Die Offenbarung Johannis/Exkurs zu Kap. 1-3

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Exkurs zu Kap. 1-3

1) Die Integrität dieser Kapitel. Über die Verse 1,1-3 ist schon oben gehandelt, ebenso über 1,7f. Die Bedenken, die sich gegen 1,20 erhoben, sind auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Es ist in der Tat kein Grund abzusehen, weshalb nicht der Apokalyptiker selbst diese (falschen) Deutungen einem von ihm übernommenen Bilde hinzugefügt haben sollte. Vischer hat innerhalb der Kap. 1-3 nicht geschieden. Er weist dieselben in Bausch und Bogen dem Redaktor zu. Die übrigen Kritiker, welche wie Vischer die Briefe dem letzten Redaktor der Apk zuschreiben (X, Völter, Weyland, Erbes), suchen doch irgendwie aus Kap. 1-3 einen Anfang für Kap. 4ff. herauszuschlagen. X. gewinnt diesen aus 1,1-20 unter Streichung von 1,4-9 und unter Entfernung aller christlicher Bestandteile aus 1,10-20 (V. 10 ἐν τῇ κυριακῇ ἡμέρᾳ, V. 11 καὶ πέμψον — Λαοδίκειαν, V. 12f. ἑπτὰ λυχνίας χρυσᾶς καὶ ἐν μέσῳ τῶν λυχνιῶν, V. 14 ἡ δὲ κεϕαλὴ – χιών, V. 16 καὶ ἔχων – ἐκπορευομένη, V. 17 ἐγώ εἰμι — V. 18 τοῦ ᾅδου, V. 19 καὶ ἅ εἰσὶν und μετὰ ταῦτα). Vlt. fand in 1,4-6 die Einleitung zu 4,1. Weyland beginnt seine Quelle ℵ mit 1,10, streicht V. 11 als Doublette zu V. 19; nach ihm hat der Red. eine Angelophanie in eine Christophanie verwandelt, wie er die Attribute des Menschensohnes auf die sieben Gemeinden deutet. Daher streicht er auch V. 17b. 18. 20. Diese Versuche stehen und fallen mit der Annahme, daß die Sendschreiben dem letzten kompilierenden Redaktor angehören.

Ernsthaftere Bedenken hat Sp. gegen sämtliche Briefschlüsse in Kap. 2 und 3 erhoben. Die Gründe Sp.s sind etwa folgende: 1) Diese Schlüsse sind alle vollkommen analog gestaltet, in allen finden sich dieselben Wendungen: Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt, und daneben eine Verheißung an die Sieger und zwar so, daß die Ermahnung in den ersten drei Schreiben voransteht und in den letzten vier folgt. 2) Die Verheißungen in den Briefen haben gewöhnlich gar keine Beziehung zu dem speziellen Inhalt[235] der einzelnen Sendschreiben. 3) Dieselben heben sich von den übrigen Ausführungen der Sendschreiben durch ihre dunkle und rätselhafte Form ab, stehen vielfach zu späteren Teilen der Apk in Beziehung und finden dort erst ihre Erklärung (vgl. 2,7 mit 22,2; 2,11 mit 20,6.14; 21,8; 2,17 mit 19,12; 22,4; 2,26f. mit 12,5; 19,15; 20,4; 2,28 mit 22,16; 3,12 mit 21,10; 22,4; 3,20 mit 19,9; 3,21 mit 20,4). 4) Dagegen haben die Briefeingänge alle eine deutliche Beziehung auf den Inhalt des folgenden Sendschreibens (vgl. 2,1 u. 5; 2,8 u. 10; 2,12 u. 16; 2,18 u. 23; 3,7 u. 8; 3,14 u. 19) und finden ihre Erklärung fast alle in den Abschnitten 1,4-6 und 1,10-20 (Ausnahme 3,7, wo übrigens doch eine Anlehnung an 1,18 vorhanden ist). 5) Es finden sich gerade hier sehr starke Reminiscenzen an synoptische Herrenworte vgl. 3,5 mit Mt 10,32; Lk 12,8; 3,20f. mit Lk 22,29f.; Mt 19,28. ὁμολογεῖν 3,5 ist ein für den Schreiber der Kapitel ungewöhnlicher Ausdruck. 2,17 ist gar von Joh 6,49ff. abhängig. Ebenso erinnert das wiederholte νικᾶν an den johanneischen Sprachgebrauch und an den sonstigen Gebrauch des Redaktors. 6) Besonders verdächtig aber ist die wiederholte Formel: τί τὸ πνεῦμα λέγει ταῖς ἐκκλησίαις. Der in den Briefen redende Herr wird hier identifiziert mit dem Geist. Das scheint sich kaum mit der für dieses Stück so außerordentlich charakteristischen Anschauung von den sieben Geistern zu vertragen 1,4; (2,1); 3,1. Endlich verrät sich auch in der Mahnung: Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt, der Zweck der vorgenommenen Redaktion. Derselbe Schriftsteller, der die Mahnung 1,3 schrieb, wendet sich auch hier an jeden Hörer der Offenbarung. Da das Buch als ganzes vom Redaktor schon zum Zweck kirchlicher Vorlesung bestimmt war, so mußte er den Sendschreiben zum Schluß eine solche allgemein kirchliche Wendung geben. — Der Kritik von Sp. ist im großen und ganzen dann Erbes gefolgt, nur wollte er den Schluß des siebenten Sendschreibens als echt halten. Auch J. Weiß 36f. folgt Sp. W. betont besonders, daß hier das wiederholte τί τὸ πνεῦμα λέγει dem Redaktor gehöre, der auf die von ihm herausgegebene Prophetie hinweise, und der sich nicht mehr an die einzelnen Gemeinden, sondern an die Gesamtkirche wende.

