Die Perle (Bernhard)

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Autor: Marie Bernhard
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Titel: Die Perle
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 12–16
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Heften 1–20
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[12]
Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.


1.

Ziemlich weit draußen in einer langen Straße der Hafenstadt St. stand ein niedriges weißes Häuschen; man sah nichts Besonderes daran, und doch war’s eine Kuriosität und die ringsum wohnende Jugend hätte viel darum gegeben, einmal da hineinzukommen und all die Herrlichkeiten, mit denen das weiße Häuschen vollgestopft sein sollte, zu besichtigen. Aber der Besitzer, Kapitän Leupold, war ein Sonderling und gönnte nur wenigen Bevorzugten den Eintritt.

Die Straße, in der sich das Haus befand, hieß die Schiffstraße, und es wohnten dort zumeist Leute, die irgend etwas mit der See zu schaffen gehabt oder noch zu schaffen hatten. Jeder Einwohner der schmalen Gasse kannte den alten Leupold, und man sah ihm lächelnd nach, wenn er tagaus tagein, bei Wind und Wetter, um die zehnte Morgenstunde zum Hafen hinunterging, mit seinem wiegenden Schritt, die Hände tief in die weiten Taschen seines blauen Friesrockes vergraben, die Seemannsmütze mit dem Anker hintenübergesetzt, einen gelegentlichen Gruß nur mit einem Augenzwinkern und einem knurrenden Laut erwidernd.

Er galt für wohlhabend, hatte sein eigenes Segelboot unten im Hafen, mit dem er oft stundenlang auf hoher See war, und man wunderte sich allgemein, daß er sich schon zur Ruhe gesetzt hatte, denn er stand noch in guten Jahren. Wenn man ihn darum befragte, schüttelte er bloß unwirsch den Kopf und brummte: „Rheumatismus im linken Hinterbein!“ In der That schleppte er, namentlich bei nassem Wetter, den linken Fuß oft ein wenig nach.

Seine Bedienung besorgte ein ältlicher hüftlahmer Matrose, der vor Jahren vom Fockmast abgestürzt und seitdem dienstuntauglich war. Die Sage ging, daß dieser Seemann, von Geburt ein Holländer Namens Jan Grenboom, ein angezeichneter Koch sei und die kleine Häuslichkeit in musterhafter Ordnung halte. Besuch bekam der Kapitän fast nie, denn er behandelte die Gäste, die sich einstellten, nicht gerade verbindlich. Er konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute ihn viel fragten, ebensowenig, wenn sie sich über alles mögliche wunderten. Die fünf Zimmer, die der Kapitän bewohnte, waren auffallend klein und niedrig und glichen mit ihren winzigen Fensterchen ganz und gar den Kabinen auf einem Schiff; zwischen tausend Gerätschaften, die den Weg versperrten, mußte man sich durchwinden wie ein Aal, um beileibe nichts von den zahllosen Zierraten herunterzuwerfen, mit denen alle Möbel belastet waren.

„Aber sagen Sie, wie ist es Ihnen möglich, so zu leben?“ hieß es dann wohl. „Hier kann man ja keinen Schritt machen, ohne Schaden anzurichten!“

Ich kann hier leben und kann auch hier gehen!“ lautete die Antwort. „Andere brauchen’s ja nicht! Mir gefällt das so!“

„Aber langweilen Sie sich denn nie, so einsam, wie Sie doch sind?“

Dann gab es einen eigentümlichen Seitenblick auf den Frager. „Langweilen? Hier bei mir?“ In der That war genug Unterhaltendes da: Bücher über Bücher in den niedrigen Schränken, Land- und Seekarten, dazwischen Glaskästen mit reizenden bunten Vögelchen, hinter einer Scheibe eine Klapperschlange, vorzüglich ausgestopft, den Beschauer mit dräuend kaltem Blick musternd, Bilder von Kriegs- und Segelschiffen, seltene Waffen, köstliche türkische und ostindische Decken in originellen Mustern … wie ein Museum war’s, und wenn der Besitzer dieser Kostbarkeiten hätte erzählen wollen, welche Geschichte sich an dies oder jenes Stück knüpfte, er würde sich ein dankbares Publikum gewonnen haben. Aber er wollte das nicht.

Zwei lebende Wesen hatte er als Trophäen mit heimgebracht, zur Verzierung seines Hauswesens: Cato, einen Papagei von den Molukken, ein ziemlich unscheinbares Thier, aber überaus gelehrig, und Dido, ein possierliches Aeffchen aus Ceylon, vortrefflich abgerichtet und nur selten zur Strafe für irgend eine Unart an die meterlange feine Stahlkette gelegt, welche am Fenster der kleinsten Kabine befestigt war.

Das Seltsamste und Anziehendste aber in Kapitän Leupolds Wohnung war ein Bild, ein großes Oelgemälde, das in seinem Lieblingszimmer hing und auf jeden Beschauer Eindruck machen mußte. Es war eine herrliche Kopie von Tizians „büßender Magdalena“ aus dem Palazzo Pitti zu Florenz, von einem schlichten dunkeln Rahmen eingefaßt. Leuchtend und glühend, voll fremdartigen Reizes, hing das Bild in dieser Umgebung. Von Sonnenschein umzittert, strömte das Rotgold des Haares über die weiße Brust, und die in Thränen funkelnden Augen flehten zum Himmel empor … um was? Um Seelenfrieden? Um Kraft zur Entsagung? – Wie kam der alte Seebär zu diesem, gerade zu diesem Bilde? Mein Gott, so einfach! Er hatte immer dieselbe Erklärung: „Ich hab’ sie gesehen und sie hat mir gefallen, eben weil’s ein gemaltes Frauenzimmer war – ein lebendiges hätte das nicht zuwege gebracht. Und weil ich dort das Bild nicht von der Wand nehmen und in meine Kiste packen konnte, drum ließ ich’s von einem jungen Farbenschmierer abmalen. Die Stadt, in der es hing oder noch hängt, heißt Florenz, der Mann, der’s gemalt hat, heißt Tizian, und das Weib, das drauf ist, heißt Magdalena. ‚Büßende‘ steht dabei. Wer will, kann ja auch glauben, daß sie büßt!“ Darauf ein kurzes hartes Lachen, und weiter kein Wort, man mochte fragen, was man wollte.

Alles in allem ein Original, der Kapitän Leupold, wenn auch gerade kein liebenswürdiges, am wenigsten gegenüber den „Landratten“, die dem Kapitän unausstehlich waren.

Der junge Mann, der heute, an einem gottgesegneten Maientag, auf Leupolds Häuschen zusteuerte, gehörte nicht zu dieser unwillkommenen Menschensorte, sondern zur „Zunft“, das sah man aus den ersten Blick. Ein auserlesenes Seemannsexemplar – sechs Fuß Höhe, ein Gesicht wie aus Bronze gegossen, unternehmend blitzende blaue Augen darin, nagelneue Kapitänsuniform! Wie er so durch die Schiffstraße ging, tauschte er rechts und [14] links manchen Gruß mit den Vorübergehenden; die sahen ihm wohlgefällig nach, denn sie kannten ihn gut: das war ja Albrecht Kamphausen, des alten Leupold Mündel, sein Adoptivsohn, sein Liebling, so barsch er das auch immer bestritt. „Hat sich was – Liebling! Hab’ keinen Liebling! Weichliches Frauenzimmergewäsch!“

Albrechts Vater war Leupolds bester Freund gewesen, noch von der Schulbank her. Sie waren von Klasse zu Klasse zusammen aufgerückt – langsam, denn das Lernen war ihnen beiden verhaßt gewesen – Sie hatten jede freie Stunde miteinander im Boot auf Fluß und See verbracht, sie waren nachher auf dasselbe Schiff gekommen und hatten alles miteinander geteilt … Brot und Koje, Hunger und Prügel. Die beiderseitigen Eltern gaben die Jungen als halb verlorene Söhne auf: wer in der Schule nichts lernen wollte, der taugte nichts. Julius Kamphausens Vater war ein kleiner Beamter, hatte sieben Kinder und war froh, den unnützen Brotesser, aus dem doch nichts Rechtes werden würde, los zu sein. Erich Leupold war der Sohn eines unbemittelten Professors, er hatte nur noch eine einzige, bedeutend jüngere Schwester – ein wunderschönes zartes Kind, der Stolz der Eltern, die der Kleinen eine ganz besonders sorgsame Erziehung zu geben beschlossen, nachdem der Sohn ihnen so völlig „mißraten“ war. Inzwischen bestanden die beiden Freunde mit Ehren ihr Steuermannsexamen und mußten sich nun trennen. Erich zeigte für sein Fach eine hervorragende Befähigung und hatte auch Glück, es dauerte nicht lange, da war er Kapitän; natürlich nahm er auf seiner ersten selbständigen Reise den Freund als Obersteuermann an Bord. Auch in diesem Verhältnis vertrugen die beiden sich vortrefflich. und als dann auch Kamphausen den Befehl über ein eigenes Schiff erhielt, ging ihnen die Trennung sehr nahe.

Leupold blieb Junggesell, sein Freund heiratete nach einiger Zeit ein ganz armes Mädchen, das er nach kaum vierjähriger Ehe als Witwe zurückließ – ein Sturm im griechischen Archipel vernichtete das Schiff samt der ganzen Bemannung. Der trostlosen Frau nahm sich Leupold nach Kräften an, obgleich er sich bis dahin wenig um sie und ihr Söhnchen bekümmert hatte, denn er hielt Kamphausens Heirat für „Blödsinn“ und mit „Krabben“, wie er die kleinen Kinder nannte, wußte er nichts anzufangen. Er ließ die junge Frau mit dem Knaben nach Kiel kommen, wo gerade sein Schiff vor Anker lag, um das Notwendigste für die nächste Zeit mit ihr zu besprechen. Die beiden suchten ihn auf der „Möwe“, seinem stolzen Schiff, auf, Leupold stand, anscheinend teilnahmlos, auf dem Achterdeck, ihre Ankunft zu erwarten. Da hörte er seine Matrosen lachen. „Was’n spassiger Kerl!“ „Gott’s ein Donner, nu’ seh’ ein’ bloß, wie der kleine Racker lacht!“ Neugierig bog sich der Kapitän ein wenig vor. Unten in der Jolle, die seine Gäste an Bord schaffen sollte, sah er eine junge schwarzgekleidete Frau sitzen, die mit beiden Armen ein Bübchen umklammert hielt, einen kaum dreijährigen Wicht, der mit den Beinchen strampelte und die dicken kleinen Hände ineinander schlug, daß die Mutter Mühe hatte, ihn zu halten. Dazu jauchzte der Bursche aus voller Kehle. Der Mann, der die Ruder führte, lachte, die Leute auf den ringsnm liegenden Schiffen lachten, alles freute sich über den Knirps; nur die eigene Mutter lachte nicht mit, sondern hatte große traurige angstvolle Augen. Aber der alte Leupold schmunzelte, und als er die beiden oben auf seinem Schiff hatte, da ließ er die junge Frau ihre Anrede: „Ich bringe Ihnen Ihr Patchen, wie Sie gewünscht“, gar nicht vollenden. „Was Patchen! Komm hoch, Junge – so! Angst vor mir?“ Und als der Kleine ihm statt der Antwort auf die Schulter stieg und Anstalten traf, von da aus geradeswegs die Strickleiter in die Höhe zu gehen, in den Mastkorb hinauf, da verklärte sich sein strenges Gesicht. „Sieh, sieh, Albrecht Kamphausen, so sind wir gesonnen? Na, das kann eine gute Freundschaft werden!“ Verächtlich musterte er dann die weißen Röckchen des Kindes. „Ziehen Sie ihm doch den Plunder aus, Madame, daß er wie ’n Junge aussieht; ’nen richtigen Matrosenanzug muß er haben!“ Da hatten der jungen Frau die Augen geflammt. „Matrosenanzug? Daß er sich von früh auf daran gewöhnt und mir später auch zu Schiff geht, nicht wahr? Herr Kapitän, er soll alles andere werden, nur nicht Seemann.“ Worauf Leupold den Knaben kaltblütig von seiner Schulter herunternahm und auf den Boden setzte. „Ganz wie Sie wünschen! Da, lauf, Du Krabbe!“

Sein Anteil an dem Kinde schien erloschen, er besprach geschäftsmäßig mit der Mutter alles weitere, wies ihren Dank trocken zurück und brach das Zusammensein so kurz ab wie nur möglich. Jahrelang sah er sein Patenkind nicht wieder, er ließ sich seine Zeugnisse schicken, zahlte ihm Taschengeld, unterstützte die Mutter und kümmerte sich weiter um nichts. Albrecht Kamphausen wuchs inzwischen heran, bildhübsch und begabt; er hatte ein merkwürdiges Interesse für seinen Vormund, obgleich die Mutter es mit keinem Wort nährte; im übrigen machte er es wie einst sein Vater: jede freie Stunde im Boot, jede abgesparte Mark für Reisebeschreibungen, beides heimlich, denn der Junge liebte seine Mutter und wollte sie nicht betrüben. Aber er mußte das doch thun, als nun die Berufswahl an ihn herantrat und er erklärte, Seemann und nichts anderes! Sie setzte sich verzweifelt zur Wehr, flehte ihr Kind an in Angst und Thränen – der schöne junge Mensch küßte ihr die Thränen weg und sagte, er kenne seine selbstlose gute Mutter, sie werde seinem Lebensglück nicht im Wege stehen. Was sollte, was konnte sie thun? Die nötigen Mittel hatte sie nicht, aber Pate Leupold, der sich inzwischen zur Ruhe gesetzt, hatte sie und gab sie auch. Als er den entscheidenden Brief empfing, schlug er sich aufs Knie, daß es schallte, und rief triumphierend: „Hat mich die Krabbe also damals doch nicht betrogen!“ wie wenn der Dreijährige ihm dazumal ein Versprechen gegeben hätte.

Fortan war große Freundschaft zwischen dem Kapitän und Albrecht Kamphausen. Manchmal freilich war der junge Marineoffizier dem alten Seebären zu „fein“ und mußte ein paar spitze Redensarten einstecken, im allgemeinen aber stand Onkel Leupolds Herz ebenso wie sein Geldbeutel dem jungen Mann jederzeit offen; und jetzt zumal, da Albrecht wohlbestallter Korvettenkapitän auf Seiner Majestät Schiff „Nixe“ geworden war und im Begriff stand, seine erste Fahrt als solcher nach den chinesischen Gewässern anzutreten, war des alten Mannes Seele von Freude erfüllt und er gestand sich ganz insgeheim, daß er stolz auf „seines alten Kamphausen Jungen“ sei und daß er ihn beinahe lieber habe als seine leiblichen Anverwandten.

Mit diesen hatte er auch in der That wenig genug zu thun. Seine um so viel jüngere Schwester war im Elternhause immer wie eine Prinzessin behandelt worden, und wenn Erich, der ein etwas unbeholfener Junge gewesen war, das feine Püppchen einmal anfassen wollte, dann hieß es gleich: „Sei doch nicht so derb! Du brichst sie ja entzwei!“ So gewöhnte er sich daran, das zarte goldhaarige Geschöpf aus der Ferne zu bewundern. Als Elisabeth dann erwachsen war, kam er nur selten nach Hause und konnte ihr gegenüber keinen geschwisterlichen Ton finden, sie war ihm fremd geworden. Die Eltern sahen noch ihren Lieblingswunsch erfüllt: das Kind ihres Herzens machte eine glänzende Partie. Wenigstens ließ sich alles danach an. Der Bräutigam war ein Freiherr von Doßberg, vom ältesten Adel, Großgrundbesitzer, eine vornehme Erscheinung und derart bezaubert von Elisabeth, daß sein Entzücken selbst ihren in dieser Richtung recht anspruchsvollen Eltern genügte; es gab nichts, was ihm für seine reizende Braut gut und schön genug gewesen wäre, und er überschüttete sie mit Kostbarkeiten. Leider stellte es sich hinterher heraus, daß diese Geschenke mit seinen Verhältnissen durchaus nicht im Einklang standen. Der junge Freiherr war für seine Person keineswegs ein Verschwender, dabei ein strebsamer Landwirt. Allein seine Vorfahren hatten flott gelebt und das herrliche, jahrhundertelang im Besitz der Familie befindliche Gut heruntergebracht, so daß der jetzige Freiherr, selbst bei äußerster Sparsamkeit, sich kaum darauf hätte behaupten können. Wie aber konnte er sparsam sein, da seine angebetete junge Frau, zart und schwach wie die empfindlichste Treibhauspflanze, die sorgsamste Pflege brauchte! Er mußte mit ihr, die er doch unmöglich allein reisen lassen durfte, die kostspieligsten Bäder besuchen, mehrere Winter im Süden zubringen und alles thun, um sie sich selbst und den beiden Kindern, die sie ihm geboren, zu erhalten! Dazu kam, daß Doßberg es nie über sich gewann, Elisabeth zu sagen, wie es mit seinen Vermögensverhältnissen stand. Er hatte sie von Anfang an wie ein geliebtes, sehr verwöhntes Kind behandelt, und sie hatte sich das willig gefallen lassen. Jetzt aber war es zu spät, sie ins Vertrauen zu ziehen. Seit fast zwei Jahren war Elisabeth unheilbar krank, unweigerlich an ihr Zimmer und fast immer ans Bett gefesselt – eine Aufklärung über den Ruin, der ihrem Gatten drohte, hätte sie töten können. Sie selbst täuschte sich über ihren Zustand, hoffte immer wieder auf Besserung, versprach sich viel vom Frühling, machte Pläne für den Sommer, und die Ihrigen stimmten ihr bei und bauten Luftschlösser, deren Unhaltbarkeit sie am besten kannten. Jetzt war es nicht schwer [15] mehr, die arme Frau zu betrügen; sie kam nicht mehr hinaus, sah nur noch Mann und Kinder – wie sollte sie ahnen, daß die beiden schönen Vorwerke, die zu ihrem Gut gehört hatten, längst in fremden Händen waren, daß der prachtvolle Waldbestand gelichtet, der Garten ungepflegt, mehr als die Hälfte der Dienerschaft entlassen war? Die alten kostbaren Gobelins, die herrlichen Kunstmöbel, die Schränke von eingelegter Arbeit, die Schnitzereien und Bilder, an denen sie sich einst erfreute, Dinge, welche die Gesellschaftsräume im anderen Flügel des Hauses bargen, das alles war längst verkauft. Es hatte den Herrn des Hauses einen schweren Kampf gekostet, sich von diesen Schätzen zu trennen, aber er hatte sie geopfert, um das Gut, das Familiengut, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing, zu retten. Seinen kostbaren Viehbestand, seine edeln Pferde hatte er hingegeben, er hätte trockenes Brot essen mögen, um den alten Besitz zu halten. Tropfen in ein Meer! Die Kinder des Hauses, eine achtzehnjährige Tochter und ein Junge von sechzehn Jahren, der in St. das Gymnasium besuchte, konnten oder wollten auch nicht durchschauen, wie es um den Vater stand, trotz der Veränderungen, die nach und nach in Haus und Wirtschaft Platz gegriffen hatten, und jedenfalls sprachen sie nicht weiter von dem, was sie etwa gemerkt hatten; die Jugend ist sorglos und verschließt Auge und Ohr absichtlich oder unbewußt gegen unbequeme Mahnungen.

Nur der alte Leupold war genau unterrichtet. Er besuchte den Schwager und die kranke Schwester, deren Gut kaum vier Meilen von St. entfernt lag, sehr selten, aber seine alten Freunde, die Kapitäne und Lotsen, trugen ihm allerlei zu, was ihm zu denken gab. Es that ihm leid, denn er hatte die Kinder gern, aber helfen konnte er nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Sein erspartes Vermögen machte nur einen Bruchteil dessen aus, was der Schwager brauchte, um sein Fahrzeug wieder flott zu machen. So begnügte er sich, seiner Nichte, wenn sie gelegentlich zur Stadt kam, ein paar Goldstücke in die Kleidertasche zu schmuggeln, und seinem Neffen, dem Obersekundaner, stille Wünsche in Bezug auf Theaterbillets, Schlittschuhe und Cigaretten zu erfüllen – viel weiter ging sein Anteil nicht. Am Krankenlager seiner Schwester fühlte er sich verlegen, das Netz von kleinen Lügen und Beschönigungen, mit dem man sie umsponnen hielt, hätte er am liebsten mit einem derben Ruck zerrissen, und für seinen Schwager, so sehr er ihn jetzt bedauerte, hatte er nie Verständnis gehabt. Ein Mensch, der nicht den Mut zur Wahrheit besaß, gleichviel, aus welchen Gründen, konnte einem Charakter wie dem Leupolds nicht sympathisch sein. Das einzige Bindeglied zwischen den beiden ungleichen Naturen waren Doßbergs Kinder; der Freiherr war ein überaus zärtlicher Vater, und Leupold „konnte nicht umhin,“ wie er zuweilen mit einer Art von Bedauern äußerte, „die Kinder gern zu haben, weil doch manches in ihnen steckte, was selbst die verrückteste Erziehung nicht ganz auszutreiben vermochte“.




2.

Jan Grenboom, der in der kleinen Küche herumhantierte, sah den jungen Kamphausen kommen und öffnete ihm die Thür.

„Morgen, Jan!“

„Morgen, Kap’tän!“

„Alles klar?“

„Klar!“

„Wo?“

„Im Achterdeck!“

Dies war Leupolds Hinterstube, in der er sich mit Vorliebe aufhielt. Er saß dort und leimte und bastelte an einem japanischen Lacktischchen herum, das eins der zierlichen überschlanken Beine verloren hatte. Der helle Sonnenschein, der durch die grünen Ranken vor dem Fenster fiel, tauchte die „büßende Magdalena“ in eine zitternde Lichtflut, die Brust unter dem Wellensturz des goldroten Haares schien zu atmen, zu seufzen, der verführerische Mund regte sich leise.

Als Kamphausen eintrat, legte der Papagei, welcher auf dem breiten Fensterbrett zwischen Haarlemer Tulpen herumkletterte, bedächtig den Kopf auf eine Seite, blinzelte mit einem Auge schlau zu dem neuen Gast hinüber und meldete ihn seinem Herrn mit einem schnarrenden „Gut Freund, gut Freund!“ an. Dido, das Aeffchen, das neben Leupold auf dem Stuhl kauerte und ihm aufmerksam auf die Hände sah, blickte nur flüchtig auf und vertiefte sich dann aufs neue in seine wichtige Beschäftigung.

„Servus, Kapitän!“

„Servus, Kapitän! Komm’ her, setz’ Dich!“

Der alte Leupold hatte sich’s verbeten, von Albrecht mit „Onkel“ angeredet zu werden, das sei gut für Kinder, aber nichts für ausgewachsene Männer. Sein liebster Titel sei und bleibe „Kapitän“, und gottlob könne er ja den jungen Mann auch so nennen – das sei das beste für sie beide.

„Ist’s nicht jammerschade?“ Leupold hielt seinem Gast das invalide Tischchen hin. „Jan Grenboom, das alte Nilpferd, stolpert über das Fell des Eisbären dort und stützt sich mit seiner ganzen Schwere auf das niedliche Ding. Krach, und das Bein ist ab!“

Albrecht war offenbar durch den Schaden, den Jan Grenboom angerichtet hatte, nicht sehr gerührt. Er hatte sich leicht in den Sessel zurückgelehnt, seine Rechte spielte mechanisch mit einem Zipfel der Tischdecke, in seinen emporgerichteten Augen stand ein ernstes Nachsinnen. Leupold sah mit zusammengezogenen Brauen von seinem Tischbein empor. „Hm? Also? Wann geht’s los?“

„Heute in acht Tagen, Kapitän! Am vierzehnten!“

„Alle meine Adressen sorgfältig aufgeschrieben?“

„Sehr sorgfältig.“

„Werden Dir gute Dienste thun in Shanghai, in Yokohama, in Bangkok.“

„Ich zweifle nicht daran und bin Dir sehr dankbar.“

„Unsinn!“

Es war ein Weilchen still. Cato hatte sich auf seine Messingstange verfügt, er hing mit einer Kralle am Querstab, den Kopf nach unten, und schaukelte sich unermüdlich hin und her, sich von Zeit zu Zeit leise selbst ermahnend: „Laß’ das dumme Schaukeln! Das dumme Schaukeln!“

„Ich wollte Dich um etwas bitten, Kapitän, Dir etwas sagen,“ begann Kamphausen, ein wenig stockend.

„Steh’ zu Diensten! Ganz Ohr! Ist’s –?“ Der Alte klopfte sich mit vielsagender Miene auf die Tasche.

„Pfui!“ sagte Albrecht. „Ich als wohlbestallter Kapitän, und nach allem, was Du für mich gethan hast!“

„Könntest ja Schulden haben.“

„Ich hab’ Dir doch neulich gesagt, ich hätte keine! Hältst Du mich für einen Lügner?“

„Nein, aber man kann heute keine Schulden haben, und morgen hat man.“

„Das ist nicht mein Fall. Nein, es ist – ist –“

Hier öffnete sich die Thür und Jan Grenboom erschien mit einem Präsentierbrett. Sofort ließ der Papagei ein schmetterndes Lachen hören und flog ihm auf den Kopf, während Dido mit einer blitzschnellen Bewegung an seinem Halse hing und die dünnen grauen Aermchen liebkosend um die Schultern des Alten legte. So, mit dem Vogel auf dem Kopf, den Affen an der Brust, trat Jan mit seinem Brett näher heran. Sein Herr warnte ihn mit einem scharfen Seitenblick vor dem Eisbärenfell.

„Alter Genever, Kapitän Albrecht, ’was Probates! Hier, frische Smyrnafeigen, letzte Ernte, und alter Chesterkäse, echter – Prindall ist vorige Woche von Portsmouth hereingekommen und hat mir diesen Freundschaftsdienst erwiesen. Säble Dir ’nen vernünftigen Schnitt runter! Nimm auch ’nen Genever, alte Robbe – aber purzelst Du mir nochmal über den Eisbären –“

Jan Grenboom brummte einen Laut der Erwiderung und stülpte das volle Glas in seinen offenen Mund hinein, als wollte er es samt seinem Inhalt verschlucken. Cato schrie eifrig: „Prost, Jan, Prost, Jan!“ und Dido griff in den Teller mit Feigen, um im nächsten Augenblick mit ihrem Raube oben auf der Gardinenstange zu sitzen.

„Wart’, Du naschhaftes Frauenzimmer! So sind sie alle, die Weiher! Können das Leckermaul nicht bezähmen! Jan, nimm das Geziefer mit!“ Leupold kaute auf beiden Backen und sah, als der Matrose samt Gefolge das Zimmer verlassen hatte, erwartungsvoll zu Kamphausen hinüber. Dieser aber schien vergessen zu haben, daß er vorhin in seiner Mitteilung unterbrochen worden war. Unverwandt starrte er das Bild der büßenden Magdalena an, das die Sonne noch immer mit einem funkelnden Goldnetz überflimmerte; er studierte das schöne Weib so genau, als sehe er es heute zum ersten Male.

„Hast Du Deinen ‚Korsar‘ mitgebracht?“ unterbrach der alte Kapitän das Schweigen.

„Ja, natürlich! Er liegt vor der Thür.“

„Sehr vernünftig von Dir, das Vieh draußen zu lassen. [16] Wenn ich an die Jagd denke, die er ’mal auf Dido machte – meine Kabinen sahen nachher wie Schlachtfelder aus. Aber hungern soll der Kerl da draußen doch nicht. Jan! Jan Grenboom! Wo steckt das Walroß? – Gieb dem ‚Korsar‘ ein Stück Fleisch und auch zu saufen, wenn er Durst hat!“

Gleich darauf hörte man von außen das tiefe dröhnende Bellen eines großen Hundes, und vor der niedrigen Fensterscheibe erschien der Kopf eines schwarz und weiß gefleckten Leonbergers, mit langem Behang und großen braunen Augen. Das Tier blickte aufmerksam ins Zimmer, um sich zu vergewissern, ob sein Herr noch da sei. Kamphausen nickte ihm zu wie einem alten Freund. „Korsar“ ließ ein leises freudiges Winseln hören und verschwand.

„Kluges Vieh!“ bemerkte Leupold beifällig. „Aber wenn Du, wie es scheint, keinen Appetit hast, dann komm’ mit mir in den Garten, die Sonne brennt ja hier ins Achterdeck herein, daß man Eier drin sieden könnte! Ist Dir’s recht?“

„Ganz recht, Kapitän!“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 2, S. 32–35

[32] Sonnig und freundlich, ein kleines blühendes Eiland, lag das Gärtchen des Kapitäns Leupold da. Eben fing der Flieder an, aufzubrechen, die Schneeballen hatten dicke Knospen, der Goldregen war schon voll entfaltet. Die Wege zwischen den sorgsam gepflegten Blumenstücken waren sauber mit Kies bestreut und frisch geharkt, die Muscheln um die Beete hübsch geordnet. Im Hintergrund des Gärtchens, zwischen zwei hohen Fliederbüschen, stand eine weißgestrichene Bank; dorthin steuerte der alte Kapitän seinen Gast. Als sie saßen, holte Leupold seine kurze Kalkpfeife aus der Brusttasche und zündete sie an. Kamphausen sah aufmerksam den blauen Ringelchen nach, wie sie aufstiegen und sich in der klaren Luft zerteilten.

„Kapitän.“ begann er endlich, „wie geht’s Deinen Verwandten?“

Der Angeredete hob die buschigen Brauen.

„Seit wann interessieren Dich die? Wie soll’s ihnen gehen! Die Schwester liegt da und wartet auf den Tod, und der Schwager ist verzweifelt und kann das Gut nicht halten, was er auch anfängt. So geht’s denen!“

„Ich weiß, ich weiß!“ murmelte Albrecht, im Gegensatz zu seiner soeben gestellten Frage; er sah sehr niedergeschlagen aus. „Und die Kinder?“

„Der Junge besucht mich zuweilen – hat keine Ahnung davon, wie’s zu Hause steht, spricht von Mamas baldiger Genesung und ist felsenfest in dem Gedanken, er werde ’mal das väterliche Gut übernehmen. Nichts anderes als den Landwirt im Kopf, nichts anderes als das Familiengut! Ganz wie sein Alter! Das Mädel –“

Kamphausen richtete sich gerade auf, über seine männlichen Züge ging es wie ein Leuchten. „Isolde!“ sagte er ganz leise.

„Thu’ mir den Gefallen und gieb ihr nicht den verrückten Namen! Isolde – das war ein tolles Frauenzimmer mit Liebestränken – hab’ die Oper ’mal in Hamburg gesehen. Als der Junge geboren wurde, schlug ich vor, ihn Tristan zu nennen – heutzutag’ soll doch alles stilvoll sein – aber nein, das wollten sie nicht, Armin mußt’ er heißen. Na, wir haben ja ein befreites Deutschland auch ohne diesen jungen Helden! Das Mädel ist übrigens noch die Vernünftigste von allen, läßt sich wenigstens bloß ‚Ilse‘ rufen. Eitel wird sie natürlich auch sein –“

„Das glaube ich nicht, trotzdem ihre Schönheit ihr ein Recht dazu giebt,“ schaltete Kamphausen rasch ein.

Der alte Kapitän rauchte sehr scharf und sah seinen Gefährten mit einem sonderbaren Seitenblick an. „Schön, sagst Du? Ja, ja, sie hat’s von der Elisabeth. Sonst aber gleicht die Ilse ihrer Mutter wenig. Das Mädel ist ’was für sich, kerngesund an Leib und Seele, kein Stück Wachs, das man kneten kann, wie man will. Der Mann, der die ’mal bekommt, kriegt keine Puppe, sondern ’nen wirklichen Menschen. Bin übrigens neugierig, wen sie ’mal heiraten wird!“

„Mich!“ sagte Kamphausen kurz und fest.

Leupold fuhr herum und musterte den Sprecher mit einem langen Blick vom Kopf bis zum Fuß. „Wen?“ wiederholte er lauter.

„Mich!“ entgegnete Albrecht noch einmal, ebenso kurz und fest.

Der Alte sprach zunächst kein Wort, er wiegte nur sachte den Kopf hin und her.

„Siehst Du, Kapitän, deshalb bin ich ja hier. Ich wollte Dir sagen, wie das alles so gekommen ist –“

„Und ich will kein Wort davon hören, kein Sterbenswort! Heiraten? Du? Ist das erhört? Kaum zu Brot gekommen, und nun schon Weibergedanken! Genau wie bei Deinem Vater – der konnte auch nicht früh genug in sein Verderben.“

Albrecht ließ ihn nicht weiterreden; er stand auf und sah von seiner vollen stattlichen Höhe auf den eifernden alten Mann herab. „Ich will Dir etwas sagen, Kapitän! Du bist der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen, hast meine Mutter unterstützt und Dich stets auch meiner angenommen – ich bin Dir sehr viel Dank schuldig, das hab’ ich immer empfunden, hab’ mich bemüht, Dir Ehre zu machen, und gedenke das weiter zu thun. Aber das Glück, das mein Vater an seiner Ehe gefunden hat, lass’ ich nicht antasten, und ob ich selbst heiraten will oder nicht und wen ich heiraten will, das geht mich allein an. Wenn ich Dir freiwillig von der Sache rede, so geschieht das in dem Glauben, daß Du Anteil nimmst an meinem Glück.“

Der alte Leupold war auch aufgestanden. „Du sprichst hübsch deutlich, Kapitän, das muß man Dir lassen! Was Du aber eben gesagt hast – richtig ist es schon gewesen. Mir hätt’ einer kommen sollen und mich warnen oder zurückhalten, als ich … aber ’s ist egal, lohnt nicht, davon zu reden. Und Dein Alter, wie ich dem in seine Heiratspläne dreinreden wollte, wurd’ borstig wie’n Stachelschwein; fehlte bloß noch, daß er blank zog und mir mit dem Messer auf den Leib rückte.“

„Du siehst also, Kapitän –“

„Ich sehe, daß die sogenannte Liebe ’n gewisses Stadium von Verrücktheit bedingt; erlaube, daß ich diese Ansicht behalte!“

„Bitte! Mir liegt nichts ferner, als Dich beeinflussen zu wollen. Nur mußt Du auch mir meinen Kopf lassen. Wie hoch ich in anderen Dingen Deinen guten Rat schätze, weißt Du.“

[34] „Hm! Aber nun erzähl’ doch mal! Die Ilse! Da schlag’ doch Gott den Teufel tot! Wo in aller Welt hast Du sie denn eigentlich zu sehen bekommen?“

„Hier bei Dir war’s, im vergangenen Herbst. Wir saßen in Deinem Achterdeck und Du erzähltest eben vom Kampf mit einem Känguruh, das einen von Eurer Schiffsmannschaft in Lebensgefahr gebracht hatte – erinnerst Du Dich dessen nicht?“

„Des Känguruhs wohl, aber nicht der Ilse – nimm’s nicht übel!“

„Rührt mich nicht, Kapitän! Also sie kam herein und ich fand sie so schön, daß ich sie wie ein Wunder anstarrte und, glaub’ ich, zu grüßen vergaß. Dann stelltest Du uns einander vor –“

„Ich? Sollte ich mich wirklich so sehr vergessen haben?“

„Ich bat Dich -“

„Aha! Batest mich! Dann mag’s sein!“

„Wir unterhielten uns nun – das heißt, was wir eigentlich miteinander sprachen, das könnte ich jetzt nicht mehr sagen.“ Albrechts gebräuntes männliches Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, während er halb die Augen zudrückte, als sähe er nach innen.

„Schadet nichts,“ tröstete der Alte. „Wird doch lauter dummes Zeug gewesen sein. Wär’ das erste Mal, daß es sich gelohnt hätte, mit ’nem Frauenzimmer zu reden! Na, was weiter?“

„Ich begleitete Deine Nichte dann noch zu dem Gasthof, in dem sie mit ihrem Vater abzusteigen pflegt. Der Freiherr befand sich noch in der Stadt, und so promenierten wir ein wenig im Garten; dabei sprachen wir viel von Dir.“

„Sehr gütig! Hattet Ihr nichts Besseres zu reden?“

„Nein! Isolde -“

„Nenn’ sie nicht bei diesem fürchterlichen Theaternamen! Sag’ ‚Ilse‘!“

„Ilse also hält sehr viel von Dir.“

„Sehr verbunden! Wär sie nicht zufällig ein Frauenzimmer, ich würd’ auch ’was von ihr halten. Aber so! Und weiter?“

„Schließlich kam ihr Vater. Ilse stellte mich vor und ich that mein möglichstes, ihn für mich einzunehmen, allein ich merkte sofort, daß ich ihm nicht gefiel.“

Leupold ließ sein hartes kurzes Lachen hören. „Kann ich mir denken! Wie könnte meinem hochgeborenen Herrn Schwager der Pate und Pflegesohn des alten Kapitän Leupold gefallen! Ein Mensch, der sagt, was er denkt, ein Mensch, der auf dem Wasser zu Hause ist und kein Familiengut besitzt!“

„Ich ließ mich das nicht anfechten, sondern kündigte ihm in höflichster Form meine Absicht an, in den nächsten Tagen auf dem Gut meinen Besuch zu machen. Er nahm das sehr frostig auf. Trotzdem bin ich dann dort gewesen und hab’ meinen Besuch ausgeführt, aber es waren sehr unerquickliche Stunden für mich. Der Baron empfing mich nicht freundlich. Er mochte merken, aus welchem Grunde ich kam, und that alles, um mich abzuschrecken. Er ließ mich mit Ilse keinen Augenblick allein und war sehr unwillig, als ein Pferdehändler gemeldet wurde, mit dem er längere Zeit zu unterhandeln hatte. Inzwischen führte Isolde mich in den Park. Es war ein schöner sonnengoldener Herbsttag –“ Kamphausens Stimme war immer leiser geworden, jetzt verstummte sie ganz; die Erinnerung hielt ihn gefangen, er vergaß, daß er erzählen wollte.

„Schöner alter Park, nicht?“ schaltete Leupold ein.

„Ja.“ antwortete der junge Mann selbstvergessen, „es war schön. Wir gingen durch den ganzen Park über die Waldwiese bis zum Meer –“

„Hübsche Strecke das! Und mein Herr Schwager amüsierte sich unterdessen mit dem Pferdehändler? ’ne nette Geschichte!“

„Und angesichts der See, die meine Heimat ist, sprach ich mit Isolde!“

„Lange besonnen habt Ihr Euch nicht, Kapitän, das muß ich sagen! Sprachst mit ihr! Und sie sagte natürlich gleich Ja?“

„Nicht gleich, sie hatte Bedenken; aber am Ende gab sie mir doch ihr Wort.“

Leupold maß seinen jungen Freund mit einem sprechenden Blick. „Kann’s ihr nicht verdenken!“ stand darin zu lesen.

„Wir kamen überein, unsere Verlobung einstweilen geheim zu halten. Noch hatte ich ja meine Beförderung nicht. Vor allem galt es, Zeit zu gewinnen, die kranke Mutter vorzubereiten, das Vorurteil des Vaters nach und nach zu besiegen –“

Der Alte lachte auf. „Bin verteufelt neugierig, wie Ihr das Ding anstellen wollt! Vorurteil besiegen! Was ’n richtiges Vorurteil ist, mein lieber Kapitän, das läßt sich ganz einfach nicht besiegen, und wenn Du Dich auf den Kopf stellst! Mein Herr Schwager will nicht umsonst Vater einer schönen Tochter sein. Was denkst Du? Der wird sich frei nach Wallenstein seinen Eidam auf Europas Thronen suchen oder wenigstens unter Leuten, die einem Thron nahestehen!“

„Der Baron ist ein zärtlicher Vater und liebt seine Tochter –“

„Natürlich, mein Sohn! Weil er aber auch sich selbst liebt, wird er ihr sagen, Du bist jung, Kind, kennst die Welt und Dein eigenes Herz noch nicht. Steh’ ab von der phantastischen Liebesgeschichte mit dem Seemann, der Dir ein so unsicheres gefahrvolles Los bietet, laß Deinen klugen alten Vater für Dein Glück – und nebenbei auch für sein eigenes! – sorgen.“

„Ilse wird niemals ihr Lebensglück und das meinige zum Opfer bringen!“

„Schön! Also sie wird nicht. Dann bin ich bloß neugierig, zu erfahren, wie die Sachen jetzt stehen.“

„Wie sollen sie stehen? Wir sind verlobt miteinander, aber das, was anderer Leute Glückseligkeit ist, die Brautzeit, das bringt uns nur Sehnsuchtsqualen und Enttäuschungen. Nicht einmal Ilses Mutter haben wir in unser Geheimnis einweihen können – sie ist seit Monaten viel zu angegriffen, hätte keine ruhige Stunde mehr, wüßte sie, daß ihr Liebling die Verlobte eines Seemanns sei. Der Freiherr selbst hat sein schroffes Benehmen noch gesteigert, eine Werbung von mir um die Hand seiner Tochter wäre die bare Unvernunft. So heißt es denn: warten, sich gedulden! Geduld! Ein schönes Wort für einen leidenschaftlich liebenden Mann, der nun auf ein volles Jahr scheiden, einer ungewissen Zukunft entgegengehen soll.“

„Hm! Und Du hast das Mädchen, die Ilse, in der Zwischenzeit nur selten gesehen?“

„Sehr selten, fast nur von weitem. Die Briefe oder vielmehr die ängstlich hingekritzelten Zettelchen, die sie mir auf allerlei Umwegen zukommen ließ, bestellten mich da und dorthin, ins Theater, in ein Konzert, in irgend einen Laden. Da hab’ ich sie denn gesehen – gesprochen eigentlich nie, denn kann man das Sprechen nennen, wenn man sich kaum die Gelegenheit zu einem geflüsterten Liebeswort, zu einer hastig hingeworfenen Frage zusammenzustehlen vermag? Auch sie leidet, das weiß ich, aber sie ist ein Weib, ist fügsamer, geduldiger als unsereins, und sie hat ihre Eltern, ihren Bruder, Freundinnen … ich hab’ nur sie! Nur sie!“ Er furchte seine Stirn und schaute stumm und finster vor sich hin.

„Und was soll nun werden?“ fragte Leupold endlich.

„Was werden soll? Abschied natürlich! Aber ehe wir uns vielleicht auf immer trennen, wollten wir Dich bitten, Kapitän, hier bei Dir uns Lebewohl sagen zu dürfen.“

„Hier bei mir?“

„Ja, bei Dir! Ich wüßte nicht, wie wir es sonst anfangen sollten, uns ungestört zu sehen. In acht Tagen geht die ‚Nixe‘ vom Kriegshafen ab, am zwölften muß ich dort sein; heute haben wir den siebenten Mai. Isolde wird es einrichten können, in diesen fünf Tagen einmal zur Stadt zu kommen, mit ihrem Vater natürlich, denn allein läßt er sie nie hierher. Er wird es ruhig zugeben, daß Isolde Dich wieder einmal besucht, um Dir Nachrichten und Grüße von Deiner Schwester zu bringen. Kapitän, Du mußt uns dies letzte schmerzliche Glück noch gönnen!“

„So? Muß ich?“

„Du thust es, Kapitän, nicht wahr?“

„Zum Teufel, ja! Obgleich mir die ganze Verlobungsgeschichte in der Seele zuwider ist! Wenn ich’s nicht thäte, fingt Ihr beiden am Ende etwas ganz Verrücktes an. Also zu – genießt Euer ‚schmerzliches Glück‘!“

„Ist das der Segen, den Du uns zu unserer Verlobung giebst?“

„Von mir ist überhaupt nicht zu verlangen, daß ich meinen Segen zu irgend einer Verlobung gebe, sei sie, wie sie wolle! Und vollends bei ’nem Seemann. Ein Seemann soll ledig bleiben, darf nicht ’ne ganze Familie mitreißen in sein Leben voll Angst und Gefahr. Und die Ilse … na, einerlei, ’s ist nichts mehr zu machen! Rennt Euch getrost die Köpfe ein!“

„Du wirst auch gestatten, daß ich meine Briefe an Isolde [35] unter Deiner Adresse hierherschicke, und wirst mir Nachrichten von ihr vermitteln?“

„Neue Ehre! Bureau für Liebesbriefe!“ Der Galgenhumor sprühte dem alten Seebären nur so aus den Augen. „Sonst noch etwas gefällig? Steh’ zu Diensten!“

„Nur das eine noch: daß Du alles, was in Deiner Macht steht, dazu thust, Ilse in der Treue zu mir zu bestärken. Ich vertraue ihr ganz, aber sie ist ein zartes Mädchen und wird um meinetwillen dem Ansturm der ganzen Familie standhalten müssen. Sorge Du dann dafür, Kapitän, daß sie da nicht allein steht, sprich für mich, handle für mich, sieh zu, daß sie fest und treu bleibt –“

Er kam nicht weiter. Der alte Kapitän legte seine Hand schwer auf die Schulter seines Gastes und lachte – ein schneidendes, beinahe böses Lachen war’s. „Wenn man Dich so ansieht, man sollt’s nicht glauben! Sechs Fuß Höhe, einige dreißig Jahr’ alt und ’n gut Stück Welt gesehen, kein Dummkopf – und dabei so kindisch wie ein achtjähriger Schuljunge! Will ’nen andern zum Hüter eines Frauenzimmers machen! Und der andere heißt Erich Leupold! Wenn das nicht zum Lachen ist!“

Albrecht schüttelte die Hand des Alten mit einer raschen Bewegung von seinen Schultern ab und richtete seine stattliche Gestalt zu ihrer ganzen Höhe auf. „Ich muß annehmen, Du willst mich verletzen, Kapitän! Wodurch ich das verdient habe, weiß ich nicht. Wir zwei, Du und ich, sehen die Welt aus verschiedenen Augen an – und laß’ mich Dir bekennen, daß ich lebhaft wünsche, sie niemals mit Deinen Augen zu sehen!“

„Amen! Das ist auch mein Wunsch! Und faß’ mein Lachen nicht tragisch auf, Albrecht! Nimm Du den alten Leupold, wie er nun ’mal ist, und ich will den jungen Kamphausen meinerseits auch nehmen, wie er ’mal ist – mit heimlicher Brantschaft und allem, was drum und dran hängt. Also kommt und nehmt Abschied voneinander bei mir, solang’ Ihr wollt, schickt mir Eure Liebesbriefe und degradiert mich zum Liebesboten – ich will alles thun, obgleich ich mir so ’was nicht hätt’ träumen lassen. Und wenn während Deiner Abwesenheit Deine Auserwählte zu mir kommt, dann will ich sie willkommen heißen und sogar mit ihr von Dir reden. Zufrieden?“ Der Alte hielt seine breite kurze Hand hin.

„Zufrieden, Kapitän! Ich danke Dir! Aber verzeih’, daß ich jetzt gehen muß! Du erhältst noch Nachricht, wann ich mich mit Isolde bei Dir treffe. Gehst Du auch gleich ins Haus zurück?“

Ja, der Alte that das. Und während Kamphausen seinem Hund pfiff und durch die sonnige Schiffstraße davonging, schritt Leupold durch seine „Kabinen“ bis ins „Achterdeck“, stellte sich, breit aufgepflanzt, die Hände in den Rocktaschen vergraben, vor das Bild der büßenden Magdalena und musterte das schöne Weib mit so herausforderndem Hohn, als sollte es aus dem Rahmen treten und vor ihm Rechenschaft ablegen über alles, was es gesündigt hatte.




3.

Schön und sommerlich warm war der junge Tag heraufgestiegen. So festlich sah er aus, als wüßte er genau, daß er ein Maientag sei; mit lachendem Grün geschmückt, trug er stolz auf dem Haupt die goldene Strahlenkrone. Und die Lerchen stiegen mit trillernden Jubellauten empor, als fühlten auch sie die Auferstehungswonne in der kleinen Vogelbrust; schwirrend flogen die Schwalben um die altersgrauen Dachfirste und Türme von Schloß „Perle“, wo sie den bequemsten Unterschlupf fanden. Im Schloß schien noch alles zu schlafen. Der alte charakteristische Steinbau lag da, so plump und trotzig, wie Herr Hans Gottfried, der erste Baron Doßberg, ihn anno Domini 1586 erbaut hatte, mit den stillosen Seitenflügeln und dem breiten hübschen Altan, den die Nachkommen angefügt hatten. Die zwei runden Ecktürme mit kleinen, in Blei gefaßten Fensterscheiben wuchsen rechts und links an dem langgestreckten Mittelbau empor, und über das ganze Bild war eine Flut von Epheu und Kletterrosen ausgegossen, als hätte selbst das alte Schloß ein Festgewand übergeworfen.

Eines Steinwurfs Weite davon, jenseit der Rampe, stand zwischen hohen Kastanien- und Ahornbäumen ein freundliches, altmodisch aussehendes Gebäude, das Haus des Verwalters. Bis vor kurzem hatte hier der „Administrator“ mit seiner alten Mutter gehaust, ein feiner Herr, der einen ansehnlichen Gehalt bezog, in seinem Fach auch eifrig und tüchtig war. Aber die Verbesserungen und Anschaffungen, die nach seiner Ansicht gemacht werden mußten, konnten nicht zustande kommen, weil es am Besten fehlte, an Geld – schließlich reichten die Mittel des Freiherrn nicht einmal mehr aus, dem Administrator seinen Gehalt zu zahlen, und da der junge Mann zudem die Tollkühnheit besaß, sich leidenschaftlich in Ilse zu verlieben, so mußte man ihm kündigen; seitdem stand das hübsche Haus leer.

Unter der breiten Thür des Schlosses, deren hohes Gesims das in Stein gemeißelte Wappen der Doßbergs trug: zwei auseinanderklaffende Muschelschalen, in deren einer eine große Perle ruhte – zeigte sich die hohe kräftige Gestalt eines Mannes mit grauem Haupt- und Barthaar. Er hatte ein gut geschnittenes Aristokratengesicht mit einem auffallenden Zug von Weichheit, ja beinahe von Schwärmerei um Augen und Lippen. Ein angehender Fünfziger, alles in allem eine angenehme vornehme Erscheinung. Baron Hans Gottfried von Doßberg – er war es – trug eine leichte Schirmkappe, Sporenstiefel mit hohen Schäften und eine Reitpeitsche unter dem Arm. Er ging bis zur Rampe vor, hob den Knopf der Peitsche an seine Lippen und pfiff. Aus einem der Ställe kam ein gutgewachsener Bursche in feuerroter Jacke gelaufen und stellte sich in strammer Haltung vor seinem Herrn auf. „Du kannst das Pferd satteln!“

„Zu Befehl!“

Früher hatte es fünf, sechs solcher Rotjacken in den Ställen drüben gegeben, und wenn es geheißen hätte, man solle „das Pferd“ satteln, so wäre das ein ganz unverständlicher Befehl gewesen, denn damals hatte man eine reiche Auswahl. Jetzt verfügte der Baron nur noch über einen starkknochigen Braunen, der sich weder durch Schönheit noch durch Rasse, sondern einzig und allein durch Kraft auszeichnete, so daß er imstande war, seinen Herrn vormittags durch Wald und Feld zu tragen und nachmittags noch „in der Wirtschaft“ Dienste zu thun.

Doßberg stand, in Gedanken verloren, an der Rampe und klopfte in regelmäßigen Pausen mit seiner Reitpeitsche gegen die hohen Stiefel. Seine Brauen waren finster gefurcht und sein Blick sah trübe. Da klirrte hinter ihm ein Fenster; hastig wandte er sich um, und seine Augen glänzten. Kein Wunder das! Die, welche goldhaarig, rosig wie ein Abbild des frischen Maimorgens selbst, im Rahmen des steinernen Bogenfensters erschien und ihm zulächelte – das war ja seine Jugend, sein Sonnenschein, sein Glück.

„Guten Morgen, Papa!“ Die frische junge Stimme klang gedämpft, wie in Besorgnis, jemand zu stören.

„Guten Morgen, Ilse! Wie ist’s gegangen?“

„O, ganz gut – ganz leidlich! Mama hat eine ruhige Nacht gehabt und ist vorhin noch ein bißchen eingeschlafen; ich denke, sie kann es wagen, heute ein Stündchen aufzustehen. Himmlisches Wetter! Ein wunderbarer Mai!“ Unter dem leichten weißen Morgenkleid hob sich die junge Brust in tiefen wohligen Atemzügen und die warmen dunklen Augen leuchteten.

„Kommst Du nicht heraus, Ilse?“

„Kann nicht! Muß Mamas Erwachen abwarten! Du reitest aus?“

„Ja, und weit! Ich bleibe ziemlich lange fort. – Mamsell hat mir einen Bissen Frühstück mitgegeben.“

„Vielleicht triffst Du Armin unterwegs. Der ist schon eine ganze Weile fort; er war leise wie eine Maus an unserer Thür, mir Guten Morgen zu sagen. Der arme Schlingel ist ganz unglücklich darüber, daß der Pony so faul und steif und bockbeinig geworden ist in seinem hohen Alter. Kauf’ ihm einen neuen, Papa!“

Es zog wie ein Wolkenschatten über des Barons freundliches Gesicht. „Ich muß fort,“ sagte er hastig, „dort kommt Philipp mit dem Braunen!“

„Warte noch eine Sekunde! Ich hab’ was für Dich!“

Aus dem Fenster flog eine schöne frische Malmaisonrose, so geschickt geworfen, daß sie dem Baron gerade auf die Mütze fiel. Er dankte mit einer anmutigen Handbewegung. „Adieu, Burgfräulein!“

„Adieu, Herr Burggraf!“

Das Fenster wurde geschlossen, die helle Gestalt verschwand. Mit einem Seufzer steckte Doßberg die Rose in sein Knopfloch. Dann bestieg er sein Pferd und trabte rasch hinaus in die lachende Landschaft.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 3, S. 45–48

[45] Baron Doßberg ritt zuerst die alte Parkmauer entlang, wo riesige Eichen und Buchen mit ihren grünen Armen über das alte Gemäuer griffen. Aus dem Dickicht tiefer im Park, wo grüngoldene Dämmerung webte, lockte in leidenschaftlichen Tönen die Nachtigall. Der Reiter zog die Zügel an und lauschte entzückt, wie er’s als kleiner Knabe so oft gethan hatte. Um das alles schwebte für ihn ein eigener Zauber. Wo anders gab es dies machtvolle Wipfelbrausen, wenn der Sturm sich aufmachte und wie auf einer Riesenharfe zu spielen anhob? Wo anders traf man einen so stolzen Eichenbestand wie hier? Konnten die Vögel anderswo ebenso süß singen? Und die prachtvollen Wiesen im Park, der rasche Bach dazwischen mit krausen Wellen und buntgestickten Ufern – kein Fluß, der im Geographiebuch seinen stolzen Namen hat, immer aber ein silberhelles, köstlich mundendes Wasser, das recht wie eine klopfende Ader der lieblichen Gegend Leben verlieh! Noch war dies Paradies sein Heimatboden, noch war das Erbe seiner Väter ihm zu eigen – wie lange noch?

Schritte, die sich nahten, schreckten den Baron aus seinem Sinnen auf. Vom Felde kam ein alter Mann mit schwerfälligem Gang daher; sein faltiges braunes Gesicht war von spärlichen weißen Haaren umrahmt, sein kurzer dicker Körper steckte in einem grauen Leinenanzug, an den Füßen trug er stark gethrante Schmierstiefel, die nicht den angenehmsten Duft ausströmten. Das war der alte Hinz, früher Kämmerer auf dem Hof, jetzt zum Inspektor vorgerückt.

„Mahlzeit, Herr Baron!“ Anders grüßte Hinz nie; er war der Meinung, diese Bezeichnung passe zu jeder Stunde, denn irgend eine Mahlzeit habe der Mensch doch immer einzunehmen.

„Morgen, Hinz!“ Dem Baron war die Begegnung sichtlich unangenehm, der Alte kam ihm stets mit Klagen, und er selbst hatte die Macht nicht, zu helfen. Richtig! Heute wieder!

„Das is man bloß wegen dem Schafstall, Herr Baron! Wenn wir da nicht endlich ’n neues Dach aufsetzen, denn stürzt uns die ganze Geschichte überm Kopf zusammen. Flicken is nun nicht mehr, is schon an zehnmal gemacht, hält von heut auf morgen! Und der Schmied liegt einem auch alle Tag’ in den Ohren – es regnet ihm in die Ess’ und auf den Ambos und auf den Herd – und was weiß ich, wo’s ihm überall hinregnet! Soll ich man den Dachdecker bestellen?“

Doßberg nagte an der Unterlippe. „Nein, Hinz, das – das lassen Sie lieber. Flicken Sie nur noch einmal aus!“

„Na, denn man zu! Aber wenn das einmal so bei Nacht ’n tüchtigen Wolkenbruch setzt, denn kann uns die ganze Schafsgesellschaft versaufen, oder wir schwimmen frischweg wie die Arche Noäh! Und dann der Schmied – der kann eklig grob werden! Und den Kälberstall, den haben wir jetzt so oft gestützt, daß beinah’ mehr Stützen als Kälber drin sind. Wenn der Herr Baron das bloß ’mal ansehen möchten! Kommt ’n gehöriger Sturm von der See ’rauf, so fällt der olle Kasten den kleinen Kreaturen auf die Köpfe – na, und denn?“

„Ja, Hinz – ich würde schon – aber – stützen Sie nur noch weiter!“

„Und unsere Futterschneidmaschin’ is kaputt und der Schmied und der Stellmacher sagen, da is nichts mehr zu machen, muß ’ne neue kommen, und denn: Jungvieh haben wir viel zu wenig – was sagen Sie, Herr Baron?“

Der Baron hatte nichts gesagt, nur schwer geseufzt und mit der Hand abgewinkt, als sei das seine ganze Erwiderung. Als er dann aber in das ehrliche Gesicht des alten Inspektors sah, der mit abgezogener Mütze treuherzig zu ihm aufschaute, da entschloß er sich doch, zu antworten. „Ja, sehen Sie, Hinz, ich weiß, was Sie mir da sagen, ist richtig, und die Verbesserungen, die Sie vorschlagen, sind notwendig. Aber zu dem allen gehört Geld – und ich habe keines. Ich muß zusehen – jetzt ist nichts zu thun, Hinz!“

Der Alte kratzte sich nachdenklich den Kopf. Ihm that der Baron leid, aber er verstand sich nicht darauf, seine Gefühle zu äußern. „Ja, denn is das schon so. Wenn einer nicht kann – ich sag’ immer: wenn einer nicht kann, na, zu was ihn denn auch quälen? Mahlzeit, Herr Baron!“

„Morgen, Hinz!“

Der Braune bekam einen Schlag, daß er erschrak, der Reiter ließ die Zügel locker, und nun ging es zuerst in einem etwas aufgeregten Galopp, dann in schlankem Trabe weiter. Links schimmerten die arg verwahrlosten Wirtschaftsgebäude durch das junge Laub – gottlob, nun hatte er sie im Rücken! Zur Rechten tauchte das Dorf auf mit seinem alten Kirchlein und dem kleinen Schulhaus, drüber auf stattlicher Höhe die Wolframskapelle mit dem in der Morgensonne flimmernden Goldkreuz. Auf bequemem Feldweg über eine alte Steinbrücke hinüber – dort wurde ein breiter Abzugsgraben für das Wasser gezogen, das sich bei Regengüssen an dieser Stelle staute und Schaden anrichtete. Der Baron sprach mit den Leuten, besichtigte ihre Fortschritte und lobte sie; sie antworteten auf ihre Art freundlich, denn sie hatten ihn gern und sagten oft unter sich: „Ja, uns’ Baron – wenn der man könnt’! Aber man – er kann nicht!“ Und nun hinein in den Wald auf dem sanft bergan steigenden Waldweg! Ein frischer Wind bewegte die Kronen der Bäume und ließ das Flüstern der Blätter zum Rauschen anschwellen; aber noch etwas anderes kam dazwischen, ein regelmäßig wiederkehrender rhythmischer Laut … Eine letzte kleine Steigung noch, dann eine Waldblöße; die Bäume traten auseinander und da lag das Meer hingebreitet in ernster Bläue wie ein stolzer Königsmantel.

Am Rand dieser hohen Waldblöße war ein Pavillon erbaut, von dem aus der Blick nicht nur über das Meer schweifte, sondern auch rechts hinab über das schöne Gut, das wie ein funkelndes Kleinod an der Meeresküste lag, über Park und Schloß.

[46] Das Herz des Mannes, dessen Augen dieses mächtige Landschaftsbild umschlossen, schwoll auf in leidenschaftlicher Heimatliebe, in leidenschaftlichem Schmerz. In seinen Zügen arbeitete und zuckte es; ein unnennbares Mitleid mit sich selbst stieg in seiner Seele empor, wuchs riesengroß an und legte sich ihm wie ein grauer Nebel vor die Augen. Er schauerte zusammen, ließ die Zügel auf den Hals seines Pferdes sinken und schlug die Hände vor das Gesicht. Doch nicht lange. Mit einem plötzlichen Ruck richtete er sich auf und sah sich verstört und furchtsam um, ob ihn auch niemand beobachtet habe. Nein, nichts war zu sehen, kein Laut zu hören als das eintönige Rollen der Brandung. Still, wie aus Erz gegossen, hielten Reiter und Pferd eine Weile da oben; der frische Seewind umspielte sie und bewegte leise die Blätter der Rose, die der Mann an der Brust trug.

Da hob der Braune den Kopf und stieß ein helles Wiehern aus – er hatte einen guten Kameraden gewittert. Im Unterholz des Waldes knackte und rauschte es – Doßberg hatte sich im Sattel zurückgewandt und sah jetzt einen zottigen, etwas altersmüden Pony dahertrotten, auf dessen Rücken ein junger schlank gewachsener Bursche saß, ungefähr sechzehnjährig, blond und dunkeläugig gleich seiner Schwester Ilse, und hübsch, sehr hübsch. Der junge Reitersmann zog die Mütze vor dem Papa und lachte ihm freundlich entgegen.

