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Die Herrnhuter-Kolonie Lichtenfels in Grönland

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DCCIII. Weimar Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCCIV. Die Herrnhuter-Kolonie Lichtenfels in Grönland
DCCV. Jena
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Die HERRENHUTER-COLONIE LICHTENFELS
in Grönland.

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DCCIV. Die Herrnhuter-Kolonie Lichtenfels in Grönland.




Schon die vorchristliche Zeit war erfüllt von den Sagen einer neuen Welt jenseits des atlantischen Oceans. Virgil spricht von einem transatlantischen Kontinente, der außerhalb des bekannten Theils der Erde liege; Tibull erwähnt einer oceanischen Welt, als der andern Hälfte der Erdkugel, und Ammianus Marcellinus weiß von einer Insel zu erzählen, die jenseits des Oceans zu suchen und von größerm Umfange als Europa sey. Mit dem Verfall des Römerreichs gingen diese Sagen verloren und in den nachfolgenden Jahrhunderten barbarischer Finsterniß geschieht ihrer nirgends Erwähnung. Erst zu Anfang des Mittelalters, als sich normännische Schiffer in die nordwestlichen Meere wagten, die Faröer Inseln entdeckten und Island kolonisirten, tauchen die Erzählungen von weiten westlichen Landstrecken von Neuem auf. Island, durch Auswanderungen aus Norwegen rasch bevölkert, blühte in sehr kurzer Zeit auf, und die Flotten seiner kühnen Fischer verfolgten schon im zehnten Jahrhundert die Ungeheuer der arktischen Gewässer bis an Spitzbergens eisige Küste. Ein verwegener Seefahrer, Erik Raude, der Todtschlags wegen für drei Jahre aus Island verbannt war, segelte im Jahre 981 mit andern Genossen zu einem Entdeckungszuge nach den westlichen Meeren aus und erblickte im Herbste eine mit hohen Bergen umgürtete Küste, an welcher er eine Strecke hinfuhr, bis er am Eingange einer Bucht, welche er Erikssund benannte, zu einer Insel gelangte, auf der er überwinterte. Im nächsten Frühjahr lichtete er die Anker, um das entdeckte Land weiter zu erforschen. Er segelte der Küste entlang mehre Breitengrade südwärts, stieg an verschiedenen Orten an’s Land und machte mit seinen Genossen Jagdexkursionen in’s Innere. Er traf Heerden von Rennthieren und Moschusochsen auf fetten Weidegründen und die Berge waren mit Birken und [184] Zwergkiefern bewachsen. Das entdeckte Land nannte er, seines lachenden Ansehens halber, das grüne Land (Grönland). Er brachte fast drei Jahre auf demselben zu, bis die Zeit seiner Verbannung vorüber war. Dann kehrte er nach Island zurück und berichtete von seinen Entdeckungen. Es fand sich hierauf eine Genossenschaft zusammen, welche ein kleines Geschwader ausrüstete, um Grönland in Besitz zu nehmen und Niederlassungen zu gründen. Erik Raude ward Befehlshaber der Expedition und er segelte im Sommer 985 mit 25 Schiffen ab. Doch nach wenigen Tagen schon überfielen ihn schreckliche Stürme. Eilf Schiffe verschlang das Meer und nur 14 erreichten nach sechswöchentlicher Fahrt die östliche Küste Grönlands. Die Abenteurer gründeten eine Stadt und gelangten durch den außerordentlich reichen Fischfang bald zu Wohlstand. Es folgten neue Auswandererzüge von Island, zu denen sich später auch Kolonisten aus den Faröer Inseln und von Norwegen gesellten, so daß schon im eilften Jahrhundert an der grönländischen Ostküste über achtzig verschiedene Ortschaften blühten, und mehre christliche Kirchen und Schulen die Keime der Civilisation unter die wilden Völker im Norden der neuen Welt verbreiteten.