Gegen Sp.s Theorie lassen sich folgende Einwände erheben. 1) Die stereotype Form der Briefausgänge spricht nicht gegen ihre Echtheit (vgl. die Eingänge der Briefe). Daraus, daß durch die verschiedene Anordnung des Schlusses die Sendschreiben in 3 + 4 abgeteilt werden, läßt sich zunächst nur der Schluß ziehen, daß hier dieselbe Hand tätig war, welche die gesamte Apk schrieb. 2) Einige Briefschlüsse haben doch eine Beziehung zu dem Vorhergegangenen, so die Verheißung des Mannaessens 2,17 zu dem Verbot des Essens der εἰδωλόθυτα die Verheißung, den Namen nicht auszulöschen; 3,5 zu 3,1 (ὄνομα ἔχεις ὅτι ζῇς καὶ νεκρὸς εἶ); 3,12 die Verheißung des ἔξω οὐ μὴ ἐξέλθῃ ἔτι zu 3,7 (ὁ ἔχων τὴν κλεῖν Δαυείδ). Auch J. Weiß hält 36,1 dies Argument Sp.s für nicht beweisend. 3) Die vielen Beziehungen der Briefschlüsse zu späteren Partien der Apk beweisen zunächst doch nur, daß diese und die Sendschreiben von einer Hand stammen. Eine wirklich nachträgliche Erklärung in späteren Partien findet übrigens höchstens der Begriff des δεύτερος θάνατος. 4) Auch bei den Briefeingängen ist die Beziehung [236] zum folgenden nicht überall deutlich z. B. 3,1 (die Erwähnung der ἑπτὰ πνεύματα und επτὰ ἀστέρες); ganz allgemein ist auch die Charakterisierung 3,14. 5) Anklänge an die Synoptiker und an die johanneischen Schriften beweisen zunächst nur für die spätere Datierung der Sendschreiben überhaupt. 6) Auch die Wendung an die Gemeinden insgesamt beweist nicht das, was Sp. (vgl. J. Weiß) beweisen möchte. Sp. freilich nimmt an, daß die sieben Sendschreiben ursprünglich wirkliche, an die einzelnen Gemeinden gerichtete Briefe gewesen seien, so daß also jede Gemeinde ihren besondern Brief (mit angehängter Apk) bekommen hätte. Dann paßten die Briefschlüsse allerdings nicht und Sp. hätte Recht, sie als spätere Interpolationen aufzufassen. Aber Sp.s Anschauung von den Sendschreiben ist vollständig unhaltbar. Wirkliche Briefe sehen denn doch anders aus, wie diese apokalyptischen Sendschreiben. Nichts spricht vielmehr dagegen, daß die Apk von vornherein für die Gesamtkirche (αἱ ἐκκλησίαι) als Vorlesungsbuch bestimmt war, daß die sieben Sendschreiben von vornherein nicht als einzelne Briefe, sondern als literarisches Ganzes gedacht sind. Es sind zwar konkrete Zustände in den einzelnen Gemeinden behandelt, aber diese sind typisch für die Gesamtkirche. Daher wendet sich der Apokalyptiker ausdrücklich auch jedesmal an alle Gemeinden: Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Nach diesen Ausführungen scheint mir die Integrität der ersten drei Kapitel im großen und ganzen festzustehen. Bei einzelnen Stücken 1,1-3.20 mag ja immerhin das Urteil schwanken.