„Nun Junge, guten Morgen! Du bist schon lange unterwegs, wie Ilse mir sagte.“

„Guten Morgen, Papa! Ja, ich bin in aller Frühe weggeritten, habe das Gut inspiziert“ – das kam sehr gesetzt und wichtig heraus – „aber jetzt hab’ ich einen fürchterlichen Hunger! Es war dumm von mir, kein Frühstück mitzunehmen. Hast Du zufällig etwas zum Essen hei Dir?“

„Gewiß hab’ ich! Wir wollen absitzen und im Pavillon frühstücken!“

Armin sprang ab und hielt den Braunen des Vaters diensteifrig beim Zügel. Die beiden Pferde wurden an eine Birke gebunden, Vater und Sohn setzten sich auf die halbrunde Bank im Pavillon, tranken leichten Rotwein aus der Feldflasche des Barons und aßen einige belegte Butterbrote, die für Armins Hunger nur zu rasch verschwanden. –

„Schau’ nur, Papa, welche Aussicht!“ unterbrach der junge Bursche das Schweigen und sah mit leuchtendem Blick zuerst rechts hinüber, wo das Schloß lag, dann geradeaus über das Meer. „O, etwas so Schönes wie unser Gut giebt es gar nicht mehr in der Welt!“

Der Baron erwiderte kein Wort, Armin beachtete das weiter nicht, sondern plauderte unbefangen weiter, ganz erfüllt von den Eindrücken, die er bei seinem Morgenritt empfangen hatte. „Die Wintersaat drüben beim Wilhelmsbühl steht vorzüglich und auch mit der Sommerung hinten beim Park wird es gehen … aber wie sieht das Feld rechts von der Wolframskapelle aus! Hast Du Dir das angesehen, Papa? So, als ob seit endloser Zeit gar nichts dafür geschehen wäre! Und unser Schafstall schreit zum Himmel – der Kälberstall, der fällt Dir ’mal zusammen, Du sollst es sehen! Und daß der Viehstand bei uns gar nichts taugt, das giebt sogar der alte Hinz zu! Freilich, Du hast der Ilse und mir letzthin gesagt, daß Du ein bißchen in Verlegenheit seiest – na ja, das kann bei dem besten Landwirt vorkommen – aber wie lange soll denn dieser halbe Zustand noch dauern?“

Armin hatte sich ganz rot und heiß gesprochen, er langte sich die Feldflasche herüber und that einen kräftigen Zug. Sein Verhältnis zum Vater, das immer sehr gut gewesen war, hatte sich seit einiger Zeit in ein beinahe freundschaftliches verwandelt, er hatte sich daher keinen Augenblick besonnen, eine so offene Sprache zu reden, im Gegenteil er hielt sich sogar für verpflichtet dazu. Papa hatte vielleicht andere Gedanken im Kopf, andere Sorgen … da mußte doch er, Armin, auf das Gut aufpassen, an dem er mit jeder Faser seines Herzens hing!

Der Baron sah seinen Sohn aus den großen Augen kummervoll an und strich ihm mit der Hand liebkosend über das weiche blonde Haar. Armin nickte wohlgemut. „Du glaubst gar nicht, Papa, wie ich mich danach sehne, von der Schule weg- und hier herauszukommen. Wär’ es nicht Dein bestimmter Wille, daß ich das ganze Gymnasium durchmachen soll, ich ginge lieber heut’ als morgen ab. Das Zeugnis für Prima bekäm’ ich schlankweg, und ob ich mich noch durch ein paar alte Griechen und Römer durcharbeite … was hilft mir das für meine landwirtschaftlichen Kenntnisse? Ich komme mir in der Schule so überflüssig vor – daran muß wohl auch unser Direktor gedacht haben, als er neulich mit mir sprach. Wirklich ein anständiger Mensch, wir sind sehr zufrieden mit ihm! ‚Also, Doßberg,‘ sagte er zu mir, ‚Sie wollen endgültig Landwirt werden?‘ ‚Jawohl, Herr Direktor!‘ ‚Hm!‘ machte er. ‚Ich möchte, sobald ich nur irgend kann, meinem Vater bei der Bewirtschaftung unseres Stammgutes helfen, da ich es ja später jedenfalls übernehmen werde.‘ – ‚Hm, hm!‘ machte er noch einmal – ich kann Dir sagen, es klang ganz bedenklich, als wollte er sagen: Mein Sohn, was willst Du überhaupt noch auf der Schulbank? Geh’ heim und bebaue Deine väterliche Scholle!“

Der Baron teilte diese Auffassung seines Sohnes durchaus nicht. Der Direktor hatte offenbar von der schlimmen Lage der Doßbergschen Verhältnisse gehört, und ihm kam die naive Zuversicht seines Schülers, der von der Uebernahme des Stammgutes wie von etwas Selbstverständlichem sprach, höchst sonderbar vor, daher sein bedenkliches: „Hm! Hm!“ Kapitän Leupold hatte ja bei einem seiner seltenen Besuche dem Baron ins Gesicht gesagt, daß die Lage der Dinge in „Perle“ durchaus kein Geheimnis mehr sei.

Armin sah seinen Vater, der noch immer schwieg, einen Augenblick unsicher an, dann aber fuhr er lebhaft fort: „Denk’ Dir, Onkel Leupold will mir zum Herbst zu den Enten- und Schnepfenjagden ein feines englisches Gewehr schenken – ein gescheiter Gedanke, nicht, Papa? Ich wollt’ es lieber gleich, aber er meinte: ‚Erst wollen wir sehen, ob Du so weit kommst, um zum Herbst auf ‚Perle‘ Enten zu jagen; dann werden wir uns weiter sprechen!‘ Na, wenn er damit mein Zeugnis meint – das werd’ ich wohl zeigen können! Wenn ich durchaus noch Schüler sein muß, dann will ich auch etwas taugen!“

„Ein sehr löblicher Grundsatz!“ Doßberg nickte mit einem schwachen Lächeln.

„Du bist aber riesig schweigsam, Papa – und gut bei Appetit bist Du auch nicht, ich hab’ beinah’ das ganze Frühstück allein aufgegessen! Fehlt Dir etwas?“

„Nein, mein Junge, mir ist ganz wohl! Aber wenn Du fertig bist, so wollen wir weiter reiten.“

„Sogleich, Papa! Nur mußt Du Deinen Braunen fest in den Zügel nehmen, daß der Pony gleichen Schritt mit ihm gehen kann. Der alte Kerl will gar nicht mehr vorwärts und einen Eigensinn kann er entwickeln – pyramidal!“

Ehe sie die Pferde losbanden, warfen Vater und Sohn noch einen letzten Blick auf Land und See. Fern im tiefen Meeresblau schwamm ein weißes Segel wie ein Schwan, in der Nähe des Strandes tummelten sich ein paar Möven, schnellten dicht über die Brandung hin und tauchten ihre leuchtenden Schwingen keck in den aufspritzenden Schaum.

„Wie schön!“ rief Armin und seine Brust dehnte sich unter einem schwellenden Atemzuge. „O, wie ich das Meer liebe! Freilich an die Ilse reich’ ich doch nicht heran! Die hat in letzter Zeit eine ganz unglaubliche Begeisterung für die See gefaßt; so und so oft läuft sie hierher, obgleich es zu Fuß ein ganz hübsches Ende bis da heraus ist.“

Die Stirn des Barons hatte sich bei Armins letzten Worten gefurcht. Sollte Kamphausen … Unsinn! Mit welchen Hirngespinsten er sich plagte! Als ob es nicht schon genug wirkliches greifbares Unheil in seinem Leben gegeben hätte! Sollte er sich auch noch mit nutzlosen Grübeleien das Herz schwer machen? In wenigen Tagen ging ja die „Nixe“ auf lange, lange Zeit in See!




4.

In ihrem bequemen Krankenstuhl, von Kissen und gerollten Decken auf beiden Seiten gestützt, saß die Baronin Doßberg am geöffneten Fenster, eine Freude, die ihr lange Zeit hindurch nicht zu teil geworden war, die sie seit Jahren so selten genoß. Ihre schmalen überzarten Finger ruhten gefaltet auf der blauen gestickten Decke, die man ihr über die Knie gebreitet hatte – blau war die Lieblingsfarbe der Baronin, in der sie auch jetzt noch gerne ein bißchen kokettierte. Sie war immer ein wenig eitel und kokett gewesen, die gute Baronin, aber beides äußerte sich harmlos, und da sie liebenswürdig war und keine Spur von [47] Hochmut besaß, so verzieh man ihr um so bereitwilliger ihre kleinen Schwächen. Von frühester Kindheit an ihrer Schönheit wegen bewundert, um ihrer zarten Gesundheit willen verhätschelt und geschont, hatte sie nur an sich selbst zu denken gelernt; kein tieferes geistiges Leben, kein ernsteres Interesse hatte jemals dieses schöne Gesicht beseelt; niemand, am wenigsten ihr eigener Gatte, hatte jemals eine andere Forderung an sie gestellt als die, schön zu sein und sich lieben und verwöhnen zu lassen. So war sie denn stets mit einem kindlichen spielenden Wesen über alles weggeglitten, und obgleich sie jetzt keine junge Frau mehr war und jene jugendliche Naivetät sie durchaus nicht mehr kleiden wollte, so konnte sie sich doch nicht davon trennen. Ging es ihr nur einigermaßen erträglich, gleich war auch ihr tändelndes Gebaren wieder da, das früher alt und jung entzückt hatte und das die Familie so herzlich gern der „armen Mama“ gönnte. Heute also gab es einen „guten Tag“ für die Baronin; sie hatte sich ein zartblaues Morgenkleid mit weißen Spitzen anziehen lassen, und auf ihrem blonden Haar saß ein winziges Spitzentellerchen von der Größe einer Handfläche, das mit seinen langen blauseidenen Bändern eine Morgenhaube vorstellen sollte. Ueber die Feinheit und Regelmäßigkeit dieser Züge hatte selbst die schwere Krankheit nichts vermocht, auch der alte Liebreiz beim Sprechen und Lächeln war noch zuweilen vorhanden, aber die Augen blickten übergroß aus den tiefen Höhlen, und die graziöse Gestalt war so abgemagert, so federleicht – Ilse konnte ihre Mutter wie ein Kind in die Höhe heben.

Die feinen blutlosen Finger der Kranken zupften unruhig an der Decke und drehten den Trauring, der ganz lose hing, hin und her. „Bring’ doch meine Schmuckkassette, Ilse!“ Die kranke Frau hatte eine weiche kindliche Stimme und sprach immer in einem etwas klagenden Ton wie jemand, der gewöhnt ist, sich selbst beständig zu bemitleiden.

Ilse holte aus einem in der Tiefe des Zimmers stehenden großen Schrank eine Kassette von schöner maurischer Arbeit hervor und stellte sie ihrer Mutter auf die Knie. Diese öffnete mit einiger Mühe den Deckel. Es kamen schöne kostbare Dinge zum Vorschein – Schmucksachen, die ihren bleibenden Wert hatten, aus deren Erlös man manche notwendige Verbesserung in der Wirtschaft hätte bestreiten können. Aber daran war nicht zu denken. Die „arme Mama“ mußte ganz ahnungslos bleiben, das Eigentum der „armen Mama“, in dem sie so gern ein wenig „kramte“, durfte nicht angetastet werden!

„Sieh ’mal diesen Brillantring, Ilse – diesen schönen alten Stein! Den schenkte mir Papa in Nizza. Wir waren in Monte Carlo gewesen, und ich hatte so hartnäckig Unglück im Spiel gehabt und war so traurig darüber, daß all das viele Geld weg war. Da kaufte mir Papa zum Troste den Ring.“

„Das war gut von ihm.“

„Ja, aber ich war auch so traurig! Er konnte es nie sehen, wenn ich traurig war. Was meinst Du, ich möchte den kleinen Ring vor den Trauring schieben, der mir etwas weit geworden ist – ob Papa es bemercken und den Ring wiedererkennen und sich freuen wird?“

„Sicher wird er das thun.“

„Sieh nur, er paßt! Früher trug ich ihn am kleinen Finger, und dahin steck’ ich ihn wieder, wenn meine Hände voller werden. Aber so nimm mir doch die schwere Kassette von den Knien, Klnd, sie drückt mich! Stell’ sie nur weg! Eigentlich hast Du wenig Schmuck, Ilse, aber ich kann Dir von meinem nichts abgeben, Papa würde es nicht leiden, daß Du meine Sachen trägst.“

„Ich dank’ Dir, Mamachen, ich hab’ gar kein Verlangen nach Schmuck.“

„Dann bist Du ein sonderbares junges Mädchen; in Deinem Alter schwärmte ich geradezu dafür. Ich weiß nicht einmal, ob ich das hübsch finden soll, wenn eine junge Dame in Deinen Verhältnissen so sehr bescheiden ist.“

„Spricht mein Mütterchen auch nicht zuviel, nein?“

„Es ist wirklich die Möglichkeit!“ Die kindliche Stimme der Baronin wurde weinerlich. „Nun hab’ ich einmal einen leidlichen Tag, nun ist mir endlich wieder etwas menschlich zu Mute nach all den Leiden … gleich heißt es, ich spreche zuviel!“

„Ich sage es nur aus Sorge um Dich.“

„Das weiß ich – natürlich, Du bist mein liebes, schönes, süßes Kind; aber Du mußt Deiner armen kleinen Mama nicht das bißchen Reden verbieten. Komm und küß’ mich! So! Warum hast Du Dein Haar nicht aufgelöst? Du weißt doch, wie sehr ich das liebe!“

„Ach, Mama, es verwirrt sich so -“

„Ein junges Mädchen muß doch etwas auf sich halten, zumal mit Deinem Gesicht, und wie entzückend steht Dir das offene Haar! Aber selbstverständlich auf Deine arme kranke kleine Mama hörst Du nicht. Du weißt es, sie freut sich, sie sieht dann sich selbst vor sich, wie sie noch jung und schön war – und Du denkst an Deine Bequemlichkeit, willst Dich nicht zausen –“

„Du hast recht, mein Mütterchen, ganz recht. Siehst Du, ich löse mein Haar schon auf!“

Das leicht gewellte goldblonde Haar, das einen seidenen Glanz besaß, reichte dem hochgewachsenen schlanken Mädchen fast bis zum Knie. Sie sah berückend schön so aus, allein auf ihrem Gesicht lag kein Behagen.

Die Mutter betrachtete sie mit träumerischem Entzücken. „Wen Du einmal heiraten wirst – mit Deinem Gesicht, Deinem Namen und Vermögen kannst Du an die besten Partien denken! Ich war ein einfaches armes Fräulein Leupold und bekam einen Baron von altem Adel und großem Reichtum. Unter einem Grafen dürfen wir für Dich nicht wählen!“

Ilse war rot und blaß geworden. „Das hat doch noch Zeit, Mama! Ich bin ja jung –“

„Nun, ich war nur ein Jahr älter, als ich Deinem Vater die Hand reichte. Freilich müßten wir eigentlich in die Stadt ziehen, denn wer sieht Dich hier? Die Krautjunker sind keine Freier für mein Kind!“

„Stand und Namen allein thun es doch nicht.“

„O nein! Du kannst ja auch Dein Herz sprechen lassen; ich hab’ ja auch Deinen Papa nicht Stand und Namen zulieb genommen. Du darfst es aber Deinen Eltern nicht verdenken, wenn sie für Dich hochfliegende Pläne haben. Nur muß ich Dich ganz in meiner Nähe behalten, damit ich Dich womöglich alle Tage oder doch sehr oft sehen kann. Ohne meine Ilse muß ich ja sterben!“

„Mama!“ Das junge Mädchen neigte sich tief herab und drückte ihre warmen vollen Lippen auf die blassen Hände der Kranken.

„In allem Ernst, dann sterbe ich!“ Sie schwieg ein Weilchen und hielt eine ihrer losen Locken neben Ilses Haar. „Mein Haar ist doch etwas nachgedunkelt. Ich meine, die Farbe ist nicht mehr ganz so goldig.“

„Ich finde keinen besonderen Unterschied.“

„Nicht? Das freut mich! Papa hat den Ton meiner Haarfarbe immer so gern gehabt. Du könntest mir Blumen besorgen, aber keine, die stark riechen –“

„Vielleicht ein paar Röschen?“

„Ja, bring’ sie, aber bleib’ nicht zu lange!“

Das junge Mädchen war in kaum zehn Mannen mit den Rosen wieder zurück.

„Du hast lange gebraucht. Komm, gieb die Blumen her und den Spiegel – den kleinen Handspiegel! Was meinst Du – zwei Rosen ins Haar, und diese hier an die Brust? So ist es hübsch, nicht?“

„Sehr, mein Mütterchen!“

„Da wird Papa sich freuen! Wo er nur bleibt? Ich muß sagen, es ist rücksichtslos von ihm, gerade heute so weit fortzureiten!“

„Er hat gewiß wichtige Besichtigungen vor.“

„Ach, was heißt das: wichtige Besichtigungen! Seine Frau muß ihm vorgehen, muß ihm wichtiger sein als alles andere –“ Sie sprach nicht zu Ende, denn die Thüre zum Krankenzimmer wurde ungestüm geöffnet und Armin trat hastig über die Schwelle.

„Gott, Armin, wie hast Du mich erschreckt! Ist das eine Art, wie man zu seiner kranken Mama ins Zimmer tritt? Komm her, bitte ab!“

„Entschuldige, Mama!“ Der Knabe beugte sich über die Kranke und küßte ihre Hände. „Ich war so in Gedanken – ich hatte bloß – na, mit einem Wort, sei nicht böse! Wie geht Dir’s? Hast Du gut geschlafen?“

„Das müßtest Du doch endlich wissen, Kind. daß ich niemals gut schlafe! Wie soll ich leidende kranke Frau denn dazu kommen? Leider, leider schlafe ich eigentlich nie.“

Es war dies eine unzerstörbare Einbildung der Baronin, daß sie „eigentlich nie schlafe“.

„Das ist aber doch nicht möglich, liebe Mama!“

[48] Ilse war hinter die Mutter getreten und machte dem Bruder ein Zeichen, still zu sein. Auf den ersten Blick war sie gewahr geworden, daß Armin sich in großer Aufregung befand – irgend etwas mußte ihm widerfahren sein, was ihn um alle Fassung brachte … wie hätte er sonst der Mama widersprechen können!

„Ja, wenn mir meine eigenen Kinder nicht mehr glauben, dann hab’ ich ja weiter nichts zu sagen, dann kann ich schweigen! Ob der Junge wohl überhaupt ein Herz für seine Mutter hat? Mit keinem Wort hat er seiner Freude Ausdruck gegeben, mich so gut und wohlaussehend zu finden!“

„Dazu hast Du mir gar keine Zeit gelassen, Mütterchen, ich wollte Dir ja das alles noch sagen. Natürlich freu’ ich mich riesig, Dich hier so wohl sitzen zu sehen. Das blaue Kleid mit den Rosen steht Dir prachtvoll!“

Frau von Doßberg war besänftigt. „Schmeichelkatze Du!“ Sie fuhr liebkosend über Armins blonden Kopf. „Nun, und wo ist Papa?“

„Papa? Der kommt gleich, er zieht sich bloß noch anders an, im Reitanzug wollte er nicht zu Dir ins Zimmer kommen.“

„Immer der feine Kavalier! Wenn Du Dir nur an Papa ein Beispiel nehmen möchtest!“

„Na, Mama, ich hab’ doch nicht Frau und Kinder!“

„Das nicht, Du unartiger Junge – aber Rücksicht üben gegen Mutter und Schwester, das kannst Du immerhin!“

„Thu’ ich auch! Du, Mama, kann ich die Ilse auf eine Weile loseisen von hier? Papa kommt gleich herauf und bleibt dann bei Dir.“

„‚Loseisen!‘ Was das wieder für ein Ausdruck ist! Aber geht nur beide, geht! Wenn Papa kommt, brauch’ ich Euch nicht!“

Ilse rückte noch einmal die Kissen im Lehnsessel zurecht, ordnete das Haar der Kranken, stellte die Klingel, ein Fläschchen mit erfrischendem Parfüm und einen kleinen Teller mit Gartenerdbeeren näher und küßte die Mutter zärtlich, ehe sie mit dem Bruder das Zimmer verließ.

Im Nebenraum, der ebenso groß, hoch und luftig war wie das eigentliche Krankenzimmer und gleichfalls mit hübschen gefälligen Möbeln ausgestattet, fanden die Geschwister eine ältliche Person von sanften angenehmen Zügen. Sie saß neben dem offenen Fenster und hatte vor sich auf dem Fensterbrett ein Buch, in dem sie eifrig las, ohne aber deshalb auch nur für eine Minute ihre Handarbeit ruhen zu lassen.

„Lina,“ sagte Ilse freundlich, „bitte, gehen Sie zu Mama hinein und bleiben Sie bei ihr, bis Papa da ist!“

„Ganz recht. Fräulein Ilse!“

Lina war schon seit langen Jahren im Dienst der Baronin und wurde von dieser als ihre spezielle „Jungfer“ betrachtet, leistete jedoch außerdem in der sparsam gewordenen Wirtschaft noch eine Menge anderer Dinge, von denen die kranke Dame keine Ahnung hatte, denn Lina war eingeweiht in all die Beschönigungen, mit denen man die Kranke umgab.

Armin hatte die Schwester bei der Hand gefaßt und zog sie so rasch mit sich fort, daß sie ihm beinahe nicht zu folgen vermochte. „Wohin willst Du denn? In den Garten?“ fragte sie atemlos.

Er schüttelte den Kopf. „Es könnte uns jemand hören. Lieber auf Dein Zimmer!“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 4, S. 59–62

[59] Als die Geschwister Doßberg das freundliche Mädchengemach mit den hellgeblümten Möbelüberzügen und den schönen Stichen an den Wänden erreicht hatten, zog Ilse den Bruder neben sich auf ein kleines Ecksofa nieder. „Nun sage, nun sprich – was ist geschehen? So rede doch!“

„Natürlich rede ich, wozu hätt’ ich Dich sonst hierhergebracht!“ entgegnete Armin scheinbar ungeduldig. Er liebte seine Schwester schwärmerisch, schämte sich aber als echter Junge, das zu zeigen. „Also, ich traf mit Papa oben beim Pavillon zusammen, wir frühstückten miteinander, und ich sagte ihm ein bißchen meine Meinung über das Gut.“

„Armin! Das hättest Du nicht thun sollen! Du weißt, daß Papa augenblicklich in Verlegenheit ist! Wie nahm er Deine Worte auf? Was sagte er?“

„Nichts, so gut wie nichts. Er sah sehr sorgenvoll aus, und ein paarmal hat er geseufzt. Wir ritten zusammen weiter, ziemlich stumm ... Papa machte ein Gesicht, das mich nicht gerade zum Reden ermunterte. Und wie wir an die Waldecke kommen – Du weißt ja, wo die Blutbuchen stehen – da sieht Papa den alten Hinz und will ihm ’was sagen und ich soll unterdessen voranreiten. Das thu’ ich denn, geb’ dem Pony die Sporen, und weil das eigensinnige Vieh Lust hat, Galopp zu gehen, so geht es eben Galopp. Und da treff’ ich auf den alten Schäfer, den Klamm, der da mit seiner Handvoll Schafe und seinem Spitz herumweidet. Ich zieh’ die Zügel an und will mit ihm reden – ich kann ihn sonst gut leiden. denn er spricht so ’n kurioses Platt, und dann hat er immer einen langen Strickstrumpf in seinen braunen Pfoten – also ich will ihn eben etwas fragen, da sieht mich der alte Kerl aus seinen Schlitzaugen an und murmelt ganz deutlich. ‚Nu rid’ Du man! Du wardst det Längste hier riden! Nu galoppeer Du man, et hett sich för Di bald utgaloppeert!‘ Und wie ich ihn anschaue, weil ich natürlich denke, das alte Gestell ist rein verrückt geworden, da sieht er ganz frech zu mir in die Höhe und sagt: Ja, nu denkst Du woll, ik si nich richtig! Dat bün ick awerst, un ick segg’ Di: mit Di und de Parl’ – damit zeigte er auf den Gutshof – ‚da is dat nicks. Dat duert nich lang’, dann riden und galoppeeren hier andere Lüd, und Du kannst seh’n, wo Du bliwwst!‘“

„Ist das alles?“ fragte Ilse unruhig.

„O nein! Im ersten Augenblick war ich zwar außer mir, aber gleich darauf dachte ich, was können denn die verrückten Hirngespinste des alten Esels für mich zu bedeuten haben! Also ließ’ ich den Alten stehen, ritt dem Papa wieder entgegen und wir blieben zusammen bis zum Schloß. Wie wir ankamen, stand da ein Telegraphenbote und sagte zu Papa, er habe eben eine Depesche gebracht und warte auf die Bescheinigung. Im Treppenhaus trafen wir die Lina, die an Papa bestellte, sie habe die Depesche auf sein Zimmer getragen. Er nickte. sah aber so eigen vor sich hin – mit einem solchen Blick, daß ich mir dachte: Du gehst mit ihm! Denn mit einem Mal fiel mir auch der alte Klamm mit seiner Prophezeiung ein, und obgleich ich mir wieder vorredete, er müsse verrückt sein, ganz und gar verrückt ... es wollte nichts mehr helfen. Papa, der beachtete mich gar nicht, ich glaube, er hat nicht einmal bemerkt, daß ich mit ihm ging. Auf seinem Arbeitstisch liegt die Depesche – er reißt sie auf, liest und mit einem Mal wird er kreideweiß – er kommt ins Taumeln, so schnell, daß ich ihn nur noch auffangen und in seinen großen Lehnstuhl gleiten lassen kann. Da saß er denn ganz stumm und rührte sich nicht.“

Ilse hörte mit großen erschrockenen Augen zu; sie brachte kein Wort hervor, sie nahm nur ihres Bruders Hand und umschloß sie fest mit ihrer Rechten.

„Ich wußte mir nicht zu helfen, ich wollte Dich rufen, aber wie das anstellen. ohne die Mama aufzuregen? Also machte ich ihm die Kravatte los und suchte nach irgend etwas zum Riechen ... und dabei sah ich das offene Telegramm am Boden liegen –“

„Du hast es gelesen?“

Armin nickte.

„Und – und – was?“

Der Knabe konnte nicht sogleich antworten. Als er es endlich [60] vermochte, klang seine Stimme ganz heiser. „Unterzeichnet war es von Sorau – das ist Papas neuer Justizrat – Du weißt doch, daß Wahlborn, der lange Jahre alles für uns besorgt hat, im vergangenen Herbst gestorben ist?“

„Ja. ich weiß! Und was stand in der Depesche?“

„‚Sicherer Käufer gefunden. Erwarte Besprechung morgen nachmittag sechs Uhr bei mir.
 Sorau.‘“

Ilse schien wie betäubt von dem Gehörten. Sie atmete einigemal zitternd auf und sah um sich, als glaubte sie, zu träumen. „Und das – das ist?“ fragte sie zuletzt leise.

„Das ist die ‚Perle‘, die sie verkaufen wollen!“ rief Armin leidenschaftlich. Er warf den Kopf zurück, ballte die Hand zur Faust und setzte die Zähne fest aufeinander. Er wollte nicht weinen, vor Ilse nicht weinen, aber umsonst; als er das Wort ausgesprochen hatte, stürmte ein ungeheurer Schmerz auf ihn ein, der stärker war als sein Wille, ein krampfhaftes Schluchzen stieg aus seiner Brust empor, er warf die verschränkten Arme auf den kleinen Tisch, der vor ihm stand, ließ den Kopf darauf niederfallen und brach in lautes bitterliches Weinen aus.

Und Ilse, trotzdem sie die weitaus Stärkere war und viel mehr Selbstbeherrschung besaß als ihr junger Bruder, legte ihren goldlockigen Kopf neben den des Knaben und weinte mit ihm. Doch nur wenige Augenblicke. Was nun? Was wurde mit Papa? Diese und ähnliche Fragen stürmten auf sie ein und gaben ihr die Fassung zurück. Sie redete dem Bruder sanft zu und strich ihm liebkosend mit der Hand über den Kopf, wie sie es früher gethan hatte, wenn „dem Kleinen“ irgend ein Unfall zugestoßen war. Armin wurde ruhiger. Er lehnte die Wange an Ilses Schulter und sah aus den heißen verweinten Augen traurig zu ihr auf. Dann fuhr er entschlossen in seinem Berichte fort: „Ich ließ die Depesche fallen, als wenn ich mich daran verbrannt hätte. und spritzte Papa Wasser ins Gesicht, fand auch eine Flasche Cognac in seinem Schrank und träufelte ihm einige Tropfen in den Mund – aber alles das that ich erst, nachdem eine Weile hingegangen war, denn ich war anfangs vor Schreck wie gelähmt. Papa kam wieder zu sich, schien sich aber zuerst auf nichts zu besinnen, denn er sah ganz verwirrt aus und sprach kein einziges Wort. Und ich sagte auch nichts. Ich wollte nicht verraten. daß ich die Depesche gelesen hatte – und er fragte auch nicht danach. Lina hatte mir auf der Treppe mitgeteilt, daß Mama den Papa oben erwarte. diesen Auftrag richtete ich noch aus, und dann schlich ich weg, ohne daß er es beachtete. Ich mußte zu Dir. Du mußtest alles wissen! Aber ich sag’ es Dir, Ilse, ich leid’ es nicht, daß die ‚Perle‘ verkauft wird. Die ‚Perle‘ soll und darf nicht verkauft werden!“

Ilse sah den leidenschaftlichen Knaben mit einem wehmütigen Lächeln an. „Ach, Armin, wie willst Du das hindern?“

„Ich weiß noch nicht – ich – ich werde mit Onkel Leupold reden, der ist praktisch und hat auch Geld, und er ist doch Mamas Bruder. Denkst Du nicht, daß er uns helfen kann?“

„Ich glaube nicht. Er –“

Ilse kam nicht weiter. Ein wohlbekannter Schritt wurde draußen hörbar. gleich darauf wurde leise an die Thür geklopft.

Die Geschwister sahen einander in die Augen. „Herein!“ sagte Ilse.

Der Baron trat rasch ins Zimmer, einen flüchtigen Blick nur warf er auf die verweinten Gesichter seiner Kinder, dann senkte er die Augen. Ilse war aufgesprungen, sie ging ihm entgegen, legte liebevoll den Arm um seinen Nacken und führte ihn zu dem eben von ihr verlassenen Platz. „Ist Dir besser, Papa? Soll ich Dir nicht ein Glas Wein holen?“

Er schüttelte stumm den Kopf und ließ sich schwerfällig in die Sofaecke nieder. Es dauerte eine Weile, ehe er imstande war, zu sprechen. „Ich bin gekommen, Euch ein Geständnis zu machen. Die Mutter darf nichts wissen, aber Ihr – Euch bin ich die Wahrheit schuldig.“ Er suchte nach einleitenden, vorbereitenden Worten – er fand keine. „Es steht schlimm mit mir, hoffnungslos! Ich kann das Gut nicht länger halten. Ich muß die ‚Perle‘ verkaufen.“

Ilse sah ängstlich nach Armin hinüber, sie fürchtete seinen leidenschaftlichen Widerspruch. Aber der Knabe schwieg. Angesichts des Vaters, der in gebrochener Haltung dasaß und mit tonloser Stimme einen Entschluß verkündete, der ihm ans Leben gehen mußte, fand er seine kühnen Worte und Vorsätze nicht wieder.

„Ihr sagt nichts, Ihr habt geweint – woher wußtet Ihr?“

„Armin hat die Depesche gelesen, lieber Papa!“ sagte Ilse sanft, da ihr Bruder beharrlich schwieg.

[61] Der Baron fuhr zusammen, und die Hand, die auf der Tischdecke lag, zitterte. Ilse neigte sich über diese zitternde Hand und küßte sie. Armin legte leise einen Arm um seines Vaters Schulter. „Solche Kinder heimatlos machen, sie enterben müssen!“ rief Doßberg, in plötzlich ausbrechendem Jammer. „Solche Kinder!“

„Nein, nein. Papa – nicht so! Nicht so aufgeregt, es schadet Dir! Sag’ uns alles! Dir ist ein Käufer vorgeschlagen durch den Justizrat? Wer ist es? Kennst Du ihn?“

Der Baron machte ein verneinendes Zeichen. „Ich war neulich bei Sorau; ich hatte zuvor meine Verhältnisse genau geprüft und wußte, mir war nicht mehr zu helfen. Ich weihte Sorau ein und sagte ihm, er möge sich unter der Hand nach einem Käufer umschauen; allerdings müsse ich meine Bedingungen stellen. Meine Gattin, Eure arme Mutter, dürfe von der bevorstehenden Veränderung nicht betroffen werden, dürfe, wenn es irgend moglich sei. gar nichts davon erfahren. Sie müsse daher auf dem Gut bleiben. ihre Zimmer lägen abgesondert von der ganzen Flucht der Hauptgemächer in einem Seitenflügel – und solange Eure Mutter lebe. müsse der neue Besitzer auch uns gestatten, bei ihr zu bleiben. Wir würden mit wenigen Zimmern in demselben Seitenflügel vorlieb nehmen ...“

Armin wollte auffahren, Ilse legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.

„Ich – ich wußte mir nicht anders zu helfen,“ murmelte Doßberg verzweifelnd.

Eine bange Stille. Durch das Epheulaub, das sich in einem vergoldeten Gittergeflecht innen am Fenster emporrankte, fielen tanzende Lichter in das helle freundliche Zimmer, draußen auf dem breiten Fenstersims zwitscherte ein Stieglitz aus heller Kehle, und Ilses Kanarienvogel machte schüchterne Versuche, dem musikalischen Kollegen da draußen zu antworten.

Ilse hatte den Kopf in die Hand gestützt; sie wußte es nicht, daß Thräne um Thräne über ihre Wangen rollte – ihr war unsäglich weh ums Herz. Verstoßen aus der lieben alten Heimat, aus Barmherzigkeit vielleicht geduldet von dem fremden Besitzer, sie selbst samt ihrem Vater in ein unentwirrbares Netz von Ausflüchten und Unwahrheiten verstrickt gegenüber der kranken Mutter, die immer und überall die Ahnungslose bleiben sollte – wie würde ein solches Leben zu ertragen sein? Ach, und das eine noch, das Schwerste – ihr süßes und doch so trauriges Herzensgeheimnis, das nun auf unabsehbare Zeit ein Geheimnis bleiben mußte, da sie die Ihrigen jetzt unmöglich verlassen durfte! Wie sollte sie all das durchkämpfen, wie den ungeduldigen leidenschaftlichen Geliebten beschwichtigen, dem das eine Jahr, das vor ihnen lag, schon ein unerträgliches Hindernis schien, der nach Ablauf dieses Jahres sicherlich jede Schwierigkeit mit Ungestüm aus dem Wege räumen würde, um sich sein „gutes Recht“ zu holen! Welch ein Abschied stand ihr bevor, welch eine Zeit trostloser Oede! Und wenn sie dann an den armen Knaben, ihren Bruder, dachte, dessen ganze Seele an seinem künftigen Beruf, an diesem Besitztum hing, dann wurde ihr das Herz doppelt schwer und ein schwarzer Schatten schien sich langsam und unabwendbar herabzusenken auf ihr junges blühendes Leben.

Zuletzt brach Armin das trostlose Schweigen. „Könnte Onkel Erich nicht helfen, Papa?“

Doßberg schüttelte den Kopf.

„Ist Onkel Leupold nicht reich?“

„Nein, Kind, das ist er nicht. Erich war von Hause aus arm und hat sich allmählich ein Vermögen gesammelt, von dessen Zinsen er anständig leben kann – das ist alles. Hilfe – für die ist es jetzt zu spät. Freilich, ich hatte immer noch Pläne“ – unwillkürlich sah der Baron zu Ilse hinüber – „Pläne, die ich später zu verwirklichen hoffte, aber die Zeit drängt, und Eure arme Mutter – wie könnte ich sie mit Ilse zusammen verlassen?“

„Mit mir zusammen, Papa? Aber warum denn das?“

Doßberg strich mit der Hand kosend über das schöne Goldhaar seiner Tochter. „Ich hatte so meine stolzen Pläne mit Dir, Liebling, in aller Stille. Das ist zu Ende. Wenn es sich bestätigt, daß der Käufer sicher, das heißt zahlungsfähig ist und auf meine sonstigen Bedingungen eingeht, dann – dann muß ich –“

„Vielleicht irrt sich aber der Justizrat!“ fiel Armin hastig ein.

„Das glaube ich nicht. Sorau ist sehr vorsichtig, ein gewiegter erfahrener Geschäftsmann; er würde mir niemals dies Telegramm geschickt haben, wenn er des Käufers nicht sicher wäre.“

„Und Du willst hier auf dem Gut bleiben, Papa, und zusehen, wie ein Fremder hier schaltet und waltet?“ fragte Armin bitter. „Das hältst Du nicht aus, Papa!“

„Ich glaube, ich halte es noch weniger aus, fern von dem [62] Gut zu sein,“ erwiderte der Baron mit einem mühsamen Lächeln, das Ilse ins Herz schnitt. Seine Stimme war müde und bebte wie von unterdrückten Thränen.

Da pochte es leise, schüchtern an die Thür – Lina öffnete kaum handbreit, so daß sie nicht ins Zimmer hineinzusehen vermochte, und meldete mit ihrer ruhigen Stimme: „Die Frau Baronin schickt mich – die Herrschaften verzeihen. Die Frau Baronin läßt fragen, ob der Herr Baron nicht bald erscheinen werde.“

„Gut, Lina! Gehen Sie voran und sagen Sie, ich folge Ihnen auf dem Fuß!“

Und Doßberg trat vor Ilses hohen Stehspiegel, bürstete sich das Haar, zupfte sich die Kravatte zurecht und suchte eine lächelnde unbefangene Miene anzunehmen, damit seine Frau nichts ahne von dem Sturm, der über ihn hereingebrochen war.




5.

In der denkbar schlechtesten Laune ging Kapitän Leupold in seinem Häuschen von Kabine zu Kabine. Vor etwa zwei Stunden hatte ein Bote einen wohlverschlossenen Brief bei dem Alten abgegeben, in dem nichts als die Worte standen. „Lieber Kapitän! Um sechs Uhr heute abend wird meine Ilse bei Dir sein; eine Viertelstunde später komme ich auch. Besten Gruß!
 Albrecht.“

Diese Zeilen versetzten den Empfänger in einen stillen Grimm. Er bereute es, sich zu solchem „Blödsinn“ hergegeben zu haben, es kam ihm dumm und lächerlich vor, daß er, Erich Leupold, die Zusammenkunft eines Liebespaars begünstigen sollte, und die zwei Worte „meine Ilse“, die Kamphausen im Gefühl seines Glückes niedergeschrieben hatte, empörten ihn vollends. „Meine Ilse! Hat sich ’was! Wie will er sie denn kriegen? Entführen vielleicht und dem stolzen Herrn Papa, der sterbenskranken Mutter ’ne Nase drehen? Dazu soll ich wohl auch noch herhalten, vielleicht auch den Standesbeamten hierher einladen und in meinem Haus Hochzeit ausrichten? Da soll doch ....“

Das waren die menschenfreundlichen Gedanken, die dem Kapitän durch den Kopf gingen, während er jetzt wie ein gereizter Löwe im „Achterdeck“ auf und ab ging und hier und da einen zornsprühenden Blick auf seine „büßende Magdalena“ warf, wie wenn sie für das ganze Unheil verantwortlich wäre.

Dido, die ihrem Herrn in einem Zärtlichkeitsanfall von rückwärts unversehens auf den Rücken sprang und ihn liebevoll mit den kleinen behaarten Armen umhalste, wurde erbost weggeschleudert, Cato. der einen redseligen Tag hatte, wurde wütend angeschrien, sein „verfluchtes Geschnatter“ zu lassen, und Jan Grenboom, der mit einer harmlosen Frage kam, wurde einfach hinausgeworfen. Die Laune des Kapitäns gestaltete sich dadurch nicht besser, daß sich keiner seiner drei Genossen auch nur im mindesten an seinen Zorn kehrte. Dido schnitt despektierliche Gesichter und saß ihm nach fünf Minuten von neuem auf dem Nacken. Cato legte den Kopf auf die Seite, sah den Gebieter frech an und kramte unermüdlich sämtliche Schimpfnamen aus, die Jan Grenboom von seinem Herrn zu hören bekam und die der gelehrige Vogel abgelauscht hatte, und Jan Grenboom sang draußen in der Küche beim Abspülen der Kaffeetassen mit unverwüstlichem Vergnügen: „Freut Euch des Lebens!“

Eine kleine kostbare Stehuhr, die Leupold dereinst in New York eingehandelt hatte, holte zum Schlagen aus und ließ aechs rasche helle Töne hören. Der Kapitän lächelte verächtlich. „Sechs Uhr! Natürlich auch noch unpünktlich wie alle Frauenzimmer! Nicht einmal bei ihren Liebesgeschichten verstehen sie, Wort zu halten!“ Im gleichen Augenblick läutete es draußen, und man hörte Jan Grenboom seinen Gesang unterbrechen und irgend etwas knurren, was eine Begrüßung bedeuten sollte. Dann that sich die Stubenthür auf, und Ilse trat ein, in einem knapp sitzenden weißen Wollkleid, einen großen weißen Strohhut über dem Goldhaar, einen frischen Maiblumenstrauß an der Brust. Aber selbst dieser Anblick wirkte nicht besänftigend auf den alten Seebären, trotzdem – oder vielleicht weil es ein so reizender Anblick war.

„Grüß Gott, Onkel Erich!“

„Guten Tag, Ilse!“ Der Kapitän hielt das schmale Händchen brummend in seiner breiten Tatze.

„Viele Grüße von Mama!“

„Die weiß also, daß Du zu mir kommst?“

„Ja, das weiß sie!“

„Aber sonst weiß sie nichts?“

„Nein!“

„Natürlich! Deine Mutter ist ihr Lebenlang wie eine Wachspuppe behandelt und mit Handschuhen angefaßt worden, und dabei bleibt’s bis an ihr seliges Ende!“

Ilse antwortete nicht. Sie stand dicht neben dem Bilde der Magdalena; der Kapitän sah forschend von ihr hinüber zu dem Gemälde – nein. sie glichen einander nicht!

„Hast Du mir nichts zu sagen?“

„Ich – ja – viel sogar! Es steht traurig bei uns. Papa ist mit mir hierhergefahren, er ist bei Justizrat Sorau. Unser Gut ist nicht mehr zu halten. Onkel Erich, sie wollen die ‚Perle‘ verkaufen!“

„Hm! Und der Justizrat weiß einen Käufer?“

„Ja – er telegraphierte das an Papa.“

„Wenn der Käufer ’was taugt, könnt Ihr von Glück sagen.“

„Ach, Onkel! Glück! Unser Glück geht hin mit der ‚Perle‘!“

„Dummes Zeug! Solange Ihr das Gut auf dem Halse habt, kommt Ihr Euer Lebtag nicht ’raus aus der Patsche! Aber natürlich seid Ihr nun alle zusammen kreuzunglücklich, Dein Herr Vater und Du und der Junge – was?“

„Ja, sehr unglücklich! Die arme Mama! Sie darf gar nicht transportiert werden – und sie soll nichts wissen. Wir müssen den neuen Besitzer bitten, uns noch auf dem Gut zu dulden, bis – bis die arme Mama –“ Ilse konnte nicht zu Ende sprechen.

„Herrgott, so heul’ doch nicht!“ Leupold machte Anstalt, sich die Ohren zuzuhalten. „Gerechter Himmel! Nicht genug an der einen sentimentalen Geschichte – jetzt kommen sie mir auch noch mit der zweiten!“

Das junge Mädchen erhob den Kopf. „Ich hab’ mir das Unglück nicht bestellt! Nun wir mitten drin sind. müssen wir’s ertragen, da hast Du recht. Daß es Dir aber schon zuviel ist, bloß davon reden zu hören –“

Der Kapitän zog die Augenbrauen empor und sah seine mutige Nichte groß an. Er nahm ihr das, was sie sagte, nicht übel und fand, daß sie die Wahrheit spreche. „Halt!“ entgegnete er gelassen. „Wenn ich so ’was nicht gern hör’, so hab’ ich meine Gründe dafür. Lebte ich in solchen Verhältnissen, daß ich Euch ordentlich helfen könnte – dann wollt’ ich alles haarklein wissen und Du könntest Deine Litanei herbeten von Anfang bis zu Ende. Aber ich kann eben nicht helfen und darum ist mir’s zuviel, davon zu hören. Verstanden?“

Ilse nickte.

„Und nun zieh’ die Handschuhe aus und nimm Dir das Ding da vom Kopfe. Willst Du 'was zu essen haben?“

„Danke sehr!“

„Dann trink’ dies! Echter Madeira – zier’ Dich nicht! So ’was bietet Dir kein anderer Mensch an!“

Ilse zierte sich nicht und trank das Gläschen leer. Während dessen besah sich der Kapitän das junge Mädchen mit grimmiger Miene. „Hm – ja! So also sieht ’ne heimliche Braut aus? Schöne Geschichten machen wir hinterm Rücken der Eltern! Sieh mich ’mal an!“ Er schob ihr rundes Kinn leicht mit dem Finger empor und sah ihr prüfend in die Augen, in die er tief, tief hineinschauen konnte. „Nun sind wir wohl zum Sterben traurig, wie?“

„Nein, Onkel – glücklich trotz allem und allem !“ Um den süßen roten Mund wachte das Lächeln auf und ein warmer Strahl leuchtete in den schönen Augen.

Draußen erklang tiefes dröhnendes Hundegebell, ein rascher Schritt im Vorflur, eine männliche Stimme. Eine heiße Blutwelle schoß verräterisch in das zarte Gesicht bis unter die schimmernden Stirnlocken. Mit einer flinken Bewegung machte Ilse sich von dem Onkel frei, und rasch wie eine Schwalbe schoß sie davon, dem Eintretenden entgegen. Der alte Leupold, der gar nicht weiter beachtet wurde. zog sich samt Cato und Dido in das Vorderzimmer zurück und überließ das „Achterdeck“ dem Brautpaar.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 5, S. 78–83

[78] Albrecht und Ilse schwiegen beide, als Kapitän Leupold sie allein gelassen hatte. Wenn man einander unendlich viel zu sagen hat, findet man schwer das erste Wort. Womit den Anfang machen? Wie das Uebermaß dessen, was auf unser Herz einstürmt, bewältigen? Sie sollten auf eine Zeit, die ihnen unglaublich lang erschien, Abschied voneinander nehmen; es konnte ein Abschied für immer sein. Die Verhältnisse lagen so ungünstig für sie, daß eine Vereinigung kaum denkbar, nur wie durch ein Wunder möglich erschien … und doch, wie glücklich sie aussahen, wie glücklich sie waren, diese beiden! Voll Entzücken ruhten Albrechts Blicke auf dem lieblichen Geschöpf, das er in seinen Armen, an seinem Herzen hielt. Wie viel Herrliches und Schönes hatte er auf seinen weiten Reisen schon gesehen – war sie nicht das Herrlichste, das Schönste? Und war diese wundersame Hülle nicht doch nebensächlich, wenn man ihr Herz kannte, das so treu, so lauter war? Mit einem raschen Kusse erwiderte Ilse seinen Blick. In ihrem starken festen Herzen lebte eine freudige Zuversicht, daß noch alles gut werden müsse, und wenn auch das Unglück ihrer Eltern und der Abschied ihre Seele bedrückten, so wollte sie das doch dem Geliebten nicht zeigen. Wenn sie ihm, der hinaus mußte auf das tückische Meer, in die Fremde, mit Thränen kam, mit Zittern und Bangen – war das nicht selbstsüchtig und feige von ihr? Und so lächelte sie ihn denn an mit ihren sonnigen Augen.

„Wie gut von Onkel Erich, daß er uns erlaubt hat, hierherzukommen! Er muß Dich sehr lieb haben.“

„Dich viel mehr, Liebling!“

Ilse schüttelte den Kopf. „Ich glaub’ es nicht. Die Frauen sind ihm weiter nichts als ein notwendiges Uebel.“

Albrecht warf den Kopf zurück, um anzudeuten, daß es gleichgültig sei, was der sonderbare alte Kauz über die Frauen im allgemeinen und über Ilse im besonderen denke, dann senkte er seine heißen dürstenden Lippen in das Goldhaar seiner Braut.

„Albrecht, wie soll das werden, wenn wir nun auf so lange Zeit voneinander getrennt sind?“

„Ich weiß nicht!“ Seine Stirn war gefurcht, er atmete schwer.

Sie strich ihm sanft mit der Hand über die Augen. „Es thut mir weh, Dich so zu sehen.“

Ein mühsames Lächeln verzog seine Lippen. „Verzeih’, Ilse! Ich will versuchen – versuchen … nun aber von Dir! Wie steht es daheim? Keine Aenderung zum Guten?“

„Zum Guten? Ach, wenn Du wüßtest!“

„Alles will ich und muß ich wissen.“

„Es geht zu Ende mit uns! Die ‚Perle‘ muß verkauft werden, die Mama –“

„Ilse – Geliebte … nicht weinen!“

„Nein, nein!“ Tapfer rang sie die aufsteigenden Thränen nieder. „Aber, Albrecht, sag’ – ist es nicht hart? Der arme Papa! Und Armin, der kein anderes Lebensziel, keinen anderen Wunsch hat, als einst die ‚Perle‘ zu bewirtschaften!“

„Und Du selbst, Ilse!“

„Ich! Bin ich nicht tausendfach glücklicher als sie alle? [79] Auch ich liebe die ‚Perle‘, aber hundertmal mehr noch hängt mein Herz an Dir!“

Er entgegnete nichts darauf, ihm war das Herz zu voll. Er konnte nur die Lippen und die Augen küssen, die ihm das sagten. „Und Du glaubst nicht,“ nahm er nach einer Weile das Wort, „daß jetzt, gerade jetzt der geeignete Zeitpunkt wäre, vor Deinen Vater zu treten und ihm zu sagen: hier ist ein Mann, der um Ihre Tochter wirbt, kein Millionär und kein Graf, aber einer, der sein Alles dransetzt, sie glücklich zu machen, dem nichts zu schwer und nichts zuviel ist für sie und die Ihrigen! Du glaubst nicht, daß es jetzt gut wäre, so zu sprechen? Du schüttelst den Kopf?“

Bittend faltete sie die Hände auf seiner Brust. „Ach, Liebster, wir müssen Geduld haben, müssen abwarten, wie sich alles gestaltet. Das ist schwer für mich, unendlich viel schwerer noch für Dich, den Mann, der sich sein Schicksal selbst schaffen möchte. Aber um meinetwillen, bitte, versuch’ es um meinetwillen, ruhig und geduldig zu sein! Ich kann es nicht über mich gewinnen, Leid um Leid auf den armen gebrochenen Papa zu häufen, und meine kranke Mama darf ich nicht verlassen, solange sie lebt – sie kann nicht ohne mich sein, ich weiß es! Der Arzt sagt, ihr Leben hänge an einem Faden; wie darf ich da ....“

„Sprich nicht weiter, Ilse! Du hast recht, ich muß versuchen, geduldig zu sein – um Deinetwillen! Darf ich doch den unerschütterlichen Glauben an Dich festhalten!“

„Das darfst Du, Albrecht! Ich danke Dir!“

Sie sahen einander tief in die Augen – da schlug die kleine helltönige Stehuhr die siebente Stunde. Ilse fuhr erschrocken zusammen und flüsterte: „Schon?“ Kamphausens Gesicht wurde trübe, seine Hand fuhr in eine Seitentasche seines Uniformrocks und brachte ein Sammettäschchen zum Vorschein, das er in Ilses Rechte legte. Fragend sah sie zu ihm auf.

„Es gehört Dir. Oeffne es nur!“

Innen, auf dem blauen Atlaspolster, lag eine feingegliederte Goldkette, daran ein Medaillon, in dessen Mitte ein einziger großer Brillant wie eine blitzende Thräne funkelte. Mit vorsichtigem Finger drückte Ilse auf den Deckel des Medaillons – Albrechts Züge, die den gewohnten, männlich kühnen Ausdruck trugen, blickten ihr aus der kostbaren Fassung entgegen.

„Albrecht – Du Lieber, Guter, wie soll ich Dir danken! Damit Du siehst, daß auch ich an Dich gedacht –“ sie zog ein Büchlein hervor, außen kunstvoll in Gold und Seide gestickt, die Innenseiten wiesen Ilses Photographie und eine Locke ihres Haares, die sorgsam mit Goldfäden befestigt war.

„Ilse!“ Kamphausen umschlang zärtlich die geliebte Gestalt. Im nächsten Augenblick jedoch ließ ein ingrimmiges Räuspern in der „Nebenkajüte“ die beiden auseinanderfahren. Mit schwerem wiegenden Tritt trat Kapitän Leupold ein. „Bitt’ unterthänigst um Vergebung! Komme, um meinem Fräulein Nichte etwas zu zeigen, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach interessieren wird. Komm’ ’mal her, Prinzeß Ilse, setz’ Dich neben mich – so! Ich werd’ Dich nicht beißen! – Uff!“

Er hatte einen ganzen Pack Land- und Seekarten unter dem Arm und ließ ihn jetzt schwer auf einen eichenen Arbeitstisch niederfallen – so ziemlich das einzige Möbel im ganzen „Achterdeck“, das kein ausländisches Gepräge an sich trug.

„Damit Du weißt, wo er bleibt, der Herzallerliebste! Da! Ich hab’ Dir seinen Kurs eingezeichnet und will Dir alles sagen. Wenn Du willst, schreib’ Dir’s auf!“

„Ob ich will! Das ist gut von Dir, Onkel!“

„Zu danken brauchst Du nicht, es geschieht bloß der Ordnung wegen, ’ne richtige Seemannsbraut, die muß doch wissen, woher und wohin – sonst taugt sie den Teufel ’was.“

Mit aufmerksamen Blicken folgte Ilse dem deutenden Finger des Alten und seinen Erklärungen. Er hatte alles am Schnürchen, zeigte, kramte allerlei Erinnerungen aus, während Ilse eifrig zuhörte und sich in ihrem kleinen Taschenbuch Notizen machte. Kamphausen warf hin und wieder ein erläuterndes Wort dazwischen, im ganzen war er schweigsam und ließ seinen alten Freund reden. Flüchtig, verstohlen streiften seine Lippen die Hand, das Haar, die Stirn seiner Geliebten. Ein paarmal schaute Leupold zufällig auf, wenn dies geschah, und eine herbe spöttische Grimasse legte Zeugnis von den Empfindungen ab, die ihn bei solchem Anblick bewegten.

Als die Belehrung beendet war und Ilse sich über das „Woher und Wohin“ ihres Verlobten gehörig unterrichtet zeigte, erhob sich der alte Kapitän schwerfällig, mit einem schmerzhaften Zucken des Gesichts – der Rheumatismus zwickte ihn trotz des schönen Frühjahrs tüchtig, was unfehlbar einen Umschlag der Witterung bedeuten mußte – packte seine Karten wieder zusammen und empfahl sich mit einem anzüglichen: „Viel Vergnügen, aber nur bis acht Uhr! Du weißt, Prinzeß Ilse, gleich nach Acht mußt Du pünktlich an Bord ... will sagen, bei Deinem Vater im Gasthof sein.“

Er ging ins Nebenzimmer, holte sich die neueste Reisebeschreibung hervor – er las viel, natürlich nur Bücher, die einigermaßen in sein „Fach“ schlugen – und vertiefte sich mit Eifer in die Seltsamkeiten, die der Verfasser, ein englischer Naturforscher, berichtete. Förmlich erschreckt fuhr er empor, als plötzlich die Thür, die zum „Achterdeck“ führte, ungestüm geöffnet wurde und Albrecht Kamphausen an ihm vorüberstürmte. Des jungen Mannes Gesicht war blaß, die Lippen hatte er fest zusammengepreßt und die Hand geballt. Die Augen glühten ihm wie im höchsten Zorn, und doch kämpfte er nur gegen die Thränen, die heiß aufquellenden Thränen. An seinem alten Freunde lief er vorüber, als sähe er ihn nicht, sein Blick ging wie drohend unter den finster gefurchtea Brauen in die Weite. Draußen angekommen, gab er mechanisch seinem „Korsar“ mit der Hand ein Zeichen, ihm zu folgen, und eilte mit fliegenden Schritten davon.

Erich Lenpold hatte keinen Versuch gemacht, Kamphausen zurückzuhalten; er wollte ihn ja morgen noch zum Bahnhof begleiten, und daß es heute, nach einem solchen Abschied, den Freund nicht mehr nach einem andern „vernünftigen“ Gespräch verlangte, das konnte sich der alte Seebär denken, wenn er es auch keineswegs billigte. Kopfschüttelnd setzte er sich aufs neue an seine Lektüre und wartete auf „Prinzeß Ilse“.

Es dauerte eine ganze Weile – sie kam nicht. Der Kapitän merkte endlich, daß er weiter und weiter las, ohne den Sinn der Worte zu fassen. Aergerlich warf er das Buch beiseite, horchte zum Nebenzimmer hin und „schlich“ sich dann „auf den Zehen“ zur Thür. Aber was der Kapitän „schleichen“ nannte, war immerhin noch ein so wuchtiger Schritt, daß die Dielen knarrten.

Die Thür zum „Achterdeck“ war halb offen geblieben, und durch den Spalt gewahrte Leupold, wie seine Nichte, hilflos auf einen Stuhl hingesunken, die Arme quer über die Platte des Eichentisches geworfen und das Gesicht darauf gelegt hatte. Goldene Sonnenstrahlen irrten über das schöne Haar und dies Haar zitterte und bebte, denn das Mädchen weinte, weinte leidenschaftlich und bitterlich, jetzt, da der Liebste von ihr gegangen, jetzt, da sie allein war.

Als sie das Kommen des Alten vernahm, richtete sie sich hastig empor, sah verwirrt um sich, wie wenn sie nicht recht wisse, wo sie sich befinde, und sagte dann mühsam, mit dem kläglichen Versuch, tapfer zu sein: „Verzeih’ mir, Onkel Erich!“

Der Angeredete hob die Achseln. „Du scheinst mich überhaupt für gar keinen Menschen anzusehen. Da es ’mal so weit kommen mußte, da er nun ’mal Dein Liebster ist und da es für Euch ’ne Trennung giebt, die vielleicht auf immer ist – so ist’s am Ende natürlich, daß Du“ – er wollte sagen: „heulst“, besann sich aber noch beizeiten und endigte: „daß Du in Thränen schwimmst. Wenn ich Dich aber daran erinnere, daß Dein Herr Papa im Gasthof sitzt und sich wahrscheinlich sehr über Dich wundert ... ich möchte nämlich nicht, daß er auf die Suche nach Dir ginge und Dich bei mir fände. Du weißt, mit Deinem Herrn Vater hab’ ich nun ’mal nichts im Leben zu teilen!“

Ilse erhob sich rasch. „Ich gehe, Onkel Erich. Du hast recht, wenn Papa Mißtrauen hat, wird uns das bißchen Glück in Zukunft noch viel schwerer gemacht. Also Du hältst Wort und vermittelst unsern Briefwechsel, und wenn Du etwas über Albrecht und das Schicksal der ‚Nixe‘ erfährst, dann läßt Du mich’s wissen – nicht wahr?“

„Was bleibt mir anderes übrig? Bin ich der Narr gewesen, solchen Unsinn zu versprechen, muß ich auch der Narr sein, es zu halten.“

„Tausend Dank, Onkel! Seh’ ich sehr verweint aus?“

„Und ob! Kein Wunder! Wenn man seinen Thränendrüsen soviel Arbeit giebt, setzt es allemal rote Augen!“

Sie hauchte hastig in ihr Taschentuch und führte es wiederholt an die Augen. Dann, mit einem schweren Seufzer, hielt sie dem Onkel die Hand zum Abschied hin.

„Willst Du das Ding da um den Hals behalten, damit Dein Herr Papa seine Freude dran hat?“ fragte der Kapitän und berührte mit einem Finger die neue Goldkette.

[82] „Um Gotteswillen, nein!“ Sie nestelte mit aufgeregt zitternden Händen die Kette los und verbarg sie samt dem Medaillon in ihrem Kleide. Einen schwermütigen Rundblick sandte sie noch durch den Raum, in dem er bis vor kurzem geweilt, in dem sie Abschied genommen hatte – dann klang die Thür, und sie war gegangen.


6.

Ein paar stürmische und regnerische Tage waren gekommen ... Kapitän Leupolds Rheumatismus war doch ein guter Wetterprophet gewesen, „besser als irgend ein Laubfrosch“, wie sein Besitzer mit einem gewissen Stolz betonte. Heute zum erstenmal wieder versuchte die Sonne sich durchzukämpfen durch die grauen Schleier, welche das böse Wetter im Gefolge gehabt hatte. Zuweilen gelang es ihr auf einen Augenblick, aber zum rechten entscheidenden Sieg wollte es nicht kommen. Immer von neuem schoben sich Wolkenberge vor das leuchtende Auge der Sonne, das nur mit schüchternem Blinzeln zwischen den zusammengeballten Dunstmassen hervorsah. Die Blumen im Park und im Garten von Schloß „Perle“ ließen, schwer von Feuchtigkeit, die Köpfe hängen.

In den schönen luftigen Zimmern der Baronin sah es trübe aus. Die kranke Dame hatte seit jenem einen günstigen Tage das Bett nicht mehr verlassen; sie war verzagt und verstimmt und quälte ihre Umgebung mit hundert unausführbaren Wünschen und Einfällen.

