Die Lilie und die Rose

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Die Lilie und die Rose
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aus: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung.
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Erscheinungsdatum: 1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Scans auf Commons
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[181]

Die Lilie und die Rose.

––––

Sagt mir, ihr holden Töchter der rauhen, schwarzen Erde, wer gab euch eure schöne Gestalt? denn wahrlich von niedlichen Fingern seyd ihr gebildet. Welche kleine Geister stiegen aus euren Kelchen empor? und welch Vergnügen fühletet ihr, da sich Göttinnen auf euren Blättern wiegten? Sagt mir, friedliche Blumen, wie theilten sie sich in ihr erfreuend Geschäft? und winkten einander zu, wenn sie ihr feines Gewebe so vielfach spannen, so vielfach zierten und stickten. –

     Aber ihr schweigt, holdselige Kinder, und genießet eures Daseyns. Wohlan! mir soll die lehrende Fabel erzählen, was euer Mund mir verschweiget.

     Als einst, ein nackter Fels, die Erde dastand: siehe, da trug eine freundliche Schaar von Nymphen den jungfräulichen Boden hinan, und gefällige Genien waren bereit, den nackten [182] Fels zu beblümen. Vielfach theilten sie sich in ihr Geschäft. Schon unter Schnee und im kalten kleinen Grase fieng die bescheidne Demuth an, und webte das sich verbergende Veilchen. Die Hofnung trat hinter ihr her, und füllte mit kühlenden Düften die kleinen Kelche der erquickenden Hyacinthe. Jetzt kam, da es jenen so wohl gelang, ein stolzer[1], prangender Chor vielfarbiger Schönen. Die Tulpe erhob ihr Haupt: die Narcisse blickte umher mit vergeblich-schmachtendem Auge.

     Viel andre Göttinnen und Nymphen beschäftigten sich auf mancherley Art, und schmückten die Erde, frohlockend über ihr schönes Gebilde.

     Und siehe, da ein großer Theil von ihren Werken mit seinem Ruhm und ihrer Freude daran verblühet war, sprach Venus zu ihren Grazien also: „was säumt ihr, Schwestern der Anmuth? Auf! und webet von euren Reizen auch eine sterbliche, sichtbare Blüthe.“ Sie giengen zur Erd’ hinab und Aglaja, die Grazie der Unschuld, [183] bildete die Lilie: Thalia und Euphrosyne webten mit schwesterlicher Hand die Blume der Freude und Liebe, die jungfräuliche Rose.

     Manche Blumen des Feldes und Gartens neideten einander; die Lilie und Rose neideten keine, und wurden von allen beneidet. Schwesterlich blühn sie zusammen auf einem Gefilde der Hora, und zieren einander: die Blume der Unschuld erhebt die Braut der Liebe und Freude: denn schwesterliche Grazien haben sie ungetrennt gewebet.

     Auch auf euren Wangen, o Mädchen, blühn Lilien und Rosen; mögen auch ihre Huldinnen, die Unschuld, Freude und Liebe, vereint und unzertrennlich auf ihnen wohnen.


  1. Vorlage: stolzender