Ehe wir aber weiter über das Verhältnis dieser Partie zum Ganzen der Apk ein abschließendes Urteil geben, werden wir gut tun, uns die Gemeindeverhältnisse und die sonstige geschichtliche Situation, eventuelle Sprachbesonderheiten und schriftstellerische Eigentümlichkeiten, wie auch die Beziehungen zu andern Schriften zu vergegenwärtigen, um wenn möglich nach alledem die Zeitlage der ersten drei Kapitel der Apk zu bestimmen.

2)Die Verhältnisse in den Gemeinden der sieben Sendschreiben. Charakteristisch ist, daß eine Reihe von Gemeinden eine Verfolgungszeit hinter sich hat. In dem Schreiben an die Eph. kann 2,3 καὶ ὑπομονὴν ἔχεις καὶ ἐβάστασας διὰ τὸ ὄνομά μου καὶ οὐ κεκοπίακας kaum anders bezogen werden. In Pergamon, der Residenz des Satans, der Metropole des Kaiserkultus, ist bereits Christenblut geflossen, es wird dort der Märtyrer Antipas genannt[1]. Auch Philadelphia scheint eine Verfolgungszeit gehabt zu haben 3,8: καὶ ἐτήρησάς μου τὸν λόγον καὶ οὐκ ἠρνήσω τὸ ὄνομά μου. Weil die Gemeinde sich bereits in einer Verfolgungszeit bewährt hat, wird sie von der drohenden allgemeinen Not bewahrt werden. Smyrna wird Gefängnis und Todesgefahr in einer kurzen Verfolgungszeit geweissagt. Thyatiras Geduld wird hervorgehoben. Der Umstand, daß in Smyrna und Philadelphia die Verfolgungen von den Juden auszugehen scheinen, darf nicht dazu benutzt werden, die Briefe in eine frühere Zeit hinaufzurücken. Heidnische Obrigkeit [237] war jedenfalls bei Verfolgungen, bei denen es sich um Gefängnis und Tod handelt, beteiligt. Und auch späterhin noch hetzten die Juden, wie man aus dem Martyrium des Polykarp sieht, die heidnischen Behörden gegen die Christen auf. Nun geben allerdings diese Daten einen sehr unsicheren Anhalt für die Datierung der Briefe. Wir kennen ja nur ganz geringe Fragmente aus der Geschichte der Stellungnahme des römischen Imperiums zum Christentum im ersten Jahrhundert. Es ist allerdings möglich, daß vereinzelte Verfolgungen, denen auch die Obrigkeit ihren Beistand lieh, in jedem Dezennium vorgekommen sein mögen, aber die Sendschreiben spiegeln uns doch eine Lage der Gemeinden wieder, in der die Verfolgungen epidemisch zu werden drohen. Man hat sich darauf berufen, daß auch Paulus bereits Verfolgungen erdulden mußte. Aber man vergleiche doch einmal mit den kurzen Schilderungen der Sendschreiben die Gesamthaltung der paulinischen Briefe in dieser Hinsicht, dann begreift man den Unterschied in der Situation. Hier in den Sendschreiben tritt der Kampf mit der Außenwelt, die von dort kommende Not und Gefahr, vollkommen in den Vordergrund. Der Verfasser der Sendschreiben erwartet überdies eine Zeit der Not, wahrscheinlich der Verfolgung, die über den ganzen Erdkreis hin die Gläubigen treffen soll. Das alles weist in eine spätere Zeit und doch wohl über die Zeit der neronischen Christenverfolgung, die auf Rom beschränkt geblieben zu sein scheint, hinaus. Wenn endlich in den Briefen nicht — wie in den übrigen Teilen der Apokalypse — hervorgehoben wird, daß es sich bei den Verfolgungen um den Cäsarenkultus handle (doch vgl. das zu 3,10 Bemerkte), so mag es auf Zufall beruhen, daß der Apok. hier von der allen bekannten Tatsache nicht ausdrücklich redet.