Doßberg und seine Tochter saßen an ihrem Bett, das so bequem und praktisch wie nur möglich und aufs eleganteste mit blauen Seidenvorhängen, mit Spitzenüberwürfen und Schnitzereien ausgestattet war. Statuen, Büsten und Bilder, wie sie dem Geschmack der Baronin entsprachen, schmückten reichlich den hohen weiten Raum. Der Baron hielt zärtlich die feine schmale Hand der Gattin in seiner kräftigen Rechten und sah in das blasse Gesicht, das ihn dereinst so bezaubert hatte und ihn auch heute noch das Lieblichste auf Erden dünkte.

„Der Regen läßt gerade etwas nach. Was meinst Du, Elli, soll Ilse einmal rasch in den Garten hinunterlaufen und Dir ein paar frische Blumen holen?“

„Du bist merkwürdig, Hans Gottfried! Als ob ich an einem Tage wie heute den Blumenduft aushalten könnte! Immer und immer kommt Ihr mir mit Blumen – beinahe wie um mich damit zu reizen!“

„Verzeih’, meine arme Elli!“

„Wie soll ich Dir nicht verzeihen – Du meinst es ja gut! Aber Menschen, die immer gesund sind, die haben klug reden. Ilse, die Erdbeerlimonade!“

Ilse hatte bisher stumm am Kopfende des Bettes gesessen, mit aufgelösten Haaren, wie es ihre Mutter verlangt hatte. Mit einem freundlichen: „Hier, Mama!“ reichte sie jetzt der Kranken das Glas mit der Limonade und hielt es ihr geschickt zum Trinken hin.

„Danke! Nein, nein – ich will nichts mehr. Sieh mich doch an, Kind! Wenn ich nur wüßte, was das mit Dir ist! Und mit Papa auch! Alle beide seid Ihr verändert, alle beide!“

„O Mama, das kommt Dir so vor, weil Du krank bist.“

„Ja, krank bin ich – Gott sei’s geklagt, aber darum hab’ ich doch noch meinen Verstand! Ich merke ganz gut, daß Ilse ihren Frohsinn verloren hat, und daß Du, Hans Gottfried, sehr verstimmt aussiehst. Was in aller Welt kann Euch begegnet sein? Zwei gesunde, glückliche Menschen wie Ihr, die Ihr keine Krankheit, keine Sorge kennt ... oder wäre es mit mir schlimmer geworden und Ihr wollt es mir nicht sagen?“

„Liebe Elli, welcher Einfall!“

„Kein Gedanke daran, Mama!“

Die kranke Frau ließ beruhigt den erhobenen Kopf sinken. „Aber was ist es sonst, was kann es sein? Macht Armin etwa Dummheiten? Sein letztes Zeugnis war doch recht gut!“

„Armin ist ganz brav. Reg’ Dich nicht auf, mein Kind, und sprich nicht so viel!“

„Reden schadet mir gar nichts. Stillliegen und Denken ist viel schlechter. – Apropos, ich hab’, um Ilse zu erfreuen, durch Lina von unserem Pariser Lieferanten eines von diesen entzückenden weißen Tuchkleidern verschreiben lassen, wie sie jetzt getragen werden – sie sind in allen drei Modezeitungen, die ich mir halte, zu finden. Wär’ ich gesund, gleich schaffte ich mir solch ein Kostüm an; Weiß stand mir ja so gut, nicht wahr, Hans Gottfried? Nun muß Ilse es haben – es wird sie reizend kleiden – mit feiner Goldstickerei. Freilich ist es eine fabelhaft kostbare Mode, aber Papa bezahlt ja gern ein hübsches Kleid für sein Prinzeßchen – nicht so, Liebster?“

„Natürlich, mein Herz!“

Ilse gab ihrem Vater einen Wink mit den Augen, den er verstand. Lina hatte ganz gehorsam auf Wunsch der Baronin und in deren Beisein geschrieben, aber der Brief war nicht abgegangen. Das wurde in den meisten Fällen so gemacht. Die Baronin hatte nur noch ein schlechtes Gedächtnis; sie vergaß oft schon am nächsten Tag, was sie am vorhergehenden gewünscht hatte, und erinnerte sie sich je einmal einer derartigen Sache, so war es nicht schwer, sie zu vertrösten oder irgend eine Ausflucht zu ersinnen, welche die Erfüllung ihres Wunsches in Frage stellte.

„Noch etwas anderes hab’ ich mir ausgedacht in der langen schlaflosen Nacht,“ fuhr die Baronin fort. „Ilse reitet schon seit undenklichen Zeiten nie mehr vor meinen Fenstern Parade, und das war doch so hübsch früher, ich sah es so gern, denn es zerstreute mich. Taugt Deine ‚Fatime‘ am Ende nichts mehr, mein Kind? Ist sie steif geworden? Papa wird Dir gewiß ein neues Reitpferd anschaffen, ich denke, eine Rappstute – was meinst Du, lieber Freund? Oder ist ‚Fatime‘ noch zu gebrauchen? Was ist denn aus ihr geworden?“

Ja, was war aus „Fatime“ geworden, aus der reizenden arabischen Schimmelstute mit dem kleinen, fein geformten Kopf und der langen Seidenmähne? Sie war tadellos gewesen, ein kluges Tier, das seine junge Herrin an der Stimme kannte, den Kopf herumwarf und die rosafarbenen Nüstern blähte, sobald Ilse es beim Namen rief. Als vor einigen Monaten Baron Doßberg zögernd und traurig zu seiner Tochter gekommen war und ihr gesagt hatte, er müsse sich eine Zeitlang einschränken, und sie alle, mit Ausnahme der „armen Mama“ natürlich, hätten Opfer zu bringen – der Bestand seiner Rassepferde repräsentiere eine hohe Summe und auch für „Fatime“ sei ihm ein schönes Angebot gemacht worden ... da war Ilse äußerlich ganz tapfer gewesen. Sie war dem Papa um den Hals gefallen, hatte ihn gestreichelt und getröstet, bis ein mattes Lächeln auf seinem Gesicht erschienen war. Aber als er nachher in sein Zimmer ging, da sah sich Ilse scheu um, ob sie niemand beobachtete, und schlich sich dann auf Umwegen sachte in den Pferdestall. Dort wieherte „Fatime“ ihr erwartungsvoll entgegen, und das junge Mädchen faßte das edle Tier mit beiden Armen um den Hals und fing bitterlich an zu schluchzen. Sie war eine leidenschaftliche Reiterin, sie kannte kaum ein größeres Vergnügen als das, auf „Fatimes“ Rücken durch Wald und Feld zu schweifen, jetzt in beschaulichem Schritt, in allerlei Zukunftsgedanken versunken, jetzt in schlankem Trab über eine Brücke, ein Stück Landstraße, nun im verwegensten Galopp eine Hecke, einen Graben nehmend – „Fatime“ federkräftig, wie der Pfeil von der Sehne schnellt, hinüberfliegend, die Reiterin mit freudigem Zuruf sich im Sattel hebend, die Brust von Mut und Unternehmungslust geschwellt ... wie schön, o wie schön das war!

All diese Gedanken gingen Ilse blitzschnell durch den Sinn, während sie anscheinend gelassen erwiderte. „Ein neues Reitpferd für mich? Ach nein, Mütterchen, das ist nicht nötig! Der ‚Fatime‘ geht es sehr gut, sie ist noch dasselbe schöne kräftige Tier wie früher!“

Das war keine Lüge, denn einer der Gutsnachbarn Doßbergs hatte die Stute gekauft und hielt sie gut.

„Dann ist’s recht, dann kann ich meine Ilse bald wieder als elegante Reiterin bewundern!“

Es klopfte leise an die Thür; Lina meldete, es sei Besuch für den Herrn Baron gekommen. Doßberg erhob sich unruhig und vermied es, Frau und Tochter anzusehen. „Ich bin leider genötigt, Dich zu verlassen liebste Elli, Du wirst entschuldigen. Es handelt sich um geschäftliche Angelegenheiten –“

„So geh’ nur, geh’, Hans Gottfried, und komm’ mir ums Himmelswillen nicht mit Deinen schrecklichen Geschäftssachen! Und Du kannst Ilse gleich mit Dir nehmen, ich bin doch etwas ermüdet vom Sprechen und kann vielleicht ein Stündchen schlafen. Lina bleibt hier.“

Der Baron und Ilse stiegen stumm nebeneinander die Treppe hinab. Unten wartete Fink, der einzige noch übrige Diener des Hauses, mit einer silbernen Tablette, auf der drei Visitenkarten lagen. „Ich habe die Herren ins Arbeitszimmer geführt, Herr Baron!“

„Ganz recht, Fink!“

Ilse warf einen raschen Blick auf die Karten; zwei davon trugen bekannte Namen: „Sorau, Justizrat“ und „C. F. Melchior, [83] Landrat“. Auf der dritten Karte war eine siebenzackige Krone zu sehen, darunter der Name: „E. de Montrose.“

„Wohin gehst Du, Ilse?“

„Ich wollte in den Garten, Papa, um Blumen zu holen für mein Zimmer und für den Speisesaal. Oder wünschest Du, daß ich mich ganz zurückziehe?“

„Behüte, Kind, behüte – mach’s, wie Du willst, ganz wie Du willst!“ Doßberg sprach erregt und abgebrochen. „Das heißt – ich meine – wir werden wohl ausfahren. Sage Fink, er soll den Jagdwagen einstweilen anspannen lassen, und wenn wir zurückkehren, soll ein Frühstück in meinem Zimmer serviert werden – nein, nein, nicht im Speisesaal, bei mir!“

„Schön, Papa!“

„Und Deine Blumen – ja, Kind. wär’ es nicht besser, Du ließest sie doch noch einstweilen? Man könnte vielleicht den Garten sehen wollen – und ich, ich weiß nicht –“

„Aber gewiß, das eilt ja gar nicht! Also auf Wiedersehen, liebster Papa – und – und kaltes Blut!“

Doßberg lächelte schmerzlich; Ilse küßte ihn eilig auf die Stirn und verschwand dann in der Tiefe der Vorhalle.

Das Arbeitszimmer des Barons war ein großer Raum mit schön gewölbter Decke, die eichene Ausstattung ernst und gediegen. Der große Gewehrschrank in der Ecke, der früher die kostbarsten Schußwaffen enthalten hatte, war jetzt fast leer; eine aus prachtvollen alten Schilden und Waffen zuammengestellte Trophäe, die früher die Mittelwand geziert hatte, fehlte gleichfalls – ein Sammler hatte bemerkenswert hohe Preise für beides gezahlt.

Von den drei Herren, die den Baron erwarteten, hatte sich’s nur ein einziger bequem gemacht; er saß oder lag vielmehr in einem der tiefen braunen Ledersessel, die zu beiden Seiten des großen Sofas standen. Der joviale etwas beleibte Landrat Melchior liebte es nicht, sich zu „strapazieren“, die lange Fahrt war ihm nicht gerade gemütlich gewesen, daher dehnte er seine Glieder jetzt in ungeniertester Weise und gähnte ein paarmal herzhaft, worauf er freilich jedesmal ein: „Pardon, meine Herren!“ folgen ließ. Justizrat Sorau, ein jüngerer Mann mit üppigem Bart und einem bedenklich gelichteten Haupthaar, klein, beweglich, mit liebenswürdigen Formen, verfehlte dann nie, ein verbindliches: „Bitte, bitte, mein lieber Landrat!“ hören zu lassen, während sein Nebenmann sich ganz teilnahmlos verhielt.

Es war dies ein großgewachsener, gewählt gekleideter Herr, anscheinend in der Mitte der Fünfzig, ein wenig hager, ein wenig steif in der Haltung, aber offenbar vornehm und nicht uninteressant aussehend. Haar und Bart, sehr dunkel und nur leicht mit Grau durchsetzt, waren sorgsam gepflegt, desgleichen die auffallend schönen schmalen Hände, von deren einer er den Handschuh abgestreift hatte. Das Gesicht hatte einen kalten und hochmütigen Ausdruck, sobald die Augen gesenkt waren. Hoben sich aber die Lider und entschleierten die grauen Augen, so war der Eindruck ein anderer. Es war ein Paar merkwürdiger Augen, ausdrucksfähig und tief – sie konnten einen Zwang ausüben, den schon mancher als lästig, mancher als fesselnd empfunden hatte; in sie hineinsehen, ohne irgend eine Wirkung dabei zu spüren, das konnte schwerlich jemand. Herr von Montrose hob aber selten die Lider ganz, meistens zeigten seine Augen einen verschleierten Blick, so auch jetzt, da er stumm neben dem Justizrat stand und auf dessen lebhafte Bemerkungen nur ab und zu durch eine leichte Kopfbewegung antwortete.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 6, S. 96–99

[96] Als Doßberg bei den in seinem Arbeitszimmer weilenden Herren eintrat, erhob sich der Landrat aus seiner bequemen Stellung und ging dem Eintretenden mit ausgestreckter Hand entgegen. „Hab’ es mir in Ihrem famosen Faulenzer ’n bißchen gemütlich gemacht, lieber Doßberg! Servus, Servus, Freundchen! Bin wie gerädert noch von gestern – scharfe Sitzung im ‚Landsknecht‘ bis um drei Uhr, nichts mehr für unsereinen! Erlaube mir, vorzustellen: Chevalier de Montrose – Baron Doßberg, hoffe, die Herren werden in nähere Beziehung treten!“

Es sah nicht danach aus. Doßberg warf einen raschen angstvollen Blick auf den Fremden, der gekommen war, ihm seine „Perle“ zu nehmen, und verneigte sich frostig; der andere grüßte höflich zurück und blieb stehen, wo er stand, ganz kühle Zurückhaltung.

Justizrat Sorau fühlte sich nun verpflichtet, einzugreifen. „Wär’ es den Herren recht, sofort zu den notwendigen geschäftlichen Verhandlungen zu schreiten? Unser lieber Landrat und ich, Herr von Doßberg, sind bemüht gewesen, Herrn von Montrose einen möglichst klaren Ueberblick über die vorliegenden Verhältnisse zu gewähren; daß dieser aber aus eigener Anschauung zu prüfen und zu entscheiden gedenkt, versteht sich wohl von selbst. Es handelt sich also darum, ob wir zunächst eine Einsicht in die Bücher nehmen oder die Rundfahrt um die Besitzung antreten sollen.“

In Doßbergs Gesicht zuckte und arbeitete es. Er setzte zweimal an, um seiner Stimme Festigkeit zu geben und die wenigen Worte hervorzubringen: „Ich stehe den Herren ganz nach deren Belieben zu Diensten!“

Der Landrat räusperte sich und sah ihn mitleidig von der Seite an. „Armer Kerl!“ dachte er für sich, und seine kleinen gutmütigen Augen zwinkerten hastig. „Fahren wir zuerst?“ schlug er vor und wandte sich an Herrn von Montrose.

„Ja, ich möchte dafür stimmen.“ Montrose wandte sich bei diesen Worten mit einer höflichen Gebärde an alle drei Herren.

„Gut denn, fahren wir! Doßberg, haben Sie das Anspannen bestellt?“

„Gewiß, Philipp kann jeden Augenblick vorfahren.“

„Aber ohne ’ne kleine Herzstärkung geh’ ich keinen Schritt!“ rief der joviale Landrat. Teufel auch! Sie waren alle wie die Oelgötzen, man mußte wenigstens versuchen, etwas „Leben in die Bude zu bringen“! Er ging mit langen Schritten auf einen kleinen geschnitzten Schrank in der Tiefe des Zimmers zu. „Da haben wir ja meinen lieben alten Freund, den braven Liqueurschrank! Haben schon manch vertrauliches Wort miteinander geschwatzt, er und ich, das können mir die Herren dreist glauben!“ Er öffnete die Thür und hielt ein paar Flaschen mit Kennermiene gegen das Licht. „Na, da ist noch mancher liebliche Tropfen! Prosit, meine Herren!“

Er führte sich ein Gläschen Cognac zu Gemüt und setzte eifrig für die übrigen Herren Gläser zurecht. Doch nur der Justizrat that ihm Bescheid. Doßberg schüttelte stumm den Kopf und Montrose lehnte höflich ab.

Draußen war inzwischen der Jagdwagen vorgefahren. Der Landrat ließ Montrose und Sorau vorausgehen und hielt den Baron in der Thür beim Aermel fest. „Nehmen Sie sich ein bißchen zusammen!“ flüsterte er hastig. „Harter Bissen für Sie, ich geb’s zu, aber ’s hilft doch nun ’mal nichts! Der ganze Kerl ist kalt wie ’ne Hundeschnauze, hat aber schwer Geld, das kann ich Ihnen sagen – also machen Sie ’nen schönen Preis und zapfen Sie ihn tüchtig an; viel von der Landwirtschaft soll er ohnehin nicht verstehen. Kopf hoch, und machen wir, daß bei der ganzen Geschichte wenigstens ’was Vernünftiges herauskommt!“

Doßberg nickte nur, ohne zu antworten. Sein schwerer dunkler Blick ging wie abwesend an dem Sprecher vorbei, so daß es zweifelhaft blieb, ob er diesen überhaupt verstanden hatte. Der Landrat schüttelte unmutig den Kopf und nahm seinen Sitz im Wagen ein. Sein scharfes Auge flog musternd über die Fensterreihen des alten Schlosses – er hätte gern als zweite „Herzstärkung“ irgendwo die schöne Ilse erspäht. „Hat sich was – es regt sich keine Gardine!“ murmelte er enttäuscht in sich hinein.

Die Fahrt verlief schweigsam. Notgedrungen machte Doßberg hier und da den Erklärer – man stieg aus, ging ein Stück Weges zu Fuß, besichtigte Scheunen und Ställe, stieg wieder in den Wagen, fuhr durch den Wald, hier und da langsamer, um das aufgestapelte Holz, das zum Verkauf kommen sollte, die jungen Schonungen und Anpflanzungen zu prüfen. Man musterte die Felder, fuhr am Waldrand und an den Wiesen entlang, kam zu den Vorwerken Belten und Gnadenstein, die früher zu „Perle“ gehört, jetzt aber abgelöst waren. Jedes Wort, das Doßberg [98] zum Lobe seines Gutes, zur Erläuterung seiner Bewirtschaftung sagen mußte, that ihm beinahe körperlich weh, die eigene Stimme klang ihm hohl und fremd. Wie ein Träumender schritt der unglückliche Mann durch den Wald und hörte den Specht klopfen und den Kuckuck rufen wie damals, als er seinen Sohn hier traf, seinen einzigen Sohn, der nie das Erbe seiner Väter antreten sollte! Aus dem feuchten Waldboden quoll würziger Duft, fernher brauste die See mit tiefem ernsten Klang, und das Birkenlaub bebte im flüchtigen Windeshauch. Scheu wandte der Baron sein Haupt: kamen dort nicht in langem Zuge, unhörbar herangleitend auf dem weichen Moosboden, die Ahnen seines Hauses hinter ihm her, den Stammherrn Hans Gottfried in Harnisch und Eisenhut an der Spitze? Er kannte sie ja aus der Ahnengalerie, alle diese Gestalten, die jetzt drohend die Augen auf ihn gerichtet hielten. Weh’ Dir, was wagst Du zu thun? Einen Fremden willst Du schalten und walten lassen auf dem Grund und Boden Deiner Väter, und Du lebst noch? Du erträgst dies? Die „Perle“ willst Du hingeben, die Dein Urahn, der Stammvater Deines Geschlechts, einst aus der Hand seines Landesfürsten erhielt als ein unvergängliches Zeichen von dessen Huld und Gnade? – Wie mit glühenden Buchstaben geschrieben, verfolgten den Erregten plötzlich die Anfangsworte jener Schenkungsurkunde, die er so oft mit stolzer Freude sich eingeprägt hatte, die ihm nun zur Qual wurden: „Und maßen Du, Hans Gottfried Doßberg, mir hast beygestanden in schwerer Lebensgefahr und hast mich gedecket mit Deinem eigenen Leibe und mich errettet aus großer Todesnoth, darumb also will ich für Dich und Dein nachkommend Geschlecht seyn ein fürsorglicher Landesvater und will geben als fürstliches Gnadengeschenk Dir wie Deiner Sippschaft als meiner großen Huld und Dankbarkeit allewigen Beweys aus meyner Krone Ländern die Perle. Als welche gemeynt sei das Stück Landes ostwärts von Niederdamm bis zum Meer, mit Eynschluß von Wald und Wieswuchs, von Feld und Moor, und was sunsten noch zu benamsetem Länderstrich gehöret. Und soll unser Kanzler Dir festmachen die Schrift sammt Schenkbrief und Insiegel, also daß keines Menschen Hand an dies Dein geschenktes Eigenthum habe zu rühren. Und soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken –“

„Soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken,“ wiederholte der Baron flüsternd. Er zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die glühende Stirn und stammelte entschuldigend mitten in eine Auseinandersetzung über den Waldbestand, es sei ihm so schwül und die Luft unter den Bäumen so drückend.

Herr von Montrose war nicht nur ein höflicher, er war auch ein vorsichtiger Herr. Er sprach auch jetzt wenig, verhielt sich nicht zustimmend, aber auch nicht ablehnend und ließ in keiner Weise merken, ob ihm das Gut zusage oder nicht. Er hörte sehr aufmerksam zu, wenn Doßberg oder der Landrat eine Erklärung abgaben, machte sich viele Bemerkungen in sein Taschenbuch und warf ab und zu eine kurze Frage dazwischen, die wohl von Verstand, aber oft von wenig landwirtschaftlicher Erfahrung Zeugnis ablegte.

Der Justizrat langweilte sich beträchtlich während der ganzen Fahrt. Er gab sich zwar das Aussehen eines Sachverständigen und ließ zuweilen eine etwas dunkel klingende Phrase hören, war aber im übrigen bemüht, die Besichtigung möglichst abzukürzen. Endlich konnte er getröstet aufatmen – die Hauptpunkte waren erledigt, man fuhr nach dem Schloß zurück. Doßberg hatte den Herren ein Frühstück auf seinem Zimmer angeboten, ehe man an die Durchsicht der Bücher ginge. Sorau sah verstohlen nach der Uhr: gleich halb Zwei – unglaublich, wie eine solche Gutsbesichtigung aufhielt!

Im Schlosse angekommen, setzten sich die Herren um den runden Eichentisch im Arbeitszimmer des Barons, das im Erdgeschoß gelegen war. Selbst der muntere Landrqt war verstummt, so hungrig und übermüdet fühlte er sich und so drückend war ihm die ganze Lage der Dinge. Erst der wohlbcsetzte Frühstückstisch regte seine erschlafften Lebensgeister wieder an.

„Auf glückliches Zustandekommen unseres Unternehmens!“ sagte Sorau verbindlich und nähertn sein gefülltes Weinglas dem des Herrn von Montrose, der ihm mit seinem ruhigen unbewegten Gesicht Bescheid that.

„Der Teufel soll mich reiten,“ dachte der Landrat, „wenn ich weiß, ob dieser Halbfranzose nun eigentlich will oder ob er nicht will! Statt eines ehrlichen Menschengesichtes sieht man ein Buch mit sieben Siegeln vor sich, die reine Sphinx!“

Der Fremde hatte seinen Platz dem Fenster gegenüber und ließ den Blick verloren über den Hof schweifen. Plötzlich hob er interessiert den Kopf. Da draußen bot sich ihm ein wunderbares Bild. Von der linken Seite, von dort, wo an der Auffahrt der Weg ein wenig abschüssig angelegt war, kam in vollem Lauf ein kleines drei- bis vierjähriges Mädchen. Es war ländlich gekleidet, aber zierlich und nett – ein hübsches dralles Geschöpfchen. Lachend und jauchzend, die kleinen nackten Arme emporstreckend, sprang es daher, so schnell die Füßchen es nur tragen wollten, die Augen auf ein Ziel geheftet, das zweifelsohne die Ursache seiner Glückseligkeit bildete. Auf den Weg achtete die Kleine nicht im mindesten, und so kam es, daß sie stolperte, taumelte und offenbar zu Fall gekommen wäre, wenn nicht eben jetzt von der andern Seite eine junge Dame erschienen wäre, die sich hastig niederbeugte, die Wankende in ihren Armen auffing und gleich darauf, um sie den Schreck vergessen zu machen, hoch emporhob und küßte. Welch eine Erscheinung, welch ein Gesicht! Das schneeweiße Kleid, das offene, lang herabfallende Goldhaar, durch ein blaues Band im Nacken zusammengefaßt, konnte fast ein wenig theatralisch erscheinen, aber der reizend unbefangene Ausdruck des Gesichtes, das dem Beobachter am Fenster ganz nahe war, hob den phantastischen Eindruck ganz und gar auf.

Ilse war bei der kranken Mutter gewesen, hatte einen langen Brief geschrieben, selbst die Vorbereitungen zu dem Frühstück für die Herren übernommen – und endlich hatte sie an ihre Blumen gedacht und war in den Garten gelaufen, sie zu holen. Es war schön im Freien, die Sonne hatte sich schüchtern hervorgewagt. Da war Ilse tief und tiefer in den Park gegangen, und als sie nun umkehrte, ahnte sie nichts davon, daß die Herren bereits zurück waren und in ihres Vaters Zimmer saßen. Sie sah nur das Töchterchcn ihrer Wirtschafterin, einer jungen Witwe, jauchzend auf sich losstürmen – sie liebte das zutrauliche Kind sehr, und die Kleine vergalt ihr das mit ungestümer Zärtlichkeit – Trudchen drohte zu fallen, und so fing Ilse sie rasch in ihren Armem auf, herzte und küßte sie und blieb ahnungslos dicht vor dem Fenster zur „braunen Stube“, wie die Leute das Arbeitszimmer des Barons zu nennen pflegten, stehen.

Die Kleine haschte mit den dicken Händchen nach den schönen Haaren, in denen die Sonnenstrahlen ein lustiges Spiel trieben, aber Ilse bog den Kopf zurück und versuchte, ein sehr ernstes Gesicht zu machen. „Das darf man nicht!“ Dann wollte Trudchen die Lilien haben, die Ilse gepflückt hatte, und diese schenkte ihr eine und wollte sie das Näschen tief in den Kelch stecken lassen, aber die Kleine wußte ganz gut, was das abgab, und wollte durchaus, daß Ilse zuerst ihre Erfahrungen machen sollte. Endlich setzte Ilse das zappelnde Geschöpfchen auf die Erde – dann eine schnelle Bewegung, ein zufälliger Seitenblick – und das junge Mädchen stand wie angewurzelt, einen heftigen Schreck in den dunklen großen Augen, eine fliegende Röte in dem zarten Gesicht. Achtlos fielen die Lilien zu Boden. Hastig bückte sie sich danach … wie ihr die Hände zitterten! Mein Gott, es war doch nichts Besonderes geschehen! Sie hatte nichts Unrechtes gethan – nur mit dem Kinde gespielt und gelacht, freilich so dicht vor dem Fenster – wer sie nicht kannte, der konnte denken, sie habe sich absichtlich dahin gestellt. Ihr war, so flüchtig sie auch hingesehen hatte, das Gesicht des Mannes, der sie beobachtete, merkwürdig vorgekommen – ein Gesicht, wie man es nicht jeden Tag sah. War er derjenige, der die „Perle“ kaufen wollte, der neue Herr? Sie sammelte in Hast die Lilien, schüttelte unmutig das Haar zurück und lief mehr, als sie ging, zum Eingang des Schlosses, ohne auch nur den flüchtigsten Blick zurückzuwerfen.

Unterdessen sagte drinnen, im Arbeitszimmer des Barons, Justizrat Sorau: „Ich weiß nicht, Herr von Montrose, ob nach gehabter Einsicht in die Bücher Ihre ursprüngliche Absicht irgend welche Wandlung erfahren hat –“

Der Angeredete machte eine höflich ablehnende Gebärde. „Durchaus nicht. Wenn Baron Doßberg es mir gestattet, komme ich bald wieder. Ich bin so gut wie entschlossen.“



0

[99]
7.

Es ging heute lebhaft zu im Garten des Offizierskasinos zu St. Fortwährend kam frischer Zuzug, die Offiziere schwärmten ein und aus, die Ordonnanzen liefen mit roten heißen Gesichtern herum. Man hatte eine Erdbeerbowle angesetzt – aber keine so schwache süße, bei der auch Damen mithalten könnten, diese hier war für stärkere Nerven, Baron Mock von Mockshausen hatte sie eigenhändig gemischt, und was der braute – alle Achtung! Ein bißchen heiß machte der „Stoff“, und heiß war’s ohnehin – na, das that nicht viel zur Sache! Die Uniformröcke wurden aufgeknöpft, die Halsbinden locker gemacht, man war ja „unter sich“, und „Ordonnanz, frisches Eis her!“ hieß es, sobald in der Kühlwanne der blinkende Wall, der die Bowle umschloß, zu schmelzen begann.

Ein neu in die Garmison versetzter Lieutenant, schon längere Zeit Premier, auf dem Sprung zum Hauptmann, sah sich mit vergnügten Augen im Kreise um und wirbelte unternehmend seinen Schnurrbart, ein wahres Prachtstück von einem Schnurrbart, rotbraun, lang und weich, der reine Staat. Wetter noch eins, hier kann es einem gefallen, dachte der Lieutenant, das hab’ ich nicht schlecht getroffen! Daß St. eine angenehme Garnison war und schön lag, das natürlich hatte Kurt von Oesterlitz längst gewußt und war daher recht gern hierher gegangen, aber daß die Kameraden ihm so „passen“ würden, daß der ganze Ton so ausbündig „sein eigenstes Genre“ sei – nein, das hatte er sich nicht vorgestellt. Wenn es nun hier noch hübsche Mädchen gab – der Sport konnte sich sehen lassen, das hatte er gleich herausgebracht – dann würde das ein verteufelt lustiges Leben geben.

„Hm, Kamerad, hübsch bei uns, nicht?“ fragte Baron Mock, genannt „der dicke Mock“, sein kupfrig rotes Gesicht nahe zu dem Neuling hinüberbiegend, während sein linkes Auge verschmitzt zwinkerte.

„Denk’ ich just!“ gab der Angeredete mit Nachdruck zurück, trank sein Glas leer und wischte sich die Weinperlen vom Bart. „Und Sie, Kamerad, sind ein Arrangeur ersten Ranges. Schneid’ und Gemütlichkeit, sehen Sie, das ist’s! Schneid’ und Gemütlichkeit – beides muß zusammengehen, eines ohne das andere ist fauler Zauber. Wenn Sie mich nur noch über einen Punkt beruhigen wollten, der mir nicht wenig am Herzen liegt, dann erklär’ ich Ihre Garnison für mein Ideal!“

„Na, los damit! So ein paar Punkte hätten wir heut’, sollt’ ich denken, schon durchgesprochen –“

„Aber nicht diesen einen! Und, wie gesagt –“

„Mock, was soll das heißen? Kamerad Oesterlitz hat ein leeres Glas vor sich!“ – „Darf überhaupt gar nicht vorkommen!“ – „Infamer Anblick!“ – „Ordonnanz! Ordonnanz!“ – „Sparen Sie doch Ihre schöne Stimme, Zeno, da ist ja schon die Ordonnanz und thut ihre heilige Pflicht!“ – „Zum Wohl, Kamerad Oesterlitz!“

In dem Durcheinander von Stimmen vernahm niemand sein eigenes Wort. Mock machte einen langen Hals und sah in die Bowle hinein, ob man ihr noch einiges zumuten könne. Er klopfte liebkosend gegen die dicke Wand des mächtigen Gefäßes, wie wenn er ein braves Pferd loben wollte – sie hielt noch aus.

„Sie haben Glück, Kamerad,“ wandte er sich zu Oesterlitz zurück, „daß Sie so mitten in die Fidelität hineingekommen sind – alle Tage klappt’s nicht so schön. Aber jetzt schweben die Beförderungen und der Urlaub in der Luft, das giebt dann so ’ne angenehme Spannung und eine allgemeine Beteiligung. Sie finden heute alles, was bei uns mitzureden hat, in gedrängtem Auszug beisammen –“

„Aber Mock, Mock! Redet der Mensch von ‚gedrängtem Auszug‘, wenn Montrose und Jagemann fehlen!“

„Also zwei Kameraden?“ fragte Oesterlitz dazwischen. „Wollen die Herren mich freundlichst au fait setzen?“

„Natürlich! Zeno – wo ist er hin?“ – „Zeno, heran!“ – „Kamerad,. Sie müssen wissen, dies ist die Scheherezade des Regiments – Zeno, machen Sie Ihren Knix!“

Zeno, ein schmächtiges blasses schwarzes Kerlchen mit einem klugen Fuchsgesicht, zündete sich gleichmütig eine Cigarette an. „Man erhitze sich nicht! Bei dem Gebrüll red’ ich keinen Ton.“

„Pst, pst! Ruhe!“ – „Wind, hör’ auf zu säuseln, Blätter, wollt ihr wohl euer Geflüster bleiben lassen, merkt ihr denn nicht: der Zeno will reden!“ – „Wohin mit ihm? Keine Tribüne da? Mock, gieb’ mal den Ehrensessel her!“

Der Ehrensessel war ein weißangestrichener Gartenstuhl, der etwas breiter und bequemer als die übrigen Sitze gebaut und mit einem rot und schwarz gestreiften Polster belegt war. Zeno nahm ohne weiteres auf diesem Prunksitz Platz, winkte der Ordonnanz, in gemessener Entfernung zu bleiben, und wendete sich verbindlich an Oesterlitz. „Sie wünschen, Herr Kamerad, von mir einiges Nähere über die Herren von Montrose und Jagemann zu hören?“

„Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen!“

„Gern! Da muß ich aber erst ein paar Worte von Montroses Familie sagen, wenigstens, was man sich da so erzählt. Verbürgen kann’s keiner, aber geredet wird, Ihnen muß es auch zu Gehör kommen, wie uns allen – besser also, Sie erfahren es durch uns, damit Sie gleich Stellung nehmen können.“

„Sehr hübsch, Zeno! Guter Anfang! Das nennt man Stimmung machen!“

Zeno zuckte mit einem kleinen spöttischen Lächeln die Achseln. „Die Montroses sind ein sehr altes Geschlecht – der Kamerad, den wir hier haben, hat so oft erzählt, seine Vorfahren hätten schon unter Heinrich dem Vierten eine Rolle in Frankreich gespielt, daß ich es schon erwähnen muß. Sie führen eine Rose im Wappen, es soll da vor ein paar Jahrhunderten eine bedeutungsvolle Geschichte mit einer schönen Dame und einer Rose gespielt haben –“

„Die Montroses sind überlieferungstreue Leute,“ fuhr Mock mit einem listigen Augenzwinkern dazwischen. „Noch heutigestags spielen bedeutungsvolle Geschichten mit schönen Damen bei ihnen ... mit und ohne Rosen.“

Oesterlitz hob den Kopf. „Damen? Ein Thema, das mich interessiert. Sie wissen, Herr Kamerad, ich hatte da noch eine Frage –“

Zeno schnitt mit der Hand durch die Luft. „Zu den Damen kommen wir später, für jetzt sind wir bei der Familie. Ja, also, die Familie wanderte aus, als die große Revolution kam, und zog zuerst nach Belgien, dann nach Deutschland. Der Vater des jetzigen Herrn von Montrose, der Großvater unseres Kameraden, war – das ist eine Thatsache – ganz arm nach Belgien gekommen und wurde dort in verhältnismäßig kurzer Zeit reich; hier in Deutschland wurde er noch reicher.“

„Sehr nett von ihm, wie hat er denn das gemacht?“ kam eine vorwitzige junge Stimme aus dem Hintergrund, von dorther, wo die Bowle stand.

„Ja, mir hat er’s nicht anvertrant, lieber Grottwitz.“ sagte Zeno gelassen, „ich hatte nicht das Vergnügen, diesen interessanten alten Herrn zu kennen. Man sagt von ihm – wofür ich indessen in keiner Weise die Verantwortung übernehme – er sei ein hervorragendes Finanzgenie gewesen und außerordentlich sorglos in der Wahl seiner Mittel. Er wollte Geld machen um jeden Preis, und er machte es; er wollte emporkommen um jeden Preis, und er kam empor – das heißt, mit einer gewissen Einschränkung. Es hat Kreise gegeben, die sich ihm hartnäckig verschlossen hielten, trotzdem er mit einem goldenen Zauberstab anklopfte. Wieder andere öffneten sich ihm langsam und zögernd ... immerhin, sie öffneten sich! Noch andere nahmen ihn mit offenen Armen auf und folgten errötend den Spuren seiner Spekulationen. So saß er in Berlin schon hübsch fest im Sattel, aber da kam eine dumme Geschichte – ein Manöverchen, wissen Sie, bei dem sich ungeheuer verdienen läßt, wenn man gewisse Bedenken übersieht. Der alte Herr besaß diese Vorurteilslosigkeit und strich einen schönen Gewinn ein, zugleich aber mußte er aus Berlin verschwinden, denn Friedrich Wilhelm der Vierte verstand in manchen Dingen keinen Spaß, und die gute Gesellschaft that es ihm nach und sah den Mann der kühnen Spekulation nicht weiter an. Da ging er denn samt seiner Gattin und dem einzigen Sohn nach Brüssel zurück und machte seine betriebsamen Pläne im stillen. Sehr schlecht war bei der ganzen Geschichte besagter einziger Sohn, eben der Vater unseres Kameraden, davongekommen. Er war zum Diplomaten bestimmt, soll hervorragend begabt und sehr ehrgeizig gewesen sein und hatte seine Laufbahn bereits an einem der ausländischen Höfe aufs beste begonnen; die Finanzthaten seines Herrn Vaters aber brachen dem jungen Mann kurzerhand den ganzen Lebensplan und die schöne Laufbahn entzwei.“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 7, S. 111–115

[111] Zeno machte eine Pause in seiner Erzählung, dann fuhr er mit einem musternden Blick auf seine zuhörenden Kameraden fort: „Seit dem Vater unseres Montrose durch die allzu klugen Finanzkünste seines Herrn Papas die diplomatische Laufbahn abgeschnitten worden war, soll er völlig verändert gewesen sein – anfangs beinah tiefsinnig, so daß sie ihn in eine Nervenheilanstalt bringen mußten. Später verfiel er in eine Art stiller Verzweiflung, die ihn gleichgültig gegen alles machte. Der Vater wünschte, ihn zu verheiraten – der Sohn ließ sich verheiraten. Der Vater wünschte, der Sohn solle nach Südamerika gehen und dort ein Zweiggeschäft der väterlichen Bank begründen – der Sohn gehorchte. Seine Ehe soll die denkbar unglücklichste gewesen sein, und als seine Frau gestorben und der Herr Papa in Brüssel gleichfalls aus dem Leben geschieden war, da kam Herr von Montrose nach Deutschland zurück und brachte seine beiden Kinder mit. Den Sohn steckte er ins Kadettenhaus, die Tochter in ein Pensionat. Er selbst reiste, ruhelos, jahraus jahrein – man hat ihn in allen möglichen und unmöglichen Ländern getroffen, immer mit demselben stillen verschlossenen Gesicht. Ich hab’ ihn auch kennengelernt, wie man so sagt – wirklich kennenlernen wird den Mann sobald keiner; sogar die eigenen Kinder haben offenbar keine Ahnung, wie es in ihm aussieht. Er hat ganz sonderbare Augen; sie sehen über einen hinweg und doch in einen hinein … beschreiben läßt sich das nicht. Die Kinder scheinen ihm nicht nachzuschlagen – sein Herr Sohn, unser Kamerad, stand in Berlin bei der Garde und hat dort ein so flottes Leben geführt, daß sein Vater ihn hierher nahm, um ihn etwas mehr im Auge zu behalten. Die Tochter, die einzige Tochter –“

„Schön? Hübsch?“ warf Oesterlitz gespannt ein.

Zeno verzog die Lippen. „Mein Geschmack ist sie nicht – aber ’s ist schließlich alles Ansichtssache!“

„Aber, Zeno, bitte! Darin sind wir denn doch einig! Clémence von Montrose und hübsch! Wird wohl kein einziger sein, der so ’was behaupten möchte!“

„Ja,“ fuhr Zeno fort, „und sie ist die Braut unseres Kameraden von Jagemann, des schönen Jagemann. Montrose, der Vater, will sich nun seßhaft machen, in hiesiger Gegend, er will die ‚Perle‘ kaufen.“

„Die ‚Perle‘? Was ist das?“

„Altes feudales Gut. Ein paar hundert Jahre in ein und derselben Familie – Geschenk des Landesherrn an den Stammvater. Jetziger Besitzer verschuldet über Kopf und Ohren, nicht mehr zu halten. Unheilbar kranke Frau, wunderschön6e Tochter.“

„Schön? Wahrhaftig? Auf Ihr Wort?“ Oesterlitz war ganz Ohr.

Zeno lachte. „Stimmen sammeln!“ sagte er kurz. Es war nicht nötig! Es erhob sich ein Lärm ohnegleichen, denn während Zenos Bericht war man um die Bowle herum nicht unthätig [114] gewesen; die Gemüter waren erregt, die Köpfe glühten. Der Name der schönen Isolde von Doßberg, der Gedanke an ihre blühende Schönheit fiel wie der zündende Funke in ein Pulverfaß. Man hob die gefüllten Gläser und brachte ein Hoch auf sie aus, man versuchte, sie zu schildern, der eine pries ihre Augen, ihr Haar, der andere ihre Gestalt, ihre Haltung. Oesterlitz sollte hierhin, dorthin hören, jeder wollte ihm ein Bild entwerfen, jeder dachte, es am besten zu thun.

„Gut,“ sagte er endlich und strich sich den Bart mit der Miene eines Mannes, der klar sieht, „daß ich sie kennenlernen muß, steht felsenfest. Aber was mir die Herren da von ‚schwierigen Verhältnissen‘ sagen, das sehe ich nicht recht ein. Der Baron – wie heißt er doch? Doßberg? – also Doßberg kann sich von seinem Gut nicht trennen, die Familie will nicht fort – also einfach: Kamerad Montrose heiratet die schöne Tochter des verschuldeten Barons, und die Sache ist bestens geordnet!“ Ein schallendes Gelächter aus allen Kehlen folgte diesem „einfachen“ Vorschlag.

„Hört, hört – Montrose als Ehemann!“ – „Sehen möcht’ ich ihn!“ – „Na, lieber nicht!“ – „Lacht doch den Kameraden nicht aus, wie soll er’s denn wissen!“ – „Zeno, Schlußwort! Erklären!“

„Ja – also! Ihnen, Kamerad, scheint das eine so einfache Sache zu sein, aber die Geschichte hat ihren Haken. Sehen Sie, wir alle, die wir hier sind, hegen bedeutende Gefühle für die schöne Ilse von Doßberg – ‚teils dieserhalb, teils außerdem‘, und längst hätte einer von uns diesen süßen Käfer eingefangen, nur leider – ’s ist so gar kein Goldkäfer, und dann hängt so viel drum und dran: verschuldetes Gut, komischer Vater, schwerkranke Mutter, Bruder zu erziehen – kurz, um da hineinzuheiraten, dazu gehört neben sehr viel Mut auch kolossal viel Geld, und die Zeiten für den Lieutenant sind schlecht! Ach, der verfluchte Mammon, ’s ist doch gleich, um –“

„Zeno, nicht abspringen, bei der Stange bleiben!“

„Nun ist der Kamerad Montrose zwar einer von uns, und unter Kameraden ist ja bekanntlich alles egal – aber zur Steuer der Wahrheit: einen größeren Don Juan als den Kameraden Montrose haben meine Augen noch nicht gesehen ... wessen sonst?“

Es folgte eine Art von Stille auf diese Frage, nur ein unterdrücktes Gemurmel, ein paar halblaute Ausrufe antworteten.

„Jeder Schürze rennt er nach, jedem Mädel sieht er unter den Hut – Grundsätze nicht die Spur, Gewissen nicht vorhanden! Sie werden seinen Ruhm verkünden hören, Kamerad Oesterlitz, ehe Sie drei Tage älter sind. Die Spatzen pfeifen’s hier schon auf allen Dächern, daher sag’ ich es Ihnen lieber zum voraus, damit –“

„Damit Sie Stellung nehmen!“ schob Mock schmunzelnd ein.

„Ganz recht, Mock, dank’ schön: damit Sie Stellung nehmen. Daß Montrose sich, sobald er die Perle der ‚Perle‘ sieht, Hals über Kopf in sie verliebt, steht ja bombenfest, ebenso fest aber, daß diese interessante Thatsache sich mindestens zum fünfhundertneunundneunzigstenmal in seinem ereignisreichen Dasein vollzieht. Und so, selbst wenn das Unerhörte geschähe und er die schöne Ilse in eheliche Fesseln schlagen wollte – sich selbst schlägt er im ganzen Leben nicht in Fesseln, und um sie wär’s ein Jammer. Kerle von solchem Kaliber wie Montrose, die müssen das Heiraten bleiben lassen!“

„Ja,“ sagte Oesterlitz nachdenklich und nahm aufs neue seinen Bart zwischen die Finger, „dann weiß ich nicht, wie der jungen Schönheit zu helfen ist. Schade! Wo kann man sie sehen?“

„Das ist nicht leicht zu machen! Neulich war sie hier im Städtchen und besuchte ihren Onkel, ’nen alten verrückten Seemann, der draußen in der Schiffstraße sitzt! Na, Mock, Sie wohnen ja dem Gasthof gegenüber, in dem sie immer absteigt, thun Sie doch ein gutes Werk und nehmen Sie den Kameraden Oesterlitz einmal ins Schlepptau!“

„Werd’ nicht ermangeln! Sollen Nachricht haben, Herr Kamerad, sollen ’was zu schauen bekommen! O Gott, diese Ilse von Doßberg! Haben uns alle zusammen gehütet, sie bis jetzt dem Kameraden Montrose zu zeigen. – Giebt’s noch ’nen Rest in der Bowle?“

„Hier, Mock! Zwei, drei Gläser wird’s noch absetzen! Bescheidenheit ziert den deutschen Soldaten!“

„Wenn ich vorhin eine Bemerkung recht verstanden habe,“ sagte Oesterlitz, der hartnäckig denselben Gedanken verfolgte, „so sind die beiden Kameraden, von denen ich so viel habe erzählen hören, heute nach dem fraglichen Gut hinausgefahren. Da wird der Kamerad Montrose wohl doch die besagte Schönheit, die Sie ihm bisher so geflissentlich unterschlagen haben, zu sehen bekommen!“

„Natürlich wird er! Kann es nicht hindern!“ Mock trank seelenruhig sein Glas aus, dann stand er auf. „Jetzt, Ihr Herren, zum Abbruch der Zelte blasen! Sammeln! Die Tante dort giebt nichts mehr her!“, Man schnallte die Säbel fest, schloß die Uniformen und stülpte die Mützen auf. Mock hing sich etwas schwer in des großen stattlichen Oesterlitz’ Arm. „Schlepptau, Kamerad!“ lachte er, mit den weinseligen Aeuglein blinzelnd.

„Versteht sich!“ gab der neue Kamerad zurück und steuerte mit seinem Begleiter dem Ausgang zu.

Das Säbelklappern verlor sich mehr und mehr und verhallte endlich in der Ferne. Die Ordonnanzen räumten die Tische ab, tranken die Reste aus den Weingläsern und stellten die Stühle in Ordnung. Dann lag der Garten wieder still da im warmen Abendsonnenschein.




8.

„Guten Tag, Philipp! Baroneß Ilse zu sprechen?“

„Jawohl, Herr Landrat. Ich sah das gnädige Fräulein soeben in den Garten gehen. Hier kommt auch schon Fink, er kann Sie hinführen.“

„Schön, Philipp. Kunze“ – das galt seinem Kutscher – „spannen Sie nicht aus, fahren Sie nur unter Dach und tränken Sie den Rappen nach einer Weile – ich bleibe heute nicht lange.“

„Sehr wohl, Herr Landrat!“

Fink näherte sich mit seiner gesetzten Bedientenmiene. „Der Herr Baron ist soeben ausgeritten, Herr Landrat!“

„Dacht’ ich mir, komme auch gar nicht zum Herrn Baron – können Sie mir sagen, Fink, welchen Weg Baroneß Ilse genommen hat?“

„Die Baroneß ging nach dem Dianatempel.“

„Gut – nein, nein, Sie brauchen mich nicht hinzuführen, ich finde mich schon zurecht.“

Als alter Freund des Hauses fand Landrat Melchior wirklich den Weg, der am Dianatempel mündete, einem hübschen altertümlichen Steinbau, vor dem die kurzgeschürzte Göttin samt ihrer Hirschkuh Wache hielt. Es war ein träumerisches reizvolles Fleckchen; blühende Akazien standen in Menge umher, die stille Luft war schwer vom Blütenduft, in Scharen schwärmten die Bienen um die reich herabhängenden Dolden. Die Sonne hatte schon allen Morgentau von Gras und Busch fortgetrunken – es wollte offenbar ein sehr heißer Tag werden.

Ilse saß mitten in dem kleinen Tempel auf einer rissigen grauen Steinbank und nähte an einem Kinderkleidchen. Die Baronin liebte es nicht, wenn ihre Tochter für die Dorfkinder arbeitete, aber Ilse hatte sich von Lina unterweisen lassen und that in aller Stille, soviel sie konnte, die Armut im Dorf zu mildern.

Der Landrat musterte das reizende Bild, das sich ihm bot, mit Wohlgefallen, mit rein künstlerischem Wohlgefallen und unverminderter Seelenruhe. Er war ein Mann in gesetzten Jahren, zufriedener Gatte und Familienvater, und selbst in seiner Jugend hatte er keine stürmische Leidenschaft gekannt. Daß er gern hübsche Mädchen und von allen Ilse von Doßberg am liebsten sah, verhehlte er weder sich noch andern – warum hätte er dies sollen?

„Morgen, Fräulein Ilse!“ rief er, nachdem er eine Weile den stillen Beobachter gespielt hatte.

Sie sah überrascht, aber nicht erschrocken auf und erhob sich rasch. „So früh, Herr Landrat? Guten Morgen! Hat Fink Ihnen nicht gesagt, daß Papa –“

„Doch, weiß alles. Ich komme zu Ihnen. Bleiben Sie da oben, ich setze mich neben Sie auf diese Bank von Stein! Ein behagliches Plätzchen! Wie stark die Akazien riechen und wie das Bienenvolk schwärmt!“

Sie hatten einander als alte Freunde, die sie waren, die Hand geschüttelt. Ilse ließ ihre Handarbeit in den Schoß sinken.

„Lieber Herr Landrat, es ist gewiß etwas Ernstes, was Sie in dieser Frühe zu mir führt.“

„Natürlich ist’s das, Kind! Die Zeiten sind ernst für Ihre Familie – da hilft nichts, das muß ausgehalten werden. Zunächst sagen Sie einmal: wie steht’s mit Papa, seitdem wir neulich zur Besichtigung da waren?“

[115] Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Schlecht! Er brennt, wie Fink sagt, bis zwölf, ein Uhr nachts die Lampe auf seinem Zimmer und morgens ist er um vier Uhr außer Bett und sieht dann aus, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte. Dabei ißt er wenig und redet bei den Mahlzeiten kaum ein Wort. Den ganzen Tag reitet er auf dem Gut herum, von einem Ende zum andern, daß die Pferde es kaum aushalten, und als ich ihn bat, das zu unterlassen, da hat er mich groß angesehen. ‚Lassen? Wie ist das möglich? Ich muß doch Abschied nehmen, Abschied von der ‚Perle‘, die mir nicht länger gehören soll.‘ Und vorgestern, als es regnete. da hat er die ganze Zeit im Archiv gestöbert und all die alten Urkunden aufgerollt und gelesen – ich sah durchs Schlüsselloch. Des Nachts, sagt Fink, ist er ein paarmal aufgestanden, mit Licht in den Ahnensaal hinaufgegangen und stundenlang oben geblieben. Ach, Herr Landrat, wenn mein Vater die ‚Perle‘ hingeben, wenn er von ihr fort muß – das überlebt er nicht!“

„Na, na – hm!“ Der Landrat runzelte unmutig die Stirn und klopfte mit der Rechten begütigend auf Ilses Hand. Er war so gern lustig, alle Rührscenen waren ihm zuwider. „Fort von hier?“ wiederholte er nach einer kleinen Pause Ilses Worte. „Ich glaub’ auch, er hält das nicht aus. Eben darum müssen wir sorgen, daß er hier bleiben kann.“

„Aber wird – wird der neue Herr das wollen?“ warf Ilse furchtsam dazwischen. Melchior nickte nachdrücklich. „Gewiß wird er wollen, wenn ihn jemand vernünftig drum angeht. Der Jemand darf aber beileibe nicht Ihr Papa sein – der ist viel zu aufgeregt und reizbar, auch zu stolz, würde denken, seiner Würde allerlei zu vergeben. Es muß gesorgt werden, daß er mit der ganzen Sache nichts weiter zu thun bekommt, daß im Gegenteil Herr von Montrose ihn bittet, hier auf dem Gut zu bleiben. Und dazu müssen Sie helfen Fräulein Ilse – ich bin deswegen hier!“

„Ich? Aber wie soll – wie kann ich auf diesen fremden Herrn irgend einen Einfluß üben?“

„Ruhig Blut, Kind, lassen Sie ’mal Ihren alten Freund ausreden! Keinen Einfluß auf den fremden Herrn, sagen Sie? Na, wenn Sie nicht, wer sonst?“ Der Landrat schmunzelte und sah seiner jungen Nachbarin mit unverstellter Vewunderung ins Gesicht; Ilse schüttelte abwehrend den Kopf. Na, gut, ich sehe, Sie sind nicht in der Stimmung, angenehme Dinge von mir zu hören. Also zur Sache! Ich weiß, hab’ es aus ganz zuverlässiger Quelle erfahren, daß Montrose nicht selbst wirtschaften will, was ich nur billigen kann, denn er hat offenbar von der ganzen Geschichte keine blasse Ahnung. Er sucht einen zuverlässigen Administrator, der die hiesigen Bodenverhältnisse kennt, der die Sache mit Lust und Eifer, und selbstredend auch mit Erfolg, anpackt und die ‚Perle‘ wieder zu dem macht, was sie ursprünglich gewesen ist, zum Prachtstück der ganzen Umgegend. Daß Ihr Vater wirtschaften kannm wissen wir allem Montrose wird es auch wissenm und jederm der gerecht denktm kann es ihm bestätigen. Nur muß Ihr Vater eben in einen vollen Geldsack greifen können, dann bringt er die ‚Perle‘ in die Höhe, so wahr ich hier neben Ihnen sitze! ’s ist ja natürlich traurig, daß er das für einen Fremden, nicht für sich selbst und die Seinigen thun kann, aber Heimat bleibt Heimat. Bringen wir ihn fort von hier – ich glaube wahrhaftig, er erträgt es nicht. Sagt Montrose Ja – und warum sollte er es nicht? – dann bleiben Sie alle hier und sehen zu, wie es geht. Ihre Mama soll ja ohnehin nicht transportiert werden – die paar Hundert Schritt bis zum Verwalterhaus aber werden ihr nichts schaden. Schwindelt ihr irgend etwas vor, was ihr diese Uebersiedlung glaubhaft macht: Anbau oder Umbau im Schloß, Schwamm in den Wänden – was weiß ich! Nun also, Fräulein Ilse?“

Sie saß da, tief in Gedanken versunken, und sah von ihm weg in die blaue Luft hinein. Der Landrat, ein „positiver“ Mensch, wie er sich gern selbst zu nennen pflegte, ärgerte sich ein wenig über sie. Was hatte sie denn jetzt so träumerisch vor sich hin zu sinnen? War jetzt die Zeit, zu träumen? Aber er that ihr unrecht. Ilse wußte ganz genau, was der Landrat von ihr wollte, sie war sich der Tragweite der Sache sehr wohl bewußt. Daß sie thun mußte, was in ihren Kräften stand, dem Vater zu helfen, ihm das Peinliche seiner Lage zu erleichtern, das verstand sich von selbst. Aber wenn sie sich das Gesicht des Mannes vergegenwärtigte. das sie vor einigen Tagen plötzlich so nahe sich gegenüber gesehen hatte, dann kam ein Schrecken über sie, eine Scheu, die sie sich gar nicht zu erklären wußte. Deutlich hörte sie eine Stimme in ihrem Innern, die sie warnte: thu’s nicht, thu’s nicht! Das ließ sie so sinnend vor sich hinsehen – sie versuchte es, klar über sich selbst zu werden, und vermochte es doch nicht.

Als der Landrat neben ihr sich stark räusperte, wandte sie den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. „Verzeihen Sie! Was müssen Sie von mir denken! Selbstverständlich geschieht, was Sie wünschen.“ Sie seufzte beklommen.

Melchior klopfte von neuem ermunternd auf ihre Hand. „Aber Fräulein Ilse, wer wird denn dazu einen so tiefen Seufzer herausholen? Was ist’s denn schließlich Großes? Der Mann kann doch nicht mehr wie Nein sagen – ich wette indessen, er sagt Ja, wenn Sie so vor ihn hintreten, ihn mit diesen Ihren Sonnenaugen anstrahlen und sagen: ‚Verehrter Herr, so und so liegt die Sache, und mein Papa ist ein tüchtiger Landwirt, fragen Sie die ganze Nachbarschaft!‘ ... na, straf’ mich Gott, da müßt’ es doch mit dem Bösen zugehen, wenn die Geschichte nicht glatt durchginge und der Vertrag aufgesetzt würde!“

Sie sah ihn dankbar an und lächelte ein wenig über seinen Eifer. „Kennen Sie Herrn – Herrn von Montrose näher?“ fragte sie leise.

Gott bewahr’ mich! Ich bin ein halb Dutzend Mal oder so mit ihm zusammen gewesen, geschäftlich, auch privatim, aber kennen? Keinen Schatten, der ist undurchdringlich! Nun, für Sie hat das weiter nichts auf sich, Fräulein Ilse – ein vornehmer Herr ist er bei alledem und Manieren hat er auch. Also hübsch alles eingefädelt, damit er dem Papa die Stelle auf ‚Perle‘ gleichsam auf dem Präsentierteller anbietet – in einer guten halben Stunde können Sie ihn hier haben!“

„Heute? Jetzt schon? So bald?“

„Je eher, desto besser! Lassen Sie den Papa, wo er ist – zum Abschluß kommt es heute ohnehin nicht. Wie ich mir hab’ sagen lassen, will Herr von Montrose heute das Gut seinem Sohn und seiner Tochter samt Bräutigam zeigen – hören Sie, Ilschen, der junge Montrose, das soll ein schlimmer Don Juan sein, der wird schön ins Zeug gehen, wenn er Sie zu sehen bekommt, aber ich hoffe, Sie bleiben feuerfest. So! Das überlegene Lächeln, das Sie jetzt eben hatten, das zeigen Sie dem Junker nur, das wird ihn abkühlen. Adieu, Ilschen!“

Ilse griff unwillkürlich nach seiner Hand. „Sie bleiben nicht hier? Ich soll allein –“

Er lachte gutmütig auf. „Ein schlechter Diplomat wär’ ich, wenn ich Ihnen helfen wollte! Davon, daß ich meine Hand im Spiel gehabt habe, soll ja der Herr gar nichts merken. Sie hätten gehört und so weiter und ergriffen nun die Gelegenheit ... aber was soll ich Ihnen denn Vorschriften machen? Sie sprechen ja wie ’n Buch, das weiß ich. Also Glück zu! Bekommt der Onkel Landrat keinen Kuß zum Dank?“

Ilse mußte lachen. „Sie haben eigentlich nichts von einem Onkel an sich!“

„Hab’ ich nicht? Aber, Ilschen, ich weiß genau, ich hab’ Sie einmal auf dem Arm gehabt, als Sie knapp sechs Jahre alt waren. So lange kennen wir uns schon. Und damals bekam ich meinen Kuß ohne jede Einwendung.“

„Wirklich? Nun also!“ Ilse hob ohne jede Ziererei ihr Gesicht zu ihm auf, und der Landrat küßte sie bedächtig und gemütlich auf den Mund.

„Sehr schön, Ilschen, sehr schön! Sie sollen bedankt sein!“ Er schüttelte ihr herzlich die Hand, und sie stiegen zusammen die Stufen des kleinen Tempels herab. Ilse begleitete den Landrat bis zum Schloßhof und gab Fink den Auftrag, sie von der Ankunft der zu erwartenden Gäste in Kenntnis zu setzen. Melchior, ein paar schöne Rosen in der Hand, die Ilse ihm noch in der Eile für seine Frau mitgegeben hatte, schwenkte fröhlich den Hut beim Abfahren, während Ilse mit gesenktem Kopf in den Garten zurückging.

„Kunze!“ sagte der Landrat zu seinem Kutscher, als der Wagen um die Parkecke bog. „jetzt fahren Sie den Landweg bei Neumühlen herum, ’s ist zwar ein nichtswürdiges Fahren dort, und mein armes Kreuz wird es spüren, aber ich hab’ meine Gründe dazu.“

Kunze brummmte in nicht sehr verbindlichem Ton etwas Unverständliches in den Bart, und lenkte rechts ein. Sein Herr lehnte sich beruhigt in die Wagenecke zurück – er wußte, daß er Herrn von Montrose auf diesem Wege nicht begegnen würde.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 8, S. 127–131

[127] Der Wagen, der Herrn von Montrose und dessen Angehörige ihrem künftigen Besitz entgegenführte, war eine richtige Stadtequipage, die Pferde zwei feurige Traber, ganz schwarz, ohne Abzeichen, der Kutscher ein graublonder Engländer, der tadellos fuhr und in korrektester Haltung auf seinem hohen Sitz thronte.