Die klimatischen Veränderungen, welche aus noch unerforschten Ursachen in den arktischen Regionen des Nordens innerhalb der letzten 1000 Jahre Statt gefunden haben, – die Erkältung der durchschnittlichen Jahrestemperatur um mehre Grade und das Vordringen der arktischen Eismassen in südlichere Breiten, haben die Küsten von Spitzbergen und die Hälfte von Island unbewohnbar gemacht, und auch die blühenden Kolonien Ostgrönlands mußten allmählig verlassen werden. Seit länger als drei Jahrhunderten sind sie verschwunden und die mit Eisbergen umgebene Ostküste ist ganz unzugänglich geworden. Die alten Kolonisten verließen das Land oder suchten auf der milderen Westküste neue Niederlassungen zu gründen, die jedoch auch nur ein dürftiges Fortkommen erzielten. Der norwegischen Herrschaft im Jahre 1261 unterworfen, entrichteten sie ihre Steuern in Seehundsfellen, Thran, Butter und Käse; letztere mußten ihnen jedoch schon im 14. Jahrhunderte erlassen werden, da die Heerden sich von Jahr zu Jahr minderten. Immer kälter wurde die grönländische Erde, nicht kälter aber der Bekehrungseifer ihrer Bischöfe und Priester. Schon im Jahre 1121 zog Bischof Arnold selbst an der Spitze einer Apostelschaar zu den Grönländern von Stamm zu Stamm, bis in ihre letzten nördlichsten Wohnplätze, verkündigte ihnen das Evangelium und schiffte sich im nächsten Jahre nach dem südlicher gelegenen Winlande, der Küste von Labrador und Neufundland ein, wo er Indianer bekehrte und das Kreuz aufrichtete. Im Jahre 1408 wurde Andreas als letzter Bischof von Grönland vom Papste ernannt; was aus ihm und seiner Heerde geworden ist, darüber schweigen alle Nachrichten. Seit jener Zeit ist Grönland für eine Periode von fast drei Jahrhunderten aus der Geschichte verschwunden. Die zunehmende Rauhheit des Klima’s hatte die Kolonisten schon im vierzehnten Jahrhundert aus allen nördlichern Niederlassungen vertrieben und eine [185] Pest, der „schwarze Tod“, rieb zu Anfang des fünfzehnten die Bevölkerung vollends auf. Nichts blieb zurück als die schwachen Stämme der Eingeborenen, bei welchen sich Kultur und Christenthum allmählig verloren.

Ewiges Eis umlagert seitdem die Ostküste Grönlands und die westliche, auch nur im Sommer zugänglich, wurde kaum noch von einzelnen Wallfischfängern besucht, die zuweilen landeten, um Robben zu schlagen. Das Land selbst gerieth in Vergessenheit. Nur die dänische Geistlichkeit hielt noch die Erinnerung an dasselbe dadurch aufrecht, daß sie einem ihrer Würdenträger von Zeit zu Zeit den Titel „Bischof von Grönland“ verlieh.

Erst 1721, als die Entdeckung der Briten in den nordwestlichen Meeren wieder die Aufmerksamkeit auf jene fernen Gegenden richtete, und als England Miene machte, eine Fischereistation auf der Südspitze Grönlands zu gründen, konnte sich die dänische Regierung, auf Egede’s Anregung, entschließen, einen neuen Colonisationsversuch zu machen. Sie sandte 2 Schiffe mit Auswanderern hin, begleitet von mehreren Missionairen, um die verwilderten Grönländer in den Schooß der Kirche zurück zu führen. Egede, ein würdiger und eifriger Priester, leitete die Unternehmung und seiner Beharrlichkeit und seinem Eifer lohnte ein guter Erfolg. Egede wurde der neue Apostel der Grönländer und die von ihm gegründeten Niederlassungen erlangten Bestand. Grönland erscheint fortan wieder in der Geschichte.

Das heutige Grönland ist aber nicht mehr das „grüne Land“ vor tausend Jahren. Zu Neunzehntel seiner ganzen Küstenerstreckung ist es das Jahr hindurch von starren Eisbergen umlagert; nur einige Buchten im Westen sind für ein Paar Monate offen. Das Innere des weiten Landes, dessen Flächengröße die Deutschlands um das Dreifache übersteigt, ist mit hohen Gebirgszügen bedeckt, auf welchen Tod und Erstarrung wohnen. Auch zu den noch offenen westlichen Buchten senken sich ungeheure Gletscher nieder, und wo vor tausend Jahren zahlreiche Heerden auf grüner Alpe weideten, liegt ewiger Schnee. Manche der Berge im Innern sind so hoch, daß sie aus einer Entfernung von 20 Meilen gesehen werden können. Sie sind noch nicht gemessen und bleiben wohl für immer der menschlichen Forschung verborgen. Im Sommer bekleiden sich die sonnigsten Felswände und Anhöhen mit Moos und Flechten und in den allergeschütztesten Buchten, wo die Colonisten ihre Wohnungen errichtet haben, zeigt sich das höhere Pflanzenleben in einigen Zwergbirken, Kräutern und beertragenden Stauden. Ackerbau findet im ganzen Lande keine Stätte; in kleinen Gärtchen baut der Colonist Kresse und Rettig, die er auch im Hochsommer des Nachts durch Mattenbedeckung vor den Frösten schützen muß. Im zwölften Jahrhundert wurde noch bis zum 70. Breitengrade Gerste gebaut; aber das ist schon lange nicht mehr möglich. Die Colonisten nähren sich vom Bären-, Robben- und Wallfischfang, für deren Ertrag sie sich Mehl, geistige Getränke und die übrigen Bedürfnisse des Lebens kaufen. Milch und Fleisch geben ihnen die Rennthierheerden, welche in den geschützten [186] Thälern nothdürftige Nahrung finden. Von Hausthieren findet bloß der Hund ein Fortkommen. Torf und Treibholz, das die Strömungen des Meeres der Küste in Menge zuführen, geben Brennstoff in Fülle.