In Ephesus, Pergamon, Thyatira wird das Treiben von Irrlehrern geschildert, und zwar scheint uns überall dieselbe Erscheinung entgegenzutreten. Denn wahrscheinlich sind die falschen Apostel 2,2 identisch mit den Nicolaiten 2,6, diese wiederum sicher mit den Bileamiten (2,14f.), und da der Prophetin Isabel von Thyatira dasselbe wie den Bileamiten (φαγεῖν εἰδωλόθυτα – πορνεύειν) vorgeworfen wird, so ist an allen drei Stellen dieselbe Art von Häretikern gemeint. Es handelte sich aber bei diesen Irrlehrern sicher noch nicht um eine ausgebildete gnostische Schule, die wir unter den bekannten gnostischen Schulen zu suchen hätten, sondern um weltförmiges libertinistisches Christentum, um praktische Fragen und nicht um Spekulation. Die Teilnahme oder Nichtteilnahme an den Götzenopfermahlzeiten ist deshalb eine so brennende Frage im ersten Christentum geworden, weil die Entscheidung über sie die Stellungnahme zum heidnischen Gesellschaftsleben bedingte, das sich ja ganz wesentlich an die gemeinsamen Mahlzeiten anschloß. Viele, die sich sonst zum Christentum hingezogen fühlten, waren nicht im stande, diesen energischen Bruch mit der Außenwelt zu vollziehen. Dasselbe gilt von dem πορνεύειν; es ist sicher mit diesem Vorwurf nicht gemeint, daß die Irrlehrer eine besondre orgiastische Unsittlichkeit trieben, wie diese bei späteren gnostischen Schulen vorkommt. Auch hier wird es sich wesentlich um ein Mitmachen mit der Sitte und dem Urteil der heidnischen Gesellschaft auf der einen Seite, [238] um eine schroffe Verwerfung derselben aus der andern gehandelt haben. Die Bileamiten oder Nicolaiten, wie man sie nannte, waren weltförmige Heidenchristen und nichts weiter. Nur ein Ausdruck scheint darüber hinauszuführen, das Schlagwort: γνῶναι τὰ βάθη τοῦ σατανᾶ. Aber es mag das immerhin ein ganz praktisch gemeintes Wort gewesen sein, mit dem man seinen Verkehr mit der heidnischen Gesellschaft und das weltförmige Wesen zu rechtfertigen suchte[2]. Diese Irrlehrer scheinen auch Leute, die sich Apostel nannten, also wohl herumziehende Wanderprediger, Winkellehrer (nach Art der gewerbsmäßigen Sophisten) in ihrer Mitte gehabt zu haben, in Thyatira war ihre Führerin sogar eine Prophetin, und hier scheint ihre Sekte schon einen lasciveren und gefährlicheren Charakter angenommen zu haben, wenn den Schilderungen des Apokalyptikers ganz zu trauen ist. Die Häresie tritt übrigens ebenfalls epidemisch auf. In Thyatira und Pergamon scheinen die Häretiker ihr Wesen noch innerhalb der Gemeinde getrieben und großen Einfluß erlangt zu haben, in Ephesus sind sie bereits ausgeschieden. Es scheint ferner, als wenn in Sardes diese Richtung, obwohl sie nicht genannt wird, großen Einfluß errungen hat. — Eine genaue Zeitbestimmung ergeben diese Erwägungen nun noch weniger, als die vorhergehenden. Sie bestimmen uns eher, die Briefe in früherer Zeit, als allzuspät anzusetzen. Von den uns in der Geschichte bekannten Häresien fehlt jede Spur. Die Ignatianen zeigen hier bereits einen Fortschritt. Dennoch bleibt uns auch nach diesen Beobachtungen immerhin der Zeitraum etwa des ersten Jahrhunderts für den Zeitansatz der Briefe.