Im Fond des Wagens lehnte Herr von Montrose in seiner vornehmen, ein wenig lässigen Weise, die Augen halb gesenkt, gleichwohl die ganze Umgebung beobachtend, nichts außer acht lassend. An seiner rechten Seite saß seine Tochter Clémence, ein etwa zweiundzwanzigjähriges Mädchen, höchst elegant und für eine Fahrt über Land nicht ganz zweckmäßig in helle Seide gekleidet, ein reizendes Spitzenhütchen auf dem Kopf, einen kostbaren Spitzenschirm in der Hand. Trotz ihrer Jugend und Eleganz konnte man aber Clémence von Montrose nicht hübsch nennen, die Offiziere in St. hatten recht. Ein farbloses eckiges Gesicht, unruhige graue Augen, spärliches strohblondes Haar, eine oft bemerkbare Falte zwischen den Brauen und einen Mund, der auf starke Leidenschaftlichkeit deutete. Ihr gegenüber saß ihr Verlobter, der „schöne“ Botho von Jagemann, auch heute, da er sich nicht in Uniform befand, eine auffallend gute männliche Erscheinung, brünett, die Züge groß und regelmäßig geschnitten. In seiner Haltung wie im Ausdruck seiner Augen lag etwas Erzwungenes; er hörte verbindlich seiner Braut zu, die lebhaft auf ihn einsprach, und beantwortete ihre vielfachen Fragen so gut er konnte. Dann und wann streifte sein Blick scheu über seinen zukünftigen Schwiegervater hin, der sich nicht an dem Gespräch beteiligte. Wie ein glücklicher Bräutigam sah Botho nicht aus.

Georges von Montrose, gleichfalls in Zivil, ein hübscher blonder Mann, in dessen Gesicht nur der zudringliche, gleichsam alles in Besitz nehmende Blick der kalten grauen Augen störte, unterhielt sich damit, beim Vorüberfahren Blätter von den Bäumen am Wegrande abzureißen, sie in Fetzen zu zerpflücken und in den Wind zu streuen. An dem Gespräch des Brautpaars beteiligte er sich nur selten durch ein hingeworfenes Wort oder ein Achselzucken. Die ganze Fahrt langweilte ihn – seines Vaters Gutskauf interessierte ihn nicht im geringsten. Erwartete der Alte etwa, daß er fortan jeden Urlaub da draußen zwischen Kartoffelfeldern und Runkelrüben zubringen, daß er gar eines Tages selbst hier seinen Acker pflügen und seinen Kohl bauen sollte? Gräßlicher Gedanke! Aber einstweilen hieß es für Georges, den liebenswürdigen gehorsamen Sohn spielen, denn er war völlig abhängig von seinem Vater und wußte recht gut, daß mit diesem nicht zu scherzen war. Das hatte ihm seine Versetzung von Berlin hierher in dies „Nest“ bewiesen. Herr von Montrose hatte seinem Sohne kurz und trocken geschrieben, daß ein längerer Aufenthalt in der Reichshauptstadt ihm nicht dienlich sei, es fehle ihm die nötige Mäßigung und Selbsterziehung. Darauf war die Versetzung erfolgt, die Montrose für seinen Sohn erbeten hatte. Dieser hatte damals vor ohnmächtiger Wut geschäumt – er fand sich überaus schätzenswert, wenn er mit genauer Not, ohne sich strenge Rügen von seinen Vorgesetzten zuzuziehen, seinen Dienst versah, denn das war wahrlich schon Plage genug! Aber da man am Ende doch etwas „vorstellen“ mußte, ging es so noch am besten. Daneben „amüsierte“ er sich natürlich nach Kräften. Und nun diese Bevormundung, dies tyrannische Verfügen über ihn! Der Vater war doch ohne Zweifel schwer reich – freilich, wie reich, das wußten seine Kinder nicht, er hütete sich wohlweislich, sie einen Einblick in seine Vermögensverhältnisse gewinnen zu lassen! Da konnte es ihm doch auf ein paar tausend Thaler jährlich mehr für seinen einzigen Sohn nicht ankommen! Aber eben, es kam ihm ganz entschieden darauf an, und Georges mußte sich fügen. Daß er dies mit heimlichem Zähneknirschen that, schien sein Vater nicht zu beachten. Der junge Mann hatte sich nun in St. „zur Not“ eingelebt, hatte natürlich auch hier nicht aufgehört, sich zu amüsieren, denn das gehörte nach seiner Meinung notwendig zu seinem Dasein. Neue Schulden waren das Ergebnis gewesen, und Herr von Montrose hatte sie gleichmütig beglichen, mit der kurzen geschäftsmäßigen Bemerkung gegen seinen Sohn, daß er ihm diese Summe von seinem mütterlichen Erbe abgezogen habe. Empörenderweise hatte nämlich die Mutter ihren Gatten zum Vormund der Kinder eingesetzt und ihm den Nießbrauch ihres Vermögens zur freien Verfügung überwiesen – die Kinder waren mithin ganz abhängig vom Vater. Dadurch, daß Herr von Montrose die „Perle“ kaufen wollte, ein Gut, dessen ungefähren Wert man in den militärischen Kreisen recht gut zu schätzen wußte, war Georges in stand gesetzt, auf die väterlichen Verhältnisse einen Rückschluß zu ziehen, der ihn umsomehr mit stummem Ingrimm erfüllte, je weniger er den Vater seinen Ansprüchen geneigt fand.

Zwischen diesem Vater und diesen Kindern hatte es niemals ein inniges, kaum je ein leidlich gutes Verhältnis gegeben. Frau von Montrose war gestorben, als Georges zwölf, Clémence acht Jahre zählte; sie hatte beide Kinder in unvernünftiger Weise verhätschelt und ihnen jede Laune erfüllt, denn sie war eine schwache charakterlose Frau gewesen, die einzige Tochter ihrer in Pernambuco lebenden Eltern und die Erbin eines enormen Vermögens. Sie war gewöhnt, alles zu erhalten, was sie sich nur wünschte, und war daher auch weiter nicht erstaunt, Eugéne von Montrose, der ihr über die Maßen gefiel, zum Ehemann zu bekommen. Als sie sich aber außerdem auch noch seine leidenschaftliche Liebe wünschte und mit aller Heftigkeit ihres unerzogenen Naturells auf diesem Wunsch bestand, da mußte sie es erleben, daß dieser Artikel nicht zu erlangen war. Ihr Gatte behandelte sie rücksichtsvoll, umgab sie mit allem Luxus, aber ihrem unermüdlichen Werben um seine Liebe setzte er einen ebenso unermüdlichen Widerstand entgegen. Sie geriet in Verzweiflung, machte ihm die aufregendsten Scenen und verleidete ihm so vollends die Häuslichkeit. Dann kamen auch wieder Stunden der Selbstanklage über die Frau, sie bereute ihre Leidenschaftlichkeit, zerfloß in Thränen und bettelte auf den Knien um ein zärtliches Wort, eine Liebkosung ihres Mannes. Solcher Auftritte entsannen sich die Kinder noch recht wohl; sie wuchsen inmitten dieser Verhältnisse auf, sahen und hörten hundert Dinge, die ihnen noch jahrelang hätten verborgen bleiben müssen, und wußten, daß ihre Eltern in unglücklichster Ehe miteinander [130] lebten. Im ganzen focht sie das aber wenig an, denn beide waren selbstische Naturen und zufrieden, wenn ihre kindischen Wünsche erfüllt wurden. Nach dem Tode der Mutter blieben sie nur gerade solange in Buenos Aires, als zur Uebergabe und teilweisen Auflösung des Geschäftes notwendig war, dann siedelten sie alle nach Europa über, wo die Kinder sofort in Erziehungsanstalten untergebracht wurden, während der Vater auf Reisen ging. Vater und Kinder sahen einander selten, die Entfremdung wurde immer größer, und obgleich sie jetzt schon längere Zeit zusammen lebten, waren sie doch innerlich einander fern geblieben.

„Sind Dir die Doßbergschen Familienverhältnisse näher bekannt, liebe Clémence?“ fragte Botho von Jagemann, der erst seit kurzer Zeit bei den Husaren in St. stand.

„Nur ganz oberflächlich – wir sind ja auch noch nicht lange hier. Soviel ich hörte, hat dieser Baron Doßberg viel Unglück gehabt – Mißernten und dergleichen Geschichten. Er soll sich gewehrt haben wie ein Verzweifelter, sein Gut zu halten. Mehr weiß ich nicht. Das ist für uns alles so Hals über Kopf gekommen. Gestern hörten wir von Papa das erste Wort über seinen beabsichtigten Gutskauf, heute hieß es, wir würden hinausfahren, uns den Besitz anzusehen. Hätte man nicht neulich in einer Gesellschaft zufällig etwas über diesen Doßberg und seine ‚Perle‘ gesprochen, dann tappte ich jetzt ganz und gar im Dunkeln.“

„Ja,“ sagte Georges mit Betonung. „Papa liebt es überhaupt, uns über seine Pläne und Absichten im Dunkeln zu lassen.“

„Allerdings!“ gab sein Vater gelassen zurück.

Das Gespräch verstummte hierauf. Beinahe jede Unterhaltung, die Vater und Kinder miteinander hatten, endigte mit einem Mißton.

„Wie schön – sieh, Clémence, dort ist die See!“ rief Botho plötzlich und erhob sich ein wenig von seinem Sitz.

Sie waren in einen Waldweg eingebogen; links traten die Bäume auseinander, und für eine kurze Weile blitzte das tiefe Blau des Meeres zu ihnen herüber.

„Wir fahren zunächst nach Gnadenstein,“ erklärte Herr von Montrose kurz. „Das hat früher zu ‚Perle‘ gehört, ist aber seit einiger Zeit abgelöst. Ich möchte suchen, es wieder mit dem Hauptgut zu vereinigen. Georges und Botho werden im Gnadensteiner Pächterhause bleiben, während ich mit Clémence nach ‚Perle‘ hinüberfahre, damit sie sich das Schloß ansieht. In einer guten Stunde etwa könnt Ihr uns zurückerwarten!“

„Ah, Du willst uns nicht mitnehmen?“

„Heute – nein!“ Georges faltete finster die Stirn. Dies „zwecklose Herumgekarre“ war durchaus nicht nach seinem Sinn. Was zum Teufel sollte er mit Botho auf Gnadenstein anfangen, und warum nahm Papa sie beide nicht ins Schloß mit? War das nichts weiter als eine Laune oder steckte etwas Besonderes dahinter?

„Botho, hast Du Karten in der Tasche?“ fragte er mißvergnügt seinen künftigen Schwager. „Mit irgend ’was muß man doch seine Zeit totschlagen!“

Herr von Jagemann fühlte in einer Tasche seines Ueberrocks nach und nickte befriedigt – gottlob, die Tröster waren zur Stelle!

Clémence war ebenfalls unmutig über die Trennung von ihrem Bräutigam. Was Papa mitunter für komische Einfälle hatte! Sie streckte Botho heimlich wie zum Trost die Hand hin – aber dieser sah es gar nicht, sondern blickte gelangweilt, verdrossen gerade aus. Sie nannte leise seinen Namen.

„Du befiehlst?“ fragte er, aus seinem Sinnen auffahrend, in verbindlichstem Ton.

Das Mädchen sah ihm mit beredten verlangenden Blicken ins Gesicht – er war so schön in ihren Augen, so schön, – aber wie zerstreut oft! Was mochte ihn beschäftigen? „An was dachtest Du?“ flüsterte sie vorsichtig, sich nahe zu ihm neigend.

„Das kannst Du fragen?“ gab er ebenso zurück und fing die suchende kleine Hand in der seinigen auf; der Ausdruck seiner Stimme hatte etwas Gemachtes. Ein flüchtiger Seitenblick aus den Augen des Vaters streifte die beiden; Geringschätzung und Mitleid lag darin – wie blind die Menschen oft waren, wie blind!

Der Gnadensteiner Pachthof war in Sicht; man ließ den Wagen ein Stück davon entfernt halten und stieg aus. – 000000000000000000

„Wenn der gnädige Herr so gütig sein wollten – unsere Baroneß wünscht, den gnädigen Herrn für eine kleine Weile zu sprechen, sie wartet im Garten!“ Fink, der in ehrerbietigster Haltung neben dem Wagen vor dem Portal des Schlosses stand, entledigte sich seines Auftrags mit einer gewissen Gezwungenheit – er kam ihm nicht recht schicklich vor. „Der Herr Baron ist noch über Feld,“ fuhr er zögernd fort, „die gnädige Frau Baronin ist sehr leidend, immer ans Bett gefesselt, und so hat Baroneß –“

„Also ist doch eine Tochter hier!“ unterbrach ihn Clémence.

Fink entgegnete ernsthaft: „Zu Befehl!“, aber er machte doch ein erstauntes Gesicht, daß jemand vom Dasein seiner Baroneß, solch einer Baroneß, nichts wußte.

„Es ist gut, ich komme,“ sagte Herr von Montrose, indem er den Wagenschlag öffnete. „Rufen Sie die Wirtschafterin, sie kann einstweilen meiner Tochter das Schloß zeigen!“

Frau Köhler, die Wirtschafterin, eine junge rüstige Witwe, erschrak nicht wenig, als Fink ihr im Milchkeller, wo sie gerade beschäftigt war, seinen Auftrag ausrichtete. War es denn wirklich schon so weit mit ihrer Herrschaft gekommen, daß sie fremden Leuten das Schloß zeigen mußte? Leise vor sich hinjammernd, wusch sie sich in Eile die Hände, that eine blendend weiße Schürze um und stand eine Minute später knixend, den riesigen Schlüsselbund am Gürtel, neben dem Wagen, in dem noch immer Clémence von Montrose nachlässig lehnte, vor den Augen ein Lorgnon an langem Goldstiel, durch das sie das Schloß und dessen ganze Umgebung mit hochmütiger Miene musterte. Herr von Montrose grüßte die atemlose kleine Frau höflich, winkte seiner Tochter einen Abschiedsgruß zu und schritt, von Fink geführt, nach dem Garten.

Durch die Büsche schimmerte ein weißes Frauenkleid, Fink wollte darauf zugehen und seinen Begleiter melden, allein dieser machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wartete, bis der Bediente wieder hinter dem Gitter verschwunden war.

Warmer Duft kam Herrn von Montrose entgegen, eine lachende blühende Welt umgab ihn. Weiße Falter gaukelten über den niedrigen Büschen oder hingen regungslos an den Blumenkelchen, die Bienen summten mit einschläferndem Ton. Rosen und Lilien standen in weitem Halbkreis und hauchten ihren schweren süßen Duft in die schwüle Sommerluft hinein. Und mitten in all dieser Pracht die Maienkönigin! Denn so sah Ilse von Doßberg aus, obgleich sie ihr schönes Haar heute nicht frei herabwallen ließ, sondern es, zu einem Krönchen zusammengeflochten, auf dem Scheitel trug. Aber eitles Gold flimmerte um Schläfen, Stirn und Nacken. Goldlichter huschten über das schlichte weiße Kleid und irrten über die zarten Hände, die eben bemüht waren, eine herabhängende blasse Rose höher an den Stock hinaufzubinden. Der Beobachter sah das feine Profil, die sanftgeschwellten Lippen, die sich leise regten – er machte keine Bewegung, um dies Bild nicht zu zerstören. Aber plötzlich wandte Ilse sich um, gewahrte ihn, und in demselben Augenblick lag die herrliche Rose, die sie so behutsam aufband, dicht am Stengel abgeknickt, zu ihren Füßen. Mit zwei Schritten war er neben ihr, hob die Blume auf und reichte sie ihr hin, aber Ilse hatte die Hände schlaff niedersinken lassen und nahm die Rose nicht; sie war jäh erblaßt, mit einem ganz hilflosen Ausdruck sah sie ihm unverwandt ins Gesicht.

Er betrachtete sie ebenso beharrlich, während er ehrerbietig den Hut zog und mit seiner gedämpften Stimme sagte: „Es thut mir leid, Sie erschreckt zu haben, Baroneß, ich brauche Ihnen wohl nicht zu beteuern, daß das nicht in meiner Absicht lag. Sie wissen, wer ich bin?“

Ilse neigte wortlos das Haupt.

„Und Sie haben gewünscht, mich zu sprechen?“

Ja, sie hatte das gewünscht, sie hatte sich alles zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte, soeben noch – und nun plötzlich wußte sie kein einziges Wort mehr davon! Sie hatte die Empfindung, als ob die Gegenwart dieses Mannes, sein Blick sie lähme, als ob sie thun müsse, was er wolle. Ein Gefühl der Unfreiheit war über sie gekommen, von dem sie sich vergebens loszumachen strebte. Sie atmete hoch auf und setzte zum Sprechen an, aber es kamen ihr ganz andere Gedanken als die, die sie darlegen sollte. Ihr fiel des Landrats Ausspruch ein, Herrn von Montroses Sohn sei ein lockerer Gesell, und wie sie dazu so siegessicher gelächelt hatte – sie dachte, der Sohn werde gewiß dem Vater nicht ähnlich sein, denn zwei Menschen könnten unmöglich solche Augen haben, und warum sie die Rose nicht nehme, die der Gast in der Hand hielt – dazwischen sah sie eine kleine Elfenbeinfigur vor sich, die heute früh für ihre Mama angekommen war, die „Hoffnung“, eine reizende Mädchengestalt mit sehnsuchtsvoll [131] emporgehobenem Köpfchen und wie sie gestern Mama hatten vorlesen müssen, eine sentimentale Liebesgeschichte aus dem Englischen, die ihr so unglaublich süßlich vorgekommen war – und wie stark die Lilien um sie her dufteten, aber ihre Zeit war nun auch bald vorbei, die Linden fingen ja schon an zu blühen ...

Aber während sie all das dachte, hastig, ungeordnet, kam kein Wort über ihre Lippen, und sie wartete, daß Herr von Montrose etwas zu ihr sagen sollte. Er stand noch immer neben ihr, den Hut in der Hand – er sah von ihr weg, weil er merkte, daß sein Blick sie verwirrte, und ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, aber er selbst fühlte auch, wie dieser schwüle Mittagszauber ihn in seinen Bann schlug. Endlich brachte Ilse stockend hervor: „Wollen wir in die Laube gehen?“

„Gern. Ich stehe zu Ihren Diensten.“

Sie schritt ihm voran zwischen den Blumenbeeten hindurch, mit ihrem leichten Gang, der so gut zu dem anmutig getragenen Köpfchen stimmte. In der kleinen, mit wildem Wein überwucherten Laube setzte sie sich wie erschöpft auf eine Holzbank und faltete die Hände leicht im Schoß. Montrose ließ sich in einiger Entfernung von ihr nieder und blickte sie wieder unverwandt an. Sie saß ganz in der grüngoldenen Dämmerung, und die gezackten Schatten der Weinblätter liefen zuweilen in lebendigem Spiel über sie hin. „Ich – ich hab’ eine Bitte,“ fing Ilse endlich an, zugleich hob sie wie verwundert den Kopf. war das wirklich ihre eigene Stimme, die das sagte? „Man – man hat mir gesagt,“ fuhr sie stockend fort, da er nur eine verbindliche Bewegung aufmerksamen Zuhörens machte, „Sie, Herr von Montrose, wollten unsere Besitzung kaufen, die ‚Perle‘.“

„Hat Ihr Herr Vater Ihnen das mitgeteilt?“

„Nicht mit dürren Worten. Papa ist – er kann darüber nicht sprechen“ – die Worte kamen ihr jetzt williger und rascher – „es liegt wie eine schwere Krankheit über ihm, er kann den Gedanken nicht fassen, von hier fort zu müssen, Und ich weiß nicht, wir alle, die ihn lieben, wissen nicht, wie er das Leben fern von hier ertragen soll. Es giebt gewiß viele, die das gar nicht verstehen, die es lächerlich finden, ich weiß nicht, ob –“

„Nein, nein,“ sagte er ruhig und lächelte ein wenig, „Sie sollen nicht denken, daß Sie in mir solch einen Verständnislosen vor sich haben. Je älter man wird, je mehr man von Welt und Menschen sieht, desto mehr wird man trachten müssen, alles zu verstehen, auch das Fremde, der eigenen Natur Unbegreifliche. Und das ist hier nicht eimnal der Fall. Hätte ich eine Heimat gekannt, ich bin fest überzeugt, daß mir die Trennung von ihr unendlich schwer gefallen wäre.“

Mit einem raschen scheuen Blick sah Ilse den Sprecher an; ihre warmen dunklen Augen verrieten deutlich ihr Mitgefühl, aber sie blieben nicht haften auf ihm; wie erschrocken wanderten sie weiter und ruhten beharrlich auf einem blühenden Fliederbusch, der neben dem Eingang der Laube stand.

„Für den Fremden muß es den Anschein haben, als sei Papa kein tüchtiger Landwirt,“ fuhr Ilse fort, „denn die ‚Perle‘ ist ein schönes ertragfähiges Gut, und wir können uns doch nicht mehr darauf halten. Aber als mein Vater es bekam, stand es, wie ich jetzt weiß, schon nicht mehr gut damit, und er hätte sehr sparsam leben müssen, um allmählich wieder in die Höhe zu kommen. Das aber konnte er nicht. Für sich selbst brauchte er nicht viel, aber meine arme Mutter ... Sie wissen davon?“ unterbrach sie sich, da Montrose eine zustimmende Bewegung gemacht hatte.

„Ja, ich weiß! Und Sie irren auch, Baroneß, wenn Sie glauben, ich hielte Ihren Vater für einen schlechte Wirtschafter, weil er die ‚Perle‘ nicht länger halten kann. Ich weiß, daß er Tüchtiges leistet, und setze volles Vertrauen in seine Kraft und Fähigkeit!“

Ilses Lippen zitterten – wie wohl ihr dies Lob ihres Vaters that! Wahrlich, er, zu dem sie sprach, machte es ihr leicht genug, ihre Bitte vorzubringen, ... und dennoch dieser Alp, der auf ihr lag, dieser unerklärliche Zwang! Eine dumpfe Angst stieg von neuem in ihr auf, ließ ihr das Herz bis in den Hals hinauf schlagen und raubte ihr die Sprache; es blieb wieder eine Weile still zwischen ihnen. „Und Ihre Bitte?“ fragte er endlich leise.

Sie zuckte empor – jawohl, die Bitte! Was war sie denn für eine Tochter, daß sie im Grübeln über ihre „dummen unklaren Empfindungen“ das Wichtigste vergaß? Eine fliegende Röte kam und ging in ihrem Gesicht. „Es ist mir gesagt worden, Sie, Herr Baron –“

„Bitte,“ unterbrach er sie rasch, „einfach Montrose!“

„Herr von Montrose“ – es fiel ihr schwer, seinen Namen auszusprechen – „man hat mir gesagt, daß Sie die Leitung Ihrer neuen Obliegenheiten nicht selbst übernehmen wollen –“

„Können!“ betonte er, wieder mit seinem flüchtigen Lächeln. „Vielleicht würde ich es wollen, wenn ich mich nicht gänzlich unfähig fühlte, diese Aufgabe zu erfüllen. Was versteht ein Bankier vom Landbau? Ich würde gern einen tüchtigen Beamten haben, der mir einen Einblick gönnte, mich etwas lernen ließe. Würde Ihr Vater, Baroneß, dieser Beamte sein wollen?“

Da war ihre Bitte nun, und sie selbst hatte es nicht nötig gehabt, sie auszusprechen! Jetzt hätte sie ihm danken müssen für sein Entgegenkommen, das fühlte sie, statt dessen erwiderte sie nur: „Ich weiß das nicht, Papa hat keine Silbe darüber geäußert. Er ist so überaus reizbar, so wund in seiner Seele – ich glaube nicht, daß er an irgend jemand, er sei, wer er sei, eine solche Bitte richten könnte.“

„Nun, so will ich ihn bitten,“ sagte Montrose einfach.

„Sie – ach, wenn Sie das wollten!“

„Warum sollte ich nicht? Es ist der kürzeste Weg. Wollen Sie mir nur sagen, Baroneß, wo und wann ich Ihren Vater in nächster Zeit sprechen kann?“

„Papa führt ein merkvürdiges Dasein jetzt; er kommt nicht mehr regelmäßig zu den Mahlzeiten, wir müssen oft stundenlang auf ihn warten. Wenn ich ihm aber sage, Sie seien hier gewesen und wünschten ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, so wird er selbstverständlich zu jeder Stunde, die Sie bestimmen, zu Ihrer Verfügung sein!“

„Gut! Sagen wir übermorgen nachmittag um sechs Uhr – meinen Sie, daß es so recht wäre?“

„Ohne Zweifel ist es das.“

Montrose erhob sich. „Ich hoffe, die Angelegenheit wird zu Ihrer Zufriedenheit geordnet werden.“

Auch Ilse war aufgestanden, sie suchte mühsam nach Worten. Es war ihr bisher nie schwer gefallen, sich zu bedanken, schon als Kind war sie freudig mit ausgebreiteten Aermchen auf jeden losgestürmt, der ihr ein Spielzeug, ein Naschwerk brachte, und auch später war es fast zum geflügelten Wort in ihrem kleinen Kreise geworden: man muß Ilse etwas zuliebe thun, damit sie sich bedanken kann! Warum fiel ihr heute, wo ihres geliebten Vaters Existenz in Frage kam, das so schwer, was ihr sonst ein unabweisbares Herzensbedürfnis gewesen war? Sie kam sich hart und gefühllos vor, sie war nahe daran, in ganz kindische hilflose Thränen auszubrechen; da warf sie den Kopf zurück und das schöne weichgeformte Gesicht nahm ungewollt einen hochmütigen Ausdruck an. „Ich habe Ihnen noch zu danken!“ brachte sie endlich heraus. Es klang hart und unverbindlich, sie fühlte das recht wohl, aber sie hätte es nicht anders sagen können, und wenn es um ihr Lebensglück gegangen wäre.

„Ich bitte, Baroneß! Es handelt sich ja auch um meinen Vorteil.“ Sie traten nebeneinander aus der Laube heraus und schritten dem Gitterthor zu. Als sie am linken Seitenflügel des Schlosses vorüberkamen, öffnete sich die Thür zu einem ziemlich niedrig angebrachten Altan, und Clémence von Montrose, von der Wirtschasterin begleitet, trat heraus. Ihr Gesicht bekam einen Ausdruck beinahe verblüfften Erstaunens, als sie das schöne Mädchen gewahrte, das an ihres Vaters Seite ging. Sie kniff die Augen zusammen, wollte die Lorgnette emporheben und riß ungeduldig an den Spitzen ihres Kleides, in die der goldene Stiel sich verwickelt hatte. Endlich hatte sie das Glas vor den Augen. „Sieh da, Papa! – Meine Liebe, wie heißen Sie doch gleich? – Giebt es da unten nicht irgendwo eine Thür, die hier zu uns heraufführt?“

„Ganz gewiß, gnädigstes Fräulein!“ entgegnete Frau Köhler, an welche die letzten Worte gerichtet waren, eifrig und wichtig. „Wir haben hier überall Zugänge. Gleich unten rechts ist eine kleine Pforte, Baroneß Ilse kennt sie ganz genau.“

„Sehr schön! Dann also bitte, Papa, komm herauf und laß mich Deine Begleiterin kennenlernen! Ich käme gerne hinunter, aber ich bin noch nicht zu Ende mit meiner Besichtigung, mir fehlt noch dieser Seitenflügel.“

Was blieb Ilse übrig, als die kleine Pforte zu öffnen und dem „neuen Herrn“, wie sie ihn beharrlich im Geiste nannte, voranzugehen, um auf den Altan zu gelangen!

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 9, S. 144–147

[144] Als Ilse die schmale und selten benutzte Thüre öffnete, um mit Herrn von Montrose auf den Altan des Schlosses zu gelangen, schlug ihnen eine dumpfe eingesperrte Luft entgegen und nahm ihnen den Atem. Es war dämmerig hier innen, nur ein mattes Licht kam durch die blinden runden Scheiben, die in die dicken Steinmauern eingelassen waren. Eine schmale Wendeltreppe mit engen Steinstufen führte empor. Da wo sie das stärkste Knie machte, hörte die schwache Beleuchtung ganz auf.

Ilse sah sich nach ihrem Begleiter um; er tastete sich vorsichtig weiter, aber jetzt blieb er stehen, offenbar fand er sich nicht mehr zurecht. Es blieb ihr nichts übrig, als ihm die Hand zu reichen. „Sie können nichts sehen, es ist finster hier – bitte, kommen Sie!“ Sie biß die Zähne übereinander, damit ihre Hand nicht zittern sollte, und zog ihn nach sich, Stufe für Stufe. Seine Hand war nicht kalt und hielt ihre Rechte nicht fest; dennoch war es ihr, als stiege eine tödliche Kälte im ihrem Arm empor, als hielte eine eiserne Klammer ihre Hand umspannt, der sie sich nie mehr entwinden könnte ... nie mehr!

Beim ersten matten und trüben Lichtschimmer ließ Ilse die Linke ihres Begleiters los und nahm die wenigen letzten Stufen im Eilschritt. Sie standen vor einer niedrigen eisenbeschlagenen Thür, die sich nur mit einiger Mühe öffnen ließ und widerwillig in ihren Angeln kreischte. In dem halbrunden Turmzimmer, das sie betraten, kam ihnen Clémence entgegen. Sie trat sehr nahe an Ilse heran und musterte sie dreist aus ihren müden, leicht ein wenig zwinkernden Augen.

„Sie gestatten Baroneß,“ sagte Montrose förmlich. „Ihnen meine Tochter Clémence vorzustellen!“

Ilse verneigte sich höflich, Clémence nickte nachlässig. Papa mit seiner übertriebenen Ritterlichkeit! Brauchte man soviel Umstände zu machen mit der Tochter eines heruntergekommenen Adligen, dem man um einen schönen Preis sein abgewirtschaftetes Gut abkaufen wollte; mit einem Mädchen, das in einem so billigen weißen Kleide einherging? Clémence kniff die Augen wieder ein: ja wahrhaftig, es war Battist, nichts weiter! Freilich schön war das Mädchen trotz alledem. Clémence mußte das zugeben. Ihre zudringlichen Augen gingen langsam vom Saum besagten weißen Batistkleides aufwärts bis zu dem schimmernden Haar, das wie ein Goldkrönchen auf dem stolzen Kopf geordnet war.

„Gut, daß Sie mit Papa heraufgekommen sind! Ich bin nämlich ein wenig kurzsichtig, da wollte ich sehen, ob Sie in der Nähe auch so – so überraschend ausschauten wie von oben, von dem kleinen Altan dort. Eh bien, Sie haben die Probe bestanden, Sie können’s wagen, sich in der Nähe betrachten zu lassen – mon Dieu, das werden Sie ja selbst wissen, j'en suis persuadée!“ [146] Clémence liebte es, französische Brocken in ihre Rede einzustreuen, sie spielte sich überhaupt mit Vorliebe auf die Französin hinaus und schwärmte von ihrem Pariser Pensionat, in dem sie „göttliche Zeiten“ verlebt haben wollte.

Ilse errötete und wandte leicht den Kopf ab. „Gefällt Ihnen unser Schloß, gnädiges Fräulein?“ fragte sie dann, einfach zur Tagesordnung übergehend.

„O ja, ein ganz stilvoller alter Bau, manches darin sogar überraschend hübsch. Den Stammbaum solltest Du sehen, Papa, und den Ahnensaal! Aber die Rüstkammer ist leider ganz leer; die muß doch eine Menge von interessanten alten Waffen enthalten haben – wo sind die denn alle geblieben?“

„Mein Vater hat sie verkauft,“ entgegnete Ilse ruhig und sah so stolz dabei aus, als gewährte es ihr ein ganz besonderes Vergnügen, gerade diese Antwort zu geben.

Ah vraiment? Sehr schade! Alte Waffen sind eine Specialität von mir!“

„So? Seit wann denn?“ fragte Herr von Montrose trocken.

„Ach, Botho hat mir das Verständnis dafür aufgeschlossen, Botho versteht viel davon, er hat sich ein besonderes Studium daraus gemacht.“

Herr von Montrose trat schweigend an eines der Fenster und hielt einen Rundblick. „Ein schönes Panorama! Darf ich fragen, Baroneß, was die roten Häuser sind, dort hinten, rechts hinüber – man sieht nur die Dächer!“

„Das ist Gnadenstein, eine kleine Besitzung, die früher gleichfalls zu ‚Perle‘ gehört hat, dann aber abgelöst worden ist.“

„Ah!“ machte er überrascht. „Ich dachte nicht, daß man das von hier aus sehen könnte!“

„Gnadenstein?“ rief Clémence dazwischen und hob eifrig das Lorgnon vor die Augen. „Das ist das Gut, wo Du unsere beiden Herren kaltgestellt hast, Papa? Sie müssen nämlich wissen,“ wandte sie sich an Ilse. „daß mein Bruder und mein Verlobter, zwei Husarenoffiziere, mit uns herausgefahren sind; aber Papa hat sie nicht mit hierher genommen, er hat sie einfach in diesem Gnadenstein gelassen.“ Sie hatte die letzten Worte in gereiztem Tone gesprochen und trat nun mit übellaunigem Gesicht an das andere Fenster. „Es giebt noch unendlich viel hier zu erneuern, auszubessern, anzuschaffen!“ sagte sie dann, sich wieder umdrehend. „Vieles hier im Schloß ist ganz altmodisch, absolument nicht zu gebrauchen. Tapezierer und Dekorateur werden vollauf Arbeit bekommen – ich hab’ mir schon eine Menge Notizen gemacht, willst Du sie sehen, Papa?“

„Später, später! Wenn es Ihnen recht ist, Baroneß, beenden wir jetzt rasch unseren Rundgang und Clémence wie ich rüsten zur Abfahrt!“

„Ganz wie Sie wünschen!“

Unter den drei Menschen wollte kein Gespräch mehr in Fluß kommen; eine einsilbige und erzwungene Unterhaltung zwischen den jungen Damen wurde nur durch Frau Köhler mühsam zusammengehalten. Es ging alles ruhelos, überhastet – die letzte Besichtigung des Schlosses wie der Abschied. Trotzdem konnte Ilse das Ende dieses Besuches kaum erwarten, und als Vater und Tochter endlich weggefahren waren, da stürmte sie in den Garten mit einer Hast, wie wenn jemand sie verfolgte. Sie mußte eine Weile mit sich allein sein, mußte versuchen, Klarheit in diese verworrene Stimmung zu bringen, mit der sie rang!

Was war ihr nur geschehen? Die „Perle“ sollte einen neuen Besitzer bekommen, sie hatte ihn gesehen, sein Anblick hatte sie frappiert, dies schmale feingeschnittene Gesicht mit den merkwürdigen Augen – und sie hatte sich unwillkürlich davor gefürchtet, dieses Gesicht wiederzusehen. Das aber war nicht zu vermeiden gewesen, sie mußte den Mann aufsuchen, mußte ihn bitten, unter einem Dach mit ihm leben zu dürfen. Er war vornehm und liebenswürdig gewesen, sie konnte das nicht leugnen, er hatte ihr die schwere Aufgabe erleichtert – sie war ihm Dank schuldig! Aber – und das fühlte sie mit der größten Deutlichkeit – sie wollte ihm nicht danken, wollte ihm nichts schuldig sein; alles in ihr bäumte sich dagegen auf. War das etwa Haß? Was hatte der Mann ihr gethan? Unerklärliche Abneigung? Die hatte ihre gesunde klare Natur bisher noch nie gefühlt, sie war bis jetzt immer imstande gewesen, sich Rechenschaft abzulegen über ihr Empfinden. Was konnte es also sein, das sie hier in so unerklärlicher Weise abtieß? Abstieß, und auch wieder anzog! Denn sie mußte unausgesetzt des Mannes denken, der diesen Zwiespalt in ihr heraufbeschwor. Immer sah sie seine Züge vor sich, den trauervollen Ausdruck seiner Augen, die es aufgegeben zu haben schienen, das zu suchen, was sie doch nicht fanden, nicht gefunden hatten in all den langen Jahren. Ilse atmete trotzig auf mit halboffenen Lippen. Was ging das alles sie an! Mochte er suchen und finden oder vermissen, was er wollte! Wie konnten die Gefühle des fremden Mannes Einfluß auf die ihrigen haben? Trug sie nicht den stärksten Talisman bei sich, die treue Liebe zu ihrem Albrecht? Hatte sie nicht erst kürzlich zu Onkel Erich gesagt, und wenn alles noch viel schlimmer und trauriger komme, sie selbst sei glücklich und geborgen in ihrer Liebe? Und war das nicht lautere Wahrheit gewesen? Was also hatte sie zu fürchten?

Und während sie das dachte, fühlte sie plötzlich mit heißer Angst, daß sie sich Albrechts Gesicht nicht deutlich vergegenwärtigen könne.

Sie hätte ihn andern genau zu beschreiben vermocht, seinen hohen Wuchs, das gebräunte Gesicht, die stolz und frei blickenden blauen Augen – aber sie sah das alles nicht wie sonst handgreiflich vor sich, es war etwas Fremdes dabei, sie fand den Gesamteindruck nicht, der ihr das Ganze lebendig machte. Wie angewurzelt stand sie mitten im hastigen Gehen still, knöpfte mit bebenden Fingern ihr Kleid auf und zog das Medaillon hervor, das sie beständig bei sich trug. Ein Druck auf den Deckel ... Heiße Thränen stürzten ihr aus den Augen, als sie das kleine Bild wieder, immer wieder an den Mund preßte. „Hilf mir, hilf mir!“ stammelte sie und wußte doch nicht, wozu sie seine Hilfe wollte. Es war dunkel, dunkel in ihr!

*      *      *

Herrn von Montroses englischer Kutscher verhielt die Rappen mit einem kraftvollen Zügeldruck, der ein „Kniff“ von ihm war, unweit des Gnadensteiner Pächterhauses. Clémence blieb im Wagen, ihr Vater stieg aus und wandte sich dem Wohnhause zu.

„Bleibst Du lange, Papa?“

„Nein – zehn Minuten, eine Viertelstunde höchstens!“

„Wenn Du Botho und Georges triffst, dann schick’ sie mir, bitte! Wir Drei dürften bei Deiner Unterredung mit dem Besitzer des Hofes über den Kaufschilling und ähnliche interessante Dinge vollkommen übrig sein. Ich will Georges ein wenig den Mund wässern machen, er wird sich ja wie ein Narr in das blonde Wunder auf ‚Perle‘ verlieben!“

Montrose runzelte finster die Stirn, erwiderte aber nichts.

„Augenblicklich hat er freilich die Brünetten in Affektion genommen, eine Prima Ballerina glaub’ ich – in Berlin hatte er auch schon immer Neigungen fürs Ballett.“

„Clémence! Es steht einer jungen Dame sehr schlecht an, eine solche Sprache zu führen!“

„Ach Papa, was Du von den jungen Damen denkst! Die reden oft noch ganz andere Dinge. Sich immer blind und taub stellen und die Unschuld spielen, das ist nichts für Deine Tochter. Um zu glauben, daß Georges ein Heiliger ist, müßte ich wirklich ein Kind sein!“

Herr von Montrose zog seine Hand vom Wagenschlag zurück und ging; er hatte, während seine Tochter sprach, unverwandt in ihr Gesicht gesehen, als wollte er es studieren. Ja, sie war ihre Mutter, Zug um Zug: dünkelhaft, kleinen Geistes, reizlos und malitiös, dieselbe hochfahrende Art, die Augenbrauen emporzuziehen, dieselbe Stimme, die in der Erregung so leicht umschlug, dasselbe Geschick, kleine Nadelstiche scheinbar harmlos auszuteilen ... aber gottlob nicht dieselbe Macht, ihn zu quälen!

Das hübsche Pächterhaus von Gnadenstein lag friedlich mitten im hellen Sonnenschein. Auf dem roten Dach war ein zierlich gearbeiteter Taubenschlag angebracht, die Tauben trippelten kokett auf den Querstangen umher und ließen ihr werbendes Gurren vernehmen. Aus einem Stall kam eine ältliche Magd mit einem blankgescheuerten Eimer voll schaumiger Milch, den sie langsam, den freien Arm weit von sich gestreckt, über den Hof trug. Aus der niedrigen Gartenpforte, über der [147] weißblühender Flieder sein Dolden schüttelte, traten die beiden jungen Herren, das Rollen des Wagens hatte sie herbeigezogen. Herr von Montrose hob zwei Finger an den Hutrand zum Gruß und ging dann auf das Wohnhaus zu, aus dessen Thür ihm ein behäbiger Herr in Stulpenstiefeln und Jagdrock geschäftig entgegenkam.

„Na, Gott sei gepriesen, daß Ihr da seid und uns die Aussicht bringt, aus diesem reizenden Idyll fortzukommen!“ rief Georges und lüftete einen halben Zoll hoch den Hut zur Begrüßung für Clémence. „Ihr seid unerlaubt lange weggeblieben, Du und Papa! Hier war es einfach zum Auswachsen. Ein dickes ältliches Ehepaar, zwei Jungen, die uns anglotzten wie die Oelgötzen, ein halbwüchsiges Mädel, braungebrannt wie ’ne Kaffeebohne, die Haare mit Stangenpomade nach rückwärts dressiert, saure Milch und Quarkkäse, Fliegen und junge Teckel in ungezählter Menge, kein weibliches Wesen zu erblicken, soweit das Auge, das trostlose, schweifte! Zuletzt flüchteten wir vor des Hausvaters wirtschaftlichen Fragen und dem Quarkkäse der Hausmutter in den Garten und spielten – kostet den Botho rund achtzehn Mark! Glück im Spiel, Unglück in der Liebe – das ist mein Los! So, Clémence, das wären unsere Thaten und Abenteuer – nun erzähl’ Du die Deinigen!“

Das Brautpaar hatte indessen seine Begrüßung ausgetauscht. Botho hatte den Handschuh von Clémence leicht mit den Lippen gestreift und ein paar Phrasen zum besten gegeben, seine Braut hatte sich aus dem halboffenen Wagenschlag gebeugt, ihm beide Arme um den Hals geschlungen und seinen dunklen Kopf zärtlich an sich gedrückt. Sie küßte ihn wiederholt, fuhr ihm schmeichelnd mit ihrem weichen Spitzentuch über Augen und Wangen und flüsterte allerlei Koseworte, die der glückliche Bräutigam mit der Miene eines Mannes ertrug, der eine übernommene Verpflichtung in ihrem vollen Umfang begreift und zu erledigen gedenkt.

„So laß doch den armen Kerl los, Kind, willst Du ihn denn bei sechsundzwanzig Grad im Schatten mit Deinen Küssen ersticken? Sag’ mir lieber etwas über unser künftiges Eigentum, diese berühmte ‚Perle‘!“

Clémence rückte ihr Hütchen zurecht, das sich bei der Umarmung verschoben hatte, und lehnte sich tief aufatmend in die Seidenpolster des Wagens zurück. „O, ich habe allerlei gesehen – ein altes stolzes Ritterschloß, sehr ausbesserungsbedürftig, aber es läßt sich viel daraus machen – Ahnengalerie, Stammbaum, Bankettsaal, alte feudale Erinnerungen auf Schritt und Tritt, Name und Wappen verherrlicht, wo nur immer möglich.“

„Schön, schön!“ unterbrach Georges sie ungeduldig. „Versteht sich aber alles ganz von selbst!“

„Dann auch noch etwas minder Selbstverständliches,“ fuhr Clémence langsam fort und sah den Bruder mit einem lächelnden Blick von unten herauf an, was ihren Augen etwas Lauerndes gab, „etwas für Dich, mein Lieber.“

„Ah! Etwas Weibliches?“ Er warf den Kopf hintenüber und richtete sich straff empor. „Wirklich? Beschreibe ’mal ein bißchen, Clémence!“

„Ein wunderschönes blondes Schloßfräulein.“

Blond? O weh! Im ganzen nicht mein Fall. Wenigstens goldblond?“

„Goldblond!“

„Hübsch gewachsen, was?“ Er warf mit einem Ruck das Monocle ins Auge, als sähe er die Betreffende schon vor sich.

„Tannengerade, sehr schlank.“

„Hm! Nicht allzu schlank?“

„Mir fällt ein,“ warf Botho dazwischen, „die Kameraden haben mir mehrfach von einer jungen Schönheit auf ‚Perle‘ erzählt – soll etwas Entzückendes sein.“

„So? Entzückend?“ Clémence runzelte die Stirne unter dem künstlich gekräuselten Haar, und ihre Augen zogen sich argwöhnisch zusammen. „Leute wie Du, mein lieber Botho, Leute, die eine Braut ihr eigen nennen, haben sich um andere Damen, gleichviel, ob hübsch, ob häßlich, gar nicht zu bekümmern!“

„Aber, aber, Liebchen!“ Der schöne Botho zog von neuem begütigend die behandschuhte Rechte seiner Braut an den Schnurrbart empor. „Ich berichte ja ganz unpersönlich, rein sachlich, was mir die Kameraden –“

„Die läßt man eben schwatzen!“ Sie war dnrchaus noch nicht besänftigt. „Könnt Ihr Offiziere denn von gar nichts anderem reden als von Karten und Damen?“

„Die Pferde nicht zu vergessen!“ fiel Georges ein. „Nein, wir können wirklich nicht, auf Ehre! Davon verstehen aber kleine Mädchen nichts. Wie musterhaft übrigens Dein Botho ist, beweist die Thatsache, daß er mir von besagter Goldblondine bisher noch kein Sterbenswort gesagt hat.“

„Na!“ brummte Jagemann zwischen den Zähnen und wirbelte sein glänzendes schwarzes Seidenbärtchen, „ich hab’s ja selbst erst vor ein paar Tagen gehört, und ich wußte doch auch, daß – na – daß Du augenblicklich anderweitig –“

„Mund halten! – Nun weiter, Clémence!“

„Ach, weiter nichts! Was ist da noch zu sagen? Eben ein hübsches Mädchen, das ist alles! Natürlich ein Benehmen wie eine Prinzessin von Geblüt, und Papa Zoll für Zoll Ritter ohne Furcht und Tadel – er ist wirklich manchmal komisch mit seiner überfrorenen Höflichkeit!“

„‚Ueberfroren‘ ist gut! Ich muß mir übrigens doch nächstens ’mal etwas in ‚Perle‘ zu schaffen machen, um mit eigenen Augen zu sehen – Damen haben ja bekanntlich über ihresgleichen kein Urteil! Auftrag von Papa oder so etwas; so ein kleiner Vorwand findet sich rasch, wenn man einen edlen Zweck im Auge hat. Ich reite vielleicht hinüber, was meinst Du, Botho – Distanzritt, Du auf dem ‚Standard‘, ich auf der ‚Prinzeß Cora‘?“

„Hast Du Deine ‚Prinzeß Nellie‘ jetzt plötzlich in ‚Cora‘ umgetauft?“

„Ja, warum nicht? Ist ‚Cora‘ nicht ein hübscher Name, was?“ Georges zwinkerte seinem künftigen Schwager lustig zu, dieser lachte verständnisinnig, während die Augen von Clémence unruhig und mißtrauisch vom einen zum andern gingen.

„Du kannst Botho bei dem Distanzritt zu Hause lassen!“ entschied sie. „Es bedarf übrigens gar keines Vorwandes für Dich, um da hinzukommen. Wie mir Papa unterwegs sagte, will er diesen Bettelbaron Doßberg ersuchen, seinen Administrator zu spielen und mitsamt seiner Familie im Verwalterhause auf ‚Perle‘ zu bleiben.“

Georges stieß einen Pfiff aus. „Das sieht wieder ’mal meinem unberechenbaren Herrn Vater ähnlich! Er hat wirklich ungesunde Ideen, obgleich die Sache auch wieder manches für sich hat! Man kann sich die fragliche Baroneß bequem in der Nähe besehen und den Leuten, wenn sie anfangen, unverschämt zu werden, den Daumen aufs Auge drücken. Na, Kind, Du scheinst mit der Geschichte keineswegs einverstanden zu sein. Mach’ ein anderes Gesicht, Clémence, die schmollende Miene steht den wenigsten Weibern. Und sieh nur, wie Dein armer Botho schon den Kopf hängen läßt, gleich der Blume, welcher der Sonnenschein ausgegangen ist! – Unserem geehrten Herrn Papa hat man offenbar im Gutshause gleichfalls saure Milch und Quarkkäse vorgesetzt, die Verhandlung dauert bedenklich lange!“

„Nein“ sagte Botho, der sich umgedreht hatte, um den Augen seiner Braut, die unausgesetzt an seinem Gesicht hingen, auszuweichen, „dort kommt er schon!“

Herr von Montrose erschien in der Hausthür, begleitet von dem behäbigen Inhaber des Gutes und einigen Teckeln, die seine Füße beschnupperten. Das runde rote Gesicht des dicken Landmannes strahlte wie ein Vollmond.

„Die sind einig!“ bemerkte Georges halblaut, während er dienstfertig für den näherkommenden Vater den Wagenschlag öffnete. „Papa scheint die ganze Gegend hier ankaufen zu wollen. Hm, hm! Was das wohl für ’n Loch in seine Finanzen reißt! – Willkommen, Papa! Alles zur Zufriedenheit erledigt?“

„Vollständig!“ Montrose reichte dem Oekonomen, der sich ehrerbietig verbeugte, die Hand zum Abschied und stieg in den Wagen. „Es ist alles nach Wunsch gegangen!“

Im Ton und in den Worten lag nichts Auffälliges, dennoch schauten die Drei, die im Wagen saßen, den Sprecher wie auf Verabredung erstaunt an. Er lehnte nicht wie sonst lässig in den Polstern, er saß aufrecht da, in elastischer Haltung, der ganze Mann sah aus, als habe er einen Verjüngungstrank genossen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 10, S. 159–163
[159]
9.
Kalkutta, 5. September 18 .. 

 „Mein Herz, mein Liebling!
Endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen, endlich ein wenig Muße, Dir zu schreiben! Denn ein Kapitän hat ernste Pflichten, hat keine Zeit zu Liebesbriefen; selbst seine Gedanken muß er zusammenhalten, damit sie nicht ‚verbotene Wege‘ gehen ... das aber hab’ ich nicht immer gekonnt! Wie die Sehnsucht mich anfiel und packte und festhielt in diesen kurzen sternhellen Nächten, die den Himmel in unbeschreiblicher Pracht und Schönheit flimmern ließen! Wie hätte ich schlafen können, erfüllt von Deinem Bilde, von der Liebe zu Dir, die unwandelbar ist, ob auch alles um mich her sich täglich wandelt: die Menschen, ihre Sprache, ihr Thun und Treiben! Ich brauche nicht einmal ein gewisses Büchlein hervorzuziehen, um mir meine Ilse zu vergegenwärtigen – Zug für Zug weiß ich das holde süße Gesichtchen auswendig. Ich sehe Dein Erröten, Dein Lächeln, Dein sonniges Goldhaar und Deine Augen – Liebling, Du Einzige, Du Meine! Das letzte Wort, das ist doch das schönste: mein! Hunderttausende haben das geflüstert und gestammelt und laut hinausgejubelt in die weite Welt, und hier im fernen Kalkutta, mitten in den Wunderm der Tropenwelt, sitzt einer, der sagt es sich immer wieder vor, wenn er tausendmal an sein deutsches Liebchen denkt: mein!

Bei Euch, wenn Du diesen Brief erhältst, muß es schon Herbst sein. Deutscher Herbst! Ach wenn er mir seinen kühlen frischen Atem hierher senden würde in diese sengende Glut! Ich habe einen starken Körper, eine gestählte Gesundheit, aber einem beständigen Leben in den Tropen hielte ich nicht stand. Du brauchst darum nicht eine Minute lang in Sorge um mich zu sein, Ilse! Ich lebe vorsichtig und mäßig und erfreue mich andauernden Wohlseins. Freilich, nicht jeder von unserem Schiffsvolk kann dasselbe von sich sagen; die Mannschaft macht mir Sorge, der Schiffsarzt ist in scharfer Thätigkeit. An Bord herrscht musterhafte Mannszucht, doch ‚wehe, wenn sie losgelassen‘! Die ewige Klage über den Seemann am Lande ist durchaus nicht unbegründet.

Meinen kurzen Brief aus Lissabon wirst Du erhalten haben. Den ersten lieben Gruß von Dir fand ich in Aden vor. Laß Dir tausendmal dafür danken! Du hättest mich sehen sollen, als ich den Brief empfing! Aeußerlich ruhig und würdevoll, nahm ich ihn in Empfang und senkte ihn in meine Brusttasche; aber dann ging es davon in einem sehr wenig gesetzten Tempo; ich konnte es nicht abwarten, mit mir allein zu sein. Dein Brief, Du, die Heimat – das war alles, was ich dachte!

Und doch – als ich nun las! Meine Ilse, Du bist mir nicht ruhig, nicht glücklich genug. Mißversteh’ mich nicht, mein armes Herz! Ich verlange nicht, daß Du gleichgültig zusiehst, wie Deine arme Mutter leidet, wie Dein Vater sich blutenden Herzens von dem Stück Erde losreißt, das seine Vorfahren seit Jahrhunderten bebaut haben. Liebe die Deinigen, lache und weine mit ihnen, es soll so sein, und mich freut es, daß es so ist, denn eine fühllose Tochter wird schwerlich eine liebevolle hingebende Frau. Aber sprich mir nicht von ‚Haltlosigkeit‘, von ‚dumpfer Angst‘, von ‚unerklärlichem Druck‘, der auf Dir laste, von ‚krankhaftem Gefühl, daß alles, alles gut sein würde, wäre ich nur da, um Dich zu schützen‘! Schützen? Vor wem denn in aller Welt? Wer will Dir etwas anhaben? Solch unklare Redewendungen sind mir ganz neu an Dir! Was mich immer entzückt hat an Dir, das war die gesunde Klarheit Deines Wesens, Dein starkes reines Empfinden. Wie konntest Du lachen, Liebling, so recht aus dem Herzen heraus, jugendlich, kindisch sogar über irgend eine Dummheit, die Du selbst oder ein anderer zuwege gebracht! Ich habe dies Lachen geliebt, selbst wenn ich zum Schein eine ernste Miene aufsetzte und sagte: ‚Aber wie kann man denn so lange über diesen Unsinn lachen?‘ Dann faltetest Du wohl die Händchen über meinem Arm – ich küsse diese Händchen! – sahst mir mit reuevoller Schelmerei in die Augen und sagtest leise: ‚Ja, ich weiß, es ist unrecht von mir, die ich so viel Trauriges daheim erlebe, aber ich kann dem Kummer nicht nachhängen – ich bin zu glücklich durch Dich!‘ Sieh, diesen Gedanken, meine Ilse, den halte Du fest: Dein Glück durch mich, das meine durch Dich – dieses Bewußtsein muß uns hinwegtragen über alles, auch in der Ferme, auch in der Trennung. Denk’ doch des ewig alten, ewig neuen Wunders: ein Herz gehört Dir und nur Dir auf dem weiten Erdenrund, es ist Dein mit jedem Schlage! Und dies Wunder soll uns nicht helfen, Widerwärtigkeiten zu besiegen, Trauriges zu überwinden? Eine schwächliche Art von Liebe, die das nicht könnte, nicht meine Art – und auch die Deine nicht, ich weiß es. Kopf hoch, Ilse! Gewiß fühle auch ich eine heiße unbezwingliche Sehnsucht nach Dir, und die sollst Du ganz erwidern, aber sprich nicht mehr von ‚dumpfer Angst‘, von ‚krankhaftem Empfinden‘, sonst muß ich mich um Deine Gesundheit sorgen!

Ist denn inzwischen der Gutsverkauf, von dem Du mir schriebst und dessen auch Onkel Leupold in seinem Brief erwähnte – ein Prachtstück übrigens, dieser Brief: wohlgezählte achtzehn Zeilen lang! – zustande gekommen? Der Name des Käufers ist mir völlig unbekannt; ich hätte gern gewußt, welchen Eindruck der Mann auf Dich gemacht hat, aber davon schreibst Du mir nichts, und doch geht aus Deinem Brief hervor, daß Du ihn bereits kennengelernt hast. Daß er Deinem Vater die Stelle des Administrators antragen will, scheint mir für den Mann zu sprechen. Hart muß es freilich sein, da gehorchen zu müssen, wo man früher zu befehlen gewohnt war. Allein, wenn der neue Besitzer seinen Vorteil versteht, so wird er nicht viel mit Befehlen kommen, sondern Deinen Vater ruhig gewähren lassen; hat dieser das notwendige Kapital in Händen, so bringt er ohne alle Frage die ‚Perle‘ wieder in die Höhe, das hat mir noch jeder gesagt, der Verständnis für die Sachlage hatte, nicht zuletzt Kapitän Leupold, den wahrlich nicht übergroße Liebe zu seinem Schwager blendet. Onkel Leupold – er ist der Einzige, der von unserer Liebe weiß. Wie lange noch wird er der Einzige sein? Ach, Liebling, wie mich das Geheimnis quält und drückt! Eine Thatsache, die ich stolz aller Welt verkünden möchte, muß ich verschweigen und bemänteln wie eine Schuld! Ich sehe ja ein, daß Du die kranke Mutter, den hartgeprüften Vater schonen mußt, aber ich bäume mich auf unter dem Zwang, den diese Rücksicht uns beiden auferlegt! Frei und offen wie das Element, das ich mir zum Aufenthalt auserkoren, soll mein Leben daliegen, das Stolzeste und Schönste darin Du, die Liebe zu Dir. Verzeih’, ich gelobte Dir, als wir damals bei unserem alten Freunde zum letztenmal einander in den Armen hielten, daß ich Dich nie wieder mit meiner Ungeduld, mit meinem Unmut quälen wollte – ach Lieb, ich quäle mich selbst am ärgsten damit!

Zittere nicht um mich und mein Leben! Einem Seemann hast Du Dich verlobt, eines Seemanns Braut muß stark und tapfer sein. Mein Beruf ist mein Stolz, meine Freude, mit Leib und Seele gehör’ ich ihm an, und ich danke Gott, daß es so ist. Auf der Kommandobrücke stehen und mein gutes Schiff mit Sturm und Wellen kämpfen sehen wie einen tapfern Ringer, es lenken und leiten nach meinem besten Wissen, die volle Verantwortung fühlen für mich und die Vielen, die mein Los teilen – das ist Leben, und Leben ist Kampf! Ob ich Gefahren zu bestehen, Stürmen zu trotzen hatte? Frag’ nicht, mein Herz! Wozu soll ich Dich mit Beschreibungen von Not und Gefahr betrüben? Alles das sollst Du später zu hören bekommen, wenn wir auf immer vereinigt sind. Sitzen wir dann in unserem nordischen Heim, zu Kiel, in einem von diesen hohen schönen Häusern, die ich schon bei meinem letzten Aufenthalt auf diese selige Zukunft hin scharf ins Auge gefaßt habe – im Kamin singt die rote Flamme, und draußen braust der Sturm und ruft mir Erinnerungen wach ... dann sollst Du von allem hören, was ich erlebte, auch von den Gefahren, denen ich entging.

Du schreibst, Du zitterst, wenn Du den Sturm hörst – Kind, was ist das, was Du einen Sturm nennst, gegen den Orkan auf offenem Meer! Ich hab’ oft lachen müssen, wenn ich an Land war und die Leute sagen hörte: heute ist ein solcher Sturm! Sieh zu, wie auf dem Meer der Orkan heulend herankommt und eine Sturzsee um die andere aufwühlt, wie er die Segel gleich Fetzen herunterreißt und die Masten knickt und dann mit einem Ruck die Boote herunterschlägt, auf denen die Mannschaft sich im Notfall retten soll, wie er das Schiff gleich einem Ball [160] hochnimmt und wirft … dann rede von Sturm! Doch darum keine Furcht – meine ‚Nixe‘ ist köstlich gebaut! Mir lacht das Seemannsherz im Leibe, wenn ich sie sehe, wie sie sich im Sturm hält. Schade, daß Du die technischen Ausdrücke nicht kennst, in denen der Seemann zu reden gewohnt ist! Das hast Du alles noch zu lernen, Liebling – Du wirst eine gute Schülerin abgeben! Ein Leben liegt vor uns, ein, will’s Gott, langes Leben, um unser Glück zu genießen, um einer am andern zu erstarken, um alles zu teilen, alles. Freue auch Du Dich, Isolde, sei dankbar, sei getrost, laß Deine Seele fröhlich sein! Ich vertraue auf Gott – ich denke immer, es kann keinen Seemann geben, der das nicht thut, denn gewaltig spricht Gott zu ihm im rasenden Sturm, im wütenden Meer, in all den zahllosen Wundern der Natur, die er ihn schauen läßt. Ja, alles sollst Du mit mir teilen, Herzlieb, wenn ich Dich erst habe, nie will ich denken: dies kann sie nicht fassen, jenes wird ihr langweilig sein. Wie sollte das möglich sein, da Du mich liebst? Und auch Du sollst mich Anteil nehmen lassen an Deinem Leben, an jedem, was Dir lieb und wichtig ist. Nie sollst Du meinen: das ist Frauensache, die kann ihn nicht interessieren! Die Angelegenheiten meiner Frau werden mir niemals unwichtig sein. Liegt denn nicht in dem Wort ‚Einssein‘ eben diese unbedingte Gemeinschaft? Wie ersehne ich dies Einssein mit Dir, Du meine Welt, Du mein Alles!

Wie Du staunen würdest mit Deinen lieben schönen Augen, sähest Du mich in meiner jetzigen Umgebung! Wie würdest auch Du, wärest Du hier, Staunen erregen, wie würden die Leute nach Dir schauen, Dein goldenes Haar, Deine feine weiße Haut bewundern! Welch wunderbares Land, dies Indien! Wie anziehend seine Bewohner! Diese Frauen solltest Du sehen mit den weichen dunkeln Gesichtern, den scheuen Gazellenaugen, diese Männer in ihrer malerischen weißen Tracht, mit ihren bunten Turbanen, den gemessenen Bewegungen!

