern.




  1. Als vorgeschobener nordöstlicher Eckpfeiler des schweizerischen Alpensystems gewinnt der Säntisstock vermöge seiner Lage, seines Ausbaues und seiner Gestaltung ein ganz besonderes Interesse. Mag man vom Allgäu her oder aus dem schwäbischen Oberland oder aus dem untern Hügellande der Thur in den von ihm beherrschten Gesichtskreis treten, überall imponirt er durch seine breiten, gegliederten Massen und die schönen, bald sanften, bald kühnen Linien, in denen er sich von den Quellen der Thur bis gegen die Rheinmündung am Bodenseeufer hinlagert. Durch das Hochthal der Thur von den steilgegiebelten Churfirsten und dem übrigen schweizerischen Alpennetze getrennt, erscheint er als selbstständiges Hochgebirgsmassiv und überragt in stolzer Majestät sowohl den gewaltigen Seespiegel, als das nordöstliche Ende der großen schweizerischen Hochebene, die sich in breitem Wurf vom Leman zum Bodan hinzieht.
    Und wirklich ist der Säntisstock eine Gebirgswelt für sich. In stolzer Isolirtheit tritt er als selbstständiges Ganzes auf. Dabei ist er aber ein vollendetes Modell der schweizerischen Hochgebirgsnatur und birgt in verkleinertem Maßstabe fast alle hochalpinen Naturformen und Naturerscheinungen in überraschender Mannigfaltigkeit. Sein Gerippe besteht aus einer Anzahl parallel von Südwest nach Nordost streichender Arme, von denen der östlichste und der westlichste, sowohl in Bezug auf absolute Höhe, als auch in Bezug auf Länge die bedeutendsten sind. Der westlichste bcginnt im Thurthal am Schindelnberg, culminirt im „hohen Säntis“ und bricht im Ebenalpstock jäh gegen das Sitterthal ab; der östlichste streicht vom Schafberg und Altmann in steilem Abfall gegen das Rheinthal über den „hohen Kasten“ und Fähnernberg und verliert sich in einer langen, sanftgebogenen Hügelkette gegen den Bodensee hin. Zwischen diesen beiden Hauptketten zieht sich ein hoher Querkamm von der Säntiskuppe bis zum Altmann, von dem wiederum mehrere Binnenketten parallel mit den Hauptzügen auslaufen.
    Diese Configuration des ganzen Kalkgebirgsstockes bedingt eine merkwürdig große Mannigfaltigkeit der Naturbilder. Mit jeder Stunde findet sich der Wanderer in einer neuen Welt. Unter seinem Fuße verwandelt sich unvermerkt der Felsenpfad zum lachenden Alpthal, zur wilden Felsschlucht, während an seinen Seiten die Bergflanken in ewiger Veränderung ihn begleiten, bald in kahlen, gigantischen Felswänden herunterstarrend, bald in grünen Weiden oder dunkeln Fichtenwäldern zu milden Kämmen oder zu kühnen, nackten Kuppen aufstrebend. Nirgends Einförmigkeit und langgedehnte Bilder, überall kecke Ursprünglichkeit und Originalität; aber auch überall schöne Linien, malerische Formen, reizende Farben. Ein paar Vergleiche mögen uns diese Contraste bestätigen.
    Die Säntisspitze (7710 Pariser Fuß über dem Meere) steigt ziemlich sanft und allmählich aus ihrer Kette empor, an der Nord- und Ostseite von breiten Schneefeldern flankirt, deren eines im Uebergang zum Gletscher begriffen ist, denselben aber, weil von ausgiebigen Firnquartieren nicht genährt, auch nicht ganz zu vollziehen vermag. Dicht unter der höchsten Spitze birgt sich in der Felswüste eine aus rohen Steinmauern gefügte enge Herberge, um die zahlreichen Besucher aufzunehmen, welche das ungeheure Panorama der Spitze zu bewundern kommen. Der Zugang zu dieser ist so sicher und leicht, daß ihn sehr häufig auch das schöne Geschlecht wagt.
    Gegenüber aber starrt mit seinen finstern, gigantischen Felsenwänden der zweithöchste Gipfel des Gebirgsstockes, der unwirthliche Altmann (7444 Fuß über dem Meere) empor. Seine höchste Kuppe ist eine schmale, langgedehnte Wand, fast ohne alle Vegetationsansätze, aus grobzerrissenem, und millionenfältig feingespaltenem, gelbem Kalk bestehend, früher für unersteiglich gehalten – in der That nur durch mühseliges, nicht ganz gefahrloses Klettern erreichbar.