Der Zustand in den Gemeinden ist kein besonders glänzender: Ephesus hat seine erste Liebe vergessen, Sardes hat den Namen, daß es lebt, und ist tot, in Thyatira hat die Prophetin „Isabel“ verwüstend gewirkt, in Laodicea ist ein laues, weltförmiges, heuchlerisch-selbstgewisses Christentum, nur Smyrna und Philadelphia finden unbedingte Anerkennung. Man muß dabei immer beachten, daß es sich bei diesen Beobachtungen nicht um ganz vereinzelte Fälle handelt. Zu nahe an die apostolische Zeit werden wir die Briefe nicht heranrücken dürfen.

3) Der Verfasser der Sendschreiben war ein Christ jüdischer Abstammung. Für ihn ist der Judenname ein Ehrenname, er spricht den Juden, welche die Christen verfolgen, 2,9; 3,9, diesen ab und nennt sie Satanssynagoge. Er hofft zugleich auf eine Bekehrung des Ungläubigen Israels. Wenn auch die immer wiederkehrende Polemik gegen εἰδωλόθυτα φαγεῖν und πορνεύειν nicht judenchristlich zu sein braucht, so ist doch die prinzipielle Rückbeziehung auf den Beschluß des Apostelkonzils bemerkenswert (2,24). In souveräner Weise handhabt er die Bildersprache des alten Testaments, so daß in seiner Behandlung wieder neue Gebilde entstehen. So sind in der Menschensohnvision wenig Züge, die sich nicht in den Visionen des Daniel (7 u. 10), Ezechiel 1ff. [239] (Sacharja) nachweisen ließen. Dennoch ist daraus ein neues geworden, namentlich durch die kühne Kombination der Attribute eines erscheinenden Engels mit den Attributen Gottes selbst (nach Dan 7,9) zur Charakteristik des Menschensohnes. Auch sonst benutzt er in ziemlichem Umfang das alte Testament, aber immer nur lose anspielend (1,7.8; 2,7.26.27; 3,5.7.9.12.14.17.19). Aus 2,27 läßt sich mit Sicherheit schließen, daß er die LXX gebrauchte. Ob er auch den hebräischen Text benutzte, ist nicht ganz sicher (vgl. zu 1,6.7 und 3,14). Mit rabbinischer Theologie und Haggada zeigt er sich vertraut (1,4; 2,14).

Auch die Christologie der Briefe zeigt in vielen Punkten noch die realistischen und kräftigen Züge der jüdisch-messianischen Gedankenwelt. Christus ist der Oberste der Könige der Erde 1,5. In der Gestalt des Menschensohnes mit den Feueraugen und Erzfüßen, der Donnerstimme und dem Schwert im Munde, als der Besitzer der Schlüssel Davids zum Öffnen und Schließen des Gottesreiches tritt er auf. Daneben ist er der wahrhaftige Zeuge, der wahre Künder aller Offenbarung Gottes, der durch sein Blut die Seinen erkauft hat, der tot war und lebt und Macht hat über Tod und Hölle, der Sohn Gottes (2,18; nur hier in der Apk), der mit dem Vater auf dem Thron sitzt (3,21, vgl. 2,27; 3,5). Ja noch mehr, er ist der Erstgeborene von den Toten, der Anfang aller Schöpfung und (das geht über die Theologie des Paulus hinaus) der Erste und Letzte, der Lebendige 1,17f. Er tritt in der Vision dem Seher mit den Attributen Gott Vaters bei Daniel entgegen. Die Christologie der Briefe ist allerdings, nach dieser Seite betrachtet, die scheinbar fortgeschrittenste fast im ganzen neuen Testament. Dennoch wird sich hieraus eine Zeitbestimmung für diese Kapitel nicht ergeben (gegen Vlt., Weyl.). Wir haben in ihnen einen von aller theologischen Reflexion unberührten Laienglauben, der mit unbekümmerter Naivetät Christus in seinen Prädikaten und Attributen mit Gott einfach identifiziert und auf der andern Seite auch ganz archaistische Elemente ruhig übernimmt. Ein solcher Laienglaube konnte sich auf Grund paulinischer Theologie sehr rasch erheben.

Die sittlichen Ermahnungen der Briefe sind durchaus in altchristlicher Weise durch den Gedanken des Endgerichts bestimmt, und nirgends im neuen Testament — wenn man von den Herrenreden absieht — ist mit dieser Wucht der Gedanke der Verantwortlichkeit vor einem überweltlichen Richter geltend gemacht. Mit ihm ruft der Prophet eine Christenheit, die schon zu verweltlichen droht, zurück zur ersten Liebe, macht die Lauen wieder warm, erneut die erstorbene Kraft. Er ruft aus zum nahen Kampf, stählt zur Treue bis in den Tod, lenkt den Blick auf die im Himmel bereit gehaltenen Kronen.