Hinter mir steht, während ich dies schreibe, der Punkha-Wala, eine in Hindostan wichtige unerläßliche Person. Was ist ein Punkha-Wala? Zu deutsch ein Fächerzieher, der durch eine auf Rollen gehende Schnur den Riesenfächer in Bewegung setzt, welcher von der Zimmerdecke herabhängt und die notwendige Kühlung zuweht. Ein unmögliches Dasein ohne den Punkha-Wala! Man vergeht, man zerschmilzt ohne ihn – Tag wie Nacht hat er seines Amtes zu warten. Mit gravitätischem Ernst zieht mein brauner Inder seine Schnur, ahnungslos, daß ich von ihm berichte. Ich bin nicht zum erstenmal hier, ein Paar Brocken der Landessprache habe ich aufgeschnappt, und die Leute sind glücklich, wenn ich etwas verstehe und mich ihnen, freilich mit einiger Mühe, verständlich machen kann. Meine Hautfarbe gleicht jetzt der einer gerösteten Kaffeebohne, ich fürchte, Du würdest Dich für den Kuß eines so braunen Liebsten bedanken. Bis zu unserem Wiedersehen hoffe ich indessen schon wieder menschlicher auszusehen! Unser Wiedersehen! Die Zeit fliegt mir rasch dahin, und doch dehnen sich die Monate bis zu diesem einen glückseligen Augenblick endlos, endlos vor mir. Gestern hab’ ich hier für Dich eingekauft – ach, das Schönste, das Kostbarste möcht’ ich haben und Dir zu Füßen niederlegen! Ob Dir mein Geschmack gefallen wird? Ich wage es zu hoffen, es giebt köstliche Dinge hier, und ein Engländer, den ich in meinem Gasthof traf und der die hiesigen Verhältnisse gut kennt, kam mit mir und erteilte mir seinen Rat.

Ich muß den Brief beenden, mein Herz. Morgen geht es wieder an Bord; unsere Rast in Kalkutta ist nur kurz. In Hongkong hoffe ich Nachricht von Dir zu finden. Was alles hätte ich Dir noch zu sagen, Dich zu bitten! Sei stark und mutig, Geliebteste, finde Trost und freudige Zuversicht in unserer Liebe und sei in Deinem Herzen bei mir, wie ich es jetzt und immer bin!

Dein Albrecht.“ 


10.

Ilse von Doßberg las diesen Brief, im „Achterdeck“ Onkel Leupolds. Ein trüber sonnenloser Herbsttag sah zu den kleinen Fensterscheiben herein, ein grauer und kalter Ton lag über all den bunten fremdländischen Herrlichkeiten, die das Zimmer schmückten. Nur die „büßende Magdalena“ strahlte in ihrer farbenglühenden Schönheit aus dem Rahmen des Bildes heraus; die Thränen in ihren reuevollen Augen schienen zu zittern, zu flimmern.

Ilse ließ den Brief langsam in den Schoß sinken und sah zu dem Gemälde hinüber. Kamen die Thränen dort aus einem Herzen, das nur Zerknirschung, nur Reue empfand? Und ihre eigenen Thränen, die jetzt still auf das Blatt in ihrer Hand niedertropften – flossen sie nur aus Bangen und Sehnen um den Geliebten? Wie gut und treu hatte er geschrieben, wie hatte er sich bemüht, ihr Angst und Sorge auszureden … war es ihm gelungen? Sie liebte ihn ja, sie liebte nur ihn, und was sonst fremd und unverstanden in ihrem Innern lebte, das war sie bestrebt gewesen, mit aller Kraft zu unterdrücken. Sie wollte nicht über sich selbst nachgrübeln, wollte nicht in ihrem eigenen Innern lesen, und doch war diese Flucht vor sich selbst das Richtige? Tief seufzte das schöne Mädchen auf.

„Also das und weiter nichts bringt der Brief des Herzallerliebsten zuwege – Thränen und Seufzer? Pfui!“ Breitspurig, die Hände in den Hosentaschen, pflanzte sich Kapitän Leupold, der soeben eingetreten war, vor seiner Nichte auf. Dido, das Aeffchen, hockte auf seiner Schulter, bog den kleinen behaarten Kopf vor und betrachtete das junge Mädchen mit einem ganz menschlich prüfenden Blick.

„Was ist denn los? Sogar meine Dido wundert sich – sieh, wie sie Dich beobachtet! Ist er krank, der Teufelskerl? Hat ihn das Fieber erwischt oder hat er sich in ein schönes Hinduweib, in so ’ne Lotosblume vom Ganges, vergafft und will von Euer Gnaden nichts mehr wissen?“

Ilse schüttelte lächelnd den Kopf. „Nichts von alledem! Er ist gesund und ist mir treu. Aber, Onkel, kannst Du mir’s denn wirklich verargen, daß ich – daß ich mich –“

„Na also – was? ‚Daß ich – daß ich –‘ Hübsch zu Ende reden, Prinzeß Ilse!“

„Daß ich mich nach ihm sehne!“

„Ach was, sehnen! Unsinn! Verlobt sich mit ’nem Seemann und sehnt sich nachher! Hat das Sinn und Verstand? Wenn doch in einem einzigen Weib auch nur ein Gran Logik stecken möchte! Du kannst doch Gott danken, solch ’nen Kerl wie den Albrecht Kamphausen zum Mann zu bekommen!“

„Das thu’ ich ja auch, Onkel Erich!“

„So? Thust Du auch? Na, Dein Glück scheint nicht sehr groß zu sein! Kein Lüdrian, ein tüchtiger Seemann, kein Dummkopf und ’ne flotte Carriere vor sich – auch nicht häßlich, was bei Euch Weibern ja immer ’ne Rolle spielt – den schönsten Beruf von der Welt, und ’n Kleid auf den Leib und ’n Stück Brot in den Mund wird er Dir auch schaffen können, wenn’s auch nicht gleich zu lauter Seiden- und Spitzenfahnen und zu Austern mit Champagner in Paris und Nizza reicht, wie’s Dein Herr Vater Deiner Frau Mutter geboten hat! Die Folgen sind ja denn auch demgemäß.“

Ilse erhob sich rasch – ihre Augen blitzten, ihre Brust flog. „Ich muß Dein Haus verlassen, Onkel Erich, wenn Du fortfährst, in dieser Weise über meine Eltern zu sprechen! Mag mein Vater meine arme Mama zu sehr verwöhnt und in Blindheit über unsere Lage gehalten haben – aus Liebe, aus übergroßer Liebe hat er das gethan, und Du hast kein Recht, ihn dafür zu verhöhnen! Er leidet seine Strafe für diese Schwäche so schwer, so bitter, daß Du zufrieden sein kannst! Er muß da den Untergebenen spielen, wo er vor kurzem noch Herr gewesen ist, er muß für einen Fremden die Scholle bebauen, die unserem Stamm und Namen gehören sollte, bis der letzte Doßberg seine Augen geschlossen hat! Ich kann nichts ändern dabei, mit gebundenen Händen muß ich zusehen … aber ich will nicht dulden, daß ein Mann, der so tief gedemütigt ist, noch dazu geschmäht wird – von einem Verwandten seines Hauses!“

Die dicken buschigen Augenbrauen des Kapitäns waren bei dieser hastig hervorgesprudelten Rede in zuckender Bewegung auf und niedergegangen. Er war ein heftiger Mann, dem trotz seiner Jahre immer noch die Zunge durchging, aber er sah sein Unrecht, wenn er eines begangen hatte, rasch ein und erblickte nie eine Schande darin, es freimütig zuzugestehen. Er zog jetzt langsam seine breiten Hände, eine nach der andern, aus den Hosentaschen und rieb ihre Flächen mechanisch gegen das Beinkleid. In dem Blick, mit dem er die Nichte ansah, lag ein beinahe komisches Gemisch von Verdrossenheit über das viele „Weibergeschwätz“ und von einer Art bärenhaften Wohlgefallens an dieser „frechen Krabbe“, die ihm so unerschrocken ihre Meinung sagte.

„So! Sieh’ ’mal! Verbittest Dir! Verbittest Dir ohne weiteres in meinem Haus, hier in meinem ‚Achterdeck‘, angesichts [162] von der da!“ Er wies mit dem Daumen über seine Schulter nach der „büßenden Magdalena“. „Solch ein Frauenzimmer! Angst hast Du wohl keine Spur vor mir, was?“

Ilse schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf, mußte aber zugleich lächeln. „Nein, keine Spur!“

„Na, das ist vernünftig! Feige Menschen sind mir in den Tod zuwider. Gegen Deinen Herrn Papa hätt’ ich nichts sagen sollen. Du hast ihn Dir nicht ausgesucht, und für sein Thun und Treiben kannst Du nichts. Dir ist ja das Heimlichthun und Lügen ein Greuel, und Verschwendungssucht scheinst Du grad’ auch nicht zu besitzen!“ Seine raschen Augen musterten Ilses Erscheinung auf und ab, als wollte er ihre Kleidung bei Heller und Pfennig abschätzen. „Na, setz’ Dich wieder hin und laß ’n vernünftiges Wort mit Dir reden! Ich hab’ ja lange Zeit gar nichts von Euch gesehen und gehört – Dein Schlingel von Bruder läßt sich auch nicht mehr bei mir blicken, seitdem ich ihm ’mal scharf den Kopf hab’ waschen müssen. Sein Klassenlehrer hat mich besucht eines Tages – für ’n Bücherwurm ’n ganz anständiger Mensch! – und hat Stein und Bein geklagt über den Bengel. Er wär’ bis Ostern ’n guter Schüler gewesen, sei auch begabt und in alten Sprachen tüchtig, ’n fixrer Mathematiker, und was sonst noch alles für Zeug – aber jetzt tauge er den Teufel, faulenze so herum und sei dabei trotzig und aufsässig und so weiter. Ich kaufte mir natürlich das Gewächs und hielt ihm ’ne Predigt auf Seemannsmanier, aber der Schlingel setzte seinen Dickkopf auf und sagte: ja, es ist alles wahr – aber er wird und will nichts mehr lernen, ihm ist alles egal, seine Zukunft und sein Beruf sind doch zum Henker, da er die ‚Perle‘ nicht bekommen soll. Ich kam ihm mit Philosophie – half nichts – ich kam mit gemeinem gesunden Menschenverstand – wieder nichts – zuletzt kam ich ihm mit Grobheit und schmiß ihn ’raus – ich glaub’ aber, das hat auch nichts geholfen, denn seitdem hat er sich nicht mehr bei mir sehen lassen.“

„Ich weiß,“ sagte Ilse, „Armin hat mir’s geschrieben, daß Ihr Streit miteinander hattet.“

„Streit! Zwischen mir und diesem Dreikäsehoch, der noch nicht hinter den Ohren trocken ist? Spricht von Beruf und Zukunft – mit siebzehn Jahren, ’s ist zum Lachen!“

„Es müssen sich doch viele junge Menschen noch früher als mit siebzehn Jahren für einen bestimmten Beruf entscheiden, und Du, Onkel Erich, hast jedenfalls in diesem Alter schon ganz genau gewußt, daß Du Seemann werden wolltest.“

„Ja, ich! Mir war mein Beruf sozusagen auf den Leib geschrieben!“

„Bei Armin ist es ganz derselbe Fall. Er hat von klein auf nichts anderes gehört und nichts anderes gewollt als die ‚Perle‘ bewirtschaften.“

„Hm, Ihr Doßbergs habt Euch samt und sonders in Eure ‚Perle‘ so festgebissen, daß es wirklich ’n gehöriges Stück Arbeit ist, Euch die aus den Zähnen zu reißen. Seht zu, was Ihr mit dem Schlingel anfangt – meine Methode hat nicht angeschlagen!“

„Du wolltest mich einiges fragen, Onkel Erich?“

„Ja, gewiß wollt’ ich. Bei der Mutter alles beim alten?“

„Nein!“ Ilses Gesicht trübte sich. „Seit einiger Zeit geht es schlechter. Bisher hatte sie noch immer Appetit, jetzt muß man oft bitten und betteln, daß sie etwas genießt, sie ist auch müder, gleichgültiger geworden – die Kräfte nehmen ab. Ist das nur der Herbst oder –“

Kapitän Leupold blickte mit ernstem Gesicht vor sich hin.

„Sie zeigte anfangs Interesse, als es hieß, es müsse im Schloß gebaut werden, ihre Zimmer seien nicht gesund für sie und sie werde nun einstweilen ins Verwalterhaus übersiedeln. Der Gedanke beschäftigte sie sehr, wir mußten ihr alles schildern, all die Verbesserungen und Veränderungen im Schloß, die für fremdes Geld unternommen werden, die sie natürlich für Papas Werk ansieht! – Es wird alles wunderschön und kostbar eingerichtet, Onkel Erich, und doch ist nichts Prahlerisches, Uebertriebenes dabei. Die Halle besonders wird herrlich, überall werden riesige gemalte Glasfenster eingelassen, wahre Kunstwerke. Mächtige braungebeizte Eichensitze an den Wänden mit köstlichen Schnitzereien, Vertäfelungen, Kron- und Armleuchter ... man kann sich kaum satt sehen! Wir haben es ja früher auch schön bei uns gehabt, aber so fürstlich ist’s nicht gewesen. Der Speisesaal wird gemalt – Wände und Decke; ein bedeuteter Künstler ist schon seit Wochen daran thätig. In die Eckzimmer kommen die schönsten Gobelins, und die Bibliothek –“

„Firlefanz!“ knurrte der Alte dazwischen.

„Das ist es eben nicht, Onkel! Ach, mir thut das Herz weh, wenn ich das alles der armen Mama, Stück für Stück, beschreiben muß, und sie denkt, das gehört nun ihr! Seit einiger Zeit darf ich mich aber nicht mehr damit quälen, sie fragt wenig mehr, liegt so still da –“

Das junge Mädchen konnte nicht weitersprechen, die Stimme versagte ihr. Kapitän Leupold ließ merkwürdigerweise diese „Sentimentalität“ ungerügt hingehen und fragte nur nach einer Pause: „Und Dein Vater, mein Herr Schwager?“

„Papa ist fast beständig draußen, er reitet und fährt umher und sieht nach allem. In der Bewirtschaftung des Gutes hat er vollkommen freie Hand, keine seiner Anordnungen wird jemals beanstandet, auch darf er stets in einen gefüllten Beutel greifen, das Geld spielt gar keine Rolle. All die Verbesserungen, die seit Jahren schon so dringend notwendig waren, werden jetzt ins Werk gesetzt; es ist den ganzen Sommer über fleißig gebaut worden, ein paar Gebäude sind auch glücklich unter Dach gekommen. Neue Maschinen sind angeschafft, der Viehstand ist ergänzt, und im Roßgarten weiden jetzt wieder schöne edle Pferde. Papa arbeitet eigentlich ununterbrochen, er führt die Bücher alle selbst mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit. Die beiden Vorwerke Velten und Gnadenstein sind wieder mit ‚Perle‘ vereinigt, wenn auch vorderhand die früheren Gutsleute dort noch nicht abgezogen sind; aber Papa hat auch da schon nach dem Rechten zu sehen und für alles, was geschieht, die Verantwortung zu tragen. Es wurden ihm ein paar Unterbeamte angeboten, aber er bleibt dabei, alles allein mit dem alten Hinz und seinem ehemaligen Rechnungsführer besorgen zu wollen. Todmüde will er sich machen, nicht zur Besinnung gelangen, um nicht nachdenken, nicht fühlen zu müssen – ach, ich kann ihn darin so gut verstehen! Er kommt nur zu den Mahlzeiten nach Hause und spricht dann wenig oder nichts. Bei Mama ist er anscheinend heiter, er tröstet sie, liest ihr vor und redet mit ihr von vergangenen schönen Zeiten. Aber er kommt selten ins Krankenzimmer, und Mama, matt und teilnahmlos, wie sie jetzt ist, fragt auch kaum nach ihm.“

„Und wann wollt Ihr sie ins Verwalterhaus bringen?“

„Es soll ein schöner warmer Herbsttag dazu abgewartet werden. In Ordnung ist dort alles. Die Zimmer sind so behaglich wie möglich hergerichtet, und Mamas Möbel und Zimmerschmuck gehen mit hinüber. Sobald wir übergesiedelt sind, treten die neuen Besitzer ihr Eigentum an.“

„Ist denn dieser Herr von Montrose ... ja, was hast Du denn dabei so rot zu werden?“

„Ich, Onkel Erich?“ fragte Ilse unsicher und errötete noch tiefer.

„Nu, wer denn sonst? Etwa die gemalte Dame da oder ich oder Dido? Also warum bist Du rot geworden, Prinzeß Ilse?“

Sie bemühte sich, unbefangen zu erscheinen, aber, wie sie recht wohl merkte, mit schlechtem Erfolg. „Ich – das ist zu dumm bei mir, ohne jede Veranlassung kommt mir das, und schließlich kann mir’s niemand verdenken, daß es mir peinlich ist, wenn ... aber sieh doch, Onkel, was Dido anfängt!“

Das Aeffchen hatte sich von seines Herrn Schulter weg mit einem leichten Satz aufs Fensterbrett begeben, nestelte sich jetzt in eine tiefe Gardinenfalte hinein und benutzte sie als Hängematte, indem es sich behende hin und herschaukelte.

„Dido, Du Racker! Willst Du das gleich bleiben lassen! Hierher! ’s ist unglaublich, was diese Bestie mir schon für Schaden angerichtet hat! Und wie viel Mühe hab’ ich mir mit ihrer Erziehung gegeben – Jan Grenboom desgleichen! Aber erzieh’ ’mal einer ’n Frauenzimmer! Reine Zeitverschwendung, verlorene Mühe! Das schadenfrohe Gesicht, mit dem die Kreatur sich schaukelt! Dido! Wirst Du gehorchen, Scheusal!“

Nein, das „Scheusal“ blieb, wo es war, es wiegte sich taktmäßig weiter und fletschte seinen Gebieter mit frechem Hohn an.

„Na, lassen wir sie! Ich muß es aufgeben, mich über sie zu ärgern, jemehr ich das thu', um so unverschämter wird sie – sie hat ’nen tückischen Charakter. Wobei waren wir? Richtig, Du wurdest rot und ich wollte wissen, warum?“

„Ach, Onkel, was soll ich darauf antworten – wie kann man darüber Rechenschaft ablegen?“

[163] „Ich denk’ mir, man könnt’ schon, wenn man nur wollte! Wenn aber ’ne Frauensperson nicht will, na, dann ist’s eben aus, dann können sich zwanzig Mannsleute auf die respektiven Köpfe stellen und es geschieht erst recht nicht! Und daß mein Fräulein Nichte jetzt nicht will, das merk’ ich ja. Also was ich fragen wollte: ist dieser Herr von Montrose oft bei Euch draußen gewesen?“

„Ja, verschiedenemal; ich hab’ ihn aber nicht mehr gesehen und gesprochen, seit –“

„Seit wann? Herrgott, red’ Deine Sätze zu End’! Was ist das für’n abgerissenes Gefasel!“

„Seit jenem ersten Mal, als er mit seiner Tochter kam, sich das Schloß anzusehen!“

„Wann war dies berühmte erste Mal?“

„Ach, das ist schon ziemlich lange her – zu Anfang Juni wird’s gewesen sein!“

„So! Und als er dann mehrmals wiederkam, da ließest Du Dich nicht sehen?“

„Nein, da ließ ich mich nicht sehen.“

„Dazu mußt Du denn doch ’ne Art von Grund gehabt haben.“ Ilse antwortete nicht. „Wer hat ihn denn da immer empfangen?“

„Papa.“

„Kommen die beiden Herren gut miteinander zurecht?“

„Es scheint so.“

„Welchen Eindruck macht denn der Mann?“

„Welcher Mann?“

„Na, zum Teufel, der Montrose! Stell’ Dich nicht so dumm!“

„Er ist ein vornehmer Herr.“

„Vornehmer Herr! Dabei kann einer sich allerlei denken! Alter Herr, was?“

„Nein – ja – ich weiß nicht recht.“

„Na, wenn Du das nicht weißt, dann bist Du einfach verrückt, liebes Kind. Da er erwachsene Kinder hat, so ist anzunehmen, daß er denn doch alt ist. Hör’ ’mal, der Herr Sohn soll ein höllischer Mädchenjäger sein, hast Du den schon kennengelernt?“

„Ja, ich hab’ ihn ein paarmal gesehen.“

„Und hast das Gerücht, von dem ich eben sprach, bestätigt gefunden?“

„Ja.“

„Und daß der Albrecht Kamphausen Dich fest an der Leine hat, das konntest Du natürlich nicht sagen?“

„Nein.“

„Die Tochter soll ’ne dumme Gans sein, übermütig, blind vernarrt in ihren Schatz, der sie bloß des Geldbeutels wegen nimmt. Ich hab’ sie ’mal gesehen, ein Bekannter zeigte sie mir auf der Straße – hat so ’ne fade Larve, nicht Fisch, nicht Fleisch! Gefällt die Dir?“

„Nicht besonders.“

„Wann soll denn die Hochzeit sein?“

„Im Frühjahr, glaube ich.“

„Schön! Und jetzt wollen wir dies interessante Frag- und Antwortspiel beenden. Schön Dank für gütige Auskunft! Knapper wie Du kann man nicht ’mal vor Gericht antworten – für’n Frauenzimmer alles mögliche! Irgend etwas ist übrigens bei der Geschichte nicht geheuer, das steht fest. Aber verlaß Dich drauf, daß ich dahinterkomme!“

Ilse sah mit einem trüben Lächeln vor sich hin. Wie wollte der alte Seebär hinter etwas kommen, das sie selbst nicht verstand?

Erich Leupold hatte die Hände wieder in die Taschen seines weiten Beinkleids vergraben, er wiegte sich leicht hin und her und besah sich seine Nichte wie eine Kuriosität. Man wurde doch niemals klug aus den Weibern; wer konnte sagen, was alles in dem goldblonden Mädchenkopf da steckte!

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 11, S. 172–176

[172] Ilse stand auf und griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf einem Lacktischchen des Achterdecks lag.

„Schon fort, Prinzeß Ilse?“

„Ich muß, Onkel Erich! Mir wurde es gar nicht leicht, heute von Papa Fuhrwerk zu bekommen, er giebt es so ungern zu Privatzwecken her, obgleich er, wie ich Dir schon sagte, frei verfügen kann. Aber er sieht jetzt alles von dem Standpunkt an, daß er Verwalter fremden Eigentums ist – damit quält er sich unablässig und legt sich die peinlichste Buße auf. Erst als ich ihm sagte, ich wolle einiges für Mama besorgen, erlaubte er mir, zur Stadt zu fahren – diese Einkäufe muß ich aber gleich machen, damit ich noch vor Abend zurück sein kann.“

„Und damit Du sie machen kannst – hier!“ Der Alte zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und drückte es seiner Nichte in die Hand.

„Ach, Onkel –“

„Halt’ den Mund und mach’, daß Du fortkommst! Schreib’ mir ’ne Zeile, sobald Ihr im Verwalterhaus seid, ich miete mir dann ’nen Wagen und fahr’ auf ’ne Stunde oder so hinaus, nach Deiner Mutter zu sehen. Grüß’ mir sie, auch den verrückten [173] Jungen, Deinen Bruder, wenn Du ihn siehst! Er soll nur ’mal wieder zu mir kommen, können ja wieder deutsch miteinander reden – ’s ist nicht nötig, daß ich ihn allemal hinausschmeiß’. Und halt’ Dich stramm!“

„Leb’ wohl, Onkel! Vielen Dank für den Brief aus Kalkutta und für –“

„Keine Silbe mehr, bei meinem Zorn! Kann das Mädel die Thür nicht finden? Jan! Jan Grenboom! Bring’ ’mal die Dame zum Haus hinaus!“

Ilse schüttelte ihm stumm die Hand, Dido hörte auf, sich zu schaukeln, sah diesem Abschied verständnisvoll zu und hüpfte auf eine Stuhllehne, von wo sie gleichfalls Ilse ihr welkes graues Händchen zum Abschied reichte. In der Thür erschien Jan Grenboom mit seinem brummigen Gesicht, auf seinem glattgeschorenen Kopf saß Cato, der Papagei, offenbar mit diesem seinem Lieblingsplatz überaus zufrieden. Alle vier, Kapitän, Matrose, Affe und Papagei, eskortierten das junge Mädchen zur Hausthür, und Cato rief ihr ein herzliches: „Geh’ zum Teufel!“ nach, als die Pforte hinter ihr ins Schloß fiel.

Ein leichter Regenschauer empfing die Heraustretende, die Luft wehte kühl und unfreundlich. Ja, es war Herbst geworden um sie und, wie es ihr scheinen wollte, auch in ihr; trüb’ und ernst sah alles sie an. Sie dachte an Albrecht, an seinen Brief, an seine große tiefe Liebe. Empfand sie die nicht auch für ihn? Gewiß, aber sie fühlte diese Liebe nicht rein und ungetrübt, es war kein voll erklingender Accord, immer und immer mischte sich etwas hinein, das sie nicht haben wollte, das aber da war – unentrinnbar.

Mit einem innerlichen Ruck, den sie beinahe körperlich empfand, riß sie sich aus diesen Grübeleien heraus und wandte ihre Gedanken den praktischen Dingen der Außenwelt zu. Es machen wie Papa! Arbeiten, sich beschäftigen, immerzu, gar nicht zur Besinnung kommen – und dann abends so müde sein, daß einen der Schlaf überfällt wie ein Gewappneter, daß es zur Unmöglichkeit wird, noch zu denken! Aber dazu bedurfte sie einer Thätigkeit, die ihren Geist in bestimmte Bahnen zwang, die sich den ganzen Menschen zu eigen machte. Und die hatte sie nicht! Welch qualvolle Stunden hatte sie in diesen letzten Monaten am Krankenlager der Mutter verlebt, wie hatte sie sich deren frühere Rastlosigkeit, ihr oft anspruchsvolles vielforderndes Wesen zurückgewünscht. Dann hätte die Tochter die Pflicht gehabt, sich selbst völlig zu vergessen, die Stimmen nicht zu hören, die sich in ihrem Innern „verklagten und entschuldigten“. So aber wurde die [174] Kranke immer stiller, immer teilnahmloser. Und Stunde um Stunde saß dann das junge Geschöpf neben dem Bett, die Handarbeit in den feinen Fingern, und zermarterte sich Kopf und Herz und ging unbarmherzig mit sich selbst ins Gericht, ohne doch einen festen Punkt zu finden, in dem sie sich wirklich schuldig bekennen konnte. Rund um sie her atembeklemmende tiefe ununterbrochene Stille; nur ein leises regelmäßiges Ticken von der Wand, an der die Rokokouhr stand, und ein leises unregelmäßiges Hauchen von dem spitzenbesetzten Kissen her, auf dem das blonde Haupt jetzt so still lag – sich nicht mehr rastlos hin und her warf und Wasser verlangte, Wein, frische Luft, Eis – wunschlos und stumm lag es da, das Gesicht fast durchsichtig weiß. Dann ließ Ilse die Arbeit sinken und starrte mit thränenden Augen auf dies bleiche Antlitz und auf das goldene Haar, das sich auf dem Kissen ringelte. Und vor ihren Augen lag es wie eine dunkle uferlose Flut, in die sie auf schwachem Kahn unaufhaltsam, steuerlos hineintrieb.




11.

Ilse war von Laden zu Laden gegangen, hatte Bestellungen gemacht, einige Dinge gleich mitgenommen; nun waren ihre Einkäufe beendet. Der Regen hatte nachgelassen – eine kurze Weile stäubte es noch fein aus den Wolken herab, dann hörte auch das auf. Ilse stand unschlüssig, als sie an die um diese Zeit sehr belebte Promenade kam – sollte sie wirklich hier gehen? Aber es blieb ihr kaum eine Wahl; wollte sie rasch in ihren Gasthof kommen, wo sie den Wagen fand, so mußte sie diese Straße kreuzen.

Plötzlich, als sie eben mit dem Zusammenrollen ihres Schirmes beschäftigt war, hörte sie ein klirrendes Geräusch, wie von feinen zusammenschlagenden Sporen, und eine etwas schnarrende Stimme sagte: „Meine Gnädigste, Sie hier? Welch reizende Ueberraschung! Sie sehen mich hocherfreut!“

In der That – sie sah ihn hocherfreut, den Premierlieutenant Georges von Montrose, der heute in seiner kleidsamen Husarenuniform noch ungleich vorteilhafter aussah als in dem „Räubercivil“, in welchem er sich auf ländlichen Ausflügen gewöhnlich zeigte. Er war wirklich ein hübscher junger Mann und war sich dieser Thatsache wohl bewußt, bestritt auch gar nicht, daß er eitel war. „Dazu haben mich die Weiber gemacht!“ pflegte er im vertrauten Kameradenkreise zu äußern. „Ich immer hinter ihnen her, sie immer hinter mir – Katz’ und Maus, Maus und Katz’ – na ja, da bekommt man allmählich ’ne Ahnung, daß man Vorzüge besitzt!“

Augenblicklich hatte der fidele Herr die Brünetten ganz abgeschworen und schwärmte nur noch für die Blonden, von denen ihm „ein ganz auserlesenes Exemplar vor Augen getreten war“. Als er Ilse von Doßberg zum erstenmal zu sehen bekommen hatte – auf „Perle“ war’s gewesen, sein Vater hatte mit Baron Doßberg eine eingehende Unterredung, und der Baroneß fiel die Aufgabe zu, ihn und Clémence so lange zu unterhalten – da hatte er nur mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens unterdrückt; das Monocle war mit der Geschwindigkeit des Blitzes ins Auge geflogen, die Hacken fuhren wie von selbst zusammen. So sah die aus? Solch ein entzückendes Geschöpf mit soviel Rasse hatte dieser sauertöpfische Baron Doßberg zur Tochter? Teufel, Teufel, Teufel! Und bei jedem „Teufel“ war der leicht entzündliche Lieutenant dem Gegenstand seiner Bewunderung um einen Schritt nähergerüekt. Da galt es, heillos rasch mit allen vorgefaßten Meinungen zu räumen und die „blonden Vorurteile“ samt und sonders über Bord zu werfen. Und Herr Georges von Montrose begann zu manövrieren. Als gewiegter Frauenkenner hatte er’s in der ersten Minute weg, daß hier nichts mit billigen Schmeicheleien und ödem Süßholzraspeln zu machen sei, noch weniger mit schneidiger Eilschrittmanier; er zog daher die feinen Register der Ritterlichkeit auf, war ganz Takt, ganz Zartgefühl, ganz Verständnis, schoß keine zündenden Blicke und keine schmeichelhaften Redensarten ab, sondern that und blickte so reserviert, daß sogar Clémence an ihm irre wurde und sich innerlich zweifelnd fragte. ob sie ihm wirklich nicht gefällt? Als sie dann aber diese Frage thatsächlich an ihren Bruder richtete, da bekam sie ein so kräftiges: „Ich bin überhaupt weg! Ich bin verrückt!“ zur Antwort, daß sie genug davon hatte.

Leider machte sich das „süße Geschöpf“, wie Georges das Schloßfräulein von „Perle“ fortan in seinen Gedanken nannte, äußerst rar; in der Stadt war sie sehr selten, und geschah es einmal, so wußte „man“ nichts davon und bekam sie nicht zu sehen; und auf dem Gut, für das der junge Montrose plötzlich eine glühende Vorliebe gefaßt hatte, ließ sie sich mehrfach entschuldigen: sie sei der kranken Mutter unentbehrlich. Nur einmal, als die beiden Geschwister ohne ihren Vater kamen, der in Gnadenstein hatte bleiben müssen, hatte Ilse sich den Gästen zwei Stunden gewidmet und die Glut im Herzen ihres Verehrers zu lichterlohen Flammen entfacht. Gerade daß sie ganz unbefangen blieb, keine Spur von Gefallsucht zeigte und ihre junge Schönheit so unbefangen trug wie eine Königin ihr Diadem, das machte sie dem Feinschmecker so anziehend; diese Gattung war ihm völlig neu. Und dann war etwas reizend Geheimnisvolles um sie herum – Georges hätte nicht sagen können, was es war, aber es war da. Kurz, er war „hin“, kopflos verbrannt und „hin“! Papa durfte natürlich keine Ahnung von dieser Thatsache haben – was sollte der auch damit? Der Sohn begnügte sich, ihm sein Vertrauen in Bezug auf Rechnungen und Bankanweisungen zu schenken, alles Weitere war vom Uebel. Aber Clémence wurde seine Vertraute; sie sollte durchaus Ilses „intime Freundin“ werden, wozu bei beiden jungen Damen nicht die mindeste Neigung vorhanden war, und ihrem Bruder Gelegenheit geben, dem Gegenstand seiner Anbetung häufiger nahe zu kommen. Bisher war zu seiner Verzweiflung nichts geschehen, was eine Annäherung seinerseits irgendwie begünstigen konnte; er hatte sich schon halbwegs darein ergeben, all seine Pläne bis zur endgültigen Uebersiedlung seiner Angehörigen nach „Perle“ zu vertagen, als ihm der Gegenstand seiner Sehnsucht an diesem trüben Herbsttag so unerwartet in den Wurf kam.

Sein glänzender Blick überflog die elegante und doch schlichte Kleidung des jungen Mädchens, den knappen lichtgrauen Reiseanzug, den breitgerandeten dunkeln Hut – schick, unglaublich schick! – und blieb dann auf dem Gesicht des „süßen Geschöpfes“ haften. Dies reizende zartrosige Oval, diese vollen weichen Lippen, und solches Haar und solche Augen – die hatte überhaupt kein Mensch weiter auf der Welt! Nur blickten diese Augen verzweifelt unbefangen; überrascht, aber ruhig sahen sie dem Lieutenant geradeswegs ins Gesicht.

„Ich fürchte, ich hatte das Unglück, Sie zu erschrecken, Gnädigste!“ begann Georges, nicht eben geistreich, die Unterhaltung.

„Ich war ein wenig in Gedanken und im Augenblick nicht auf eine Anrede gefaßt – ich bin sonst nicht so schreckhaft!“

„Darf ich fragen, wie es Ihnen in all der Zeit ergangen ist, Baroneß, und welche Veranlassung Sie heute hierher geführt hat? Sie gestatten!“ Damit schlängelte sich Georges um das junge Mädchen herum, so daß er sie zur Rechten hatte, und setzte, wie ganz selbstverständlich, seinen Weg an ihrer Seite fort.

„Danke, Herr von Montrose! Ich bin immer gesund gewesen, seitdem wir einander zum letztenmal begegneten. Heute hatte ich einige Einkäufe für meine kranke Mutter zu erledigen.“

„Und es ist Ihnen auch nicht eine Minute der Gedanke gekommen, bei Ihrem Aufenthalt in St. meine Schwester Clémence zu besuchen, die Sie doch so dringend um diese Gunst gebeten hat?“ fragte der junge Mann in vorwurfsvollem Ton.

Sie sah mit einem freimütigen Blick zu ihm empor. „Wenn ich offen sein soll, nein, Herr von Montrose, mir ist der Gedanke nicht gekommen. Es ist wahr, Ihre Schwester hat mich wiederholt aufgefordert, sie zu besuchen, aber ich glaube nicht, daß sie mein Erscheinen wirklich als eine ‚Gunst‘, wie Sie sich soeben freundlich ausdrückten, empfinden würde. Sie hat geglaubt, mir eine schuldige Höflichkeit erweisen zu müssen, als sie mich einlud, weiter nichts, und ich habe es gleichfalls als nichts anderes aufgefaßt.“

„Sie glauben nicht, meine Gnädigste, daß Sie jemals mit Clémence Freundschaft schließen könnten?“

„Das läßt sich nicht vorherbestimmen. Aber so, wie ich unsere Naturen bis jetzt beurteile, glaube ich allerdings nicht, daß Ihre Schwester und ich uns jemals miteinander befreunden werden!“

„Das ist wahrhaft niederschmetternd für mich!“ So ehrlich überzeugt klang das, so sprechend blickten des Lieutenants Augen dabei, daß Ilse lächeln mußte. Die Gegenwart dieses Mannes legte ihr nicht den mindesten Zwang auf, sie fühlte sich ganz frei in seiner Nähe – nichts in seinem Aussehen, seinem Benehmen, seiner Stimme erinnerte daran, daß er seines Vaters Sohn war.

„Wie geht es Ihrer Schwester?“ fragte sie freundlich.

[175] „Ich danke! Wie es verliebten und verlobten Leuten zu gehen pflegt! Botho – das ist nämlich meiner Schwester Bräutigam – bedauerte ührigens lebhaft, Sie bei unseren zwei letzten Besuchen auf ‚Perle‘ nicht gesehen zu haben; er war außergewöhnlich gespannt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen – ich – ich hatte mir erlaubt, Baroneß zu schildern.“

„Meine Mutter war in letzter Zeit so krank, daß es mir schwer fiel, sie zu verlassen!“ Ilse sagte das nicht ohne einige Verlegenheit. Die Kranke hätte sie recht gut entbehren können, zumal Lina zur Stelle war, allein bei jenen zwei Besuchen war auch der alte Herr von Montrose anwesend gewesen, und ihm vor allem wünschte sie auszuweichen, wo immer sie nur konnte.

„O, o, bedaure unendlich! Hoffentlich wird sich nach unserer Uebersiedlung nach ‚Perle‘ alles erfreulicher und günstiger gestalten. Ich denke, es soll ein recht reger heiterer Verkehr zwischen Haus Doßberg und Haus Montrose werden. Mein Kommandeur hat mir Urlaub versprochen, der Herbst kann uns noch die schönsten Tage bringen – der Platz zum Lawn-Tennis ist famos geworden; Clémence und ich haben ihn selbst eingerichtet, und wir können einander dort manche heiße Schlacht liefern, Baroneß!“

„Ich bin keine geübte Spielerin!“

„Werde mir erlauben, Ihren geduldigen Lehrmeister abzugeben. Rechne es mir zu besonders hoher Ehre an, bei Baroneß dies Amt zu versehen, glaube auch, ohne Uebertreibung versichern zu können, daß ich da meinen Mann stehe. Wirklich ein amüsanter Sport und ungeheuer gesund!“

„Ohne Zweifel! Ich werde mich nur um meiner leidenden Mutter willen selten an diesem Vergnügen beteiligen können.“

Der Husarenlieutenant verwünschte innerlich diese kranke Mutter mit Haut und Haaren. War’s nicht genug an dem Vater nat dem Unglücksgesicht – mußte dies reizende Wesen auch noch eine leidende Mutter haben, die immer und überall als Vorwand gelten konnte, wenn der schöne Trotzkopf irgend etwas nicht wollte? Ihm kam die schlimme Ahnung, er würde auch auf „Perle“ bedenklich wenig von seinem „süßen Geschöpf“ haben, und es fiel dem flotten Georges nicht leicht, seinen Grimm zu unterdrücken. „Eine so ernste Lebensauffassung, gnädiges Fräulein, bei Ihrer Jugend und – sonstigen Bevorzugung darf mit Recht befremden.“

„Finden Sie? Sie kennen die Schicksale unseres Hauses und mich selbst zu wenig, um ein Urteil zu haben, aber ich sollte meinen, selbst das, was Sie bisher davon erfuhren, könnte Ihnen meine ernste Lebensauffassung erklären. Ich bin bis vor kurzer Zeit allerdiugs ein sehr sorgloses glückliches Menschenkind gewesen; ich wäre aber mehr als leichtsinnig, ich wäre gewissenlos, wollte ich das jetzt noch immer sein!“

Das klang „verteufelt ernst“ aus so schönem Munde, und Georges Montrose war eigentlich in Verlegenheit, was er darauf erwidern sollte. Er war sehr gewandt, er konnte sogar über ein Nichts „Konversation machen“, aber mit dem Ernst des Lebens mußte man ihm nicht kommen, mit dem wußte er beim besten Willen nichts anzufangen, und die inhaltsreichen jungen Mädchen gar, die selbst denken konnten, waren ihm von jeher unbequem und zuwider gewesen; er erklärte sie für „scheußlich langweilig“, ihre Reden für „albernes Gefasel“, nicht wert, daß man es anhöre! Auch jetzt gefiel ihm das, was Ilse von Doßberg sagte, durchaus nicht – aber war es nicht doch prachtvoll, hier an ihrer Seite über die Promenade zu schlendern, alle zwei Minuten gegrüßt von einem Kameraden, der die junge Schönheit bewundernd musterte, ihn, den Kameraden Montrose, in der Stille beneidete und einen „nichtswürdigen Schwerenöter“ nannte, der ein fabelhaftes Glück habe? Sie sah so zum Tollwerden entzückend aus, mochte sie denn reden was sie wollte! Es war eine Wonne, sie anzusehen und neben ihr zu gehen, hin und wieder ganz leicht ihr Kleid zu streifen und sich so nahe herunterzuneigen, daß man den schwachen feinen Duft ihres Haars einzuatmen vermochte. Noch viel entzückender mußte es freilich sein, den schönen Mund, der so ernste Dinge verhandelte, mit unzähligen Küssen zu schließen – Georges dachte sich das zu seinem Trost aus, während er ein paar Phrasen zur Antwort murmelte, bei denen er sich nichts dachte. Ilse erwiderte darauf auch nichts, sondern zuckte nur leicht die Achseln.

Es half ihr aber nichts, sie mußte sich richtig noch bis zu ihrem Gasthof von diesem unternehmenden Offizier begleiten, sich von ihm ausdrucksvoll die Hand oberhalb des Handschuhs küssen lassen und ihm allerlei Fragen beantworten, die ihm sehr am Herzen lagen ... wann er hoffen dürfe, sie wiederzusehen, ob sie bald wieder nach St. kommen würde, ob sie beim nächsten Besuch in „Perle“ von neuem die Grausamkeit besitzen könnte, unsichtbar zu bleiben und so fort. Sie antwortete kurz und verpflichtete sich zu nichts, ließ alles unbestimmt und schob, wie er in stiller Empörung schon geahnt hatte, wiederum die kranke Mutter vor. Im übrigen behauptete sie, große Eile zu haben, um noch vor Einbruch der Dunkelheit daheim zu sein; er konnte sich ihr nur noch nützlich erweisen, indem er den Kutscher zur Eile antrieb und das Aufstapeln der verschiedenen inzwischen eingetroffenen Pakete und Schachteln in den Wagenecken beschleunigte. Darauf hatte er noch das bittersüße Vergnügen, das schöne Mädchen in den Wagen zu heben und den Schlag zu schließen, von dem er in ehrerbietigster Haltung, die Hacken aneinander, zwei Finger am Mützenrand, zurücktrat. Noch eine leichte Neigung des Köpfchens, und die Stelle, wo eben noch der Wagen gestanden hatte, war leer. Das „süße Geschöpf“ war fort!

Die Pferde, welche Philipp fuhr, den Baron Doßberg als Kutscher beibehalten hatte, waren edle mutige Tiere und erinnerten an die früheren guten Zeiten auf „Perle“. Philipps Kutscherherz lachte vor Freude, wenn er sie im Zügel hatte, obgleich es ihm immer noch einen Stich gab, daß sie nicht mehr seinem alten Herrn gehörten, sondern diesem „neuen“, den eigentlich kein Mensch auf dem Gut bisher so recht zu Gesicht bekommen hatte und der doch mit seinem Gelde, mit seiner Macht bereits unsichtbar über allem schwebte.

Die Luft ging kühl und frisch, die Straße war staubfrei, der leichte Wind sog rasch den eben gefallenen Regen auf. In die Kissen zurückgelehnt, ließ Ilse die Luft über ihre halbgeschlossenen Augen hinwehen; sie dachte gar nicht mehr an Georges von Montrose, die Begegnung mit ihm hatte ihr keinen Eindruck gemacht. Nur ein Satz, den er ausgesprochen, war ihr im Gedächtnis hängen geblieben, den hörte sie immerfort – es war der Satz von dem regen heitern Verkehr, den es nun bald zwischen Haus Doßberg und Haus Montrose geben sollte. Würde sie sich dem immer entziehen können? Gebot es nicht die Rücksicht auf ihren Vater, daß sie diesen Verkehr aufrecht hielt? Wenn sie aber daran dachte, dann kam die alte heiße Angst wieder und griff ihr ans Herz. Sie beugte sich im Wagen vor und fing ein Gespräch mit Philipp an – nur nicht denken, nicht denken!

„Durch den Wald, gnädiges Fräulein?“ fragte der Kutscher nach einer Weile und verhielt die Pferde an einer Gabelung des Wegs.

„Ja, und wenn wir dorthin kommen, Philipp, wo der Waldweg links zum Belvedere abbiegt, dann halten Sie an! Ich steige aus und komme zu Fuß heim; es ist noch so hell, wir sind rasch gefahren, und ich möchte gern an die See. Zu Hause sagen Sie, ich folge bald!“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein!“ Und Philipp ließ den Pferden die Zügel.

Sie wollte das Meer sehen, das Meer, auf dem er zu Hause war! Dort wollte sie seinen Brief noch einmal lesen, an jener Stelle, wo sie sich ihm einst verlobt hatte – dort mußte sie ihre Ruhe, das Gleichgewicht ihrer Seele wiederfinden!

Nun trat der Wald rechts und links an die Straße heran, die sich breit und eben wie ein helles Band hindurchzog. Die Tannen standen in ernstem Grün, nur hin und wider zeigte ein Laubbaum sein buntes Kleid – goldiggelb oder rotgesprenkelt setzte es ein lebhaftes Licht in das tiefe Grün des Nadelholzes. Mit einmal aber hörten die Tannen auf; es kam die schönste Partie des Waldes, der Stolz all der Geschlechter, die auf „Perle“ gehaust – der Eichenforst, an den keine Hand gerührt hatte, seitdem der erste Doßberg den Besitz empfangen. Die Stämme standen nicht zu dicht aneinander; man hatte von Anfang Bedacht darauf genommen, daß sie sich runden, ihre Kronen ausbreiten sollten, ungehindert durch die Nachbarn. Und wahrlich, sie hatten sich ausgebreitet! Aus riesigen Stämmen reckten sich dicke knorrige Aeste gleich weit ausholenden Armen, die ihre Blätterwucht nicht fühlten, sondern sie leicht, wie den schönsten Schmuck, emporhoben und in den Lüften wiegten, wenn der Wind kam und in ihnen sang. Jahrhunderte hindurch hatten diese Wipfel gebraust, sich höher und höher reckend, nun bildeten die herrlichen Kronen ein einziges undurchdringliches Dach, das dem Regen stand hielt, kaum einen [176] vereinzelten Sonnenstrahl durchließ und in der heißesten Sommerzeit köstlich kühlen Schatten gewährte. Heute webte ein sanftes Halbdunkel um die knorrigen Stämme und Dämmerung umfing das einsame Mädchen, das jetzt lautlos über den weichen Waldboden schritt. Schauernde Andacht hatte Ilse schon als Kind gefühlt, wenn sie vor langen Jahren an des Vaters Hand in diesen Wald eingedrungen war. Baron Doßberg war glücklich, wenn er seinem kleinen Mädchen den Eichenforst zeigen konnte, auf den er unsagbar stolz war. Betrat er, sein Töchterchen an der Hand, diesen seinen geliebten Wald, dann flossen ihm die Ueberlieferungen seines Hauses gleichsam ungewollt von den Lippen, und er berichtete der lauschenden Kleinen davon, lange ehe ihr Verständnis seinen Erzählungen zu folgen vermochte. So knüpften sich für Ilse an diese Eichen Dinge, die wie halbverklungene Sagen, wie seltsame Märchen aus ferner, ferner Zeit zu ihr herüberschallten.

Nun hörte sie es wieder wie schon zu hundert Malen, das stolze Wipfelbrausen über ihrem Haupt, und gewahrte aufschauend das unablässige Regen der Blätter, das majestätische Wiegen der weit ausladenden Aeste. Hierher hatte sie Albrecht Kamphausen damals geführt, und der alte Eichwald, der Anblick des Meeres hatten ihm das Geheimnis seines Herzens entrissen, das er fürs erste noch hatte bewahren wollen.

Je näher man der See kam, um so mehr lichtete sich der Eichenbestand; nur vereinzelte Ausläufer der herrlichen Bäume standen hier noch gleich Vorposten verstreut. Der Wind wehte jetzt vom Meere her und hatte an Heftigkeit zugenommen. Ilse mußte fest ausschreiten und sich ein wenig vorneigen, um gut vorwärts zu kommen. In die Stimmen des Waldes mischte sich schon das Gebrause der See ... einmal war es dem jungen Mädchen, als habe sie das Schnauben eines Pferdes vernommen, aber das mußte Täuschung sein, Philipp war ja seit mehr als einer halben Stunde nach der entgegengesetzten Richtung verschwunden.

Ilse erstieg noch nicht die Stufen, die zu dem kleinen Ufertempel hinaufführten; von der Anhöhe, auf welcher sie stand, hatte man denselben Blick wie dort vom Belvedere. Gefesselt blieb das junge Mädchen neben einer schlank aufragenden Buche stehen. Blutrot hing der Sonnenball am Rand des Horizontes, bereit, ins Meer hinabzutauchen, das sich bleigrau dehnte; nur dort, wo die Sonne hinunterwollte, färbte sich das Wasser wie flüssiges Kupfer, und am Strande schäumten die Wellen weiß auf und warfen schneeigen Gischt bis in die Grasbüschel und kümmerlichen Gesträuche, die sich höher hinauf am Sande festgeklammert hatten. Die Brandung donnerte zornig, und unruhig fuhren die Möven drüber hin, ihren schrillen Schrei in den tiefen allgewaltigen Klagelaut des Meeres mischend. Tief auf atmete Ilse. Ihr Auge hing an dem Glutball da drüben der eben mit seinem äußersten Rande die Wasserfläche berührte. Wie sie es liebte, das weite Meer, das seine Heimat war! Ihr Fuß hob sich, um weiterzugehen, und ihre Hand griff in die Tasche des Kleides, um Albrechts Brief hervorzuziehen, als von dem nächsten Baum eine Gestalt sich loslöste und fürs erste stumm, den Hut in der Hand, mit ehrerbietigem Gruß auf sie zukam.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 12, S. 189–192

[189] Ilses Fuß blieb am Boden haften, und sie sah Herrn von Montrose an wie eine geisterhafte Erscheinung. Und doch lag nichts Furchterregendes in dessen Aussehen, durchaus nichts. Sein feines schmales Gesicht war blaß, sein melancholischer Blick hatte nichts Aufgeregtes, sondern traf das junge Mädchen mit einer Art stiller Bewunderung, wie wenn er sagen wollte: ich muß Dich schön finden, obschon ich weiß, daß Du nicht für mich bist! „Guten Abend, Baroneß!“ sagte seine angenehme, ein wenig bedeckte Stimme. „Ein seltsames Zusammentreffen!“

Ilse neigte nur wie zur Bestätigung seiner Worte den Kopf.

„Ich war auf ‚Perle‘,“. setzte er seine Erklärung fort, „habe im Schloß nachgesehen und bin dann lange mit Ihrem Herrn Vater umhergefahren. Er hat mir vieles gezeigt, vieles erklärt – es ist eigentlich beschämend für mich, so alt geworden zu sein, ohne auch nur die oberflächlichsten Kenntnisse über den Landbau erworben zu haben. Aber der Baron ist ein guter Lehrmeister, hier zumal, wo er jeden Fußbreit Erde kennt. Er wünschte, noch in Belten zu bleiben, und ich fuhr allein hierher, ich wollte so gern ein paar Atemzüge Meeresluft mitnehmen in die dumpfe Stadt!“

„Kommt mein Vater auch hierher?“ fragte Ilse unsicher.

„Nein! Er hatte noch zu thun und wollte sich dann ein Pferd geben lassen und geradeswegs von Belten heimreiten.“

Sie antwortete nichts darauf, ihr Blick irrte von ihm fort und wandte sich der Sonne zu, die rasch sank. Bis zur Hälfte schon war die strahlende Kugel ins Meer untergetaucht, sie zeigte ein unheimliches düsteres Rot, das in den Wellen verzitterte und dem tiefhängenden Gewölk einen fahlen Feuerschein gab.

„Sie waren in der Stadt, Baroneß?“ begann Montrose von neuem.

[190] „Ja, ich hatte dort zu thun. Mein Vater machte Schwierigkeiten wegen der Pferde –“

„Ich bitte Sie, Baroneß, kein Wort davon – Sie bringen mich in Verlegenheit! Ihr Vater weiß, und Sie müssen es auch wissen, daß Sie schalten und walten können auf ‚Perle‘ wie in frühereu Zeiten!“

Sie hätte ein paar Worte der Anerkennung hierauf erwidern müssen, aber sie that es nicht. Sie wollte sich ihm verleiden, ganz verleiden, damit er in Zukauft absichtlich ihre Nähe meide wie sie die seinige. Mochte er sie für hochmütig und abstoßend halten – mochte er!

„Wie geht es Ihrer Frau Mutter?“ kam von neuem seine gedämpfte Stimme an sie heran – sie empfand die Stimme wie etwas Körperliches.

„Papa wird es Ihnen gesagt haben – es geht nicht gut, sie ist still und teilnahmlos. Aber am ersten schönen Tag bringen wir sie fort und ziehen selbst hinüber ins Verwalterhaus.“ Sie setzte das letztere hastig hinzu, als ob seine Frage nur diese Deutung haben könnte.

„Es eilt mir nicht damit, ins Schloß zu kommen,“ sagte er ohne jede Empfindlichkeit.

„Aber die Ihrigen werden es wünschen. Ich sprach Ihren Sohn in der Stadt – er schien Gewicht darauf zu legen, bald nach ‚Perle‘ herauszukommen.“

„So? Schien er? Schon möglich! Er hat indessen abzuwarten, bis ich den Tag zur Uebersiedlung bestimme! Bis vor kurzem hatte er nicht die geringste Neigung für den Landaufenthalt.“

„Er hat mir nicht gesagt, daß ich Sie hier finden würde.“

„Er hat es gar nicht gewußt. Unsere Wege trennen sich oft.“ Es klang so einfach, doch war der doppelte Sinn nicht mißzuverstehen. „Wollen wir zum Belvedere hinauf, Baroneß? Man sieht von dort oben noch besser, und die Sonne wird gleich hinunter sein.“

Sie hätte gern Nein gesagt. aber wie konnte sie das, ohne geradezu ungezogen zu sein? Nur als er ihr die Hand bot, um ihr beim Ersteigen der unbequemen Steinstufen behilflich zu sein, zuckte sie zusammen und wich zurück.

Herr von Montrose blieb stehen und sah sie an. „Sie schrecken vor mir zurück, Baroneß, als wenn ich Ihnen ein Leid anthun wollte!“ sagte er. „Sie müssen ein starkes Vorurteil gegen mich haben. Freilich, ich mag Ihnen schon zum voraus verleidet gewesen sein, weil ich es bin, der Ihren Varer, Sie alle gewissermaßen aus Ihrer Heimat vertreibt. Oder“ – er zögerte einen Augenblick – „ist es etwas anderes, was Ihr Gefühl gegen mich wachruft? Denn eine Antipathie ist da – das werden Sie nicht leugnen wollen!“

„Das – das ist nicht das richtige Wort,“ begann Ilse stockend; dann verstummte sie hilflos. Was sollte sie zu diesem Mann sprechen, wie ihm erklären, was ihr selbst bis zur Stunde noch unerklärlich geblieben war? Konnte sie ihm sagen: „Ich fühle mich durch Dich angezogen und abgestoßen zu gleicher Zeit – Dein Bild, die Erinnerung an Dich haben mich fort und fort begleitet, obschon ich alles dazu that, beides zu verbannen; Deine Gegenwart macht mich innerlich unfrei und willenlos, mir ist, als gehörte ich nicht mehr mir selbst an, wenn Du da bist, als hättest Du über mich zu bestimmen und ich müßte Dir gehorchen“ – konnte sie dem fremden Mann, mit dem sie heute zum zweitenmal in ihrem Leben ins Gespräch gekommen war, das sagen? Schattenhaft, blitzgleich flogen diese Gedanken an ihr vorüber, auch die Erwägung, wie es wäre, wenn sie ihm von ihrem Verlöbnis mit Albrecht Kamphausen Mitteilung machte. Ob ihr dann nicht leichter ums Herz würde, ruhiger? Vielleicht! Aber ihm, dem Fremden, zuerst ein Geheimuis anvertraueu, das ihre eigenen Eltern noch nicht wußten, noch nicht wissen durften? Wie würde er ein solches Geständnis aufnehmen? Was sollte er überhaupt damit? Von Antipathie hatte er gesprochen, sie hatte ihm erwidert, das sei nicht das richtige Wort und das war es auch nicht – aber fand sie das richtige Wort? Kannte sie es?

„Also nicht Antipathie! Was ist es sonst?“ hörte sie ihn fragen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihm voll ins Gesicht. „Ich weiß es nicht! Ich muß Ihnen launenhaft erscheinen und undankbar – aber ich kann nicht anders sein!“ Und während sie das sagte, fühlte sie wieder dies grenzenlose Mitleid mit ihm, da er sie ansah mit seinen traurigen entsagenden Augen, die es aufgegeben hatten, das Glück zu suchen.

Es ließ sich schwer etwas entgegnen auf das, was sie gesagt hatte. Herr von Montrose entgegnete auch nichts, sie schwiegen beide und hatten es vergessen, daß sie den kleinen Tempel ersteigen wollten. „Sehen Sie,“ sagte dann Herr von Montrose plötzlich, „die Sonne ist hinunter!“

Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, leuchtete es auf wie eine zuckende Flamme; die rote Glut in den Wolken erblaßte rasch – ein blasses Gelb färbte den westlichen Horizont.

„Ich muß gehen,“ sagte Ilse und wandte sich um. „Es ist die höchste Zeit!“

„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Baroneß? Sie kommen vor Dunkelwerden nicht mehr nach Hause!“

„Um keinen Preis! Ich danke! Ich finde den Weg auch im Finstern – ich gehe rasch.“

„Sie können es von keinem Mann verlangen, daß er eine Dame zu dieser Zeit ohne Schutz durch den Wald gehen läßt! Da fängt es auch wieder zu regnen an. Sie gestatten.“ Er nahm ihr den leichten grauen Mantel ab, den sie über dem rechten Arm trug, und legte ihn sorgsam um ihre Schultern, darauf zog er eine kleine Pfeife hervor und setzte sie an die Lippen. „Das Zeichen für meinen Kutscher, er muß hier in der Nähe sein; wir müssen bis zum Ausgang der Lichtung gehen.“

Ilse mußte sich fügen. Es half ihr nichts, daß sie ihren Einfall verwünschte, das Meer sehen zu wollen, es half ihr auch nichts, daß sie die Hand in ihre Tasche schob und sie auf dem Brief ruhen ließ, wie wenn er ein Zauber wäre, der sie schützen würde – der Aufruhr in ihr legte sich nicht. Und auch die Natur schien entfesselt. Sturm und Regen entluden sich mit voller Gewalt, Windstöße gingen über den Wald hin, daß die Bäume ächzten. Ilse fühlte sich von der Hand ihres Begleiters ergriffen und vorwärts gezogen. Wie damals auf der dunklen Wendeltreppe, so spürte sie auch heute, wie von dieser Hand, in der die ihrige lag, etwas ausging gleich einem starken elektrischen Strom, dem sie völlig unterthan war. Jetzt versuchte sie nicht mehr, sich frei zu machen, sich zu sträuben; sie ging willenlos mit.

Am Ende der Lichtung wartete Herrn von Montroses Wagen. Der englische Kutscher hatte vorsorglich das Verdeck aufgeschlagen er war mit einem Satz vom Bock herunter, als er seinen Herrn kommen sah, und half ihm und der jungen Dame gewandt beim Einsteigen. Ilse lehnte mit halbgeschlossenen Augen in der Wagenecke und atmete durstig den herben Duft des nassen Laub- und Nadelholzes. Ihr Begleiter deckte eine weiche bunte Decke über ihre Knie, sie fühlte seinen Blick, ohne ihn anzusehen.

„Nach ‚Perle‘, so rasch die Pferde können!“ rief Herr von Montrose, und mit schwindelnder Eile ging es vorwärts. Das Rauschen des Regens, das Sausen des Windes in den Bäumen und der harte Hufschlag der Pferde auf dem festen Wege machten jedes Gespräch zur Unmöglichkeit. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, fuhren die Zwei durch den stürmenden herbstlichen Wald.




12.

Nun lag die „Perle“ tief eingebettet im Schnee. Der Winter hatte die Menschen seinen Ernst fühlen lassen. Zu Anfang Dezember schon hatte der Frost eingesetzt, ein steifer Nordost wehte fort und fort, machte den Boden steinhart, hing ganze Tropfsteingebilde aus Eiszapfen überall an und trieb den Leuten die hellen Thränen in die Augen. Eine bleiche Wintersonne sah vom Himmel herab; die Luft „schnitt“ förmlich, so kalt war sie. Die Wälder standen im Rauhreif, silberfunkelnd. blitzend, und das Meer fror ein großes Stück weit zu, kaum konnte man vom Ufer her mit unbewaffnetem Auge den feinen dunklen Streifen erkennen, der das offene Wasser anzeigte. Seit langen Jahren hatte sich dies Ereignis an der Küste nicht vollzogen; von nah und fern strömten die Menschen herbei, das seltene Schauspiel zu genießen.