    Vom Säntisgipfel streicht nordöstlich ein steiler Binnenzug bis zum Seealpthal hinaus. Auf jeder Seite desselben liegt eine Alp; aber auch diese Alpen contrastiren in den schärfsten Formen. Während die Meglisalp eine weite grüne Wanne bildet mit einem Alphüttendörfchen und sanften, ihrer köstlichen Futterkräuter wegen berühmten Weiden, hängt die parallele Mesmeralp rauh und zerrissen, hütten- und weidearm, von Schrattengräthen und Schrunden durchfurcht, steil an wilden Bergflanken.
    Die vier Seelein des Gebirges bilden wiederum vier verschiedene Typen von Alpenteichen. Keines gleicht dem andern, aber von jedem finden wir im Bereiche der Centralalpen zahllose Copieen. Das Wildseelein (7000 Fuß über der Meeresfläche) ist eine todte Schneemulde, die oft Jahre lang nicht aufthaut. Der fischlose Fählensee birgt seine dunkeln, grünblauen Fluthen in einer langen, tiefen, auf dem Grunde stark zerklüfteten Felsenschale, mit spärlicher Vegetation an seinem Saume. Der Säntissee dagegen ist ein seichter Teich in flachem kahlem Rietboden. Er lehnt sich an die östliche Hauptkette und steht durch ein enges Wasserthor mit einem tief im Innern des Berges liegenden, wahrscheinlich weit größern Wasserbecken in Verbindung und ergießt seinen Ueberfluß jenseits in’s Rheinthal. Zu diesem innern Bergsee vermag kein Menschenauge vorzudringen; aber die auffallend blassen, fast weißlich gefärbten Forellen, die zeitweise aus dem innern See hervorkommen und im äußern gefangen werden, zeugen von jenen lichtlosen, orkischen Fluthen. Den vierten Typus endlich stellt uns der Seealpsee vor Augen, ein tiefblauer Spiegel, in dem sich die herrlichen Felsterrassen und Gipfel seiner Umgebung widerspiegeln, der einzige Appenzellersee, dessen Ufer, wenigstens zum Theil, malerische Buchwaldgruppen schmücken. Er ist tief und beherbergt große Forellen. Früh im Winter pflegt er zuzufrieren, und die zahlreichen Gemsen, die sich dann gerne aus den Flühen in das von Menschen nicht besuchte Seealpthal zurückziehen, kreuzen auf dem überschnellen Eisspiegel unbedenklich, meiden aber sorgfältig die Nähe der lebendigen warmen Grund- und Uferquellen.
    Wir könnten die reichen Contraste, in denen sich die herrliche Gebirgswelt des Säntisstockes unaufhörlich individualisirt, viel weiter verfolgen; doch genüge hier das kurz Angedeutete und wir fügen nur noch bei, daß auch ihre Pflanzen- und Thierwelt eben so mannigfaltig ist, und in den höhern Regionen einen echt hochalpinen Charakter verräth. Oberhalb der Waldgrenze, die auch hier, wie fast überall im schweizerischen Alpengebiete, leider von Jahrzehnd zu Jahrzehnd immer tiefer thalwärts zurückweicht, krönt die Krummholzkiefer häufig lothrechte Felswände und öde Flühen; in den Weiden wuchern auf den hochfetten Hüttenplätzen die Alpenampfern, Bühnen, Germerstauden und Eisenhüte; die hohe punktirte und die gelbe Gentiane sind durch die Wurzelgräber selten geworden; die Alpenrosen kleiden mit ihrem schmucken Blattgrün und ihren zierlichen Glockensträußen überall die Felsköpfe und Halden aus und steigen an verborgenen Stellen bis tief gegen das Thal hinunter. Sobald der Schnee weicht, sprießen aus dem fahlen Alpenboden die feingezahnten Glöcklein der Soldanellen und bald darauf auch die tiefblaue, großblumige Gentiane, die herrliche außen grauwollige, röthliche Frühlingsanemone, während die duftigen gelben Aurikeln, dann die zahlreichen Steinbrecharten, die leuchtende Hauswurz sich an die Felsen heften. Höher im Gebirge schmückt das Edelweiß, für das der Wanderer eine wunderliche Vorliebe hegt, die vanilleduftende Mannstreu, Schnee- und Eisgentiane, die rosenartige Silene, der niedliche Mannsschild, die niedrigen Schafgarben, die kleinen Arelien etc. noch zahllose Humusplätzchen, wo alle reichere Vegetation längst zurückgeblieben ist.
  2. Es mag vielleicht manche unserer Leser interessiren, zu erfahren, daß gegenwärtig in St. Gallen das Haus „Adolph Näf“ das reichhaltigste Lager für Handstickerei in allen Genres hält und den Bedarf der fremden Höfe für hochfeine Waare vermittelt.