Trotz aller Ungelenkigkeit und Eckigkeit im Ausdruck gehören die Briefe zum Mächtigsten, was im neuen Testament geschrieben ist. In unnachahmlicher Kürze, Prägnanz und Wucht reiht sich Satz an Satz. Fast nirgends steht ein Wort zu viel. Jeder Brief entwirft in kurzen markigen Zügen ein individuelles Bild von der Gemeinde, und jedes Bild erhält einen wirkungsvollen Rahmen in den bunten apokalyptischen Farben, die dem Zeichner des Menschensohnbildes 1,9ff. zur Verfügung stehen (s. o.). Die Motive im Innern der Bilder wiederholen sich zum Teil in kunstvoller Weise im Rahmenwerk. [240] Eine ganze Reihe einzelner Sätze sind kleine Kunstwerke und sind geflügelte Worte der christlichen Religion geworden.

Und die große geschichtliche Situation — der Seher steht vor dem Beginn des großen Kampfes zwischen Christentum und römischem Imperium — erhöht den Reiz und das Interesse dieser Briefe. Eine Stimmung des christlichen Glaubens ist hier so getroffen, eine Tonart so angeschlagen, daß diese drei Kapitel ihre Wirkung und ihren Einfluß niemals verlieren werden; sie werden immer eine klassische Darstellung einer eigenartigen Seite christlicher Frömmigkeit bleiben.

4) Die Sprache des Stückes[3]. Es wird öfter behauptet, daß dies Stück der Apk in glatterem Griechisch geschrieben sei. Demgegenüber verweise ich noch einmal auf die oben S. 159f. gerade auch aus unsern Kapiteln beigebrachten Anomalien[4]. — Besonders häufig ist in diesem Teil der Apk das Fehlen der Copula (s. o. S. 170). Ebenso zeichnen sich die ersten Partien durch eine größere Mannigfaltigkeit der Partikel aus (s. o. S. 172). Es mag dies aber darauf zurückgeführt werden, daß hier Briefe und keine apokalyptischen Schilderungen vorliegen. Eine einzige wirkliche Spracheigentümlichkeit scheint in diesen Kapiteln allein vorzuliegen. Der Verfasser zeigt in ihnen ein feineres Verständnis in der Auswahl der Tempora. Beispiele sind 2,3 ὑπομονὴν ἔχεις – ἐβάστασας – κεκοπίακας, 3,3 πῶς εἴληφας καὶ ἤκουσας, 3,8 δέδωκα, 3,20 ἕστηκα, 1,5 τῷ ἀγαπῶντι ἡμᾶς καὶ λύσαντι. Der wesentlich in den ersten Kapiteln vorkommende Wechsel von Imper., Präs. Und Aor. (s. o.) scheint hier und da vielleicht auf Absicht zu beruhen, z. B. 3,19 ζήλευε - μετανόησον, ähnlich 2,5 μνημόνευε - μετανόησον — dann freilich ποίησον[5]. Was die Wortstellung in diesem Stücke betrifft, so steht das Adjektiv hier fast immer seinem Substantiv nach (mit Wiederholung des Artikels), nur die Zahlwörter stehen voran; außerdem beachte 1,10 ἐν τῇ κυριακῇ ἡμέρᾳ, 2,24 ἄλλο βάρος, 2,20 τοὺς ἐμοὺς δούλους, Ausnahmen, die selbstverständlich sind. Niemals kommt die verschränkte Stellung des Genitivs vor (zwischen Artikel und verbum regens). Das einzige Mal, wo eine Adverbialbestimmung zwischen Artikel und Subst. steht, nämlich bei den Wendungen τῷ ἀγγέλῳ τῆς ἐν Ἐφέσῳ ἐκκλησίας u. s. w., ist die Lesart nicht gesichert (s. die textkritischen Anmerkungen). Die Ausnahmen, in denen das Verbum nicht vor dem von ihm regierten Wort steht, sind hier etwas häufiger: 2,3 ὑπομονὴν ἔχεις, 2,4 τὴν ἀγάπην σου τὴν πρώτην ἀφῆκας, 2,5 τὰ πρῶτα ἔργα ποίησον (2,6 τοῦτο ἔχεις), 2,23 καὶ τὰ τέκνα αὐτῆς ἀποκτενῶ (2,25 ὃ ἔχετε κρατήσατε, 3,17 οὐδὲν χρείαν ἔχω). Höchst selten ist die verschränkte Wortstellung 3,8 μικρὰν ἔχεις δύναμιν (3,4 ist ἔχεις ὀλίγα ὀνόματα zu lesen).