Endlich war dann der Schnee gekommen, der langersehnte Schnee; er deckte weiche Polster auf Wiesen und Hecken und wickelte den Wald dicht ein in undurchdringliche Flockenwirbel. Als der wilde Tanz vorüber war, da hielt jedes Zweiglein und jedes Aestchen seine Schneelast fest, und der Eichenforst war wie ein riesiger Eispalast anzusehen.

Jetzt stand das Weihnachtsfest vor der Thür.

Längst waren die neuen Besitzer von „Perle“ eingezogen in das neu ausgestattete Schloß. Zu Clémence von Montroses Aerger [191] prangte aber immer noch das Wappenschild der Doßbergs, die Perle in der offenen Muschelschale, über dem Portal anstatt der Rose, die das Abzeichen der jetzigen Eigentümer bildete. Sie hatte ihren Vater darauf aufmerksam gemacht und ihn gefragt, ob es möglich sei, daß er eine so wichtige Sache übersehen habe. Die Antwort hatte gelautet, das sei durchaus nicht der Fall, es solle aber fürs erste alles beim alten gelassen werden. Mit diesem Bescheid mußte sie sich begnügen, und das Wappen blieb, wo es war.

Längst auch war die Familie Doßberg in das Verwalterhaus übergesiedelt. Es war ein hübscher Bau; aus dem Schloß hatte man alles mit herübergenommen, was die Zimmer irgend geschmackvoll und wohnlich gestalten konnte, und so war ein Ganzes hergestellt worden, das entschieden einen anheimelnden Eindruck machte, aber das Behagen trotzdem nicht auf die Bewohner übertrug. Die Baronin hatte sich in der ersten Zeit nach dem Umzug anscheinend ein wenig erholt. Ihre Lebensgeister flackerten wieder auf, sie hatte besseren Appetit, gewann mehr Kräfte und zeigte neues Interesse am Wohl und Wehe ihrer Umgebung. Ilse war fast immer um ihre Mutter, nur selten gestattete sie, daß die getreue Lina sie ablöse. Aus dem Lawn Tennis-Spiel im Herbst und dem regen Verkehr von Haus zu Haus, den Lieutenant Georges von Montrose so lebhaft gewünscht hatte, war fast nichts geworden. Nur der alte Herr von Montrose hatte das junge Mädchen öfters erblickt. Er kam ziemlich häufig nach dem Verwalterhause herüber, seiner vielen eingehenden Besprechungen mit Doßberg wegen; es war zartfühlend von ihm, seinen Administrator in dessen Haus aufzusuchen, anstatt ihn zu sich nach dem Schloß zu entbieten, wo jeder Schritt den Baron an eine schönere Vergangenheit mahnte.

Es hatte sich eine Art von Freundschaft zwischen den beiden Männern gebildet, freilich eine seltsame Freundschaft. Nie streiften die langen Unterredungen, welche sie miteinander führten, das Gebiet persönlicher Erlebnisse, persönlichen Empfindens; streng sachlich wurde nur das abgehandelt, was zum Wohl und Gedeihen des Gutes erforderlich war, allein es konnte nicht vermieden werden, daß hier und da eine Ansicht über allgemein wichtige Dinge, über die Behandlung der Landbevölkerung, über Politik und volkswirtschaftliche Fragen im Gespräch auftauchte; dabei mußte notwendig einer des anderen Sinnesart, ein Stück seiner Lebensauffassung kennenlernen, und es ergab sich manches Gemeinsame. Dazu kam noch, daß Herr von Montrose das tiefste Mitgefühl für den Baron hatte und auf jede Weise bemüht war, dessen Stellung angenehm zu gestalten; und Doßberg hätte undankbar sein müssen, wenn er nicht den feinen Takt, das fast ängstliche Bemühen Montroses, nie den Herrn zu zeigen, wohlthätig empfunden hätte.

Indessen verlor der Baron dennoch keinen Augenblick das Gefühl seiner Abhängigkeit. Er konnte keine Ausfahrt, keinen Ritt durch die Felder unternehmen, ohne zu denken: vor einem halben Jahr noch war dies alles dein Besitz; er konnte das Aufblühen und Gedeihen des Gutes nicht sehen, ohne sich zu sagen: all das würdest du für dein Eigentum gethan und es dir erhalten haben, wenn du nur über die Mittel verfügt hättest! Jetzt hebst du mit fremdem Gelde das Gut deiner Väter für einen Fremden wieder empor! Oft, wenn er heimkehrte von seinen langen Ritten und Philipp ihm das Pferd abgenommen hatte, lenkte er in Gedanken seine Schritte auf dem altgewohnten Weg dem Schlosse zu, bis es ihm angesichts des Portals einen Ruck gab. „Geh’ hin, wohin du gehörst! Du hast hier nichts mehr zu suchen, bist nichts mehr als der bezahlte Verwalter!“ Dann kam er mit trüben Augen, gesenkten Hauptes bei den Seinen an; er vermied es dann, seine kranke Frau aufzusuchen – die bekam immer nur sein freundliches Gesicht, sein Lächeln, das freilich kein richtiges Lächeln war, zu sehen. Aber seine Ilse, seine schöne kluge Tochter, die war seine Vertraute geworden und obgleich er auch vor ihr nicht klagte, so brauchte er doch hier keine Maske zu tragen, durfte sich nicht den Zwang des Redens auferlegen. Stumm strich er ihr mit der Hand über das Haar, stumm und aufmerksam trug sie ihm sein Frühstück auf, bediente ihn und sorgte dafür, daß er wirklich aß und trank, und wenn sie es für erlaubt hielt, dann plauderte sie auch mit ihm, erzählte von ihrer Lektüre, von den häuslichen Einrichtungen, von Mama, der es doch wieder ein wenig besser gehe, und war froh, wenn er auf das Gespräch einging. Sobald aber der Baron einmal unerwartet Herrn von Montrose um die Frühstückszeit mitbrachte, war Ilses Unbefangenheit dahin. Sie mußte selbstverständlich den Gast begrüßen und für das Behagen der Herren sorgen, aber sie kürzte beides soviel als thunlich. Mit scheuen, bang umherirrenden Augen saß sie den beiden Herren gegenüber, stockend und unfrei kamen die Worte über ihre Lippen, so daß ihr Vater sie einmal gefragt hatte, ob sie etwas gegen Herrn von Montrose habe – dazu liege doch bei dessen rücksichtsvollem Benehmen durchaus keine Veranlassung vor.

Von Albrecht Kamphausen hatte Ilse seither noch einen Brief erhalten, aus Schanghai datiert, voll von Liebe und Sehnsucht, von so großer ungestümer Sehnsucht, daß sie beim Lesen in heiße Thränen ausgebrochen war. Ach, warum mußte er so fern sein, warum war er nicht da, sie zu schützen! Sie hatte ihm keine jener dunklen Andeutungen mehr geschrieben, die ihm damals so befremdlich erschienen waren, hatte sich gezwungen, mutig und vertrauensvoll zu ihm zu sprechen, wie er es liebte, aber bitter und schmerzlich empfand sie es, auch hier sich verstellen zu müssen, ihm gegenüber, mit dem sie eins sein sollte für das ganze Leben.

Das Weihnachtsfest sollte mancherlei bringen. Im Schloß wurden Vorbereitungen zu einem großen Fest getroffen, das am ersten Feiertag stattfinden sollte. Die Montroses hatten in der ganzen Umgegend Besuche gemacht, und nun war die gesamte Nachbarschaft schon wochenlang zuvor feierlich eingeladen; es sollte gleichsam ein Einführungsfest sein, das die neu Angesiedelten den übrigen Grundbesitzern näherbringen würde. Clémence hatte diesen Gedanken gehabt und seine Ausführung nicht ohne einige Mühe bei ihrem Vater durchgesetzt; sie hatte sich dann völlige Freiheit für ihre Anordnungen erbeten und traf nun großartige Vorbereitungen. Täglich fiel ihr etwas Neues ein, das verschrieben und angeschafft werden konnte, ihre Feder war in beständiger Bewegung. Man sollte staunen, was die Montroses für Feste auszurichten verstanden! Besaß man einmal ein altes feudales Rittergut, dann mußte man es auch zu Ehren bringen; jetzt sollte die „Perle“ erst ihren wahren Glanz bekommen! Es war selbstverständlich, daß Georges und Botho zum Fest herüberkamen; sie hatten einen ausgiebigen Urlaub bewilligt erhalten, und Clémence war glücklich, den Bräutigam, der sich nicht oft im Schlosse sehen ließ und ganz merkwürdig kurze Briefe schrieb, endlich einmal auf längere Zeit bei sich zu haben. Herr von Montrose kümmerte sich um alle diese Dinge nicht, sonst würde er dafür gesorgt haben, daß die Vorkehrungen weniger prahlerisch und prunkend ausgefallen wären. Er sah nur sorgsam die Liste der Einzuladenden durch und war sehr befremdet, Baron Doßberg und seine Tochter nicht vermerkt zu finden; er fügte den Namen sofort mit seinem Taschenbleistift bei. Auf Clémences verlegene Ausrede, die würden ja doch der Kranken wegen nicht kommen, entgegnete er mit gelassener Bestimmtheit, er selbst werde alles dazu thun, den Baron zum Erscheinen auf dem Feste zu bewegen, schon um der Nachbarschaft den Beweis zu liefern, welcher Art sein Verhältnis zu dem früheren Eigentümer der „Perle“ sei. Daran knüpfte sich die für Clémence nicht neue Mahnung, den Bewohnern des Verwalterhauses stets die größte Rücksicht angedeihen zu lassen, eine Mahnung, die sie äußerlich mit Ruhe entgegennahm, gegen die sie aber im stillen um so schärfer Widerspruch einlegte. Was Papa wohl einfiel, mit dieser Gesellschaft so besondere Umstände zu machen, als ob es Prinzen von Geblüt wären! Dieser alte Doßberg trug den Kopf immer so stolz im Nacken, als hätte er seine „Perle“ bloß aus Gnade einstweilen hergeliehen und der „Baroneß“ mit ihrer koketten Schönheit hätte so ein kleiner Denkzettel vollends nichts geschadet. Aber in dem Punkt verstand Papa keinen Spaß, das wußte Clémence und sie hatte allen Grund, ihn günstig zu stimmen. Denn wenn Papa nicht wollte, bekam sie Botho nicht, und um Botho zu bekommen, mußte man erst seine Schulden bezahlen, deren er, wie der zartfühlende Georges einmal der Schwester verraten hatte, „schauderhaft viel“ besaß. Clémence mußte sich also fügen, um so mehr, als sie bei Georges mit Klagen über den „Bettelbaron“ und seine Tochter schon gar nicht ankam. Georges war noch immer bis über beide Ohren vernarrt in das „süße Geschöpf“, zumal der stillschweigende Widerstand Ilses auf den verwöhnten Frauenliebling immer neuen Reiz ausübte. Und Botho? Botho hörte als galanter Bräutigam geduldig zu, wenn Clémence ihrem Groll über „Papas Schwäche“ Luft machte, aber als sie ihn einmal geradezu fragte, ob er denn auch diese Ilse von Doßberg so überwältigend schön finde, da hatte der Lieutenant von Jagemann nur mit großem Ernst und [192] großer Ueberzeugung das eine Wort: „Entzückend!“ ausgesprochen, und Clémence hatte das Thema ein für allemal aufgegeben. –

Heute, am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember, war Baron Doßberg im Schlitten nach St. gefahren, um seinen Sohn heimzuholen. Während der Herbstferien war Armin in der Stadt geblieben, da sein Schulzeugnis stark zu wünschen übrig ließ; auch hegte er einen ganz unbezähmbaren Grimm gegen Herrn von Montrose und dessen Familie, so daß zu befürchten stand, der heißblütige Junge möchte sich bei etwaigen Begegnungen zu unartigem Betragen hinreißen lassen. Jetzt hatten die wilden Wogen seiner Empörung sich ein wenig gemildert, seine letzten Briefe lauteten merkwürdig verständig, er sprach von „heilsamen Entschlüssen“, die er gefaßt, von „definitiver Entscheidung“, welche die nächste Zeit bringen müsse, vom „Wohl und Weh seiner Zukunft“, das er den Seinigen demnächst warm ans Herz legen wolle, und so ließ man ihn denn zum Feste nach Hause kommen, zumal auch die kranke Baronin den Wunsch geäußert hatte, den einzigen Sohn wiederzusehen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 13, S. 215–219

[215] In dem Zimmer, das neben dem der Kranken lag, war Ilse damit beschäftigt, einen Weihnachtsbaum zu schmücken; ihr war wenig danach zu Mut, allein die Mama hatte es gewünscht, und Armin, der in Ilses Augen immer noch ein Kind war – eine Bezeichnung, die ihn jedesmal mit gerechter Entrüstung erfüllte – mußte doch auch seinen Christbaum haben: Herr von Montrose hatte am Abend zuvor seinen Diener mit einer herrlichen Tanne herübergeschickt. Während Ilse Silberketten und kleine Wachsengel mit schimmernden Flügeln an die grünen Aeste hing, gedachte sie der früheren Weihnachtsfeste – wie anders noch im vorigen Jahr alles gewesen war! Und wie würde es im kommenden sein? Wo war Albrecht heute? Feierte er an Bord wohl auch Weihnachten? Ihr fiel ein, daß sie selbst morgen in große Gesellschaft müsse, und ein Schauer ergriff sie. Der Vater forderte es von ihr, auch er brachte ein schweres Opfer, indem er die Einladung annahm, aber er hatte gesagt, er sei das Herrn von Montrose schuldig, der ihrer beider Erscheinen als einen persönlichen Freundschaftsdienst von ihm gefordert habe. Es war das erste Mal, daß der zurückhaltende Herr einen solchen Ausdruck gebraucht hatte – Doßberg hatte sich gefügt und verlangte von der Tochter dasselbe. Ilse that einen langen bebenden Seufzer. Nun, gottlob, es würden viele Menschen versammelt sein, der Hausherr würde keine Zeit finden, sich um sie zu kümmern, sie konnte unbeachtet unter den übrigen Gästen verschwinden.

Da, horch! Schlittengeläute! Sie ließ die Hände sinken und lauschte. Konnten sie das schon sein? Freilich konnten sie – die Pferde waren gut, die Bahn wundervoll – gewiß waren sie es! In Ilses Herzen regte sich ungestüm die geschwisterliche Liebe zu dem „Jungen“, mit dem sie seit frühesten Kindertagen redlich alles geteilt hatte – sie ließ ihren Tannenbaum im Stich und lief, der Kälte nicht achtend, so wie sie ging und stand, durch das kleine Vorzimmer über den Flur, durch die Hausthür die drei Stufen hinunter. Da stand sie, zog ihr Tuch heraus und winkte. „Willkommen, willkommen!“

„Ilse, willst Du hinein! Bei der Kälte, in dem Schnee!“ [216] rief Baron Doßberg vom Schlitten herunter und unterstützte seine Worte durch eine höchst nachdrückliche Gebärde. Aber Ilse schüttelte den Kopf und lachte ihn an. „Was soll mir das schaden! Laß doch, Papa – das bißchen Kälte! Ich geh’ sofort hinein, sowie ich erst den Jungen – da hab’ ich ihn schon!“

Armin hatte die Pelzdecken weggeschleudert, war mit einem Satz vom Schlitten herunter und warf sich ungestüm an den Hals der Schwester. Die Stimme, mit der er sie begrüßte, hatte einen verdächtigen Klang. Inzwischen hatte sich Doßberg ebenfalls aus den Decken geschält und schob nun seine Kinder, die einander noch umfaßt hielten, nachdrücklich gegen die Hausthür. „Hinein mit Euch! Ilse, Du kannst ja den Tod davon haben!“

„Warum nicht gar, Papa! Höchstens den Schnupfen!“

Das sagte sie schon im Hausflur, wo sie sich dicht vor Armin hinstellte und ihn musterte. „Sieh’ ihn Dir an, Väterchen! Das Kind ist so groß wie ich – es dauert kein Jahr, dann ist es mir über den Kopf gewachsen! Und was ist dies? Komm doch näher zum Fenster, es ist so dämmerig hier - wahrhaftig, das Kind kriegt Anlage zu einem Schnurrbart!“

„Na, aber bedeutend!“ Armin pflanzte sich herausfordernd vor Vater und Schwester hin und wirbelte um Daumen und Zeigefinger der rechten Hand unternehmend an etwas herum, das vorläufig bloß als Schatten auf seiner Oberlippe saß. „Uebrigens, Ilse, wenn Du mir immer noch mit dem ‚Kind‘ kommst ... das muß nun doch ’mal ein Ende nehmen!“

„Wollen sehen, wie Du Dich benimmst, mein Sohn! Nicht da hinein! Mama schläft eben, Lina sitzt bei ihr und wird es uns sofort melden, wenn Mama wach ist. Einstweilen kommt in mein Zimmer! Du auch, Papa! Ich mache Euch auf der Spiritusflamme einen steifen Grog nach der kalten Fahrt – Armin, verträgst Du denn so etwas auch?“ Dieser beantwortete die Frage nur mit verächtlichem Blick und mitleidigem Achselzucken; Ilse lachte laut auf – angesichts des Bruders fühlte sie ihren alten Frohsinn wieder erwachen. Sogar über Herrn von Doßbergs trübes Gesicht ging ein Lächeln, als er den Geschwistern zusah, wie sie Arm in Arm in Ilses Zimmer traten. Es war bedeutend kleiner als das frühere im Schloß, auch fehlte ihm die imposante Höhe, der stolz geschweifte Fensterbogen, die schöne Stuckarbeit der Decke, was alles dem Raum drüben etwas so Vornehmes gegeben hatte. Hübsch war’s aber dennoch, dies Mädchenstübchen mit seinen hellgeblümten Möbeln und Vorhängen, den vielen Blumen, dem leise flötenden Kanarienvögelchen im Käfig. Ilse zog Armin an der Hand hinter sich her. „Ist’s nicht allerliebst hier bei mir?“

Er machte eine finstere Miene, ließ den Blick rundum schweifen, schaute zur Decke empor, trat dann ans Fenster und sah zu dem alten Schloß hinüber, dessen graues Gemäuer deutlich durch die entlaubten Bäume hindurchschimmerte. „Unerträglich ist das!“ rief er und ballte die Fäuste. „Unerträglich! Wie Du bloß so ruhig sein kannst – und mich noch fragen, ob’s nicht allerliebst bei Dir sei! O ja, allerliebst – meine Schwester hier im Verwalterhaus, und drüben steht unser Schloß, unser - unser - sieh mich nicht immer an!“ schloß er plötzlich wütend und stampfte mit dem Fuß auf. „Du brauchst es nicht zu sehen, daß ich heulen muß!“ Die zornigen Thränen schossen ihm aus den Augen und liefen ihm die Wangen herab, während er Ilse unsanft zurückdrängte, um sie gleich darauf wieder an sich zu ziehen. „Nein, nein - sei nicht bös, Ilse, ich bin so - einfach außer mir bin ich!“

„Wenn das nur etwas helfen könnte!“

„Helfen, helfen! So klug bin ich auch, daß ich weiß, es hilft nichts! Aber leichter wird einem doch – freilich können Mädchen das nicht verstehen. Die sind von der Natur zum Leiden und Dulden geschaffen –“

„So? Sind sie das? Eine sehr bequeme Annahme, mein liebes Kind! Wenn das wirklich die Regel sein soll, dann kann ich Dich versichern, daß es auch Ausnahmen giebt!“

„Na, Du kannst zufrieden sein - in Deinen Briefen an mich hast Du nie etwas zu klagen gehabt!“

„Wär’ mir auch von besonderem Nutzen gewesen, zu klagen! Und gar Dir gegenüber, der ohnehin schon so eine Brandrakete ist! Das hätte nur Oel ins Feuer gegossen!“

„Na, wie ist er denn?“

„Wer?“

Armin machte eine unwillige Kopfbewegung nach dem Schloß hinüber. „Du weißt ganz gut, wen ich meine! Ich kann den Namen nicht ausstehen!“

„Papa lobt ihn sehr, nennt ihn gerecht, zartfühlend –“

„Ja, das hat er mir unterwegs auch gesagt. Na, und Dü?“

„Ich hab’ ja nichts mit ihm zu thun!“

„So? Papa sagte doch, er komme ziemlich häufig hier herüber!“ Ilse schwieg. „Also? So red’ doch auch ein Wort!“

„Ach, Armin, quäl’ mich nicht!“ Ilse machte sich hastig von des Bruders Arm los. „Hörst Du nicht? Papa kommt! Nimm Dich zusammen!“ Baron Doßberg hatte inzwischen den Pelz abgelegt, jetzt trat auch er ins Zimmer; das junge Mädchen schob ihm einen Sessel hin. „Setz’ Dich, Papa!“

Der Baron ließ sich etwas schwerfällig nieder. „Dank’ Dir, mein Kind! Nun, Du hast es doch Armin bestätigt, daß es mit Mama wenigstens nicht schlechter geht?“

Sie zuckte ein wenig zusammen. „Nicht gerade schlechter, aber doch nicht so gut wie vor einiger Zeit. Da hofften wir doch –“

Doßberg schüttelte trübe den Kopf. „Ich hoffe seit lange nichts mehr!“ Er versank eine kurze Weile in sein gewöhnliches Brüten, dann hob er mit einiger Anstrengung den Kopf. „Und Deine Pläne, Armin, die Du mehrfach in Deinen Briefen angedeutet hast? Laß doch einmal hören!“

Der junge Mensch sah zu Ilse hinüber und zögerte. „Ihr müßt mir aber beide Euer Wort geben. daß Ihr Euch über das, was ich zu sagen habe, nicht ereifern werdet!“

Ein schwaches Lächeln zog schattenhaft über Herrn von Doßbergs Gesicht. „Ein bißchen viel verlangt, mein Sohn! So mit gebundenen Händen sein Wort geben - wer könnte das?“

„Ich hab’ auch mehr Ilses wegen Angst als Deinethalben, Papa! Aber Ilse ... wie ich die kenne. wird sie sich sehr ereifern, und wenn ich das dann auch thue, so steckt von vornherein die ganze Geschichte im Sumpf! Könntest Du mir nicht wenigstens Dein Wort geben. Ilse?“

„Nein, liebes Kind, selbst ich kann das nicht!“

„Dann muß es so heraus!“ Armin nahm förmlich einen innerlichen Anlauf, er schluckte ein paarmal und bewegte nachdrücklich den Kopf. als ob er sich den Nacken steifen wollte. „Sieh, Papa, Du hast Dich unterwegs gewundert - ich hab’ Dir’s angemerkt - daß ich mich gar nicht nach dem Gut erkundigt hab’, nach all den Anschauungen und Verbesserungen, die notwendig waren. Ja, ich habe die ‚Perle‘ geliebt – wie sehr, das kann ich Euch gar nicht beschreiben ... mindestens ebenso wie Papa und viel mehr als Du, Ilse – Mädchen können darin überhaupt nicht so empfinden! Aber nun, seitdem das Gut nicht mehr uns gehört, ist alles wie tot in mir, ’s ist mir rein egal, was dieser Usurpator, dieser Parvenü –“

„Armin, Du mäßigst Dich!“ fiel Baron Doßberg streng ein. „Herr von Montrose ist so rücksichtsvoll gegen mich, wie ich nur wünschen kann, überdies durchaus kein Parvenü, sondern von nahezu so altem Geschlecht wie wir.“

„Mag er – entschuldige, Papa, ich kann ihn nicht leiden, und wenn er ein Engel wäre! Er hat uns die ‚Perle‘ weggenommen, das kann ich ihm nie verzeihen. Aber ich werde nichts mehr gegen ihn sagen, da Du ihn in Schutz nimmst. Nur müßt Ihr begreifen, daß mir die ‚Perle‘ verleidet ist! Laß’ geschehen auf ihr, was da will, laß’ sie den zehnfachen Wert bekommen – sie gehört nicht mehr den Doßbergs! Ihr wißt, ich hab’ mit Leib und Leben Landmann werden wollen, aber eben als Besitzer von ‚Perle‘ und nur so. Was sollte ich jetzt als Landmann anfangen? Mich irgendwo in die Lehre geben bei fremden Menschen? Denn hier hielt’ ich es keine acht Tage aus. Und soll ich dann am Ende irgendwo als Inspektor unterkriechen mit einem lumpigen Gehalt – der letzte Doßberg? Ich thu’s nicht, und wenn die ganze Welt sich dagegen verschwört, ich thu’s nicht! Und darum“ – Armin dehnte seine Brust, als habe er sich das Herz frei gesprochen - „darum will ich einen andern Beruf ergreifen und will Seemann werden!“

Ilse zuckte zusammen bei dem Wort, Herr von Doßberg furchte die Brauen. „Und Deine Mutter?“ fragte er leise.

„Ach Gott, Mama braucht das ja gar nicht zu wissen!“ meinte Armin leichthin, in Erinnerung an das unentwirrbare [218] Netz von Unwahrheiten und falschen Vorstellungen, in das die kranke Frau seit Jahren schon eingesponnen war. „Man sagt ihr irgend ’was, wenn ich ’mal lange fort bin – landwirtschaftliche Akademie, weite Reise, kleines Erkältungsfieber, das mich am Heimkommen hindert, das findet sich schon! Aber weil ich doch minderjährig bin, muß ich Deine Zustimmung haben, Papa!“

„Wie denkst Du Dir Deine seemännische Laufbahn?“ unterbrach ihn sein Vater in etwas scharfem Ton.

„Das ist ziemlich einfach – ich hab’ mir schon alles zurechtgelegt. Mit dem Zeugnis für Oberprima komm’ ich bei der Marine an – ich hab’ ein Langes und Breites mit Onkel Erich darüber geredet. Zu Anfang war er gehörig wütend und sehr grob; der Seemannsberuf sei zehntausendmal zu schade dazu, so nebenher als Notbehelf gewählt zu werden, bloß weil’s mit der Landwirtschaft nichts werden könne, und ’n richtiger Seemann sei um fünfzig Prozent besser als ein Landwirt, und was er sonst noch so gesagt hat. Zuletzt aber, als ich gar nicht locker ließ, da hat er vernünftig geredet und mir von seinem Paten allerlei erzählt, das ist ein Kapitän Kamphausen, auch bei der Marine, führt jetzt die ‚Nixe‘, in China oder da herum. Muß ein sehr tüchtiger Mensch sein, und so einer wie der will ich auch werden. Kennst Du den Kapitän Kamphausen, Papa?“

„Sehr oberflächlich!“

„Mir ist doch so, als hättest Du mir ’was von ihm erzählt – oder war das Ilse? Na, einerlei, auf den also schwört Onkel Erich, und wenn Kamphausen zurückkommt, dann werd’ ich mich an ihn machen, und er wird mir helfen, denn das kann er, sagt Onkel Erich. So, und nun wißt Ihr es! Bist Du böse, Papa?“

Herr von Doßberg wiegte kummervoll den Kopf hin und her. In vielem von dem, was sein Sohn soeben gesprochen hatte, lag Wahrheit, er konnte sich’s nicht verhehlen. Ein Landwirt ohne Vermögen, das war eine kümmerliche Existenz! Aber nun Seemann – ein so schwieriger, so gefahrvoller Beruf! Ein solches Los hatte er, der Vater, seinem einzigen Sohn bereitet, daß dieser den Weg, den seine Vorfahren in Ehren gegangen waren, verlassen und froh sein mußte, wenn Fremde ihm „halfen“, in den neuen Beruf einzutreten! Bitter stieg es empor in dem unglücklichen Mann. Ilse strich sanft mit ihrer weichen Hand über seine Rechte, die, zusammengeballt, schwer auf dem Tisch lag. „Böse kann Papa nicht sein!“ sagte sie tröstend, aber mit etwas erzwungener Frische zu Armin, der erschrocken zu seinem Vater hinübersah. „Dazu ist er viel zu einsichtsvoll und zu gerecht; als Landmann wird er Dich selbst nicht gern sehen wollen, nachdem alles sich so anders gestaltet hat. Und wenn Dir jetzt der Beruf eines Seemanns noch am besten gefällt, so wird Papa sich gewiß allmählich in den Gedanken finden, und ich werde es auch! Nicht wahr, Papa, wir werden es beide thun? Das sind wir schließlich doch Armin schuldig, vorausgesetzt natürlich, daß er nicht wankelmütig ist und seine Pflicht thut. Und wenn Onkel Erich seine Hand über ihn hält – er hat Dir’s doch versprochen, nicht wahr?“

„Ja, und er sagte auch, falls es Papa zu schwer würde … mit den Kosten, mein’ ich … so würd’ er zusehen, ob sich nicht in seiner Tasche etwas für mich fände!“

„So ist Onkel Erich!“ Ilse nickte dem Bruder lebhaft zu „Er kann herzhaft grob werden, unausstehlich kann er sein … schließlich, wenn man seiner bedarf, ist er allemal auf dem Platz.“

„Aber die Gefahren dieses Berufs!“ warf Doßberg ein.

„Ach, Väterchen, er ist aber doch schön!“ Ilses Augen leuchteten, die Stimme klang warm und überzeugend. „Die ganze weite schöne Welt sehen dürfen, all das Neue, Fremdartige genießen, von dem andere ihr Lebtag kaum eine dürftige Ahnung durch Bücher bekommen – sein gutes Schiff sicher durchbringen durch Sturm und Wetter –“

„Ich habe gar nicht gewußt,“ sagte der Baron langsam und musterte Ilse mit prüfendem Blick, „daß mein Töchterchen ein so begeisterter Anwalt für den Seemännsberuf ist!“

„Aber recht hat sie!“ fiel Armin mit seiner heisern Stimme ein, die so drollig zwischen krähendem Diskant und wuchtigem Baß hin und herschwankte.

Inzwischen war Ilse, um ihre Verlegenheit zu verbergen, an den kleinen Seitentisch getreten; sie füllte die Gläser, mischte, prüfte, mischte wieder und trat dann vor den noch immer stumm und unschlüssig dasitzenden Vater hin. „Komm,“ sagte sie heiter und gab ihm das Glas mit der dampfenden Flüssigkeit in die Hand, „komm, Papa, stärk’ Dich! Und das erste Glas auf Armins neuen Beruf!“

Die drei Gläser klangen aneinander; mit einem leichten Kopfschütteln, aber ohne weiteren Widerspruch setzte Herr von Doßberg sein Glas an die Lippen, während Armin, in feuriger Begeisterung für die gute Sache, das seinige fast bis zur Neige leerte.

Es klopfte leise, Lina erschien auf der Schwelle. „Guten Tag, Herr Armin! Die gnädige Frau sind aufgewacht, Herr Baron, und fragen nach dem jungen Herrn!“

„Grüß Gott, Lina! Wir kommen – wir kommen sofort!“

Hinter des Vaters Rücken griff Armin nach Ilses Hand und drückte sie in seiner Dankbarkeit so „männlich“, daß das junge Mädchen fast aufgeschrieen hätte. „Bist ’n famoser Kerl. Du!“ flüsterte er anerkennend. „Hast Dich einfach großartig benommen – ich vergeß’ Dir’s nicht. Und wenn Du gelegentlich von mir ’was haben willst … na, sollst ’mal sehen!“

Die Drei schritten durch das Vorzimmer, dessen Ausstattung Armin vorhin, ganz erfüllt von seinen Seemannsgedanken, weiter nicht beachtet hatte. Es glich einem Blumengarten. Auf Tischen, Korbgestellen und in gefällig geformten Majolikagefäßen duftete und blühte es hier, am vierundzwanzigsten Dezember, wie am herrlichsten Frühlingstag. „Prachtvoll!“ rief Armin, einen Augenblick stehen bleibend, um seine Nase tief in einen ganzen Busch frischer Maiblumen zu vergraben. „Ist ja fabelhaft schön! Wo habt Ihr das her?“ Ilse that, als habe sie die Frage nicht gehört, sie ging hastig voran. „Wo habt Ihr das her?“ wiederholte Armin.

„Herr von Montrose schickt täglich Blumen aus dem Gewächshaus herüber!“ sagte Baron Doßberg.

Armin fuhr von den Maiblümchen zurück, als züngelte ihm daraus plötzlich eine Natter entgegen. Ilse winkte ihm ungeduldig. „So komm doch, Armin, Mama wartet ja!“ – 0000000000

Einige Stunden später brannten neben dem Bett der Baronin die Lichtchen des Weihnachtsbaums. Die Kranke lag still in den hochgetürmten schneeweißen Kissen, die Hände leicht ineinandergelegt, und starrte unverwandt, mit großen Augen, in den Glanz der Kerzen; in ihren weitgeöffneten Augen spiegelte der Lichtschein sich wieder. Sie sprach sehr wenig, aber sie wollte all die kleinen Gaben sehen, die Mann und Kinder einander beschert hatten, und als man sie ihr einzeln ans Bett brachte, nickte sie freundlich. Auch die weiche seidene Decke, das feine Häubchen, das buntgemalte Trinkglas, die für sie bestimmt waren, schienen ihr Freude zu machen, ihre schmale Hand strich leise über die knisternde Seide hin, ihr Mund lächelte dankbar. Armin fand die Mutter im ganzen unverändert, nur daß ihre Stimme anders klang als sonst, fiel ihm auf. Sie sprach mit einem ganz leisen müden Ton wie ein geduldiges Kind.

Armin war sehr vergnügt. Die Sache mit dem Berufswechsel hatte ihm schwer auf der Seele gelegen, jetzt aber mußte alles gut werden. Und auf vierzehn Tage frei von der Schule zu sein, war auch nicht übel! So saß er denn neben dem Bett der Mutter, erzählte allerlei drollige Schulgeschichten, ahmte seine Lehrer nach und brachte die Zuhörer mehr als einmal zu lautem Lachen. Die Lichter am Tannenbaum brannten fort, ein feiner Harzduft schwebte durch den Raum, die großen Wandspiegel warfen den Kerzenglanz leuchtend zurück, dann und wann knisterte ein Zweiglein. Baron Doßberg dachte zurück an den mächtigen Saal im Schloß, in dem sonst die drei riesengroßen Tannenbäume gestanden hatten, die langen Tafeln, die vom einen Ende des weiten Raumes zum andern reichten, belastet mit Geschenken für die Schloßdienerschaft, für die Bewohner des Dorfes. Jetzt baute ihnen ein Fremder die Gaben auf, zum erstenmal seit Jahrhunderten war es kein Doßberg! Heiß stieg es ihm in die Augen, die Lichter des Weihnachtsbaumes flimmerten vor seinem Blick. Leise kam Lina ins Zimmer, sie machte sich etwas in Ilses Nähe zu schaffen und flüsterte dabei: „Fräulein Ilse, bitte, einen Augenblick! Im kleinen Vorzimmer ist – ist – jemand!“

Der Baron sah, wie seine Tochter erblaßte, er hatte Linas Bestellung gehört; es kam ihm in seiner Stimmung gelegen, gleichfalls zu gehen. „Ein paar Minuten nur für mich und Ilse, liebste Elisabeth!“ sagte er und küßte die Hand seiner kranken Frau. „Gleich sind wir wieder bei Dir!“

Im Vorzimmer unter den Blumen stand Clémence von Montrose, in einen kostbaren Pelz gehüllt, eine viereckige polnische [219] Pelzmütze auf dem Kopf. „Ich komme als Papas Abgesandte,“ begann sie in einem Ton, der trotz einer gewissen Glätte und Verbindlichkeit nicht frei von Zwang war. „Papa wünscht so sehr, dieser erste Weihnachtsabend, fern von den Ihnen lieben Räumen, möge Ihnen nicht allzu schmerzlich sein; er bittet Sie beide durch mich nochmals, uns morgen die Ehre Ihres Besuches zu schenken, und ersucht besonders Baroneß Doßberg, diese bescheidene Weihnachtsgabe freundlichst von ihm entgegenzunehmen.“

Die Sprecherin hielt Ilse dabei ein längliches, in Papier gesiegeltes Kästchen entgegen. Es war Clémence nicht leicht geworden, diesen Auftrag „als Papas Abgesandte“ auszuführen, sie hatte sich anfangs rundweg weigern wollen. Allein Herr von Montrose besaß eine so eigene Art, solche Dinge zu verlangen und den Betreffenden dabei anzusehen, daß der Widerspruch seiner Tochter in einem unverständlichen Gemurmel erstarb, von dem er gar keine Notiz nahm. Er hatte ihr nur noch aufgetragen, jedenfalls alles wörtlich zu bestellen, und sie hatte an ihren Botho gedacht, der trotz des Weihnachtsfestes eine so gedrückte Miene aufsetzte, was jedenfalls mit Geld zusammenhing, mit Geld, das Papa schaffen mußte ... also galt es, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und zu diesen Doßbergs hinüberzugehen. Gern hätte Clémence die „bescheidene Weihnachtsgabe“, die ihr Vater der schönen Ilse verehrte, gesehen, allein Herr von Montrose hatte ihr das Päckchen versiegelt übergeben, und sie durfte nicht wagen, es ohne weiteres zu öffnen. Sicher irgend ein Schmuckgegenstand, und zwar kein billiger – Papa schenkte nichts Schlechtes. Das fehlte gerade noch, dieser hochmütigen Prinzessin solche Aufmerksamkeiten zu erweisen, damit sie noch eingebildeter wurde, als sie schon war! Wie sie sich nur jetzt wieder benahm! Wurde sie nicht abwechselnd rot und blaß und ließ sie eine ganze Weile mit dem Geschenk in der Hand dastehen, ohne es ihr abzunechmen? Und als sie es endlich that, setzte sie es nicht so eilig wieder hin, als habe sie sich daran verbrannt? Und wie sie dann dankte! So leise, so hastig, daß es kaum zu verstehen war! Und das war Ilse Doßberg, die sie, Clémence, von Georges sich beständig zum Muster aufstellen lassen mußte, die er so entzückend „schick“ fand! Benahm sich diese Prinzessin nicht so kindisch und unbeholfen wie ein Schulmädchen? Wenn Georges sie jetzt sehen könnte! Aber nein, der würde auch dies „unendlich reizvoll“ finden – die hübsche Larve hatte ihn eben bestochen!

Baron Doßberg nötigte Clémence zum Sitzen und redete ein paar verbindliche Worte. Fräulein von Montrose sah sich indessen mit erstaunten Augen um – sie war lange nicht hier gewesen bei „Papas Verwalter“, wie sie den Baron mit Vorliebe nannte; aus eigenem Antrieb kam sie überhaupt nie. Wie das hier aussah! Man saß ja im reinsten Frühlingsgarten! Soviel von den schönsten Blumen schickte Papa hierher – diese Verschwendung! Darum also hatte sie gestern im Gewächshaus, als sie die Blumen zum Zimmer- und Tafelschmuck für das Fest aussuchte, eine so beschränkte Auswahl angetroffen! Was da für Exemplare von Azalien und Kamelien, von Fliederbäumchen und Maiblumenbüschen standen! Wenn es nicht so lächerlich wäre, man könnte wahrhaftig denken ...

Mechanisch erwiderte Clémence einige Redensarten auf des Barons höfliche Bemerkungen, sie erhob sich sehr bald wieder, um zu gehen. Die Atmosphäre war ihr nicht geheuer hier. Doßberg geleitete den Gast bis zur Hausthür, wo der Bediente seine Herrin erwartete.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 14, S. 234–236

[234] Als Baron Doßberg Clémence verabschiedet hatte und zu seiner Tochter zurückkehrte, saß diese inmitten der Blumenpracht des Vorzimmers, das Gesicht in die Hände gedrückt, und weinte.

„Kind, um Gotteswillen, was ist denn? Wie kann ein Geschenk, das doch im Grunde nur freundlich gemeint ist und obendrein in wirklich zarter Weise gegeben –“

Ilse richtete sich auf, ihre Augen und Lippen brannten. „Ich will nichts von ihm haben! Ich nehm’ es nicht an! Du mußt es ihm zurückgeben Papa!“

Ihr Vater sah sie befremdet an. „Wie kann ich das, Ilse? Das hieße Herrn von Montrose absichtlich beleidigen, und dazu liegt doch kein Grund vor! Auch wäre meine Stellung hier damit zu Ende! Ich verstehe Deine Erregung gar nicht. Du wirst doch nicht so kindisch sein wie Armin, der sich in einen ganz ungerechtfertigten Haß gegen Herrn von Montrose hineingearbeitet hat?“

„Quäle mich nicht, Papa! Ich kann kein Geschenk von ihm annehmen! Ich kann nicht hingehen und mich bei ihm bedanken! Er soll sich nicht um mich kümmern, ich will keinen Schmuck tragen, der von ihm stammt!“

„Ilse, wenn dies Stolz ist –“

„Nenn’ es so!“ rief sie leidenschaftlich. „Denk’ von mir, was Du willst – aber ich kann nicht, kann nicht!“

Herr von Doßberg nahm die Hand des Mädchens in die seine. „Was wäre mit mir geschehen, mit uns allen, wenn auch ich hätte sagen wollen: ich kann nicht? Was alles hab’ ich lernen, überwinden müssen in dieser letzten Zeit! Aber ich hab’ es ertragen um Euretwillen!“

Ilse sah in sein vergrämtes Gesicht, sie küßte die Hand, die die ihre umschlossen hielt, und schwieg.

„Sei verständig, Kind,“ begann Doßberg nach einer kleinen Pause von neuem, „es liegt in diesem Geschenk wirklich nichts, das Dich verletzen könnte. Herr von Montrose ist reich – selbst wenn er Dir ein sehr kostbares Geschenk gemacht hat, wie ich ohne weiteres annehme, so darf Dich das nicht in Verlegenheit setzen. Im übrigen aber – ist Montrose nicht alt genug, um Dein Vater sein zu können?“

Ilse sah an dem Redenden vorüber, ohne zu antworten; ihr Blick hing wie gebannt an den weißen Fliederdolden, die dort in der Ecke des Zimmers so träumerisch von den Stielen herabnickten, aber sie dachte nicht an den Flieder. Sie sah den glutroten Sonnenball langsam ins Meer tauchen, sah die düsteren zusammengeballten Wolkenmassen, die darüber hingen, hörte den Sturmwind in den Bäumen brausen und die Brandung toben – ihr Herz war zusammengeschnürt von unsäglicher Angst wie damals im Herbst, und sie dachte immer dasselbe: „Albrecht, hilf mir!“

Indessen löste der Baron die Siegel, die das Papier festhielten, und öffnete behutsam das schmale Kästchen, eine Schnur vollkommen ebenmäßiger weißer Perlen, tadellos schön in ihrem matten Glanz, kam zum Vorschein – eine Kette, die eine Fürstin hätte tragen können. Doßberg ließ sie bewundernd durch die Finger gleiten und hielt sie Ilse vor die Augen. Sie warf aber nur einen raschen Seitenblick darauf und wandte sich scheu wieder ab.




13.

In der Christnacht war wieder harter Frost eingefallen, Baum und Strauch hatte glitzerndes Silbergeschmeide übergeworfen, nun die Sonne drüber herkam, that es den Augen weh, in die funkelnde Herrlichkeit zu sehen.

Oben auf der Zinne des alten Schlosses zu „Perle“ stieg eine Fahne auf, eine Fahne, die Clémence eigens zu diesem Zweck hatte anfertigen lassen … natürlich mit dem Wappen der Montroses, der weißen Rose im blutroten Felde. Stolz stieg die große Flagge an ihrem Mast empor, majestätisch rauschend dehnte sie sich im kalten Dezemberwind, und Clémence schlüpfte in ihren Pelz, zog Botho an der Hand nach sich und lief über den Anger, wo ehemals die Zugbrücke gestanden hatte, um sich die Wirkung zu besehen. Sie war zufrieden, es machte sich gut. Papa wußte nichts von der Fahne – mutmaßlich würde er sie gar nicht bemerken, und that er es dennoch – nun gut! Sie selbst würde schon die Folgen ihres Einfalls tragen! Sie war ungeheuer geschäftig heute – eilig mußte sie zurück, um mit eigenen Augen die angerichteten Ehrenpforten mit den Tannengewinden und den flatternden bunten Wimpeln, unter denen die Gäste ihren Einzug halten sollten, zu mustern; dann mußte sie die Vorbereitungen für die Fackelbeleuchtung besichtigen, in der das alte Schloß am Abend erstrahlen sollte, mußte die Unterbringung des Musikcorps aus St., die Aufstellung des Büffetts leiten – kurz, sie war heute ganz Schloßherrin, fühlte sich ungeheuer verantwortlich und war nur empfindlich darüber, daß Botho den oberflächlichsten Anteil an dem ganzen Fest nahm, das doch seiner Braut eigenstes Werk war. Er ließ sich zwar geduldig überall hinführen, sagte pflichtschuldigst: „Sehr schön!“ und „Wunderhübsch!“ aber sein Blick war zerstreut, er nahm nervös den Schnurrbart zwischen die Lippen, und wenn Clémence ihm zärtlich den Arm drückte, so schien er das gar nicht zu bemerken.

Georges von Montrose war heiter und gutlaunig und machte schlechte Witze auf Kosten des Brautpaars. Er neckte Clémence unbarmherzig mit ihrer Zärtlichkeit für Botho und fragte diesen freundschaftlich, wo ihn denn der Schuh drücke, da er so gar kein Bräutigamsgesicht aufsetze. Dazu ein verschmitztes Augenzwinkern, das deutlich bewies, Georges wisse ganz genau Bescheid über des schönen Botho Verlegenheiten und könne, wenn er wolle, jederzeit über die unangenehmsten Dinge Farbe bekennen.

Herr von Montrose war in seinem kleinen Jagdschlitten nach Belten hinüber gefahren und hatte gebeten, ohne ihn zu frühstücken; zurückgekehrt, ließ er sich das Menu vorlegen und bestimmte selbst noch ein paar Weinsorten, bei deren Namen Georges mit der Zunge schnalzte und seinen Vater, was nicht oft vorkam, mit einer gewissen Ehrerbietung ansah. Kenner war der Alte, man mußte es ihm lassen, er zeigte es selten, aber er verstand die Sache! Zwischen das alles hinein griff Georges zu seinem Krimstecher und musterte das Verwalterhaus. Einmal erschien drüben ein hübscher blonder Jünglingskopf an einem der Fenster – entschiedene Aehnlichkeit mit dieser „entzückenden Ilse“! Schwacher Trost! Daß er sie übrigens heute abend auffallend auszeichnen würde, verstand sich von selbst, schon um die Regimentskameraden, die, zum Teil mit ihren Damen, aus St. kamen, vor Neid wütend zu machen und besagten Damen ein kleines Licht aufzustecken, wie man aussehen müsse, um Herrn Georges von Montrose zu gefallen. Auch für Clémence, die immer auf die schöne Ilse stichelte, konnte ein tüchtiger Aerger nur gut sein.

Um vier Uhr sollten die Gäste eintreffen, eine Stunde später wollte man zu Tisch gehen. Der kurze Wintertag ging rasch zur Neige, es fiel schon die Dämmerung ein, als die ersten Schlitten anfuhren. Wie der Himmel dunkler wurde, traten nach und nach die Sterne in goldenem Glanz hervor, unten aber flammte das Schloß mit einem Schlag in märchenhaftem Glanz auf. Geschickte Feuerwerker, die Clémence aus St. verschrieben, hatten die Linien des massigen alten Baus mit farbigen Lichtern umgrenzt, dazu gleißten die Magnesiumfackeln in ihrem weißen Licht, und die düsterrot auflodernden Pechpfannen tauchten das Ganze in eine beinahe drohende Glut. Im weiten Umkreise färbte sich der Schnee mit dem wechselnden Schein. Wie gierige rote Zungen leckte es am Schneeboden hin, hier wieder troff es von den Zweigen der Bäume wie fließendes Gold, dort huschte es bläulich matt wie Mondlicht über die weiße Fläche – jeden Augenblick änderte sich das Bild. Nur das Schloß stand regungslos wie ein bunter funkelnder Würfel in der bleichen Winterlandschaft. Und mitten in das feintönige Klingeln der Schlittenglocken klangen Ausrufe der Bewunderung. Wenn die Dinge da drinnen diesem ersten Eindruck entsprachen – alle Achtung!

Und sie entsprachen! Schon die riesige Halle mit ihrem farbenprächtigen und doch so geschmackvollen Schmuck, mit den beiden schöngewundenen Treppen im Hintergrund, den funkelnden Waffentrophäen, den bunten Teppichen und den Prachtgeweihen an den Wänden, alles überflutet von intensiv rotem Licht, das durch gefärbte Gläser fiel, machte einen prächtigen Eindruck, selbst die Damen, denen es eilte, in die Garderobezimmer und in die mitgebrachten Abendtoiletten zu kommen, blieben staunend [235] unter dem Eingang stehen und ließen bewundernde Blicke umherschweifen. Und nun gar der weite pomphafte Festsaal selbst, vom Goldglanz zahlloser Wachskerzen erhellt, mit schönen alten Gobelins geschmückt, die Decke in Felder von Weiß und Gold geteilt! Im Musiksaal prachtvolle Fresken an den Wänden, der Fußboden in kunstreicher Mosaik ausgelegt, die Decke mit reizenden Genien bevölkert, die Geigen, Klarinetten und Flöten in den kleinen Händen hielten und Miene machten, lachenden Gesichts an den Wänden herabzuklettern, sich unter die Menschen zu mischen, die dort unten froh sein sollten. Wohl war es schön im alten Schloß zu „Perle“, und Clémence hatte die Genugthuung, immer von neuem staunende Blicke aufzufangen, bewundernde Worte zu vernehmen. Sie hatte ein kostbares bläulich schimmerndes Brokatkleid, mit Silber durchwirkt, angelegt, die schwere Schleppe rauschte anspruchsvoll hinter ihr her, im Haar funkelte ein Brillantstern; an einer feinen Spirale angebracht, wiegte er sich wie launisch in dem Blondhaar hin und her, tauchte bei einer Kopfbewegung unter, kam neckend wieder zum Vorschein und warf verschwenderisch seine Strahlengarben hierhin und dorthin. Clémence kam sich überaus reizvoll vor in dieser Toilette; auf regelmäßige Schönheit erhob sie keine Ansprüche, aber sie fand sich apart und pikant – war das nicht mehr wert? Sie hielt ihren Botho fest am Arm und rauschte von einem zum andern, verbindliche Anreden und Begrüßungen austeilend.

Herr von Montrose bewillkommnete seine Gäste mit der ihm eigenen stattlichen Würde. Etwas von der „überfrorenen Höflichkeit“, deren Clémence einmal Erwähnung gethan, kam auch heute wieder zum Vorschein – es durfte sich aber niemand über ihn beklagen. Er wußte anteilvoll zu fragen, verbindlich zuzuhören, neue Ankömmlinge gut unterzubringen, die Gäste untereinander bekannt zu machen, mit einem Wort, er wurde allen gerecht, und Georges, wie er einmal neben Botho vörüberschlüpfte, murmelte diesem ins Ohr, daß „der Alte sich über Erwarten gut mache“.

Er hatte viel zu thun, der Sohn des Hauses. Ueberall sah man seine glänzende Uniform auftauchen, in der die geschmeidige Figur sich so wohlig bewegte. Hier einem Kameraden die Hand drücken. dort einer jungen Dame mit vertraulichem Lächeln ein Kompliment, ein Witzwort zuflüstern, sich da vor irgend einer gebietenden Mama tief verbeugen, die Hacken zusammengenommen, und die Hand der Dame ehrfurchtsvoll an seinen kleinen Schnurrbart führen – dies alles vollbrachte er binnen wenigen Minuten, behielt auch noch Zeit, mit Blicken Unheil anzurichten ... recht, wie ein Fisch in seinem Element bewegte er sich, und es gefiel ihm gar nicht schlecht, sich von verschiedenen Seiten als künftigen Besitzer von „Perle“ beglückwünschen zu lassen. Es war am Ende doch kein so ganz übler Einfall von Papa gewesen, das Ding zu kaufen! Aber dazwischen quälte ihn immer wieder die prickelnde Ungeduld: wo bleibt „sie“? Die Stunde rückte vor, Gast auf Gast stellte sich ein, und Ilse, die nur wenige Minuten zu gehen hatte, kam immer noch nicht! Schützte sie am Ende im letzten Augenblick wieder die kranke Mutter vor und erschien gar nicht? Nein, diese Beleidigung konnte man dem „Haus Montrose“ nicht anthun, daran war nicht zu denken!

„Ich meine, Georges, es wäre nachgerade Zeit, zu Tisch zu gehen,“ sagte Clémence leise zu ihrem Bruder, als er wieder einmal in ihre Nähe kam.

„Ach, kein Gedanke! Ist ja noch viel zu früh! Fehlen ja noch - hm - allerlei Leute! Ich bitt’ Dich, Kind, gieb den Botho endlich frei, er kann sich wirklich nicht ein bißchen entfalten, Deine Schleppe wickelt sich ihm fortgesetzt um die Füße, er kann noch der Länge nach darüber stürzen.“

„Wird auch beim Tanzen später ungeheuer hinderlich sein!“ murmelte Botho gereizt und zerrte an seinem Bart.

„Ich dachte, mein Anzug gefiele Dir!“ Clémence sah kleinlaut auf ihre brokatene Pracht hinunter.

„Bis auf die Schleppe, gewiß! Aber wenn man doch tanzen will –“

„Den Walzer und den Kotillon mit Dir!“ flüsterte sie, sich zärtlich an ihn schmiegend; dann wieder zu Georges gewendet: „Wer fehlt denn noch? Botho und ich haben eben Rundschau gehalten und sind der Meinung, es sei alles von Belang versammelt.“

„So? Botho ist auch dieser Meinung? Muß mich wunder nehmen. Ich finde - ah!“ Georges hatte den Eingang des Saales im Auge behalten und sah jetzt einen vornehm aussehenden grauhaarigen Herrn eintreten, der ein weißgekleidetes Mädchen am Arm führte. Er war aber nicht der einzige, der das bemerkt hatte. Diejenigen von den Gutsnachbarn der Doßbergs, die heute hier anwesend waren – viel waren es nicht, die meisten hatten abgesagt – hatten teils mit Schadenfreude, teils mit Neugier, einige auch in wirklichem Mitgefühl des Augenblicks geharrt, da der ehemalige Besitzer von „Perle“ samt seiner Tochter hier im Schloß als Gast, als Fremder, als Untergebener erscheinen würde, hier, wo er noch vor kurzem Herr und Gebieter gewesen war. Georges von Montrose flog den beiden entgegen, jeder Zoll liebenswürdiger Kavalier. Wie das „süße Geschöpf“ nur wieder aussah in dem weißen Seidenkleid, das, im Rücken ausgeschnitten, den herrlichen Nacken frei ließ! Nur kleine Maiblumensträuße trug sie an der Brust und im Haar, aber wie dieses Goldgelock geordnet war, wie es im Kerzenlicht schimmerte – da „hörte einfach alles auf“!

Baron Doßberg sah blaß aus, aber er schritt hocherhobenen Hauptes, in stolzer, beinahe etwas herausfordernder Haltung vorwärts wie jemand, der sich kräftig gewappnet hat gegen alles, was über ihn kommen könnte. Seine Augen gingen im Kreise umher – Ilse hielt die ihrigen gesenkt. „Alles auf den Effekt berechnet,“ sagte sich Clémence voller Ingrimm; „sie weiß recht gut, daß sie lange dunkle Wimpern hat und daß die zu dem strahlenden goldblonden Haar einen auffallenden Gegensatz bilden!“ Schwer geärgert blickte sie zu Botho auf, aber Botho sah nicht so aus, als ob er ihre Empfindungen teilte. Und nun mußte auch sie, Clémence, noch die Zuvorkommende spielen und über die Maßen erfreut thun, daß Papas bezahlter Verwalter und dessen Tochter ihnen die große Ehre erwiesen, bei dem heutigen Fest ihre Gäste zu sein! Als Dame des Hauses kam es ihr zu, und überdies trug ihres Vaters Antlitz einen Ausdruck, da er jetzt mit Ilse vor sie trat, den sie nur zu genau kannte: mit diesem Ausdruck in den Augen hatte er seiner Tochter störrische und eigenwillige Natur bis jetzt noch jedesmal gemeistert, so sehr Clémence auch geneigt war, ihm Widerstand zu leisten.

„Willkommen, Baroneß Doßberg!“ sagte sie verbindlich und streckte Ilse die rechte Hand entgegen; mit der linken hielt sie ihren Botho fest.

„Darf ich mich Ihnen in Erinnerung bringen, Gnädigste?“ begann dieser und verbeugte sich so tief, daß die Angeredete seinen tadellosen Scheitel zu bewundern imstande war. „Ich habe nur äußerst selten den Vorzug gehabt und in letzter Zeit so ganz darauf verzichten müssen, Baroneß zu sehen, daß ich mich nicht beklagen dürfte, vollständig in Vergessenheit geraten zu sein!“

„Bewahre, Herr von Jagemann! Sie trauen mir ein schlechtes Gedächtnis zu. Es ist noch gar nicht so lange Zeit her –“

„Mir erscheint es so!“ warf Botho geschickt dazwischen; Clémence sah unruhig zu ihm auf.

„Du gestattest, Clémence! Ich möchte Baroneß Doßberg noch einigen Bekannten und Fremden zuführen – dann giebst Du wohl das Zeichen zu Tisch!“ sagte Herr von Montrose.

„Also richtig! Nur auf die haben wir gewartet!“ flüsterte Clémence, sobald ihr Vater mit Ilse außer Gehörweite war. „Daß die beiden so spät kamen, unser freiherrlicher Verwalter und sein gnädiges Fräulein Tochter, hatte wohl seinen guten Grund – man wollte Aufsehen erregen um jeden Preis! Das ist ihnen ja auch gelungen – sieh nur, sieh, wie sie alle sie angaffen, diesen Doßberg. der hier auftritt, als sei er Reichsfürst, und diese Ilse mit ihren Maiblümchen, die vielleicht andeuten sollen. daß sie all ihren Schmuck zum Wohl des edlen Hauses, dem sie entstammt, geopfert habe! Wenn mir etwas in tiefster Seele zuwider ist, dann ist es dieser Bettelstolz! Und sieh, wie sie alle lachen und freundlich sind! Excellenz Sonneberg katzenbuckelt bedenklich. und der junge Graf Röstem küßt ihr gar die Hand!“

„Sie sind Jugendgespielen!“

„So? Ich möchte doch wissen, woher Du das weißt! Was Dich das wohl angeht! – Wie mütterlich die Baronin Brobant sie umarmt! Ob der Landrat überhaupt noch einmal ihre Hand losläßt! Und Georges macht sich geradezu lächerlich, daß er den beiden auf Schritt und Tritt nachläuft!“

Herr von Jagemann hörte kaum hin. „Kind, weißt Du die Tischordnung?“ fragte er mitten in Clémences gereizte Auseinandersetzungen hinein.

[236] „Nur zum Teil! Was mich besonders interessierte, die Jugend und die Offiziere aus der Stadt, deren Plätze hab’ ich bestimmt – das übrige hat Papa sich nicht nehmen lassen, war mir auch gleichgültig!“

„Wo wird Baroneß Doßberg sitzen?“

„Warum?“ Des jungen Mädchens Stimme klang scharf und hart.

„Warum? Sonderbare Frage! Georges’ wegen, er ist ja doch offenbar im besten Fahrwasser!“

„Und Du billigst das vielleicht?“

„Meine Billigung oder Mißbilligung würde ihn ohne allen Zweifel ganz kalt lassen. Er wird doch in der Nähe seiner Angebeteten sein wollen.“

„Ist mir gleichgültig. Mir genügt es, zu wissen daß wir beide, Du und ich, nebeneinander sitzen.“ Ob dies Botho gleichfalls genügte, blieb dahingestellt, jedenfalls antwortete er nicht.

Indessen hatte Ilse sich von Herrn von Montroses Arm frei gemacht und ihre alten Bekannten begrüßt – sie konnte es aber nicht hindern, daß der Herr des Hauses in ihrer Nähe blieb. Unterwegs hatte sie ihrem Vater gelobt, ganz ruhig zu sein – aber sofort, da sie am Arm Montroses einherging, hatte sie wieder dies innerliche Zittern, diese Machtlosigkeit gespürt wie immer in seiner Nähe. Sie gab es auf, darüber zu grübeln, sie nahm es hin wie etwas, dem sie sich eben unterwerfen mußte. Den Begrüßungen mit den alten Bekannten hielt sie tapfer stand. Faft alle waren freundlich und zuvorkommend gegen sie wie gegen ihren Vater – Ilse war freilich klug genug, zu wissen, daß dies bei vielen nur Maske war, daß sie ihr die Demütigung gönnten. Am besten kam sie mit der Herrenwelt zurecht, die bei soviel Jugend und Schönheit jederzeit liebenswürdig zu sein pflegt und es auch heute war. Ihr alter Freund, Landrat Melchior, stand Ilse treu zur Seite, er hatte ihren Vater bereits mehrfach im Verwalterhause besucht, war auf dem Laufenden mit allen Verhältnissen der Doßbergschen Familie und quälte Ilse weder mit taktlosen Fragen, noch mit mitleidigen Blicken, wie es wohl von anderen geschah. Nur nahm der wackere Herr zu seinem ungemessenen Staunen wahr, daß sein Liebling, seine Ilse, die heute das Aussehen und die Haltung einer jungen Königin hatte, merkwürdig unsicher und befangen in Ausdruck und Gebärde wurde, sobald der Herr des Hauses ihr nahe kam oder das Wort an sie richtete. Es fiel dem Landrat ein, daß Ilse sich schon damals so sonderbar betragen hatte, als er sie zu jener Bitte Herrn von Montrose gegenüber veranlassen wollte ... sollte es denn möglich sein? Aber es war ja nicht zu denken – ein Mann, der erwachsene Kinder hatte, und die schöne junge Ilse, die dieses Mannes Tochter sein könnte! Freilich, der Fall wäre nicht der erste – Ilse war arm, ganz arm, und für Doßberg würden mit einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöst sein.