Trotz der Oede und Verlassenheit des Landes fehlt es ihm doch nicht an landschaftlicher Pracht. Es ist aber jene Pracht, die durch ihre Größe und ihre Kontraste mehr erdrückt, als erfreut. Keinen grandioserern Anblick, aber auch keinen furchtbarerern gibt es als die Gletscher und Schneeberge Grönlands, die sich oft bis in die Wolken verlieren und umgeben sind von strahlenden Eisgestalten aller Formen und Gestalten.

Einen noch imposanterern Anblick bieten öfters die felsigen Küsten dar. Eisberge thürmen sich vor denselben auf, deren Glanz, das Licht in allen Farben brechend, viele Meilen weit über das Meer hinstrahlt. Manchmal sind die schmalen, tief in’s Land gehenden Buchten von Eisbergen überwölbt. Mit furchtbarer Gewalt wühlt die Brandung die krystallenen Gewölbe weiter aus, bis ein Theil derselben einstürzt und nichts stehen bleibt als eine ungeheure Brücke, die zuweilen Jahre dauert. So stand im Jahre 1852, und steht vielleicht noch, am südwestlichen Gestade, zwischen dem 61. und 62. Breitengrade, ein Eisgewölbe, das, bei 60 Klafter Breite und 100 Klafter Dicke, eine Bucht von nicht weniger als 3 Stunden Breite überspannte. Mit diesem Bauwerk der Natur verglichen, würden die größten Menschenwerke in Nichts verschwinden.

Trotz der entsetzlichen Rauhheit des Klima’s, das selbst auf den südlichsten Punkten des Landes, unter einer Breite, welche die von Petersburg kaum erreicht, noch kälter ist, als in Lappland, ist doch die Luft in allen Ansiedelungen sehr gesund. Die Leute werden fast nie krank, und erreichen, wenn sie mäßig leben und sich durch warme Kleider schützen, ein sehr hohes Alter. Der Skorbut ist zwar eine große Plage; man kann sich aber durch angemessene Nahrung davor bewahren. Im Sommer hat Grönland keine Nacht; am 24. Mai geht die Sonne zum letzten Male unter und bleibt bis zum 20. Juli über dem Horizonte. Am 24. November nimmt sie Abschied vom Grönländer, der sie erst am 13. Januar wieder begrüßt. Nur auf einige Augenblicke zeigt sie sich an diesem Tage, steigt dann allmählig immer höher bis den 23. Mai, wo sie nur noch auf ein Paar Sekunden verschwindet. – Das Reisen in Grönland geschieht zur Sommerszeit gewöhnlich bei Nacht, während die Sonne am Rande des Horizontes zu wandeln scheint; denn dann ist fast immer die Luft still und heiter und die gefährlichen Schneestürme sind nicht zu fürchten. Im Juni und Juli ist die Sonne zur Mittagszeit oft so drückend heiß, wie in Rom oder Florenz. Dann sieht man, so zu sagen, Gras und Kräuter wachsen, so außerordentlich rasch geht die Entwickelung des Pflanzenlebens vor sich. In den sonnenlosen Wintertagen ist fast beständig Mondschein und die Sterne funkeln am Firmamente mit einer Pracht und Klarheit, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. So hell ist’s in dieser langen Nacht, daß man im Freien mit Leichtigkeit lesen kann. Volle Tageshelle aber wird es dann, wenn das Nordlicht seine farbigen Strahlen über das Himmelsgewölbe spannt. Lufterscheinungen aller Art, Feuerkugeln, [187] Nebensonnen, glänzende Mondregenbogen und andere Meteore sind in Grönland äußerst häufig und erregen Staunen oder Bewunderung. Auch hier ist die Natur vielgestaltig und trotz der scheinbaren Armuth ist sie doch in der That herrlich und reich. Ueberall prägt sich das Bild der versöhnenden Einheit aus. Nur dem Wilden ist dieser rauhe Norden mit seinen gewaltigen und fremdartigen Erscheinungen furchtbar; denn er sieht in ihnen ein grauenhaftes Gewirre zerstörender Kräfte und hassender Gewalten und schreckt vor ihnen zurück, wie vor einer Maschine, in deren unbegreiflichen Kraftäußerung er ein beseeltes Wesen argwöhnt. Der Gebildete aber, welcher aus allen Formen der Natur auf ein innewohnendes Leben schließt, das sich vom ewigen Urquell ableitet, wird auch in Grönlands Eisbergen und Gletschern den Gott der Liebe wiederfinden, und sich einen Wirkungskreis zu verschaffen wissen, der mit innerer Zufriedenheit und seligem Selbstbewußtseyn lohnt.