5) Beziehungen der ersten drei Kapitel zur altchristlichen Literatur. [241] An die synoptische Sprache erinnern sehr viele Wendungen: die Ermahnung zum Wachen, die Verheißung der weißen Kleider, des himmlischen Mahls, das Kommen des Herrn wie das des Diebes in der Nacht. Direkte Berührungen liegen vor 1,7f.; 3,5; 3,20f. Es finden sich spezielle Anklänge an Matthäus (1,7f.; 3,5) und an Lukas (3,5.20). Ferner scheinen unter den paulinischen Briefen Kol (vgl. mit 1,18; 3,14 Kol 1,15.18. [I Kor 15,20]) und Th (vgl. 2,2 und I Th 1,3; 3,3 und I Th 5,2; 3,10 und II Th 3,5) benutzt zu sein (vgl. noch 3,19 mit Hbr 12,5f.). Beachtenswerte Parallelen finden sich zu Jak. Beachte die Wendungen: στέφανος τῆς ζωῆς Jak 1,12; die Hervorhebung der πειρασμοί; zu 3,20 Jak 5,8 ἰδοὺ ὁ κριτὴς πρὸ τῶν θυρῶν ἕστηκεν; den Begriff νεκρός Apk 3,1; Jak 2,17; die energische Betonung der ἔργα (Sp. 521). Eine literarische Beziehung beweisen alle diese Beobachtungen nicht. Zu II Pt und Jud besteht auch nach Sp. keine andre Beziehung als die Benennung der Irrlehrer mit dem Namen Bileams. Zu erwähnen sind endlich noch die Beziehungen zu I Pt. Eine Gedankenparallele liegt unstreitig 1,5f.; 5,9f. (7,15) vgl. I Pt 1,18f.; 2,9 vor. Die Doxologie 1,6 findet sich wörtlich I Pt 4,11: ᾧ ἐστιν ἡ δόξα καὶ τὸ κράτος εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων. Ferner sind zu vergleichen die Ausdrücke: I Pt 5,4 τὸν ἀμαράντινον τῆς δόξης στέφανον (2,10), I Pt 2,16 δοῦλοι θεοῦ, die Zurückführung der Verfolgungen auf den Teufel I Pt 5,8f.[6]. Die Berührungen sind in der Tat auffällig und weisen wenigstens darauf mit Bestimmtheit hin, daß die Sendschreiben der Apk und I Pt in derselben geschichtlichen Situation, dem Beginn des Kampfes zwischen römischem Staat und Christentum, geschrieben sind.

6) Spezielle Andeutungen für die Zeitbestimmung der Sendschreiben. Mit der Angabe 1,9 ist nicht viel anzufangen. Selbst wenn es wahrscheinlich wäre, daß hier ein Exil des Johannes auf Patmos gemeint sei, so variierte doch die Tradition in der Angabe der Zeit dieses Exils. — Ein zweites und besseres Indicium ist die sicher bezeugte Nachricht, daß Laodicea 60/61 in einem Erdbeben zerstört wurde. Dies Erdbeben war nach der Schilderung des Tacitus ein so bedeutendes Ereignis, daß man seine Erwähnung in dem Sendschreiben erwarten sollte. Eine solche Anspielung auf diesen Vorfall liegt nun aber 3,17 nicht vor (s. den Kommentar). Dann aber bleibt kaum etwas andres übrig, als entweder mit Sp. die Briefe vor 60 anzusetzen, oder mit ihnen eine geraume Zeit, etwa ein Menschenalter hinunterzugehen. Alle bisherigen Erwägungen drängen zu dem Letzteren, und so führt uns auch diese Beobachtung in die Zeit hinab. — Noch weiter mit dem Ansatz der Sendschreiben (mit Vlt.) hinunterzugehen liegt m. E. wenigstens in diesen selbst kein zwingender Grund vor.