Unbehaglich schob der Landrat seine Schultern hin und her – was ihm auch für ungemütliche Gedanken kamen! Sicher war er der einzige hier, der solch wunderlichen Einfällen nachhing. Anstatt sich der glänzenden Versammlung zu freuen, das Auge an der wirklich großartiger Pracht ringsum zu weiden und im voraus das wahrscheinlich auserlesene Mahl zu würdigen, machte er allerlei gewagte Gedankensprünge. Augenblicklich bot die Situation ja doch gar nichts Bedenkliches! Die Offiziere aus St. umstanden Baroneß Doßberg und baten schon zum voraus um diesen Tanz und jenen Tanz; aber sie zogen lange Gesichter. Wie – Baroneß wollte gar nicht zum Tanz bleiben, wollte gleich nach dem Essen fort, da die Mutter sie entbehre? Das war ja undenkbar, war einfach unmöglich, man gedachte, sich hier bis tief in die Nacht hinein zu amüsieren, und dabei sollte Baroneß fehlen? Da mußte Kamerad Montrose herbei, er mußte helfen bitten, die Gnädige umstimmen! Man wollte eine Massenpetition zur gnädigen Frau Mama hinüberschicken, Mütter seien immer selbstlos, und da doch Baroneß einmal hier sei – – sie redeten einzeln, sie redeten im Chor, aber Ilse schüttelte standhaft den Kopf und blieb bei ihrem Entschluß. Wie sollte sie es diesen Herren begreiflich machen, daß ihre arme Mutter gar nichts von der Existenz eines Hauses Montrose, von einem Besitzwechsel der „Perle“ ahnte und daß Ilse unter dem Vorwand heftiger Kopfschmerzen heute für einige Stunden vom Krankenbett fern blieb?

Horch! Ein Trompetenstoß! Das Zeichen, sich zur Tafel zu begeben! Feierlich wurden die alten schweren Flügelthüren zurückgeschlagen. Oben in der Eingangshalle auf der vergoldeten Galerie, welche die beiden Treppen verband, standen vier in mittelalterliche Tracht gekleidete Herolde und luden die Gäste zu den Freuden der Tafel. Langsam wand sich der bunt gleißende Zug aufwärts und glitt rechts in den Bankettsaal. Hier hatten die hohen Bogenfenster die berühmte Glasmalerei, Wände und Decke waren von kundiger Künstlerhand mit Kindergruppen geschmückt, die Wildbret und Geflügel herbeischleppten, einander ganze Traubenlasten und leuchtende Fruchtgewinde reichten und aus riesigen Humpen Wein einschenkten. Die freudig brausenden Klänge der Musik empfingen die Eintretenden, und Blumen, Blumen grüßten überall; wer mochte an den Winter glauben, an Kälte und Schnee bei solchem Anblick!

Als Ilse von Doßberg, die den jungen Grafen Röstem, ihren Jugendgespielen, zum Tischnachbar hatte, sich nach dem Herrn an ihrer anderen Seite umsah, fand sie – den Gastgeber. Wieder ganz in seine Nähe gebannt und zwar stundenlang! Seine Stimme hören, in seine Augen sehen ... welche Qual! Und was sie bisher, umringt von so viel Fremden, nicht hatte thun können, sie mußte es jetzt thun: ihm ihren Dank aussprechen für die Gabe, die er ihr gestern gesandt!

Der junge Graf Röstem war ein angenehmer, aber ziemlich unbedeutender junger Mann, kaum zwei Jahre älter als Ilse, der er schon als kleiner Knabe sich blindlings untergeordnet hatte. Das geistig wie körperlich ungewöhnlich kräftig entwickelte Mädchen hatte den etwas unbeholfenen gutmütigen Jungen tüchtig herumkommandiert, was er sich gern gefallen ließ, da Ilse ihn bei alledem gern mochte und gut behandelte. Er hatte keine eigenen Gedanken, „ihm fiel nie etwas ein^, wie Ilse schon als achtjähriges Kind klagte, um so lieber fügte er sich in all’ die Rollen, die seine Gespielin ihm zuteilte, mit mehr gutem Willen als Geschick; kurz, im großen und ganzen hatten sich die beiden stets vortrefflich miteinander vertragen. Daß sie an Guido keinen sehr beredten Kavalier haben würde, wußte Ilse genau, und richtig, als die üblichen Fragen. „Wie geht es Deiner Mama, Ilse?“ „Ist Deine verheiratete Schwester schon nach dem Süden gegangen, Guido?“ „Ist denn Armin zu den Ferien nicht hergekommen?“ „Geht Dein neues Reitpferd gut?“ und derartige Dinge durchgesprochen waren, geriet die Unterhaltung ins Stocken.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 15, S. 252–256

[252] Herr von Montrose hatte die Gattin des Regierungspräsidenten aus St. zur Tischnachbarin; sie war eine starke Dame mit einem hochrot gefärbten Gesicht, schon ältlich, hörte schwer; mehr ließ sich beim besten Willen nicht von ihr sagen. Sie lächelte freundlich, wenn Herr von Montrose zu ihr sprach, allein ihre Antworten bewiesen, daß sie ihn häufig gar nicht oder nur sehr mangelhaft verstanden habe, und da sie an ihrer andern Seite die zuvor von Clémence erwähnte Excellenz Sonneberg hatte, einen weißköpfigen alten Herrn, der eine Stimme wie eine Trompete besaß und überdies die Präsidentin schon seit Jahren kannte, so zog die Dame es vor, sich lieber diesem bequemen Verkehr hinzugeben, anstatt dem Herrn des Hauses so viel Mühe und sich selbst Verlegenheit zu bereiten.

Herr von Montrose lächelte ein klein wenig und wandte sich Ilse zu. Sie sah, wie sein Blick auf dem Maiblumensträußchen haftete, das sie an der Brust trug, und eine helle Röte flog über ihr Gesicht. „Ich – ich habe Ihnen noch nicht danken können,“ begann sie unvermittelt, in dem gewappneten Ton, in dem sie fast immer zu ihm sprach. „Es war unhöflich von mir, aber ich konnte nicht, es waren zuviel andere dabei! Ich – Sie – Sie sind vielleicht befremdet, daß ich die Kette nicht trage – aber ich werde sie niemals tragen!“

„Und warum nicht?“ fragte Herr von Montrose ruhig.

„Sie ist viel zu kostbar für mich!“

„Ich finde nicht.“ Seine tiefen Augen fanden die ihrigen und hielten sie fest. „Ich hoffe,“ sagte er dann so leise, daß [254] kaum sie, für die seine Worte bestimmt waren, diese verstehen konnte, „ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, wo Sie dennoch diese Kette tragen werden!“

„Ich darf Dir doch Sekt eingießen lassen, Ilse?“ fragte Graf Röstems Stimme jetzt von der andern Seite, und das junge Mädchen wandte hastig den Kopf zu ihm. „Ich bitte, lieber Guido!“

Sie leerte den Inhalt ihres Glases beinahe auf einen Zug, was den jungen Mann zu der Bemerkung veranlaßte: „Ich finde es so vernünftig, die Diners und Soupers gleich mit Sekt zu eröffnen, es giebt entschieden Stimmung. Du scheinst auch meiner Ansicht, Du hast einen ganz achtungswerten Zug gethan. Liebst Du den Sekt so sehr oder bist Du so durstig?“

„Beides!“ entgegnete Ilse in halber Gedankenlosigkeit und erlaubte, daß er ihr Glas von neuem füllen ließ. Sie sah hinüber zu ihrem Vater, der unweit von ihr an der andern Seite der Tafel neben der Gräfin Röstem, einer schönen alten Dame, saß. Sie sprach eifrig auf Doßberg ein und sah ihm wohlwollend ins Gesicht – sie wie ihr Gatte schätzten den langjährigen Freund sehr, hatten ihm mehrmals nach besten Kräften geholfen und würden ihm gern die „Perle“ erhalten haben, wenn ihre eigenen Mittel es gestattet hätten.

„Dein Papa und meine Mama scheinen sich sehr gut miteinander zu unterhalten!“ sagte Graf Guido, der Ilses Blick gefolgt war. „Es war ein glücklicher Gedanke, die beiden zusammenzusetzen. Aber hör’ ’mal, Ilse,“ fuhr er, durch den Sekt angeregt, lebhaft fort, „das ist ja auffallend, wie Dich der junge Montrose anstarrt – da links von meiner Mama sitzt er! Der läßt ja kein Auge von Dir, und seine Dame giebt sich soviel Mühe um ihn! Er mag schön wütend sein, daß er Dich nicht zur Nachbarin bekommen hat. Du, nimm Dich doch vor dem gefälligst in acht, der steht in einem gefährlichen Ruf!“

„Ich weiß, Guido.“

„So! Auch schon! Das ist doch seit unseren Kinderjahren so geblieben, daß Du immer alles weißt. Und der Botho Jagemann, der guckt auch in einemfort nach Dir – sollte sich schämen! Hat ja ’ne Braut, wenn sie auch nicht sehr reizend ist.“

Nach diesem ganz ungewöhnlichen Aufwand von Beredsamkeit versank der junge Graf Röstem wiederum in Schweigen.

Was konnten Montroses Worte von vorhin bedeutet haben? fragte sich Ilse. Es werde die Zeit kommen, da sie jenen Schmuck dennoch tragen werde? Sie sann und sann, ohne eine Antwort zu finden. Ach, wäre das Fest erst vorüber, dürfte sie erst wieder in ihrem schlichten dunklen Hauskleid da sitzen, wohin sie gehörte – am Krankenbett ihrer Mutter! Sie wandte sich von neuem dem Grafen zu und suchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln, das war aber nicht leicht. Guido setzte ihr die Vorzüge seiner beiden Pferde, die beim nächsten Rennen eine Rolle spielen sollten, mit Eifer und soviel fachmännischen Ausdrücken auseinander, als habe er einen gewiegten Sportsmann an seiner Seite, nicht aber eine elegante junge Dame. Gleichviel! Sie hörte ihm zu oder that wenigstens so und brauchte auf diese Weise nicht mit dem Nachbar zur Rechten zu sprechen, Es kamen aber die unvermeidlichen Trinksprüche, es kam das Anstoßen, und als Ilse sich umwandte, neigte Herr von Montrose den feingeschliffenen Glaskelch, den er in der Hand hielt, dem ihrigen entgegen und sagte leise: „Sie wissen es wohl, Baroneß, daß man beim Glase Wein an geheime Wünsche denkt, die uns in nüchterner Alltagsstimmung unerhört vermessen erscheinen. Wollen Sie mir auf solch einen kühnen Wunsch Bescheid thun?“

Nein, sie wollte nicht – aber sie mußte! Mußte es, weil so viele Blicke auf sie gerichtet waren, die sahen, wie der Herr des Hauses ihr sein Glas entgegenhielt, mußte es vor allem unter dem Bann dieser Augen.

Georges von Montrose, der gerade lebhaft auf seine Dame einsprach, wurde unruhig, blieb mitten in seinen Worten stecken und sprach sie schließlich ziemlich verwirrt zu Ende; es war ihm auch ganz gleichgültig, was aus seinem angefangenen Satz wurde. Der Teufel hole die ganze Tischunterhaltung, wenn man so etwas ruhig mit ansehen soll! Was hatte denn sein Vater für ein Gesicht, als er jetzt dem „süßen Geschöpf“ zutrank – und sie, und sie! Georges reckte sich auf seinem Platz und machte einen langen Hals, um besser beobachten zu können. Wahrhaftig, sie sah ganz sonderbar aus, wie magnetisiert! Was in aller Welt hatte er mit ihr angestellt, daß sie ihn so ansah! Georges blickte nach Clémence hinüber – hatte sie es auch bemerkt? Nein, sie konnte von ihrem Platz aus schwerlich die beiden sehen, außerdem war sie eben in ein eifriges Geflüster mit Botho vertieft – das heißt, sie flüsterte, und Botho hörte zu. Hm, hm! Der Husarenoffizier fing an, sich allerlei „verrückte“ Gedanken zu machen, die er schließlich auf den Wein schob. So ’was war ja einfach unmöglich!

Aber als dann die Tafel aufgehoben war, ereignete sich das Unerhörte, daß, da die Frau Regierungspräsidentin sich an den Arm ihres alten Freundes Sonneberg hing, der Herr des Hauses Baroneß Doßberg den Arm bot, unbekümmert darum, was aus dem jungen Röstem wurde. Es war, dank den vortrefflichen Weinen und den ausgezeichneten Tafelgenüssen, eine außerordentlich heitere zwanglose Stimmung bei dem größten Teil der Tischgesellschaft durchgebrochen, irgend jemand hatte der Musik zugerufen: „Polonaise!“, was lebhaften Beifall von allen Seiten fand, und so eröffnete denn der Gastgeber mit Ilse von Doßberg am Arm einen Rundgang durch die lichtdurchfluteten Räume, die zum heutigen Fest geöffnet worden waren. Wie im Traum schritt Ilse durch die Zimmer und Säle, die sie so zahllose Male als jubelndes Kind, als heiteres unbefangenes Mädchen betreten hatte – waren es noch dieselben Räume? War sie selbst dieselbe noch? Fremd, wie alles um sie her sie anblickte, sah es auch in ihrem Innern aus!

Die Polonaise war beendet; Ilse suchte ihren Vater, sie wollte gehen. Aber Baron Doßberg war nicht zu finden, und die jungen Mädchen umringten sie, die Offiziere erklärten lärmend, sie ließen Ilse nicht durch, und bildeten eine lebendige Mauer vor dem Flüchtling. Georges von Montrose stand dicht neben Ilse, er blickte sie unverwandt und so eigen forschend an, daß sie eine überlebhafte Unterhaltung mit einer ihrer Freundinnen begann, um diesem Blick auszuweichen. Da spielte die Musik einen einschmeichelnden Walzer, und plötzlich sah Ilse sich davongetragen in Georges’ Armen, fühlte, wie er sie leidenschaftlich an sich preßte, und hörte ihn etwas murmeln, was sie nicht verstand. Dem ersten Paar folgten viele andere, auch Clémence fegte mit ihrer majestätischen Schleppe über das spiegelnde Parkett. Als Georges endlich seine Tänzerin losließ, drängten seine Kameraden ungestüm heran, aber Ilse blieb unerbittlich. Sie wollte und sie mußte fort! Sie hatte ihren Vater entdeckt, der am Eingang des Tanzsaals stand und sie mit den Augen suchte; sie winkte ihn heran, und an seinem Arm ging sie quer durch den Saal, sich da und dort verabschiedend. Clémence sprach höflich ihr Bedauern aus, daß Ilse so früh schon das Fest verlasse; Herr von Montrose brachte von den kostbaren Cotillonsträußen den schönsten für Ilse herbei; die Offiziere bildeten ehrfurchtsvoll Spalier, und der Herr des Hauses ließ es sich nicht nehmen, das junge Mädchen bis zur Halle zu begleiten, dem herbeieilenden Diener Pelzmantel und Shawl abzunehmen und eigenhändig seinen Gast einzuhüllen. Baron Doßberg stand daneben und sah dies mit an, sah die Erregung in Montroses Gesicht, dachte an die Perlenkette und seine beschwichtigenden Worte: „Ist Montrose nicht alt genug, um Dein Vater sein zu können?“ Worte, die ihm plötzlich gar keinen Sinn mehr zu haben schienen.

Sie traten beide zum Schloßportal hinaus, froh, den kurzen Heimweg durch die sternklare Winternacht noch vor sich zu haben. Wie auf Verabredung blieben Vater und Tochter stehen, als sie den freien Platz vor dem Schloß erreicht hatten, und blickten zurück. Die Fackeln brannten ruhig in der stillen dunkeln Luft – wie ein riesiger Goldwürfel lag das alte stolze Schloß inmitten seiner totenhaft stillen Umgebung. Gleich bleichen Gespenstern reckten sich die hohen Bäume um all den buntschimmernden Glanz empor – gedämpft klang die Tanzmusik in das feierliche Schweigen der nordischen Winternacht, und am tiefschwarzen Himmel standen in ruhevollem Glanz die Sterne. Mit ihren heißen bangen Augen blickte Ilse empor zum Himmel … konnte dieser klare Glanz keinen Trost in ihre wild erregte, von verworrenen Empfindungen erfüllte Seele bringen? Hoch atmete sie auf, aber der lastende Druck blieb.

Im Verwalterhause waren ein paar Fenster hell – das konnte nicht befremden, Ilse hatte angeordnet, daß eine Lampe zu ihrem Empfang im Vorzimmer brennen sollte, und die kranke Baronin hatte oft die ganze Nacht hindurch in ihrem Zimmer Licht. Als Baron Doßberg, der, tief in seinen eigenen Gedanken [255] befangen, unterwegs kein Wort mit Ilse getauscht hatte, die Hausthür aufschloß, huschte ein dunkler Schatten an einem der erleuchteten Fenster entlang, und gleich darauf fühlte Ilse sich eng von zwei zitternden Armen umschlungen.

„Armin, Du? Wie Du mich erschreckt hast! Warum bist Du noch auf? Es – es – ist doch nichts vorgefallen?“

„Ach, vorgefallen – das gerade nicht, aber – aber – ich bin so froh, daß Du wieder da bist und Papa auch! Ich weiß gar nicht recht, was das ist, mir erscheint Mama so sonderbar –“

Mit einer hastigen Bewegung riß Ilse Pelzmantel und Tücher herunter und eilte Armin voraus ins Krankenzimmer, ohne zu bedenken, was die Mutter zu dem Aufputz, in welchem sie sich befand, sagen würde. Die Baronin blickte ihr aus fieberglänzenden Augen entgegen und schien sich über die Erscheinung des jungen Mädchens keineswegs zu wundern. Sie richtete sich lebhaft auf, was sie lange Zeit nicht mehr ohne Hilfe hatte thun können, und streckte ihrem Gatten, der dicht hinter Ilse eingetreten war, die Hand entgegen.

„Nur gut, daß Du kommst, Hans Gottfried! Ich hab’ mich sehr über Dich gewundert, Du bist doch sonst die Pünktlichkeit selbst, hast mich niemals warten lassen, und nun gar bei solch wichtiger Gelegenheit! Aber jetzt bist Du ja da, und auch schon im festlichen Anzug, da will ich nicht weiter schelten. Nur ich, ich bin noch nicht – oder doch?“ Ihr Blick fiel auf Ilse, sie nickte mit einem träumerischen Lächeln vor sich hin. „Ja, ja, ich bin immer gern in Weiß gegangen. Wann trug ich doch zuletzt dieses Kleid? Wann hab’ ich das Kleid doch zuletzt getragen?“ Ihre schmale heiße Hand betastete unsicher die goldenen Verschnürungen, die Ilses Gewand am Mieder und an den Aermeln zeigte. „Ich weiß es gar nicht wehr ... weißt Du es nicht, Hans Gottfried?“

„Liebe, liebe Elisabeth! Mein Herz!“ Die Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen, er bedeckte ihre Hand mit stürmischen Küssen.

Ilse faßte die leichte Gestalt der Kranken in ihre Arme und legte sie sanft in die Kissen zurück, dann wandte sie sich an Lina. „Haben Sie der Frau Baronin nicht die beruhigenden Tropfen gegeben, die der Doktor das letzte Mal verschrieb?“

„Doch, auch schon zwei von den Pulvern. Die Frau Baronin begannen bald, nachdem die Herrschaften fort waren, unruhig zu werden; sie haben keine Minute geschlafen, und die Mittel haben gar keine Wirkung gehabt!“

„Hat sie viel nach Papa und nach mir gefragt?“

„Ein paarmal ja, aber schon in der nächsten Minute war das vergessen, und die Frau Baronin sprachen von anderen Dingen. Immer so, als wenn Frau Baronin sich trauen lassen müßten.“

Die Kranke fing das Wort auf. „Trauen! Natürlich! Lina ist wieder die einzige von allen, die daran denkt. Und es ist die höchste Zeit. Ich muß mir ja noch die Haare auflösen!“ Aber anstatt das eigene Haar anzurühren, begaun sie, mühsam die schwachen Hände hebend, Ilses Blumen abzunehmen und ihr die Schildpattnadeln aus dem Haar zu ziehen. In bebender Angst half diese nach, und bald sank der weiche goldene Schleier bis fast zu den Knien herab.

„Bin ich nun nicht schön, Hans Gottfried?“ Die Baronin sah mit leuchtenden Augen auf Ilse, es war, als blickte sie in einen lebendigen Spiegel.

„Sehr schön, meine Elisabeth, das Schönste auf der ganzen Welt!“

Die Baronin lächelte befriedigt. „Ja, das haben sie immer alle zu mir gesagt, meine Eltern, meine Freunde, alle! Wer ist das?“ fragte sie plötzlich neugierig und zeigte auf Armin, der neben Ilse stand.

„Armin, Dein Sohn – kennst Du ihn nicht?“

„Armin, mein Sohn?“ sie sprach es ungläubig nach. „Wie kann das doch kommen – ich hab’ ihn ja noch nie gesehen!“

„Mama!“ rief Armin und sank schluchzend neben dem Bett in die Knie.

„Ach, nun weint er! Warum denn? Hab’ ich ihm wehgethan? Ich wollte es nicht. Bitte, nein, weine nicht – Hans Gottfried hat nie erlaubt, daß ich eine Thräne weine!“

Ilse gab Lina einen Wink. „Noch einmal die Tropfen!“

Die Kranke wandte den Kopf. „Ich will nichts mehr einnehmen, nichts mehr, nichts mehr! Ich weiß recht gut, Ihr wollt mich betäuben, damit ich nicht mehr in die Kirche kann, aber ich thu’ es nicht, nein, nein!“ Sie wehrte mit der Hand den Löffel ab, den Ilse ihr reichte, und biß fest die Zähne aufeinander. „Nichts einnehmen! Nicht betäuben! Hans Gottfried, laß Du es nicht zu!“

„Gewiß nicht, mein Herz, sei ruhig, es soll Dir nichts geschehen!“

„Ja, so ist es gut! Keine Tropfen – keine Thränen! Den Kranz – aber es ist ein Kranz von Orangenblüten, kein Myrtenkranz – und wo ist der Schleier?“ Die Augen der sterbenden Frau weiteten sich, sahen mit einem Blick an den Anwesenden vorüber, weiter, immer weiter, wie in endlose Ferne.

Es trat eine bange Stille ein. Baron Doßberg schaute mit thränenden Augen auf seine Gattin. Gewiß, er hatte sie sanft durchs Leben getragen, sie hatte die Wahrheit gesprochen: nie hatte er erlaubt, daß sie eine Thräne weine.

„Warum kann ich denn nicht knien?“ fing die matte hohle Stimme von neuem an. „Wenn man den Segen empfangen will, muß man doch niederknien ... und ich stehe doch immer!“ Offenbar sah sie sich selbst in Ilse, die neben dem Kopfende des Bettes stand. Jetzt sank diese neben Armin in die Knie.

„Ja, so ist es recht ... aber noch immer keine Myrten, – Orangenblüten sind da! Nicht so laut die Orgel, nicht so laut – ich will doch die Stimme hören! Was sagt sie? Die Liebe Gottes – die Liebe –“ Das hastige Sprechen verlor sich in ein undeutliches Gemurmel, ein kurzes zuckendes Atmen ließ sich hören, setzte aus, begann von neuem – und plötzlich waren die Augen gebrochen. Eine fremde Starrheit kam in die trotz der Krankheit immer noch so lieblichen Züge, ein seufzender Hauch ging über die Lippen – das Leben war erloschen.




14.

Ohne von der im Verwalterhause eingetretenen Katastrophe eine Ahnung zu haben, schlummerten die Montroses bis in den hellen Tag hinein. Sie hatten viel nachzuholen – die letzten Gäste waren erst gegen vier Uhr morgens aufgebrochen, ein gutes Zeichen für die allgemeine Stimmung. Der Kotillon hatte sich, dank dem erfinderischen Geist der anordnenden Herren, die immer nene Touren ausführen ließen, unendlich lange hingezogen, ihm war eine muntere Damenpolka gefolgt, zuletzt, als alles „Weibliche“ sich entfernt hatte, hatten die Offiziere noch in Georges’ und Bothos Zimmern ein Spielchen gemacht: es war nicht viel dabei herausgekommen, man war eigentlich schon zu müde gewesen, nur Jagemann hatte wie gewöhnlich Pech gehabt, Mock ein unverdientes Glück.

Kurt von Oesterlitz, der Neuling, hatte sich in die Verhältnisse von St. und Umgegend schon hübsch eingelebt, er war rasch beliebt geworden bei den Kameraden, stand mit Zeno auf Du und Du, hatte sich in „Perle“ ausgezeichnet unterhalten und erklärte nur immer wieder, es sei eine Schande fürs ganze Regiment, daß man diese Isolde von Doßberg nicht für die Dauer des ganzen Festes habe halten können, denn die sei doch die Krone des Ganzen gewesen. Er und Zeno citierten begeistert ganze Stellen aus Wagners „Tristan und Isolde“, während sie in eifrigem Spiel Coeurdame mit einem Goldstück belegten.

Der Tag nach einem großen Fest pflegt nie besonders gemütlich zu verlaufen. Zwar die Dienerschaft auf „Perle“ war gut geschult und hatte das Einräumen und Ordnen bereits beendet, als die Bewohner des Schlosses zum Vorschein kamen, allein die blassen Gesichter und übernächtigen Mienen verhießen keine besonders genußreichen Stunden. Clémence hatte grauen Teint und trübe Augen, sah folglich sehr unvorteilhaft aus, der schöne Botho empfand einige Gewissensbisse wegen seines leichtsinnigen Spiels, Aerger über seinen Verlust und über seine namentlich in letzter Zeit rasend angewachsene Schuldenlast; er blinzelte verdrossen in den hellen Wintertag hinein, „gleich einer lichtscheuen Eule“, wie Georges sich ausdrückte. Dieser selbst hatte nur einen bittern Galgenhumor zur Verfügung, ihm war gestern einiges nicht so ganz geheuer erschienen und es war seine Absicht, das gelegentlich zur Sprache zu bringen, ein außerordentlich ungemütlicher Gedanke, da ihm jede sogenannte Familienscene ein Greuel war.

[256] Die drei saßen einsilbig bei einander und thaten dem vortrefflichen Gabelfrühstück, das vor ihnen stand wenig Ehre an. Clémence ließ die Damen des gestrigen Festes Revue passieren und übte eine wenig wohlwollende Kritik an deren Toilette und Erscheinung, Georges lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einem tiefen Sessel, klopfte taktmäßig mit einem silbernen Messerchen auf die Stuhllehne und pfiff leise dazu, und Botho schnitzelte gedankenlos an einem Kork herum, mit seinen Gedanken offenbar weitab von den Auseinandersetzungen seiner Braut. Die schweren graublauen Sammetvorhänge an den Fenstern waren halb zugezogen, die helle Wintersonne und der leuchtend weiße Schnee blendeten den Blick.

„Aber jetzt endlich ’mal genug von Kleidern und solchem Firlefanz!“ unterbrach zuletzt Georges sein Pfeifen und warf das silberne Messer auf den Tisch. „Ist Dir gestern sonst nichts aufgefallen, Clémence? Und Dir, Botho?“

Clémence rückte unbehaglich ihren Sessel weiter zurück, ein aufdringlicher Sonnenstrahl hatte sie getroffen. „Ach, meinst Du Papa?“ fragte sie verdrossen.

„Natürlich mein’ ich ihn! Ist’s nicht toll, wie er sich gestern benommen hat?“

„Ich sagte Dir’s immer: er steckt voll übertriebener Rücksichten und mittelalterlicher Galanterien diesen Doßbergs gegenüber, er geht in seinem sogenannten Takt- und Zartgefühl so weit –“

„Aber das war gestern ja tausendmal mehr als Rücksicht und Zartgefühl und derartiges Zeug!“ fuhr Georges aufgeregt dazwischen. „Offenbare Courmacherei war’s, ich hab’s mit diesen meinen Augen gesehen, und ich kenn’ mich aus in dergleichen! Ich sag’ Euch, die Geschichte wird noch ein ganz ernsthaftes Gesicht bekommen, denkt an mein Wort! Papa sah diese Ilse mit ganz unverhüllten Liebhaberblicken an – sie ist freilich ein Juwel, diese süße Ilse, war entschieden die Krone der ganzen gestern hier versammelten Weiblichkeit … thu’ mir die Liebe an und widersprich mir hierin nicht, Clémence, Du blamierst Dich einfach, wenn Du mir nicht recht giebst! Aber, aber – sie am Ende zur Stiefmutter zu bekommen –“

„Georges!“ Die Verlobten stießen gleichzeitig denselben entrüsteten Ruf aus.

„Ja, schreit nur! Das ändert an der ganzen Geschichte kein Jota. Mir ist nie im Leben der Einfall gekommen, unser verehrlicher Herr Papa könnte jemals eine zweite Ehe schließen, der Gedanke erschien mir ebenso ungeheuerlich wie der, ich selbst könnte mich verheiraten – aber jetzt liegen ganz schwerwiegende Anzeichen vor, und wir müssen uns auf alles gefaßt machen. Was ziehst Du für’n Gesicht, Clémence, an was denkst Du?“

„An die Blumen, die ich neulich bei ihr sah, als ich sie einladen mußte – unser halbes Treibhaus hat er ihr hinübergeschickt.“

„Siehst Du!“

„Aber nein, Georges, nein – es ist nicht möglich, Du mußt Dich irren! Wenn ich denke, diese elende Person sollte berechnend genug sein –“

„Halt, meine Teure, erlaub’ ’mal, daß ich die ‚elende Person‘ ein wenig in meinen Schutz nehme, und mäßige Deine Zunge! Ich glaube nicht, daß sie ihre Netze nach einem so bejahrten Freier auswirft, sie ist überhaupt leider nicht die Spur kokett. Ich hab’ schon denken müssen, ob diese süße Ilse nicht am Ende irgendwo in aller Stille ein festes Verhältnis angebandelt hat, sie hat oft so eine eigene sichere Art, nette Leute, die sich ihr in der angenehmsten Absicht nähern, ohne weiteres abfallen zu lassen. Nein, wie sie gestern unsern unternehmungslustigen Herrn Vater anstarrte, das hatte so ’was vom Vogel mit der Klapperschlange … entschuldiget das abgedroschene Gleichnis, mir will kein anderes bekommen, der Schädel brummt mir wie verrückt. Wenn nun aber freilich die Klapperschlange Ernst macht, dann glaub’ ich allerdings, daß der schöne scheue Vogel klug genug sein wird, sich in den goldenen Käfig sperren zu lassen, und das –“

„Das darf nicht sein!“

„Georges, das kann nicht geschehen!“

„Das möchte ich allerdings mit allen Mitteln, die mir zu Gebot stehen, verhindern, nur daß leider mir die Mittel fehlen und er sie hat!“

Clémence war erregt aufgesprungen. „Wie Du in solcher Lage noch den Mut zu schlechten Witzen haben kannst! Wenn Du nicht im Irrtum bist, was ich immer noch hoffe –“

„Bin ich nicht, liebes Kind, bin ich nicht! Verlaß Du Dich fest darauf!“

„Dann müssen wir drei uns zusammenthun, müssen Front machen gegen diesen abenteuerlichen Gedanken! Das können wir nicht dulden!“

„Sehr schön, liebe Clémence, sehr heroisch gesprochen! Erlaube mir nur, zu fragen: mit welchem Recht dürfen wir es nicht dulden?“

Sie trat zornig mit dem Fuß auf. „Also bist Du gesonnen, es zu leiden?“ In Georges von Montroses spöttische Augen trat ein Ausdruck kalter Entschlossenheit. „Nein!“ sagte er hart. „Ich bin nicht gewillt, irgend etwas zu ‚leiden‘, ich hasse das Wort, es hat nichts mit einem Menschen wie ich zu thun. Ich werde, da kannst Du ruhig sein, alles aufbieten, damit diese Verrücktheit nicht zustande komme. Ich werde, wenn mir der Zeitpunkt dafür geeignet erscheint, mit unserem Herrn Papa reden, werde mir erlauben, ihm das Lächerliche dieses Schrittes, seine Pflichten gegen uns wie gegen sich selbst vor Augen zu führen und wenn … was wollen Sie, Merwig?“

Merwig, Herrn von Montroses langjähriger Kammerdiener, ein ältlicher schweigsamer Mann von zuverlässiger Treue und musterhaften Manieren, war nach bescheidenem Anklopfen eingetreten und blieb nun knapp neben der geöffneten Thür stehen.

„Erlaube mir, den Herrschaften ergebenst im Auftrag des gnädigen Herrn zu melden, daß Frau Baronin von Doßberg gestern abend verschieden ist. Der gnädige Herr beabsichtigt, sich in einer halben Stunde zur Beileidsbezeigung hinüberzubegeben, und ersucht das gnädige Fräulein, die Toilette zu wechseln und ihn auf seinem Gange zu begleiten.“

Die drei sahen einander verständnisvoll an.

„Es ist gut, Merwig, sagen Sie meinem Vater, ich werde mich bereit halten!“ erwiderte Clémence.

Georges wartete, bis der Kammerdiener das Zimmer verlassen hatte. „Jetzt dürfte der Zeitpunkt nicht geeignet sein,“ sagte er mit seinem kalten Lächeln, „wir müssen die angenehme Auseinandersetzung etwas hinausschieben!“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 16, S. 271–275

[271] Seitab im Park zu „Perle“ lag die sogenannte Familiengruft der Doßbergs, ein weites Stück Land, von einer dicken grauen Steinmauer umgrenzt. Ein hohes Portal bildete den Eingang, dessen Spitzbogen das Wappen des Geschlechtes zeigte. Seitdem das erste Begräbnis der Familie, die Wolframskapelle drüben, sich als zu klein erwiesen hatte, um alle Särge zu fassen, seit etwa achtzig oder neunzig Jahren wurden die Doßbergs hier im Park beerdigt. Ein schöner stiller Platz war’s; hier sang im Frühling ein ganzer Chor von Nachtigallen sein schwermütig süßes Lied, hier wuchsen wilde Blumen in Menge, hier wiegten sich im Sonnenschein die Häupter prachtvoller Linden und Kastanien. Heute lag Schnee auf den Bäumen, aber Sonnenschein war doch da; wehmütig bleiches Wintersonnenlicht lag auf den im weißen Schmuck strahlenden Zweigen, kein Windhauch spielte in ihnen, eine weiche stille Luft gab ein trügerisches Vorspiel des Frühlings, der doch noch so fern war, so fern. Die hohen Flügel des Portals waren weit zurückgeschlagen, Tannengewinde darum geschlungen. Hohe Tannenbäume waren in regelmäßigen Abständen in die Erde gegraben, sie bezeichneten den Weg nach dem offenen Grabe, neben dem ein Teil der Schloßdienerschaft stand. Aus dem Treibhaus waren alle Lorbeer-, Orange- und Myrtenbäume hierhergeschafft worden, die Palmen bildeten einen kleinen Wald für sich. Der Obergärtner wußte genau, daß ihm von den zarten empfindlichen Palmenarten viele eingehen würden, trotzdem es heute gelindes Wetter war, aber er hatte gemessenen Befehl erhalten, alles zu schicken und später die etwa verdorbenen Exemplare durch neue zu ersetzen. Die Dorfbewohner hatten Zutritt zum Park, in weitem Bogen umstanden sie in ihren Sonntagskleidern die Gruft und staunten über die pomphaften Vorkehrungen; sie waren der Meinung, keine Königin könne herrlicher beerdigt werden als ihre „Gnädige“, die sie so selten und in den letzten Jahren nie mehr zu Gesicht bekommen hatten. Seitwärts stand der Lehrer mit seinen Schulkindern; er war ein musikalischer Herr, hielt seinen Chor tüchtig zusammen und freute sich, heute einmal Gelegenheit zu finden, den Herrschaften sein Können zu beweisen. Sein strenger Blick musterte die Reihen der Schüler und rügte jede vorwitzige Bewegung, jedes Hüsteln oder Flüstern.

Im Wirtschaftshof der „Perle“ stand eine wahre Wagen- und Schlittenburg, die von einer Viertelstunde zur andern wuchs. [272] Viele von denen, welche die Montrosesche Einladung zum Fest abgelehnt hatten, waren heute erschienen; es galt, der armen Baronin Doßberg das letzte Geleit zu geben, da schloß sich niemand aus. Die beschränkten Räume des Verwalterhauses waren kaum imstande, das ganze Trauergefolge zu fassen.

Horch! Tiefe feierliche Glockenklänge kamen durch die stille Luft. Mit den Tönen des Geläuts der Dorfkirche mischten sich die der Wolframskapelle, tiefer und voller, es war, wie wenn zwei Stimmen miteinander Zwiesprach hielten. Und nun setzte sich unter den beschneiten Bäumen hin der lange Trauerzug in Bewegung. Der hochgetragene Sarg mit seiner Blumenfülle schien durch die klare Winterluft langsam hinzuschweben. Dicht hinter dem Sarge ging Baron Doßberg mit seinen beiden Kindern. Die Leute aus dem Dorf stießen einander an und hatten mitleidige Gesichter, die Frauen zogen die sorgsam gefalteten Taschentücher hervor. Du lieber Gott, wie alt war der Herr Baron geworden, wie grau! War auch hart für ihn – das schöne Gut abgeben und nun die Frau verlieren, die er so über alles geliebt hatte! Und der Junker Armin sah ganz verweint aus, die Baroneß bildschön in ihren schwarzen langschleppenden Trauergewändern, ganz die verstorbene Mutter, nur rosiger, gesunder! Ihre Baroneß Ilse, die kannten die Leute am besten, die war ihnen allen am vertrautesten; die Gesichter hellten sich auf, als sie kam. Und hinterher, da kamen diese „Neuen“, die man noch so wenig gesehen hatte. Neugierig drängten die Dörfler nach vorn, um besser beobachten zu können. Den vornehmen großen Herrn mit dem feinen Gesicht kannten wohl die meisten; das war er selbst, „der Franzos“, wie sie ihn kurzweg nannten, der das Gut gekauft hatte, der immer mit dem Baron im kleinen Jagdwagen herumfuhr. Mußte schwer Geld haben, sollte auch soweit leidlich sein, der alte Hinz lobte ihn immer. Aber die Tochter, die mußte bös hochmütig sein, und die beiden Offiziere, der Sohn und der Bräutigam der Tochter, ebenso! Was die für hochfahrende Mienen aufsetzten, denen sah man den Stolz schon auf hundert Schritte an!

Der Geistliche, ein würdiger Herr mit einem milden menschenfreundlichen Gesicht, stellte sich an dem offenen Grabe auf, und jetzt begannen die Kinder ihren Choral. Die hellen Knaben- und Mädchenstimmen mischten sich mit den Glockenklängen und hallten feierlich nach in der reinen Dezemberluft. Als der letzte Ton verklungen war, wurde es ganz still, bis die Stimme des Geistlichen sich erhob. Da und dort begleitete ein halb unterdrücktes Schluchzen, ein tiefes Aufseufzen die schlichten warmen Worte, die er sprach, und als dann der Sarg in der offenen Gruft verschwand, da brach Baron Doßberg in ein verzweifeltes thränenloses Schluchzen aus. Sein Dasein sah ihn so öde, so ziel- und zwecklos an ohne sie, die nun hier für immer ruhen sollte; ihn dünkte, seine Lebensaufgabe sei gethan, nun er nicht mehr um sie zu sorgen, sie zu behüten hätte. Da trat eine breitschulterige gedrungene Männergestalt, der man auf den ersten Blick den Seemann ansah, neben den Schmerzgebeugten, legte ihm die Hand auf die Schulter und ermahnte ihn, an seine Kinder zu denken, an die Pflichten, die er gegen sie zu erfüllen habe. Ilse nickte dem Onkel dankbar zu und schlang ihren Arm um den Hals des Vaters, Armin faßte zaghaft dessen Hand.

Leupolds scharfe Seemannsaugen musterten durchdringend die „französische Gesellschaft“, ohne sich im mindesten durch die hochmütig gemessenen Blicke der beiden Offiziere einschüchtern zu lassen. Am besten gefiel ihm von der „Sippschaft“ der alte Montrose. Es war ’was drin in dem Gesicht, der Mann konnte unmöglich eine niedrige Gesinnung hegen. Aber wie der alte Herr Ilse ansah – hm, hm, hatte doch schon graue Haare, erwachsene Kinder – nicht sehr anmutend anzuschauen, diese Sprößlinge! – und dennoch! Der alte Leupold konnte die Weiber nicht leiden, aber er war nicht so thöricht, sich’s ableugnen zu wollen, welche Rolle sie im Leben spielten. Er wußte, daß sie aus ernsten besonnenen Männern heißblütige Knaben machen konnten. Ilse war nun freilich verlobt mit Albrecht Kamphausen, diesem Prachtkerl – so nannte der alte Kapitän in der Stille sein Patenkind – aber wenn er sich entsann, wie sie damals errötete und verlegen wurde, als Montroses Name genannt wurde, und nicht mit der Sprache herausging – wer wollte sagen, was die Leidenschaft da wieder für ’nen Brei zusammenrührte! Wer konnte auf ein Weib bauen, wer vermochte, ihrer sicher zu sein?

Als das Grab mit den herrlichsten Kränzen und Palmzweigen bedeckt wurde, trat Herr von Montrose entblößten Hauptes zu den Doßbergs hin. Er schüttelte dem Baron die Rechte und küßte Ilses Hand, während er sie bat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über ihn und die Seinigen zu verfügen; er kenne keinen wärmeren Wunsch, keine größere Ehre als das Verlangen, teil zu haben an ihrem Schmerz, sich in Freude wie in Leid zu ihren Freunden zählen zu dürfen. So wie diese Worte gesprochen wurden, waren sie, zusammen mit der ganzen Haltung des Redenden, eine deutliche Demonstration, und es blieb kein Zweifel, daß sie von sämtlichen Anwesenden als solche empfunden wurden.

Man verabschiedete sich allgemach von den Doßbergs. Gut gemeinte Trostreden, Küsse, Umarmungen, Händedrücke – alles wurde den Leidtragenden reichlich zu teil. Onkel Erich Leupold, den die wenigsten der Gutsnachbarn persönlich kannten, hatte mit unerschütterlichem Gleichmut diese Scenen mit angeschaut und blieb zuletzt allein bei seinen Angehörigen zurück.

Bei den Montroses sprach noch einer oder der andere der entfernter wohnenden Besitzer zu einem Glase Wein vor, keiner von ihnen aber blieb lange, und gegen zwei Uhr nachmittags war die Familie wieder unter sich. Man war in einem der unteren Seitenzimmer versammelt, das an den Billardsaal stieß. Es fehlte noch eine Stunde bis zum Diner. Georges und Botho hatten mit dem jungen Grafen Röstem, der soeben als letzter abgefahren war, eine Partie Billard gemacht, dann die Bälle zwecklos eine Weile hin und hergestoßen, jetzt kamen sie beide in das Nebenzimmer, in welchem Clémence mit einem Stickrahmen am Fenster saß. Sie nähte in Gold und Seide eine kleine Tischdecke für ihren Verlobten. Herr von Montrose las in einer Zeitschrift und rauchte eine Cigarette dazu.

Als Georges über die Schwelle trat, warf er seiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu, den sie sofort richtig deutete. Sie stickte nur noch zum Schein weiter, und die Nadel zitterte in ihrer Hand. Botho von Jagemann zündete sich gleich Herrn von Montrose eine Cigarette an, seine Hand war aber unsicher, und über dem rechten Augenlid hatte er ein nervöses Zucken.

Georges räusperte sich leicht. „Hättest Du einige Minuten Zeit für mich übrig, Papa?“ begann er endlich.

Herr von Montrose blickte auf, legte das Heft, das er hielt, vor sich auf den Tisch und nahm sich frisches Feuer für seine Cigarette. „Bitte!“

„Ich habe in letzter Zeit einige Beobachtungen gemacht,“ begann Georges in seinem gewöhnlichen leichten, ein wenig spöttischen Ton, „die mich, gelinde gesagt, in nicht geringes Staunen versetzt haben. Nicht ich allein übrigens hatte mich zu verwundern – Clémence und Botho haben die gleichen Wahrnehmungen machen können und befinden sich durchaus auf meinem Standpunkt.“

Herr von Montrose sah von seinem Sohn zu den beiden Bezeichneten hinüber; er hlickte allen dreien ruhig ins Gesicht wie jemand, der kaltblütig abwarten möchte, wo der andere hinaus will.

„Es will uns nämlich scheinen,“ fuhr Georges, durch diese kühle Ruhe geärgert, in etwas schärferem Ton fort, „als wenn Du an diese Familie Doßberg, namentlich an die Tochter des Hauses, etwas zuviel – wie soll ich es nennen? – etwas zuviel Liebenswürdigkeit und persönliches Entgegenkommen verschwendetest –“

„Möchtet Ihr Euch nicht derartige Auseinandersetzungen ersparen?“ fragte Montrose gelassen und streifte die Asche von seiner Cigarette ab. „Eine Kritik an dieser Stelle, bei dieser Gelegenheit erscheint mir mehr als überflüssig.“

„Hättest Du nur über Deine eigene Person bestimmt, Papa, so würden wir uns vielleicht bemüßigt gefühlt haben, einstweilen zu schweigen und den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten. Du hast es aber für gut befunden, heute, bei Gelegenheit der Begräbnisfeier, nicht nur Dich selbst, sondern auch Deine Familie diesen – diesen Leuten ganz und gar zur Verfügung zu stellen, und ich erlaube mir die Bemerkung, daß es entschieden vorteilhafter gewesen wäre, uns von dieser Maßnahme zuvor zu verständigen.“

„Zu welchem Zweck hätte ich das thun sollen?“

„Vielleicht zu dem Zweck, Dich unserer Einwilligung bei gedachter Gelegenheit zu versichern – einer Einwilligung, die wir allerdings verweigert haben würden.“

Herr von Montrose zog ein wenig die Brauen hoch und schloß halb die Augenlider. Clémence kannte dies „unerträglich [274] hochmütige Gesicht“, es bedeutete nichts Gutes. „Wenn ich gehandelt habe, wie ich es that, so geschah es mit vollem Vorbedacht. Der Einwilligung von Persönlichkeiten, die von mir abhängig sind, bedarf ich nicht.“

„Es ist gerade kein sehr nobler Zug von Dir, uns beständig an unsere Abhängigkeit zu mahnen!“

„Beständig? Laß doch sehen, wann that ich es wohl zuletzt? Es geschah, als ich Dich von Berlin fortnahm und Du hierherkamst. Damals sagte ich Dir, Dein mütterliches Erbteil, das ich mit peinlichster Gewissenhaftigkeit für Dich verwaltet habe, sei durch Deine Art von Lebensführung bedenklich zusammengeschmolzen, es sei kaum ein Drittel mehr davon vorhanden. Ich ließ Dich Einsicht in die betreffenden Papiere nehmen, um Dir für meine Worte den Beweis zu liefern. Die Ueberbleibsel Deines mütterlichen Vermögens reichen nicht aus, Dir eine Existenz zu ermöglichen, wie Du sie gewöhnt bist, ich sagte Dir daher damals und wiederhole es Dir jetzt, daß Du abhängig von mir bist und meiner Einwilligung bei Deinem Thun und Lassen bedarfst, nicht aber ich die Deinige nachzusuchen habe.“

„Wenn Kinder ein Alter erreicht haben wie wir, so sollte man sie nicht in Abhängigkeit lassen und es als selbstverständlich ansehen, wenn sie die Handlungen der Eltern mit eigenen kritischen Augen prüfen.“

„Meinst Du? Ich sollte denken, es käme dabei ein wenig auf die Beschaffenheit besagter Kinder an. Glaubst Du, ich hätte Euch nicht beobachtet, Clemence und Dich, hätte Euch urteilslos ohne weiteres auf den Platz gestellt, den ich Euch angewiesen? Würde ich eine richtige Wertschätzung des Geldes, eine nur einigermaßen vernünftige Verwendung desselben bei Euch gefunden haben, ich hätte Euch so selbständig gemacht, wie Ihr es nur irgend wünschen könntet. Ich gewahrte aber, daß Ihr mich für eine unerschöpfliche Goldquelle ansaht, einzig dazu da, Eurer maßlosen Genußsucht zu dienen. Darauf hin ist mir die Lust vergangen, Euch unabhängig zu machen. Einem Spieler, einer unsinnig verschwenderischen Modedame, die für Juwelen jährlich ein Vermögen anlegen würde – denen giebt man das Geld nicht in die Hand, das man sich durch jahrelange Mühen im fremden Lande erworben hat!“

Georges, der sich zornig auf die Lippe gebissen hatte, sah seinem Vater jetzt mit einem grausamen und spöttischen Lächeln ins Gesicht. „Ich denke, Papa, unser Großvater hat dafür gesorgt, daß Du Dich nicht allzusehr mit dem Erwerb zu quälen brauchtest – wenn auch seine Art des Geldverdienens nach manchen Ehrbegriffen vielleicht nicht die makelloseste genannt werden kann!“

Montrose erhob sich langsam, sein für gewöhnlich schon blasses Gesicht erschien gänzlich entfärbt. „Das Wort ‚Ehrbegriff‘ in Deinem Munde und in dieser Zusammenstellung nimmt sich seltsam aus!“ sagte er tonlos. „Schwerlich werden wir beide für dieses viel gebrauchte und noch öfter mißbrauchte Wort dieselbe Auffassung haben. Die meinige verbot es mir, von meinem väterlichen Erbteil auch nur einen Heller anzurühren. Was ich bin und habe, verdanke ich mir selbst. Glaubst Du, ich hätte Dich des Königs Rock anziehen lassen, wenn sich dies mit meinen Ehrbegriffen nicht vertragen haben würde?“

Georges und Clemence sahen mehr überrascht als beschämt auf ihren Vater. Einer so romantisch unpraktischen Handlungsweise hatten sie ihn nicht für fähig gehalten.

„In – der – That!“ sagte endlich Georges langsam, einen leichten Anflug von Verlegenheit erfolgreich niederkämpfend, „ich habe das nicht gewußt – es ist dies, wie du ganz richtig sagtest, Ansichtssache. Es läßt sich aber hieraus folgern, daß doch auch Du die Handlungsweise Deines Vaters Deiner Kritik unterworfen hast –“

„Allerdings!“ bemerkte Montrose schneidend.

„– Dich mithin nicht wundern darfst, wenn wir dasselbe thun. Der erwachsene Mensch hat das Recht, den Maßstab seines Urteils an die Handlungsweise eines jeden zu legen.“

„Sicher hat er das; glücklicherweise ist nicht jeder genötigt, sich dadurch irgendwie beeinflussen zu lassen.“

Georges hob ungeduldig die Schultern. Seine spöttische Ruhe begann ihn zu verlassen.

„Du hast Dich in der letzten Zeit der Baroneß Doßberg in einer Weise genähert, welche die junge Dame stark bloßstellen wird, da es doch wohl nicht Deine Absicht sein kann, ihr Deine Hand anzubieten.“

„Und wenn das nun meine Absicht wäre?“

„So würden wir, Botho, Clemence und ich, uns derselben aus allen Kräften widersetzen. Es wäre das ein Affront, Deiner ganzen Familie angethan –“

„Ein Affront, wenn ich mich mit einer Dame aus vornehmem Adelsgeschlecht, dem letzten Sproß eines alten Hauses verbinden wollte?“

„Eine Lächerlichkeit bei Deinen Jahren für den Vater erwachsener Kinder –“.

„Ich muß Dich ersuchen, diese Kinder gänzlich beiseite zu lassen. Sie haben mir bei den verschiedensten Gelegenheiten nicht die geringste Rücksicht bewiesen, haben sich ihr Leben ausschließlich nach eigenem Belieben zurechtgelegt“ – ein flüchtiger Seitenblick streifte Botho von Jagemann, der mit finsterer Miene dasaß und den Mund nicht aufthat – „darum ist es durchaus überflüssig, mich an die Rücksicht auf sie zu mahnen. Was den Altersunterschied betrifft, so ist die junge Dame die einzige, die hierbei Bedenken zu überwinden hätte. Ihrer Entscheidung, und nur dieser, würde ich mich zu unterwerfen haben!“

„Papa!“ rief Clemence und brach in Thränen aus, „Du willst doch damit nicht sagen, daß Du mir eine Stiefmutter geben willst, die zwei Jahre jünger ist als ich?“

„Allerdings will ich das sagen. Deine Frage setzt mich übrigens um so mehr in Erstaunen, als Du selbst bei Gelegenheit Deiner Verlobung den Grundsatz aussprachst, nur die Stimme des Herzens dürfe uns bei der Wahl des Lebensgefährten leiten – alles übrige sei ohne jeden Belang.“

„Gewiß hab’ ich das gesagt – aber ich bin jung, ich trete erst ins Leben hinaus, es ist mein gutes Recht, mir meinen Anspruch auf Glück zu sichern.“

„Hat nur der, der erst ins Leben hinaustritt, dieses Recht? Wie, wenn uns die Jugend nun um unser Glück bestiehlt, wenn sie es uns vorenthält – sollen wir darum für immer darauf verzichten?“

Clemence sah zornig und trotzig durch ihre Thränen zu ihrem Vater auf. „Du hast die arme Mama nie geliebt!“ rief sie vorwurfsvoll. „Sie hätte keine Ruhe im Grabe, wüßte sie, welch unerhörten Plan Du hast. Es darf nicht geschehen, soll nicht – ich bleibe keine Stunde länger im Hause, wenn Du dies Mädchen, diese hochmütige Bettelpr –“

„Clemence!“ Es war ein Ton, wie sie alle ihn noch nie von dem stets gelassenen Mann gehört hatten. „Noch einmal dies Wort, und Du wirst allerdings keine Stunde länger in diesem Hause geduldet. Uebrigens steht es Dir jederzeit frei, den Tag Deiner Hochzeit zu bestimmen, vorausgesetzt, daß –“ Montrose sah prüfend ihrem Bräutigam ins Gesicht, in dem eine verzweifelte Entschlossenheit arbeitete.

Der Lieutenant sprang auf und that einen tiefen Athemzug, ehe er zu reden begann. „Gestatten Sie mir, ein Wort unter vier Augen mit Ihnen zu sprechen!“ Seine Stimme klang heiser, in seinen dunklen Augen flackerte es unruhig.

„Ich stehe zu Diensten.“ Montrose, der sich noch nicht wieder gesetzt hatte, ging nach dem Billardsaal – jenseit desselben lag sein Arbeitszimmer.

„Botho!“ schrie Clemence auf und warf sich ungestüm in die Arme des Offiziers.

Ein Gemisch von Mitleid und Verachtung zuckte um ihres Vaters Lippen, als er dies sah. „Gieb ihn frei, Clemence!“ sagte er ruhig. „Ich will sehen, was ich für Dich thun kann. Georges, halte sie hier zurück!“

Ohne sich nach den Geschwistern weiter umzusehen, durchschritten die beiden den Billardsaal und traten in das Zimmer des Hausherrn. Ihr Verhältnis zueinander war von Anfang an schlecht gewesen. Bald nach der Uebersiedlung der Familie Montrose nach St. hatte man auf einem Ball bei dem Obersten des Regiments die Bekanntschaft des „schönen“ Botho von Jagemann gemacht, und Clemence mit ihrem ungezügelten Temperament hatte noch an demselben Abend eine heftige Leidenschaft für den jungen Offizier gefaßt. Sie hatte nicht die Kraft besessen oder besitzen wollen, ihr Gefühl zu verbergen, und da das reizlose Mädchen für die Erbin eines sehr bedeutenden Vermögens galt, so zögerte der stark verschuldete Lebemann nicht, sofort als ihr erklärter Bewerber aufzutreten. Montrose, dem Jagemanns Wesen nicht die geringste Achtung einflößte, versuchte umsonst, seine Tochter vor diesem [275] Freier zu warnen – sie ließ sich blindlings von ihrer Leidenschaft beherrschen und trat dem Vater schon nach kürzester Frist mit der Thatsache der vollzogenen Verlobung entgegen. Wohl oder übel mußte sich Montrose nun fügen, wollte er nicht einen Skandal entfesseln; er hörte aber darum nicht auf, den künftigen Schwiegersohn mit Abneigung und Mißtrauen zu betrachten.

„Sie werden es mir nicht verargen“ begann Botho jetzt, Montroses einladende Handbewegung zum Niedersetzen mit einer Verbeugung ablehnend, „wenn ich unter den obwaltenden Umständen ganz offen zu Ihnen spreche. Als ich mich um die Hand Ihrer Tochter bewarb, war ich der festen Ueberzeugung, neben Georges in ihr die alleinige Erbin Ihres Vermögens zu sehen; als mittelloser Offizier, nicht zum besten in meinen Besitzverhältnissen arrangiert, sah ich mich genötigt, auch die materielle Seite meiner ehelichen Verbindung ins Auge zu fassen. Die Möglichkeit einer neuen Heirat Ihrerseits ist mir, offen gestanden, nicht einen Augenblick in den Sinn gekommen.“

„Das will ich Ihnen glauben. Diese Möglichkeit lag damals auch ganz fern.“

„Sie werden mir zugeben müssen, daß dieser Plan den Dingen eine ganz andere Wendung giebt.“

„Kaum. Clemence ist die berechtigte Erbin ihres mütterlichen Vermögens. Alles Uebrige freilich bleibt einzig und allein meiner freien Entschließung vorbehalten; ich würde mich da nie zu einem bindenden Zugeständnis verpflichten.“

„Wenn Sie indessen zu einer zweiten Vermählung schreiten und andere Erben hinzutreten, so würde eine neue Ordnung der Sache unvermeidlich sein –“

„Im Fall meines Todes, gewiß!“ Herr von Montrose zeigte ein kühles geringschätziges Lächeln. „Doch würden Georges und Clemence selbst ohne die neue Wendung der Dinge, die übrigens noch lange keine vollzogene Thatsache ist, vor unliebsamen Ueberraschungen meinerseits nicht sicher sein. Es könnten jederzeit Umstände eintreten – und nach der Unterredung eben halte ich dies sogar für recht wahrscheinlich – die mich bestimmen, in meinem Testament öffentliche Stiftungen zu bedenken und meinem Sohn wie meiner Tochter nur den Pflichtteil dessen zuzuwenden, was ich mir lediglich durch eigenes Können erworben, über was ich folglich die freie Verfügung habe. Doch ist das mütterliche Erbteil meiner Tochter, sollte ich meinen, ansehnlich genug, auch weitgehenden Ansprüchen zu genügen, und um ihr das, was sie als ihr Glück ansieht, zu erhalten, würde ich ihr die Zinsen des von mir erwähnten Pflichtteils schon jetzt ausfolgen.“ Die letzten Worte kamen Montrose mit sichtlicher Anstrengung über die Lippen, aber er gedachte seines Versprechens von vorhin.

Botho von Jagemann zögerte einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick. Die Eröffnungen Montroses hatten ihn mit unglaublicher Enttäuschung erfüllt. Also selbst im Fall Montrose den verrückten Gedanken einer neuen Ehe aufgab oder aufgeben mußte, standen Georges und Clemence nicht als alleinige Erben da! Er, Botho von Jagemann, sollte sich mit einem Almosen abspeisen lassen, wo er fürstlich zu schwelgen gedacht hatte? Ihn lockte nur der Genuß, und zwar der ungehemmte, schrankenlose, den ihm seine knappen Verhältnisse bisher nur bedingungsweise gestattet hatten – was sollte ihm da ein „wohlhabendes“ Mädchen? Wozu hatte man denn seinen alten Namen, sein schönes elegantes Aeußere, als um einen wirklichen schweren Goldfisch damit zu ködern? In blitzschneller Aufeinanderfolge ging ihm diese Gedankenreihe durch den Kopf, und sein Entschluß war gefaßt.

„Sie haben es selbst vor kaum einer halbeu Stunde betont,“ begann er mit gesenktem Blick, denn Montroses Augen waren ihm unbequem, „daß Clémence sehr verwöhnt ist und bedeutende Ansprüche erhebt. Um derartigen Bedürfnissen genügen zu können und selbst standesgemäß aufzutreten, dazu ist bei den heutigen Verhältnissen ein großes, sehr großes Vermögen erforderlich, und ich fürchte –“

„Sie fürchten, daß ich Ihren Ansprüchen nicht genügen werde, trotzdem ich mich soeben noch bereit erklärte, die – die“ – Montrose suchte einen Augenblick nach einem andern Ausdruck, schleuderte dann aber seinem Gegenüber das erste Wort, das ihm in den Sinn gekommen war, mit verächtlicher Nachdrücklichkeit ins Gesicht – „die Kaufsumme zu erhöhen. Es kostete mich einen Kampf, denn ich finde, ehrlich gesagt, den Preis des Einsatzes nicht wert. Aber Clémence wird sehr unglücklich sein, und ich kann nicht umhin, einiges Mitleid mit ihr zu haben. Ihre Befürchtungen in betreff Ihrer beiderseitigen Ansprüche an mich sind vollauf berechtigt und ich spreche Ihnen meine Genugthuung aus, daß Sie mich noch beizeiten einen Einblick in Ihre Berechnungen gewinnen ließen. Es bleibt für Sie nur noch übrig, mir den Ring, der Sie bis zur Stunde noch an den Gegenstand Ihrer Spekulation knüpft, zurückzugeben – ich werde Sorge tragen, daß Sie heute abend noch im Besitz der Dinge sein sollen, die meine Tochter von Ihnen erhalten hat.“

Der schöne Botho war rot geworden und kniff die Lippen zusammen; als er aber Miene machte, noch etwas zu erwidern, schnitt ihm Herr von Montrose mit einer nachdrücklichen Bewegung das Wort ab. „Bitte, wir sind fertig miteinander – was könnten Sie mir noch zu sagen haben?“ Er nahm von einem nahestehenden Rauchtischchen eine kleine kupferne Schale und stellte sie mit einem ausdrucksvollen Blick vor den Offizier hin. „Bitte!“

Mit zornig funkelnden Augen zog der junge Mann den Ring vom Finger und legte ihn in die Schale. Herr von Montrose nickte bestätigend, dann drückte er so kräftig auf den Knopf der elektrischen Leitung, daß ein schriller Ton allarmierend durchs Haus lief. Merwig trat geräuschlos ein und blieb in wartender Haltung an der Thür stehen.