Das Bild eines solchen, – des stillen Friedens und des frommen Wirkens – zeigt die Darstellung, welches diesen Aufsatz veranlaßt. Es ist die Herrnhuterkolonie und Missionsanstalt Lichtenfels (Lichtenau) bei Julianenhaab im südlichen Grönland. Sie liegt in einem von Eisbergen umgebenen Thale und besteht aus einem Kirchlein, um welches sich die Schul- und Wohngebäude der Brüder mit den Zelten der Eingeborenen reihen, welche herkommen, die Lehre Dessen zu vernehmen, der alle Menschen gleich und glücklich machen will durch Bruderliebe. Was für Kontraste des Leblosen und Lebendigen, der Zerstörung und des Gedeihens, der Armuth und der Zufriedenheit, des äußern Kampfes und des innern Friedens drängen sich bei der Betrachtung dieses Bildes der Seele auf! – Schaut hin und schaut her! Dort die kleine Hütte des Herrn; – da die Fürstenschlösser und Mausoleen, die Zellengefängnisse und Kasematten, wo der „zu lebenslänglichem Kerker in Eisen“ begnadigte Unglückliche alle Tage den menschlichen Gedanken verflucht, der ihn dem Henker entzog, und mit tausend freiwilligen Qualen die Wohlthat eines schnell endenden Schwertschlags erkaufen möchte! Dort Hütten der Demuth; – da die stolzen Tempel der Intoleranz und die Paläste der Ungerechtigkeit mit ihren Priestern und Richtern, Akten und Meßbüchern, Gerichtssiegeln und Hostien: dort stilles Leben in brüderlicher Eintracht; – da die Schlachtfelder, auf denen sich die Völker mordeten und würgten um eines Wahnes willen, oder als Opfer des Ehrgeizes ihrer Herrscher. –

„Sie sammeln Seelen ihrem Gotte“, ruft der herzlose Spötter und grimmiger Sektenhaß hebt den Stein wider sie auf. Aber er würde die Hand verletzen, die ihn schleuderte. – Spricht nicht der Herr: „An den Früchten sollt ihr sie erkennen?“ – Des frommen, feurigen Zinsendorfs christliches Werk hat die harte Prüfung eines ganzen Jahrhunderts wohl bestanden. Die Zeit hat es geläutert; es ist befreit von seinen Schlacken. Auch die Zukunft wird noch Manches daran ändern, Manches klarer machen, Manches hinweg thun. Sie, die Richterin der gegenwärtigen Dinge, läßt unvermerkt fallen, was sich nicht halten läßt; jedoch das Beste, – die Frucht – wird sie bewahren und sie ausstreuen als neue Aussaat. Auch der Gesichtskreis des [188] Herrnhuterthums hat sich erweitert, die Wolken zogen fort, die Nebel lösen sich auf und verschwinden und die Brüdergemeinde geht ruhigen, festen Tritts durch die Zeit, sich läuternd und verständigend, sich fortpflanzend und ausbreitend unter dem Segen des Allgütigen.

Ja, mit dem Segen Gottes! Denn was ist segenwürdiger, als das Streben, Menschen zu erziehen und zu vereinigen zu einem Leben der brüderlichen Eintracht und zu werkthätiger Liebe? Was kann das Christenthum Höheres wollen? Die Missionsanstalten der Herrnhuter, – ihre Gemeindestiftungen unter den Götzendienern in den Ländern des ewigen Eises und in Afrika’s glühenden Wüsten, unter den Antipoden Australiens und den menschenfressenden Rothhäuten Amerika’s, Anstalten, durch die sie die wilden Horden nicht zu Sklaven machen, wie die Jesuiten, sondern ihre Sitten zu brüderlicher Menschlichkeit sänftigen und erziehen: was sind sie anders, als der Christuslehre christliche That?