7) Nach alledem können wir uns an die kritische Lösung des Problems machen, das die Sendschreiben uns stellen: In welchem literarischen Verhältnis stehen diese zu den übrigen von ihnen völlig verschiedenen Partien des Buches? Eines scheint jedenfalls festzustehen: Für sich allein haben diese Kapitel niemals [242] existiert, sie haben nur Sinn als Einleitung zu längeren apokalyptischen Ausführungen. Die meisten Kritiker sehen daher in diesen Briefen den spätesten Bestandteil der Apk. Dieser Ansicht haftet nun eine unlösliche Schwierigkeit an. Gewöhnlich nämlich identifiziert man dann den Schreiber der ersten Kapitel mit dem letzten Redaktor oder Überarbeiter, dessen Arbeit man sich sonst möglichst mechanisch und nichtssagend vorzustellen pflegt. Und dann bleibt eben die Frage offen: Wie kommt es, daß der geistesmächtige Schriftsteller, der Kap. 1-3 schreiben konnte, sich nachher damit begnügte, Quellen zu kompilieren (Erbes, Weyland), oder in eine schon vorhandene Apk dürftige Zusätze einzuarbeiten (Vlt., Vischer, Pfleiderer I)? — Treffend hat Sabatier p. 10 dies Problem zusammengefaßt: le rédacteur chrétien n’est pas un simple littérateur ... ce Jean qui écrit aux sept églises d’Asie ... veut faire oeuvre apostolique ou moins oeuvre pastorale directe, et dès lors il vient difficile d’admettre, qu’un apôtre ou un pasteur d’âmes se soit borné à un simple rôle d’éditeur et d’annotateur. — Umgekehrt und jedenfalls richtiger suchen Sp. und J. Weiß die Sendschreiben gerade dem christlichen Urapokalyptiker zuzuschreiben und diesen von dem Apok. letzter Hand resp. dem Redaktor bestimmt zu trennen. Mit der Hypothese einer christlichen Urapokalypse, wie sie J. Weiß vorträgt, habe ich mich bereits oben S. 127f. auseinandergesetzt. Über Sp.s Versuch (der Ausscheidung der Siegelquelle) vgl. den Exkurs am Ende von Kap. 6. Somit gelangen wir auf die Bahn, die Wzs. Sabatier schon zuerst betreten haben. Allerdings stammen die ersten drei Kapitel der Apk von letzter Hand. Aber wir dürfen uns dann auch den Schriftsteller derselben nicht in den späteren Partien als simplen Redaktor denken, sondern als selbsttätigen Schriftsteller, der allerdings apokalyptische Quellen und Fragmente mündlicher und schriftlicher Tradition in reichem Maße verwandte, aber doch so, daß er selbsttätig und frei mit seinem Stoff schaltete und aus den verschiedenen Elementen ein neues Ganze schuf, das den Stempel, seines Geistes trägt. Das wird die einfachste Lösung des Problems sein.


  1. Man hat wohl dagegen hervorgehoben, daß hier doch nur ein Martyrium erwähnt werde. Allein es ist nicht nötig, daß es gleich in allen Fällen zum äußersten gekommen sein müßte. Wir stehen erst im Anfang einer Zeit, in der die Zugehörigkeit zur christlichen Religion als Verbrechen galt.
  2. Die Irrlehrer, die im II Pt und Jud-Brief geschildert werden, stehen doch schon, obwohl sich manche Berührungspunkte zeigen, auf einem fortgeschritteneren Standpunkte. Bei ihnen zeigen sich entschieden spekulative Elemente.
  3. Ich bemerke, daß ich hier nur etwaige sprachliche Besonderheiten des betreffenden Stückes aufzähle, und namentlich über die Eigentümlichkeiten in der Wortstellung referiere.
  4. Hier ist vielleicht noch das recht ungewöhnliche οὐδὲν χρείαν ἔχω 3,17 zu erwähnen.
  5. Schwankender Gebrauch: 3,11 κράτει, 2,25 κρατήσατε. Danach ist das Urteil 170,2 etwas zu modifizieren.
  6. Vgl. hier noch I Pt 5,13: die Bezeichnung Roms als Babel, καταβολὴ κόσμου 13,8; 17,8; I Pt. 1,20.
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