„Den Jagdschlitten für Herrn von Jagemann zur Bahn!“

Und ohne noch Wort oder Blick an den neben dem Tisch Stehenden zu wenden, ging Montrose an ihm vorüber, zur Thür hinaus, die ihm Merwig mit tiefer Verbeugung offen hielt.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 17, S. 286–291
[286]
15.

Wie hart war der Winter gewesen! Mit eiserner Faust hatte er das Regiment geführt und es festgehalten weit über seine Zeit. Eine kurze Pause hatte er den Menschen zum Aufatmen gegönnt – nach dem Weihnachtsfest war’s gewesen – dann aber hatte er aufs neue den blinkenden Eisharnisch angethan und seinen frostigen Atem über See und Land gehaucht. Der März noch hatte seine unerbittliche Hand gefühlt. Schneewehen und eisige Kälte waren bis in die ersten Tage des April an der Tagesordnung. Dann aber kam ein gewaltiger Sturm, ein eiliger Regenschauer – und nun schlich schüchtern, auf leisen zögernden Sohlen der Frühling ins Land, ließ die Schneeglöckchen wie zaghafte Boten auftauchen, und als sie ein zuversichtliches Läuten anhoben, da schickte er die Lerchen und schickte die Veilchen, hing kleine flaumige Weidenkätzchen an die Bäume und tupfte auf alle kahlen Aeste winzige lichtgrüne Spuren. Dazu ging ein Hauch durch die Luft, warm und liebkosend. wie ein Kuß von geliebten Lippen.

Wie geschäftig die Schwalben um das alte Schloß zu „Perle“ flogen, wie emsig sie das Nesterbauen betrieben, mit schwirrendem Laut um die Zinnen kreisend, deren Wetterfahnen goldig im Sonnenlicht blinkten! Wie das weite blaue Meer funkelte und wohlig atmete im Sonnenschein! Die ernsten Tannen trieben feine hellgrüne Spitzchen, und aus dem Gewirr der uralten Eichenäste, die bisher so schwarz und kahl gen Himmel gestarrt, wand sich’s allmählich hervor in blaßbräunlichem Schimmer – die ersten Blättchen, noch scheu aneinander geklebt, ängstlich zusammengeduckt, aber von Tag zu Tag kräftiger sich entwickelnd, der Wärme, dem Licht entgegen.

Im Park war der Obergärtner mit seinen Gehilfen thätig. Er ersann neue Zusammenstellungen zu den Teppichbeeten, ließ die überwinterten Pflanzen herausbringen und war vom Morgen bis zum Abend bei der Arbeit; ein sehr geschickter Mann, in seinem Fach ein Künstler. Er bedauerte nur, mit seiner Kunst bei den Herrschaften so wenig Anerkennung zu finden. Der Herr Lieutenant kam sehr selten nach „Perle“ heraus, und wenn es geschah, dann sah er über alle neu angelegten Plätze und Beete hinweg, als wären sie Luft. Und auch das gnädige Fräulein war wie umgewandelt seit der Auflösung ihrer Verlobung, von welcher der Obergärtner ebenso wie das übrige Schloßpersonal sofort nach vollzogener Thatsache Kunde bekommen hatte. Sie, die sich sonst um alles und jedes kümmerte und von jeder Sache etwas zu verstehen meinte, ging jetzt still und gedrückt einher, gleichgültig gegen die ganze Welt, und die Versuche ihres Vaters, sie auf andere Gedanken zu bringen, schlugen fehl. Merwig, der immer alles in Erfahrung brachte, wußte, daß Herr von Montrose seiner Tochter vorgeschlagen hatte, eine Reise zu unternehmen, für den Winter und Frühling nach dem Süden zu gehen – die Baronin Norter ging mit ihrer Tochter, einer jungen Dame in Clémences Alter, nach Capri, später an die Riviera, das hätte den besten Anschluß abgegeben ... umsonst! Clémence weigerte sich eigensinnig, irgend etwas zu unternehmen, vergrub sich hartnäckig in ihren Kummer und sprach unaufgefordert kein Wort mit dem Vater. Wahrlich, der gnädige Herr konnte einem leid thun! Sie standen alle auf seiner Seite, von Merwig an bis herunter zum Küchenjungen – sie fanden es ganz in der Ordnung, daß er dem hochmütigen Lieutenant, der sich ja doch aus dem gnädigen Fräulein nichts machte und sich offenbar nur des Geldes wegen mit ihr verlobt hatte, so kräftig heimgegeigt hatte. Im übrigen kamen dem Obergärtner zuweilen seine eigenen Gedanken, wenn er den Blumenflor, der ins Verwalterhaus hinüberwanderte, so regelmäßig erneuern und die Grabstätte der verstorbenen Baronin Doßberg mit dem Schönsten schmücken mußte, was Treibhaus und Garten irgend hergaben. War es denkbar, daß der gnädige Herr ein Auge auf die junge Baroneß geworfen hatte? Es war allerdings nicht wahrzunehmen, daß die junge Baroneß den großmütigen Geber all dieser zarten Spenden irgendwie ermutigte, eher das Gegenteil. Der Obergärtner, dessen Wohnung so gelegen war, daß er ein großes Stück des Parkes überschauen konnte, darunter auch den Eingang zur Doßbergschen Familiengruft, sah die junge Dame im Winter oft durch den beschneiten Park ihren Weg dorthin nehmen, regelmäßig zehn Minuten später, nachdem Herrn von Montroses Schlitten davongeklingelt war. Sie mußte aus seinen Inspektionsfahrten und seinen Besuchen in die Nachbarschaft ein förmliches Studium gemacht haben. Freilich konnte ihr Vater ihr darüber den besten Bescheid geben, die beiden Herren fuhren nach wie vor, anscheinend im besten Einvernehmen, miteinander aus, wenn es galt, die Vorwerke zu besuchen und die Felder zu besichtigen; dann hatte Baroneß Doßberg freie Bahn. Schön war sie, wenn sie so eilig durch den winterlich ruhenden Park daherkam. Der Obergärtner öffnete zuweilen trotz der eindringenden Kälte sein Fenster, um sie besser sehen zu können, die feine biegsame Gestalt mit dem Gesichtchen, das so weiß und rosig unter dem breitrandigen Hut mit dem zurückgeschlagenen Trauerschleier hervorschaute. Und wenn sie gelegentlich für einen Gruß dankte und lächelte, dann war sie wirklich, wie sich der Obergärtner sagte, unwiderstehlich. Zwar kam dies Lächeln selten, meistens blickte sie ernst drein, sie mußte die Mutter wohl tief betrauern, hatte auch sonst offenbar noch allerlei stille Kümmernisse. Warum lief sie dem Postboten beinahe täglich entgegen, ließ ihn seine Tasche öffnen und ging dann traurig, mit enttäuschtem Gesicht, zum Verwalterhause zurück? Man hatte wohl gehört, der junge Herr, ihr Bruder, wolle zur See gehen, aber damit hatte es doch noch gute Wege; der saß fürs erste wohlgeborgen in Kiel, um zu lernen, und das mußte er noch eine ganze Zeit lang thun, ehe er aufs Schiff kam – also dem konnte ihre Sorge nicht gelten. Wem aber sonst?

Jetzt, da der Park sich mit neuem Grün schmückte, jubelnde Vogellaute aus Baum und Hecke klangen und die Blumen nach einem warmen Regen eilig aus der dunkeln Erde emporsproßten, kam Ilse von Doßberg noch häufiger äls früher in den Park zur Grabstätte. Herr von Montrose ritt jetzt viel aus, allein oder mit seinem Verwalter. Er hatte sich ein neues Reitpferd angeschafft, einen wunderschönen Goldfuchs, „Mazeppa“ geheißen den ritt er sich zu. „Mazeppa“ war schön und ungebärdig, die Stallknechte wußten von ihm zu sagen. Tückisch konnte man ihn nicht nennen; wenn er einmal stand – „wie ein Lamm“ – so blieb es auch dabei, aber bis es dahin kam! Das ganze Personal versammelte sich, sobald Philipp das Pferd vorführte und Herr von Montrose aufsaß; die Männer liefen vor die Thür, die Frauenzimmer ans Fenster. Auch Baron Doßberg kam gewöhnlich dazu, er teilte das allgemeine Interesse für „Mazeppa“ und hatte trotz seiner großen [287] Einsilbigkeit auch seiner Tochter von dem schönen Tier erzählt, mit dem Zusatz, Herr von Montrose sei merkwürdigerweise ein tollkühner Reiter, zwar sehr geübt und sicher in der Hand wie im Sitz, aber doch eben waghalsig, und er, Doßberg, könne sich nie eines gewissen Bangens erwehren, sobald Montrose an „Mazeppa“ seine Erziehungskünste versuche.

Auch heute, an einem lauen feuchtwarmen Maiabend, hatte Philipp vor der Rampe des Schlosses den Goldfuchs am Zügel. Der erfahrene Kutscher, dem das teuere und seltene Pferd zu besonderer Pflege anvertraut war, sprach beruhigend in „Mazeppa“ hinein, hauchte ihm in die Nüstern, klopfte ihm den spiegelblanken Hals und „machte ihm die Cour,“ wie er es selbst lachend nannte. Der Fuchs ließ sich das alles gnädig gefallen, er rieb seine schlanke Nase vertraulich an Philipps Schulter und scharrte mit dem zierlichen Vorderhuf graziös im Sande, aber dabei schielte er argwöhnisch seitwärts. Da! Eine Thür klang – „Mazeppa“ warf den Kopf herum und biß in die Kinnkette, daß der Schaum herabtroff, während Philipp ihm nach Kräften schmeichelte. Herr von Montrose kam die Freitreppe herunter, die Reitpeitsche unter den Arm geklemmt. Er hielt dem Pferd ein Stück Zucker hin und noch eines – dieses zerbiß die willkommene Gabe, ließ aber keine Sekunde davon ab, den Geber aus dem Augenwinkel zu beobachten. Sowie dann Montrose den Fuß hob, um in den Bügel zu kommen, machte der Fuchs eine drehende Bewegung, versuchte zu steigen und feuerte dann hinten aus, daß Kies und Funken den Nächststehenden nur so um die Ohren spritzten.

Herr von Montrose lächelte und Philipp auch; die übrigen Zuschauer sahen besorgt aus. „Mazeppa“ fuhr fort, sich wie ein Tänzer zu drehen und den Kopf zu werfen, dadurch verlor er aber den Vorteil des Beobachtens, und dieser Umstand wurde selbstverständlich benutzt. Herr von Montrose folgte jeder Bewegung des aufgeregten Tieres mit achtsamem Auge – ein Ruck, und er hatte den Fuß im Steigbügel und war in der nächsten Sekunde im Sattel. Philipp ließ los – und wie ein Wetter stob das Pferd davon. Philipp sah der wilden Jagd nach und nickte beifällig.

„Meinen Sie, er bleibt oben, Philipp?“ fragte der Obergärtner zweifelnd.

„Na und ob! Dem passiert nichts! Was der für’n Sitz hat und für Schenkel und Hände! Sieht ihm kein Mensch an! Wenn der Herr in den Sattel kommt, ist er mit eins seine zwanzig Jahre jünger.“

Drüben an einem Fenster des Verwalterhauses stand Baron Doßberg mit Ilse. Sie hatten die ganze Scene mit angesehen. Ilses Arm lehnte gegen ihres Vaters Schulter, und er fühlte zu seinem Staunen, daß dieser Arm leise zitterte. Er sah ihr ins Gesicht, das einen erschöpften ängstlichen Ausdruck trug. „Kind, hat Dich der Anblick aufgeregt?“ fragte er besorgt und zog das feine Köpfchen an seine Brust

„Es – es sah doch so bedenklich aus!“

„Ja, der ‚Mazeppa‘ ist ’ne eigenwillige Kreatur, aber Montrose ist ihm schon gewachsen – es wäre nur gut, wenn er nicht so tollkühn sein wollte. Der Mann wird buchstäblich ein anderer Mensch, sobald er zu Pferde sitzt. Hat er das Tier erst einmal gemeistert, dann unternimmt er ein Wagestück um das andere. Es reize ihn unwiderstehlich, hat er mir selbst gesagt, und als ich ihm erwiderte, wie leicht er dabei verunglücken könnte, meinte er, das glaube er nicht, schon darum nicht, weil niemand da sei, ihn zu betrauern. Für den Vater zweier Kinder ein merkwürdiger Ausspruch!“

Ilse wandte ihr Gesicht weg. „Kommst Du mit in den Park, Papa? Wir können ja jetzt hinein. Fräulein von Montrose ist zu Röstems hinübergefahren.“

„Hat sie Dich nicht aufgefordert, sie dorthin zu begleiten, da sie doch um unsere alte Freundschaft zu den Röstems weiß?“

„Nein. Wir sehen einander fast nie, Clémence und ich, und wenn es geschieht, dann tauschen wir nur einen steifen Gruß. Es ist nicht meine Schuld, daß wir uns so feindlich gegenüberstehen.“

„Und die Ursache ihres Benehmens, Kind?“

„Ich glaube, den Grund zu kennen, habe aber alles gethan, was in meinen Kräften stand, ihrem Argwohn keine Nahrung weiter zu geben.“

Ilse begegnete ihres Vaters forschendem Blick und schlug dann rasch die Augen nieder. „Können wir gehen?“ fragte sie hastig und unvermittelt. „Darf ich mir meinen Hut holen?“

Er nickte, und einige Minuten später schritten Vater und Tochter Arm in Arm die wohlbekannte breite Lindenallee hinab, die den Eingang in den Park bildete. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her. Ilse dachte an Albrecht Kamphausen, dessen Bild fern, fern vor ihr dahinschwebte, unerreichbar wie eine Fata Morgana; sie rief sich ihr kurzes flüchtiges Liebesglück zurück und berechnete wieder – zum wievielten Mal schon! – wie lange, wie unbegreiflich lange sie nichts mehr von ihm gehört. Onkel Leupold hatte sie ihrer Angst wegen gescholten und auch getröstet, anfangs zuversichtlich und nachdrücklich, nach und nach immer kleinlauter und mit abnehmender Uberzeugungskraft. Er mußte zugeben, es sei sonderbar, daß so lange keine Nachricht komme und daß überhaupt jede Kunde über den Verbleib der „Nixe“ fehle. Ach, die langen lichtlosen Winternächte, wenn der Sturm heulend um das Haus flog und wie mit Geisterhänden an die Fensterläden klopfte ... wie oft sie da mit leisem Aufschrei aus dem Schlaf erwacht war und sich zitternd aufgesetzt hatte, um zu lauschen! Und immer sah sie das Schiff, wie es, vom Sturm gejagt, über die tobenden Wassermassen flog, die Segel in Fetzen, die Masten geknickt – und ihn auf der Kommandobrücke, bleich und ernst, den Tod vor Augen ... ihn, an den ihre geängstigte Seele sich klammerte wie an einen letzten Rettungsanker, der sie schützen sollte gegen all die dunkeln Mächte, die in ihrer Seele rangen. Ach, nur Nachricht, Nachricht von Albrecht, und wenn es bloß eine Zeile gewesen wäre, damit sie aufatmen, dies drückende Geheimnis von ihrer Seele wälzen und ihrem Vater endlich sagen konnte, wie es um sie stand. Die zarte schwache Mutter hatte es nicht erfahren dürfen, daß ihre Ilse die Braut eines ihr unbekannten Seemanns ohne Vermögen war, und unmittelbar nach ihrem Tode hatte Ilse auch den Vater schonen wollen. Jetzt aber, wo sie fest entschlossen war, zu sprechen, jetzt, da seit dem Heimgang der Mutter fünf volle Monate verflossen waren, jetzt wußte sie nicht einmal, ob Albrecht lebe – wie konnte sie da ihr Geheimnis preisgeben!

Sie fuhren beide, Vater und Tochter, wie aus einem Traum empor, als einer der Bedienten vom Schloß ihnen entgegenkam und ehrerbietig grüßte. Mit einem Schlage waren sie in die Gegenwart zurückversetzt.

„Es wäre mir lieb, Ilse,“ begann Doßberg nach einer kleinen Pause zögernd, mit sichtlicher Anstrengung, „es wäre mir lieb, wenn Du trachten wolltest, das gespannte Verhältnis zwischen Dir und Clémence von Montrose nicht zu verschlimmern, ja wenn irgend thunlich, zu verbessern. Ich weiß wohl, daß Herr von Montrose wenig Gewicht auf die Meinung seiner Tochter legt, dennoch könnte er jetzt, da er ihre Verlobung aufgelöst hat und offenbar Mitleid mit ihr empfindet, eher dazu geneigt sein als sonst, und das würde vielleicht nicht ohne Einfluß auf meine Stellung sein. Du bist mein geliebtes Kind und thust alles, mir das Dasein erträglich zu machen – aber seit Deiner Mutter Tod bin ich ein gebrochener Mann, und ich denke, ich lebe nur darum noch, weil ich mich um die ‚Perle‘ bemühen, weil ich die Luft meiner Heimat atmen darf!“

Die Lippen zitterten ihm, er war außer stande, mehr zu sagen. Ilse sah ihn von der Seite an, ihr schmolz das Herz in Liebe und Mitleid. Wie alt er geworden war, wie weiß sein Haar, wie gebeugt seine Haltung! War dieser in sich zusammengesunkene Mann ihr schöner stattlicher Vater, zu dem sie so stolz und freudig emporgeblickt hatte? Die Thränen schossen ihr in die Augen, als sie sich tief über die Hand neigte, die auf ihrem Arm lag. „Es soll alles sein, wie Du es haben willst,“ sagte sie mit einer Stimme, die sich umsonst mühte, heiter und gefaßt zu klingen.

„Dank Dir, mein Kindl Es ist ein Opfer, das Du mir bringen mußt –“

„Nein Papa, nein, das ist es nicht!“

„Doch, Ilse! Aber ich nehme es an, denn ich habe noch zu leben für Dich und für Armin und weiß, daß die Wurzeln meines Lebens hier in ‚Perle‘ festgewachsen sind.“

Schweigend legten beide den Weg bis zu der Doßbergschen Familiengruft zurück; daß diese das Ziel ihres Ganges sei, hatten Vater und Tochter in stillschweigendem Einverständnis angenommen. Vor kaum einer Stunde war ein warmer Mairegen gefallen, dankbar strömte das junge Blattwerk an Baum und Busch seinen herbkräftigen Atem in die weiche Abendluft. Die Gräber lagen da wie ein stilles Heiligtum, das letzte in der Reihe geschmückt mit dem Blütenflor der schönsten Frühlingsblumen. Ringsumher schimmerte der Rasen smaragden in den schmalen Streiflichtern, [288] welche die Sonne durch die Laubmassen warf; kein Hälmchen war umgebogen, keine Blume welk oder geknickt.

Ilse seufzte tief auf. „Mir ist das gar nicht recht,“ wandte sie sich an ihren Vater. „Wie gern würde ich selbst etwas für Mamas Grab thun, es wäre so schon, es zu pflegen, zu schmücken! Komme ich aber hierher, so finde ich alles gethan, kaum entdecke ich ein kleines Plätzchen für meine Blumen, die ich bei uns im Gärtchen ziehe.“ Mit vorsichtiger Hand bog sie da und dort einen Zweig zur Seite, um Raum für eine blaßgelbe selbstgezogene Marschall Nielrose zu gewinnen, die sie mitgebracht hatte.

„Möchtest Du nicht einen Kranz von diesen wilden Blumen für das Grab flechten?“ fragte Doßberg und deutete auf die Maßliebchen und Glockenblumen, die in überreicher Fülle auf den Grasflächen wucherten. „Mama hatte gerade diese Blumen so besonders gern!“

Ilse nickte und machte sich sofort emsig ans Pflücken. Dann setzte sie sich, den Schoß voller Blumen, auf die neben dem Grabe stehende Bank und begann ihr Werk, während der Baron neben ihr Platz nahm und mit trübem Blick auf die geschäftigen weißen Hände sah.

Hinter dem dichten Wall der Kastanien und Linden ging das Gitter hin, welches den Park von der Landstraße schied – die Familiengruft lag ganz am Ende des Parkes. Wer besonders aufmerksam von der Straße hereinspähte, der konnte immerhin die innerhalb des umfriedigten Raumes Befindlichen unterscheiden. Nach einer guten Weile – der Kranz, den Ilse flocht, war etwa zur Hälfte fertig – hörten die beiden, die in Gedanken versunken dasaßen, eine wohlbekannte Stimme mit breitem Accent. „Herr Baron! Ich irr’ mich doch wohl nicht, und Sie sitzen da drin. Können Sie denn nicht ’mal ’n hißchen durchs kleine Gitterthor zu mir ’raus kommen?“

Doßberg lächelte. „Das ist Hinz! Wie wär’s, alter Freund,“ fügte er mit erhobener Stimme hinzu. „wenn ich Ihnen das kleine Gitterthor aufmachte, und Sie kämen zu mir herein?“

„Kann ich nicht, Herr Baron! Hilft zu gar nichts! ’s ist nicht ’was zu erzählen, was ich hab’ .... ’was zu zeigen ist es. Herr Baron müssen man selbst kommen und sich die Bescherung ansehen. Bei der Sommerung an der Belter Grenz’, da ist ’was passiert! Ich hab’ gesagt, sie sollen da wegen dem Regen Faschinen legen, damit uns der Boden da nicht mir nichts dir nichts fortgespült werden kann, und der Herr Baron haben ’s auch gesagt ... aber nu haben sie das so hingemuddelt und haben sich gedacht: I, das hat ja noch Zeit, und dies ist nötiger und jenes ist nötiger ... na ja, aber der letzte Gewitterregen, den wir hatten, der hat danach nicht gefragt und hat die ganze Geschichte unterspült und ’n gutes Stück weggerissen oben am Berg, und nu haben wir die Pastete!“

„Ich komme sofort!“ Baron Doßberg hatte sich schon erhoben. „Ich bin bald wieder zurück, Kind, Du weißt ja, das ist kein weiter Weg! Willst Du hier bleiben und auf mich warten?“

„Ich denke, ja, Papa! Der Abend ist wundervoll, und mein Kranz ist nicht so bald fertig.“

„Schön! Ich hole Dich also hier wieder ab.“ Doßberg ging zu der kleinen Gitterpforte, die sich von innen öffnen ließ, und verschwand mit Hinz. Die Thür blieb angelehnt.

Die Sonne sank tiefer und tiefer und warf purpurne Streifen durch die Bäume. Die Goldbuchstaben auf dem weißen Marmorkreuz glühten auf, sehnsuchtsvoll schlug die Nachtigall im nahen Busch. Goldener Abendfrieden lag träumerisch auf dem stillen Fleckchen Erde, wo die Toten ausruhten von des Lebens Kampf und Mühsal, und in dem jungen, bis vor kurzem noch so lebensfrohen Herzen Ilse von Doßbergs wachte die Sehnsucht auf, auch so leidlos und traumlos zu schlummern wie die da unten ...

Sie erschrak, als sich jetzt in ihrer Nähe Hufschlag vernehmen ließ; durch die Lücken im Gebüsch sah sie einen Reiter herankommen und wußte sofort, wer es war. Sie rührte sich nicht – Herr von Montrose würde sie hier nicht vermuten, nicht entdecken – und während sie dies dachte, vernahm sie seinen Pfiff, sah einen Schatten geschwind am Gitter hinlaufen und hörte einen Befehl erteilen, dann klang die kleine Pforte und Herr von Montrose kam rasch auf sie zu. Sein Gesicht war nicht so kühl und blaß wie sonst – vermutlich hatte es einen harten Strauß mit „Mazeppa“ abgesetzt. Der englische Reitanzug kleidete ihn gut und ließ seine Gestalt auffallend geschmeidig und schlank erscheinen; in den Augen lebte ein ihnen sonst fremder Ausdruck von Entschlossenheit.

Ilse neigte zu seinem Gruß stumm den Kopf, ihre Hand, welche die blauen Glockenblumen auf ihren Knien zerwühlte, streckte sich ihm nicht zum Gruß entgegen.

„Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, daß es mir endlich dies Zusammentreffen mit Ihnen gönnt,“ begann Montrose. „O, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Baroneß“ – Ilse hatte eine Bewegung gemacht, als ob sie ihn unterbrechen wollte – „Sie meinen, wir hätten einander häufig genug gesehen. Aber das geschah nie ohne Zeugen. Ich habe mich hundertmal bemüht, Sie allein zu treffen, es ist mir nie gelungen. Jetzt eben traf ich Ihren Vater mit dem alten Inspektor drüben an der Belter Grenze, und da ich nach Ihnen fragte, mußte er mir sagen, daß Sie hier wären. Sie können mir nun nicht mehr ausweichen!“

Nein, sie konnte nicht – und sie wollte es auch nicht. Sie wußte, was kommen würde – aber einmal mußte es ja sein, und wenn sie es dann endlich überwunden hatte, dann mußte auch diese unerträgliche Bangigkeit von ihr weichen, sie mußte ihr früheres Selbst, das zielbewußte unbefangene Wesen wiedergewinnen. Mochte er denn sprechen!

„Wollen Sie Platz nehmen?“ fragte sie und rückte ein wenig zur Seite. Diese höfliche Frage in ihrer nüchternen Förmlichkeit that ihr ordentlich wohl.

Montrose setzte sich und sah Ilse unverwandt ins Gesicht. Sie wollte den Blick nicht erwidern, aber sie konnte nicht anders.

„Sie mußten es schon damals im Winter bei dem Fest im Schloß wissen, daß ich Ihnen Wichtiges zu sagen hätte, Baroneß – mir schwebte eine Erklärung auf den Lippen. Nur widerstand es mir, sie Ihnen mitten im Lärm eines Festes, im Kreise so vieler fremder Menschen zu geben. Dann kam der Tod Ihrer Mutter – ich wünschte, Ihren Schmerz zu ehren, Ihnen Zeit zu lassen, die erste Heiligkeit des Kummers zu überwinden – so bezwang ich mich denn, aber es wurde mir unsagbar schwer.“

In die eingetretene Pause schallte der werbende Gesang einer Nachtigall in unmittelbarster Nähe, sehnsüchtig und klagend.

„Was ich Ihnen zu sagen habe, Baroneß, wird Ihnen eine ungeheuere Vermessenheit scheinen, und dennoch muß ich sprechen, weil ich nicht anders kann, weil ich in Ihren Augen gelesen habe, daß Sie Teilnahme für mich haben, Mitgefühl! Lassen Sie sich’s nicht gereuen, mir das gezeigt zu haben – ich hoffe dessen nicht ganz unwert zu sein. Mitgefühl! Ich hab’ es von so wenigen Menschen begehrt, ja ich hab’ es immer abgewiesen – ich bin stolz, ich wollte es nicht ... bei Ihnen hat’s mich beseligt, so wie Sie sind, wie ich Sie kenne. Das Mitgefühl ist im Herzen einer Frau die goldene Stufe, auf der sich später vielleicht ein Höheres, Schöneres erhebt – und weil ich dies in Ihrem Blick sah, darum meine Vermessenheit!“

Montrose stockte, er faßte Ilses Rechte und drückte seine bebenden Lippen darauf, wieder und wieder, bis sie ihm die Hand entzog.

„Ich bin sehr arm bis jetzt durchs Leben gegangen, Ilse, – bettelarm! Das hab’ ich bisher noch keinem gestanden. Ich bin eine ehrgeizige Natur gewesen – schon in früher Kindheit hat sich das gezeigt. Als mir meine Laufbahn, in die ich mit den kühnsten Plänen eingetreten war, zerschlagen wurde, als mein Name in den Staub getreten war – vielleicht haben Sie gehört, durch wen – da hab’ ich mir das Leben nehmen wollen, und als das mißlang, blieb ich jahrelang so menschenscheu, daß ich nur bei Nacht, wenn alles schlief, mein Zimmer verließ und mich im Freien erging. Diese ‚Freiheit‘ war ein großer Anstaltsgarten, in welchem ich aufs sorgsamste überwacht wurde – ich hätte ja wieder Hand an mich legen und mein kostbares Dasein gefährden können! Als ich dann endlich als ‚geheilt‘ entlassen wurde, war mein Wille wieder erstarkt – meine Seele war krank geblieben. Ich ließ mich weit fortschicken, dorthin, wo kein Mensch meinen Namen kannte, mein Schicksal wußte. Und da der Ehrgeiz nun einmal die Triebfeder meines Handelns war, so setzte ich in meiner neuen Umgebung alles daran, ein tüchtiger Geschäftsmann zu werden, und das gelang mir. Es gewährte mir eine Art von Genugthuung, zu sehen, wie meine kühnsten Pläne einschlugen, wie meine Unternehmungen sich weiter und weiter ausbreiteten, mein Name in der neuen Welt, die ich mir geschaffen, einen immer bessern Klang gewann. Was sonst mit mir wurde, war mir gleichgültig, so gleichgültig, daß ich mich sogar ohne weiteres [290] verheiraten ließ, als mein sterbender Vater es wünschte und eine mir offen entgegengebrachte Neigung es mir nahelegte. Vielleicht hoffte ich auch, Liebe könne Gegenliebe erwecken. Es war ein Experiment, das ich unternahm, und ich hatte nur, was ich verdiente, als es fehlschlug. Ich klage daher die Verstorbene nicht an – sie folgte ihrer Eigenart, ich der meinen. Wir paßten eben nicht zusammen und waren sehr unglücklich miteinander, sie vielleicht weniger als ich, da sie das Gesellschaftsleben liebte und in vollen Zügen genoß, auch die Kinder hatte, die ihrem Herzen Ersatz boten. Ich habe mich redlich bemüht, diese Kinder zu lieben, habe um ihre Liebe geworben wie nie in meinem Leben um die Liebe einer Frau, aber ihre Mutter faßte dies als einen Wettkampf auf und that ihrerseits alles, mir zuvorzukommen, und das gelang ihr. Was in den beiden an Herz vorhanden war, gehörte ihrer Mutter, mir waren und sind sie fremd. Darum gab ich sie fort, als meine Gattin gestorben war – sie entbehrten mich nicht, und auch in mir verstummte mehr und mehr die Stimme, die mich gemahnt hatte, meiner Pflicht als Vater zu gedenken. Ich bin dann durch die weite Welt gegangen, ich suchte kein Glück mehr für mich und glaubte, verzichtet zu haben – Sie seufzen, Ilse – Sie haben Mitleid mit mir ...“

Das Mädchen wandte sich ab, um ihn ihre feuchten Augen, ihre zitternden Lippen nicht sehen zu lassen.

„Ich las das schon beim ersten Mal, als wir uns sahen, aus Ihren Augen, dies sanfte zärtliche Mitleid. Ilse – Sie so jung und schön ... ich stehe vor Ihnen wie ein Bettler, Sie haben die Macht, mich überselig zu machen aus Ihrem Reichthum – Ilse, ach, Ilse, geben Sie mir das Glück! Ich sage ja nicht: lieben Sie mich, wie ich Sie liebe, das wäre Verblendung – aber nur ein wenig versuchen Sie es, nur ein wenig! Lassen Sie dies Mitgefühl weiter in Ihrem Herzen für mich sprechen, geben Sie uns allen die Heimat wieder, Ihrem Vater, sich selbst, dem Bruder – mir, der es seit seinen Kindertagen nicht mehr weiß, was es heißt: eine Heimat haben! Sagen Sie mir heute noch nichts, nehmen Sie sich Bedenkzeit – ich werde geduldig sein, werde warten, lange warten. Alles soll sein, wie Sie es wollen –“

„Nein! Nein!“ Ilse rief es leidenschaftlich und sprang auf, so ungestüm, daß Kranz und Blumen zur Erde niederfielen. Sie konnte es nicht länger mit anhören, dies flehentliche Bitten, diesen Ton, der sie bis in die tiefste Seele hinein erschütterte. Sie mußte ein Ende machen, gleich und für immer, und dazu gab es für sie nur einen Weg.

„Sie dürfen nicht weiter so zu mir sprechen, ich kann nicht ... bin nicht wert ...“ Die Worte wollten ihr nicht gehorchen, überstürzten sich ihr in atemloser Hast. „Ich hab’ es keinem sagen dürfen bis jetzt, es war mein Geheimnis, meines allein – aber Sie sollen, Sie müssen es wissen: ich bin verlobt, seit einem Jahr schon, mit Kapitän Kamphausen – und ich liebe ihn, liebe ihn – und bitte Sie: sehen Sie mich nie mehr, sprechen Sie nie mehr mit mir! Ich ertrag’ es nicht länger, ich kann –“

In den Goldstreifen, den die untergehende Sonne auf den Weg warf, fiel ein schwarzer Schatten – Ilses Augen irrten erschrocken zur Seite, – Baron Doßberg stand dort, weiß wie ein Tuch; ohne Regung starrte er zu ihr herüber.

Eine bange beklommene Stille, durch die das Jubilieren der Vögel wie Hohn klang; als Doßberg endlich einen Schritt näher kam, ermannte sich auch Herr von Montrose. Er nahm seinen Hut, der neben ihm auf der Bank gelegen hatte, und erhob sich. „Verzeihen Sie!“ sagte er leise zu Ilse, dann grüßte er sie wie ihren Vater mit einer leichten Verneigung und ging unter den blühenden Kastanienbäumen in die Tiefe des Parkes.

Vater und Tochter sahen einander stumm in die Augen.

„Ilse, wir müssen fort!“ sagte Doßberg endlich mit einer heisern tonlosen Stimme.

Sie raffte sich auf. „Ja, ja – gewiß, wir müssen – es wird spät und kühl –“

Er machte eine abwehrende Vewegung. „Ich meine nicht das! Fort von ‚Perle‘ müssen wir!“

„Papa!“

„Ja, das müssen wir, das müssen wir!“ wiederholte er und nickte schwerfällig vor sich hin. „Ich habe alles gehört, ich stand dort“ – er wies nach dem kleineu Gitterthor – „als er Dir seine Hand anbot und eine – eine Heimat für uns alle – und daß Du heimlich mit einem andern verlobt bist. Und nun können wir hier nicht mehr bleiben, es ist aus. Komm, Ilse, komm!“

Er schauderte zusammen – wie ein Mensch, der den Tod vor Augen sieht, zog seiner Tochter Arm durch den seinigen und verließ mit ihr den Begräbnisplatz.




16.

In seinem „Achterdeck“ saß Erich Leupold am Tisch, beide Wangen in die Fäuste vergraben, vor sich ein ausgebreitetes Zeitungsblatt, in dem er las und las .....

Die Mittagssonne – eine stechende Julisonne war’s – brannte ihm heiß auf den Scheitel, denn am Fenster war kein Vorhang vorgezogen. Der Kapitän achtete dessen nicht – er las. Die „büßende Magdalena“ war wie in Flammen getaucht, gleich flüssigem Kupfer leuchtete das goldene Haar im Sonnenschein – der Besitzer des schönen Bildes sah sich kein einziges Mal mit seinem grimmigen Hohnlächeln danach um, wie er es sonst so oft zu thun pflegte – er las!

Jan Grenboom hatte sich hereingeschlichen und zum Mittagessen bitten wollen – als er das Gesicht und die Stellung seines Kapitäns sah, schlich er wieder davon, ohne eine Wort zu sagen, nahm in der Küche seine Töpfe vom Feuer, schnitt sich ein frisches Priemchen zurecht und hatte seine Gedanken.

Es war ein ziemlich ausführlicher Zeitungsartikel, den Leupold vor sich hatte, unter dem Titel „Schiffsunfälle“. Der Kapitän schien ihn auswendig lernen zu wollen, er mußte ihn wenigstens schon viermal hintereinander gelesen haben. Endlich erhob er sich. Er reckte die beiden geballten Fäuste, daß sie fast an die niedrige Zimmerdecke stießen, und seine festen Zähne knirschten aufeinander. Zwischen den buschigen Brauen und um den eigensinnigen Mund herum wetterte und zuckte es, die Augen blickten starr und drohend. Ein paarmal schluckte er krampfhaft und räusperte sich nachdrücklich, um die Stimme frei zu bekommen. Es glückte ihm, und nun rief er hinaus: „Jan! Jan Grenboom!“

„Kapitän?“ Der Gerufene humpelte herein und pflanzte sich breit vor seinem Gebieter auf.

Dieser sagte zunächst nichts.

„Was ist los, Kapitän?“ fragte der langjährige Vertraute endlich.

„Was los ist? Der Teufel natürlich, altes Nilpferd! Die ‚Nixe‘ ist hin – und der Albrecht Kamphausen ist auch hin!“

Der alte Matrose that einen Fluch, um seine Teilnahme an den Tag zu legen. Soweit in ihm der Begriff „Liebe“ ausgebildet war, liebte er seines Herrn Pflegesohn, Albrecht Kamphausen, wirklich. „Steht’s da drin, Kapitän?“ fragte er nach einer kleinen Weile und deutete mit dem Finger nach dem Zeitungsblatt

„Ja! Hör’ zu – setz’ Dich!“

Jan gehorchte und Leupold las: „Endlich sind wir in der Lage, unsern Lesern näheres über den Verbleib der schon seit längerer Zeit vermißten Korvette ‚Nixe‘ (Kapitän Kamphausen) zu berichten. Das Schiff verließ im Mai des letzten Jahres den deutschen Hafen, um sich auf verschiedenen Umwegen nach den chinesischen Gewässern zu begeben. Seit sieben Monaten fehlte jede Nachricht über die ‚Nixe‘. Zuletzt hat ein dänischer Dampfer bei Formosa mit ihr Grüße ausgetauscht – das ist Anfang Januar gewesen. Heute geht uns die Nachricht zu vom sichern Untergang der Korvette, der allerdings längst zu befürchten war, aus der Feder des Matrosen Rolf Görnemann, des einzigen, der bei der Katastrophe, die in der Nähe der Philippinen stattgefunden hat, mit dem Leben davongekommen ist. Ein spanisches Schiff hat den Halbtoten, der sich an der Sitzbank eines Rettungsbotes festgeklammert hatte, an Bord genommen. Dort ist er in eine schwere Krankheit verfallen, so daß der spanische Schiffsarzt wenig für sein Leben gegeben hat. In einem Londoner Hospital hat man dann den jungen Mann abgeliefert, bei dem ein Typhus ausbrach, der ihn monatelang ans Krankenlager fesselte. Endlich konnte er die Heimreise antreten. Gegenwärtig weilt Rolf Görnemann in seiner Heimat, der Fabrikstadt G. Dort hat er einen Rückfall zu überwinden gehabt und ist jetzt endlich soweit hergestellt, daß er schon in der nächsten Woche imstande sein dürfte, uns einen ausführlichen Bericht über den Untergang der ‚Nixe‘ zu liefern. Wir dürfen diesem Bericht mit um so größerer [291] Spannung entgegensehen, als der junge Görnemann gebildeten Kreisen angehört und nur durch eigenartige Verhältnisse in die Laufbahn eines Matrosen getrieben wurde, daher sehr wohl in der Lage ist, seine Schilderung interessant zu gestalten.“

Leupold verstummte und ließ das Zeitungsblatt sinken, er sah wie fragend zum alten Grenboom hinüber. Sonst besaß er kein allzu großes Mitteilungsbedürfnis – heute hatte es ihn zu hart angepackt. Er mußte jemand haben, zu dem er reden, der ihm zuhören konnte, er vermochte das Alleinsein nicht zu ertragen.

Jan Grenboom schnitt ein schauderhaftes Gesicht, das sein Mitgefühl ausdrücken sollte; er streichelte Dido, die ihm auf den Schoß sprang, mit seiner breiten behaarten „Tatze“ und wälzte das Priemchen unruhig im Munde hin und her. Endlich lieh er seinen Gedanken Worte.

„Ja – aber, Kapitän, wir haben’s doch all lang’ gedacht, daß die ‚Nixe‘ zum Deiwel ist. Und wenn das Schiff hin ist, ist uns’ Kapitän Albrecht auch hin!“ philosophierte Grenboom weiter. „Der hat seine ‚Nixe‘ nicht verlassen, der nicht! Der hätt’ ’mal können Admiral oder so ’was werden – gelernt war er, und zu hantieren wußte er auch!“

Der alte Leupold nickte schwerfällig.

„Ob sie wohl – das junge Fräulein mein’ ich – das schon gelesen hat?“

„Weiß ich’s?“ Leupold fuhr aus seinem Brüten auf. „Muß auch das noch über sie kommen – auch das noch!“

Er hatte schwere Sorge um Ilse, der alte Weiberfeind. Er wollte sich’s nicht eingestehen, aber sie hatte sich in sein Herz gestohlen, er hielt viel auf sie und war im stillen immer aufs neue verwundert, wie diese Eltern dies Kind haben konnten. Und nun, seit sie ganz in St. wohnte und er sie häufig sah, war sie ihm vollends lieb geworden. Ilse hatte ihrem Onkel nicht gesagt, weshalb sie vor etwa zwei Monaten, Ende Mai war es gewesen, so plötzlich samt ihrem Vater „Perle“ verlassen hatte und ganz nach St. übergesiedelt war, aber der Kapitän konnte sich’s ungefähr denken. Wenn sein Schwager Doßberg die „Perle“ verließ, dann war ein bitteres Muß dahinter, und das konnte ihm nur die Prinzeß Ilse, freilich ohne ihren Willen, eingebrockt haben. Sie hatte offenbar mit ihrem Gesicht Unheil gestiftet, entweder bei Montrose Vater oder Sohn; das Ergebnis war die freiwillige Verbannung der Doßbergs gewesen.

Der alte Leupold hatte keinen kleinen Schreck bekommen, als seine Nichte eines Tages mit der Kunde zu ihm eintrat, sie hätten eine Wohnung in der Stadt gemietet und wollten da bleiben. Er hatte nicht gefragt: wie wird Dein Vater das ertragen? aber er hatte es sorgenvoll gedacht, und jetzt, nach zwei Monaten konnte er sehen, daß Doßberg es überhaupt nicht ertrug, sondern daß er hinschwand, ausging wie ein Licht. Der Kapitän hatte für seinen „hochgeborenen Herrn Schwager“ nie viel Zuneigung gefühlt, aber er hätte herzlos sein müssen, wenn ihm der Mann jetzt nicht in der Seele leid gethan hätte. Still und teilnahmlos, doch immer freundlich und sanft, wenn man ihn um etwas fragte, ohne Klage, ohne ein Wort von Heimweh zu äußern, welkte Doßberg hin von einem Tage zum andern. Und daneben Ilse, die sich in Leid und Jammer um ihn verzehrte und doch nicht helfen konnte, die sich ihm gegenüber schuldig fühlte und sich doch sagen mußte, sie habe nicht anders handeln können, als sie gethan! Ach, was war aus dem heitern schönen Mädchen geworden! Wo war das perlende Lachen geblieben und das warme Leuchten der dunkeln Augen!

Erich Leupold hatte sich seines Schwagers angenommen nach besten Kräften. Er holte ihn täglich zum Spaziergang nach dem Hafen ab, nannte ihm die ein- und auslaufenden Schiffe, stellte ihn seinen alten Freunden vor, den Kapitänen und Reedern, und lieh ihm seine besten Bücher, in dem Glauben, der Baron müsse doch jetzt endlich Interesse am Seemannsberuf nehmen, da sein einziger Sohn sich denselben erwählt hatte. Aber das war ein Irrtum. Doßberg hatte für nichts in der Welt mehr Interesse. Er ging willig mit, wenn der Schwager kam, ihn abzuholen, er richtete auch seine Augen auf die Schiffe, die dieser ihm zeigte, und antwortete höflich auf die Fragen und Bemerkungen der Kapitäne, aber sein Herz war nicht dabei.

Wie nun Ilse das neue Unglück beibringen? Sie las freilich Zeitungen, aber diese hier, ein kleineres Blatt, das Leupold sich hielt, weil es viele überseeische Berichte brachte, würde ihr wohl nicht zu Gesicht kommen. Mit Recht hielt sich der alte Kapitän für einen sehr schlechten Diplomaten – er sah schon bei seinen ersten Worten die Nichte umsinken, sich selbst daneben, vergebens nach einem Trost suchend. Gab es denn für Ilse überhaupt einen Trost? Wie hatte sogar ihn, den wetterfesten starken Seemann, die Unglücksbotschaft getroffen! Sein Albrecht, sein Stolz, sein Liebling! Ja, heute gestand er sich das „weichliche“ Wort zu: sein Liebling!

Jan Grenboom weckte seinen Herrn aus tiefer Versunkenheit. „Wie wär’s mit’m Mittag, Kapitän?“

Leupold schüttelte den Kopf. „Heut’ nicht! Könnt’ nichts ’runterwürgen. Iß Du, und mir bring’ ’n Schluck Portwein – mir ist miserabel zu Mut – hundselend!“

Jan entfernte sich brummend und kam nach einer Minute mit einem Theebrett wieder, auf dem ein großes Wasserglas stand, randvoll mit Portwein. Der alte Leupold nahm diesen „Schluck“ mit einer Schnelligkeit zu sich, die auf bedeutende Ubung schließen ließ.

„Mehr?“ fragte Jan.

„Nein! Nimm den Vogel und den Affen mit!“

Der Matrose machte Kehrt, prallte aber mit einem lauten: „Ahoi!“ von der Thür zurück, denn Ilse von Doßberg lief ihm beinahe in die Arme.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 18, S. 302–307

[302] Ilse mußte halb sinnlos vor Schreck und Aufregung aus ihrer Wohnung fortgestürzt sein; das schwarze Spitzenhütchen hing ihr fast im Nacken, sie hatte nur einen Handschuh angezogen und trotz der Juliglut keinen Sonnenschirm. In der unbedeckten Rechten hielt sie ein halb zusammengeballtes Zeitungsblatt. Dem alten Leupold zog sich das Herz zusammen bei diesem Anblick. Also sie wußte! Er warf Jan Grenboom einen flammenden Zornesblick zu – was stand der Mensch denn noch immer da wie ein Menagerieführer, den Papagei auf dem Kopf, das Aeffchen auf der Schulter? Nun, gottlob, er hatte begriffen, er ging!

„Onkel Erich, muß das wahr sein?“ fragte Ilse atemlos, heiser und hielt ihm das Zeitungsblatt hin.

„Nun, Kind, es kann ja – aber da setz’ Dich ’mal – ich – ja, weiß der Teufel, ’s ist, um verrückt zu werden! So setz’ Dich doch, zeig’ ’mal, daß Du was Besseres bist als so die meisten von Deinem jämmerlichen Geschlecht! Bist ja soweit vernünftig – bist auch nicht dumm –“

[303] „Muß das wahr sein, Onkel Erich?“

„Ich hab’s auch gelesen, vor kaum ’ner halben Stunde, ich – wahr wird’s schon sein – Matrose auf der ‚Nixe‘, Augenzeuge – und diese ganze Ewigkeit keine Nachricht von dem Schiff! Ich wollt’ es Dir bloß nicht sagen, mir war längst nicht wohl dabei. Mädel, sieh mich nicht so an, das ist nicht zum aushalten – schrei’ los in drei Teufelsnamen! Wein’ Dich aus!“

Aber Ilse schrie nicht und weinte sich auch nicht aus. „Das ist ganz unmöglich,“ fragte sie leise und eindringlich, „daß er sich geirrt hat, der Augenzeuge? Er ist selbst in Todesnot und Gefahr gewesen .... kann er sich nicht geirrt haben?“

Der alte Leupold schüttelte den Kopf. „Sieh ’mal, Kind, was ’n richtiger Kapitän ist, der läßt sein Fahrzeug nicht im Stich. Geht das Schiff zu Grund, geht er mit zu Grund. Wenn die ‚Nixe‘ untergegangen ist mit Mann und Maus, dann war er drauf, da setz’ ich meinen Kopf zum Pfand!“

Ilse preßte die Handflächen aneinander und sah zu Boden. Plötzlich hob sie den Kopf. „Kannst Du mir Geld geben, Onkel Erich? Etwas Geld?“

„Was willst Du haben, Kind?“ Er sah sie ängstlich an, er fürchtete, sie könnte krank sein.

„Etwas Geld möchte ich! Papa könnte es mir vielleicht auch geben, aber ich weiß es nicht genau. Und ich möchte –“

„Was Du möchtest, sollst Du Dir kaufen – ich geb’ Dir’s natürlich, ich geb’ Dir’s! Aber vielleicht sagst Du mir ...“

„Ich will nichts kaufen. Nach G. möcht’ ich fahren und diesen – diesen Rolf Görnemann sehen und sprechen. Sag’ nichts dagegen!“ rief sie flehend, als Leupold Miene machte, zu sprechen. „Es ist das einzige, um was ich Dich bitte, das einzige und das letzte! Der Bericht kann noch eine Woche, er kann auch noch länger auf sich warten lassen .... ich hab’ das Gefühl, ich muß sterben, wenn ich so lange warten soll – Onkel, Onkel Erich –“

„Zum Donnerwetter, Mädel, laß’ mich doch reden, laß’ mich doch zu Wort kommen! Ja und zehnmal ja, Du sollst das Geld haben! Und ich fahr’ selbst mit Dir hinüber nach G., ich will diesen verteufelten Rolf Görnemann auch sprechen, will auch hören, wie mein Junge, unser Albrecht – wir fahren noch heut’! In zwei, drei Stunden denk’ ich, haben wir den nächsten Zug, morgen früh können wir an Ort und Stelle sein. Jan! Jan Grenboom! Wo steckt das alte Walroß wieder? Das Kursbuch bring’ her, das Kursbuch!“

*  *   *

Durch die kurze schwüle Sommernacht sauste der Zug, der den alten Leupold und seine Nichte nach G. bringen sollte. Ilse hatte nicht in den Schlafwagen gehen wollen sondern hatte leise gebeten: „Laß’ mich doch bei Dir bleiben, Onkel Erich!“ und sie war geblieben. Sie fiel ihm nicht zur Last mit Jammern und Thränen, sie saß da, still in ihre Ecke gedrückt, dann und wann, sobald sie sah, daß der Onkel sorgenvoll den Blick auf sie richtete, nickte sie ihm beruhigend zu. Das Fenster war niedergelassen, die weiche Nachtluft strömte herein. Der dunkle Himmel funkelte goldübersät von zahllosen Sternen; spät ging der Mond auf, sein bleiches Licht tauchte die schlafende Landschaft in Silberfluten. Klirrend, rasselnd flog der Zug weiter und weiter. Dann begannen die Sterne blaß zu werden, kühle Morgenluft wehte, ein fahler Dämmerschein spann sich um Bäume und Büsche, der Wald, den der Zug durchkeuchte, erschauerte im frischen Wind – die Sonne ging auf.

Um sieben Uhr früh fuhr der Zug in G. ein. Eine geschäftige menschenwimmelnde Fabrikstadt! Die Maschinen waren schon alle in Thätigkeit, die hohen Schlote spien mächtige Dampfwolken aus, die den blauen Sommerhimmel verdüsterten, in den Straßen ein Lärm, der Ilses verstörten Nerven förmlich weh that.

Die beiden fuhren zunächst in einen Gasthof, um ein paar Stunden zu ruhen. Ermüdet warf sich Ilse aufs Sofa des ihr angewiesenen Zimmers und schloß die Augen. Aber vor ihr jagte eine wirre tolle Flucht von Bildern vorüber, daß sie schreckhaft die Augen wieder öffnete und lieber die Wände des Zimmers ansah. Ein Seestück hing da unter den Bildern, irgend ein Hafen, in den ein Schiff mit wohlgeblähten Segeln einlief. Ilse sah das Bild unverwandt an. Dies Schiff kommt in Sicherheit, die paar Brandungswellen sind bald überwunden, dann liegt es vor Anker, ist geborgen samt allen, die darauf sind. Andere Schiffe haben es so gut nicht, die verschlingt das Meer .... es ging wie ein Riß durch ihr Herz. Sie zerrte ihre Uhr hervor .... konnten sie denn noch nicht zu Rolf Görnemann? Kaum Acht – noch volle drei Stunden! Denn der junge Mann war noch Rekonvaleszent, hatte Onkel Leupold geltend gemacht, man würde vor elf Uhr Besuch überhaupt nicht zu ihm lassen.

Eine Zeitung lag auf dem Tisch. Ilse griff mit bebenden Händen danach. Stand nichts von dem Schiff drin, von der „Nixe“ und von Rolf Görnemann? Ihre Augen flogen angstvoll von Spalte zu Spalte – Politik, Stadtneuigkeiten, Anzeigen, Anpreisungen seitenlang .... sonst nichts! Sie steckte sich ans Fenster, sah auf die Straße hinaus, verfolgte die rasselnden Milchwagen, die hin und hereilenden Dienstboten, die Kinder, die zur Schule gingen. Halb neun Uhr! Wie die Zeit schlich!

Und so zwischen rnhelosem Umhergehen im Zimmer, dem Versuche, zu schlafen oder zu lesen, verbrachte sie den Vormittag. Langsam kroch der Zeiger auf der Uhr weiter, und endlich, endlich war’s Elf. Mit dem Glockenschlag öffnete Erich Leupold die Thür, schaute stumm seine Nichte an, schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte aber nichts und gab ihr dann den Arm, um sie die Treppe hinunterzuführen. Vor der Thür unten hielt ein Wagen, sie stiegen ein und fuhren durch die laute Fabrikstadt; das Haus, in dem Rolf Görnemann wohnte, hatte der Kapitän im Adreßbuch gefunden.

Es war ein stattliches Gebäude, vor dem sie hielten. Ilse sprang aus dem Wagen und eilte so rasch die lange halbdunkle Treppe empor, daß Leupold kaum zu folgen vermochte. Oben fragten sie ein Dienstmädchen nach Herrn Rolf Görnemann.

„Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist, ich muß zuerst Madame fragen. Bitte, einzutreten!“

Ein großes, mit hübschem Geschmack ausgestattetes Zimmer, aber unfreundlich, sonnenlos. Eine kleine alte Dame mit einem sanften bekümmerten Gesicht trat leise durch eine Tapetenthür ein.

„Sie wünschen meinen Sohn zu sprechen – darf ich fragen, zu welchem Zweck? Er ist noch leidend und soll geschont werden.“

„Ich bin Kapitän Leupold aus St., dies ist meine Nichte. Ich bin der Vormund des Kapitän Kamphausen, der mit der ‚Nixe‘ untergegangen sein soll. Wir lasen gestern den Bericht Ihres Sohnes und sind persönlich von St. herübergekommen, um Ihren Sohn selbst zu sprechen, aus seinem Munde eine Schilderung des Schiffbruchs zu hören.“

Die alte Dame wiegte zweifelnd den Kopf. „Das wird ihn sehr aufregen, und Aufregung thut ihm gar nicht gut, sagt der Arzt, der noch fast täglich kommt. Es geht meinem Sohn keineswegs nach Wunsch, sein Körper ist durch die lange Krankheit noch sehr geschwächt. Wir wollten auch gar nicht, daß die Notiz schon jetzt in die Zeitung komme, aber er ließ sich ja nicht halten, und immer widersprechen mag man auch nicht.“

Der alte Leupold hatte während dieser Rede, die ihm viel zu lange dauerte, taktmäßig mit seiner Stiefelspitze auf den Fußboden geklopft – jetzt sah er die alte Dame mit seinen scharfen Augen durchdringend an. „Es liegt uns sehr viel daran, Madame, Ihren Sohn selbst zu sprechen, wir sind eigens deshalb hierhergekommen!“

„O Gott, ja, mein Herr – gewiß – solch eine weite Reise – ich glaube schon gern, daß Ihnen viel daran liegt. Und die junge Dame – ach lieber Gott, ich ahne schon! Rolf ist aber eben erst aufgestanden, und dies würde ihn wirklich sehr aufregen, er hat Herrn Kapitän Kamphausen so außerordentlich verehrt und geliebt ... ich werde meinen Sohn holen!“ Die letzte überraschende Wendung war durch einen flehentlichen Blick aus Ilses Augen hervorgerufen worden. Die alte Frau fühlte all ihre mütterlichen Bedenken um den Sohn schwinden angesichts dieses jungen Wesens, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Sie konnte es sich so leicht zusammenreimen – das arme Geschöpf war natürlich des ertrunkenen Kapitäns Braut. Wie traurig! Die Augen wurden ihr feucht, sie streichelte mit sanfter Hand das liebliche Gesicht, und als Ilse sich über diese Hand neigte und sie küßte, da war Frau Görnemann vollends überwunden und ging nach einem beruhigenden Kopfnicken zur Thür hinaus.

„So sind diese Weibsbilder!“ murmelte Erich Leupold vor sich hin. „Unsereiner redet und thut das Menschenmögliche, und ’s ist alles umsonst! Wenn aber eine ihresgleichen kommt und nur ’n Paar Augen macht – da, hast du nicht gesehen, sind sie der reine Zucker. Na, setz’ Dich hin, Mädel – ich setz’ mich auch!“

Eine Pause von einigen Minuten, während deren Ilses Herzschlag [304] sich zu verdoppeln schien – dann öffnete sich abermals die Tapetenthür, und ein sehr großer überschlanker junger Mensch trat ein. Aus dem blassen eingefallenen Gesicht schaute ein Paar kluger Augen; der junge Mann, der allem Anscheine nach kaum zwanzig Jahre alt war, warf beim Eintreten einen teilnehmenden und zugleich neugierigen Blick auf Ilse, von der ihm seine Mutter soeben eine begeisterte Schilderung entworfen hatte. „Ich muß um Verzeihung bitten“ – begann er dann höflich, aber Kapitän Leupold unterbrach ihn sofort: „Ach, das thun Sie lieber nicht! Wer fragt denn jetzt nach allerlei Kram! Sie wissen ja, weshalb wir hierhergekommen sind!“

„Ja, meine Mutter hat es mir gesagt. Sie wünschen meine Erlebnisse vom zwölften Januar zu hören.“

„Also damals war es! So lange her schon! Also am zwölften – wie war es da? Ging die Fahrt bis dahin gut? War Albrecht – Ihr Kapitän, mein’ ich – zufrieden?“

„Im ganzen ja und das mit Recht!“ Der junge Mann, etwas verwirrt durch diesen plötzlichen Ansturm, setzte sich so, daß er sowohl den alten Leupold als auch Ilse voll ansehen konnte. „Ein paarmal hatten wir wohl Sturm gehabt,“ fuhr er dann fort, „aber immer waren wir durchgeschlüpft, wenn auch unsere Fahrt sehr verzögert wurde. Es war Glück dabei, aber doch auch Verdienst, Verdienst vor allem von dem, der die ‚Nixe‘ befehligte. Unser Kapitän, das war einer – ja, das war einer!“

Die Augen des Sprechenden glänzten, sein Gesicht belebte sich. Leupold nickte ihm bestätigend zu, wenn auch ein solcher Grünschnabel von einem Matrosen keine Ahnung von der Aufgabe eines Kapitäns haben konnte ... das begeisterte Lob that dem Alten doch wohl. Ilse hielt die gefalteten Hände auf den Knien, ihre Augen hingen an Rolf Görnemanns Lippen mit einem ergreifenden Ausdruck von Seelenangst und Spannung.

„Wir befanden uns auf der Rückfahrt von Schanghai nach Hongkong bei der Insel Formosa,“ setzte Rolf seinen Bericht fort. „Alle an Bord waren heiter und guter Dinge, in der Aussicht, bald an Land zu kommen, was wir lange nicht geschmeckt hatten. Die See war ein wenig trüb und träge, aber das ist ja dort oft so. Daß in diesen Gewässern der Taifun sein Spiel hat, wußten wir wohl, hatten jedoch keine Sorge deshalb. Sie sind wohl auch im Chinesischen Meer gewesen, Herr Kapitän?“

„O ja!“ erwiderte Leupold trocken. „Ich kenne die Gegend.“

„Das dachte ich mir. Also, wie gesagt, alles war bei guter Laune. Mir fiel nur auf, daß der Kapitän so viel mit dem ersten Lieutenant redete, und daß sie beide so aufmerksam durchs Fernrohr sahen. Gegen mich war unser Kapitän immer sehr gütig, er kannte meine Familienverhältnisse“ – hier wurde Rolf Görnemann rot – „und bewies mir viel Interesse. An jenem zwölften Januar nun hatte ich eben nichts besonderes mehr zu thun, ich bat daher unsern zweiten Lieutenant, der ein ganz prachtvolles Taschenfernrohr besaß, es mir einmal zu geben; er holte es hervor, schraubte es zurecht und sagte: ‚Was wollen Sie jetzt dadurch sehen, Görnemann? Himmel und Wasser schauen ganz gleichmäßig langweilig aus, und nach Land können Sie noch lange Augen machen!‘ Ich gab irgend eine Antwort und sah durch das Glas – in demselben Augenblick hörte ich den Befehl: ‚Alle Mann auf Deck!‘ und konnte nur noch fern, fern am Horizont ein Etwas sehen, eine Wolke, einen Schatten – aber nun wußte ich auch schon, das war der Taifun! Einen blitzgeschwinden Rundblick warf ich noch durch das Fernrohr, mir war, als sähe ich ganz ferne auch ein, zwei Schiffe – aber das weiß ich nicht mehr so genau, ich fühlte nur noch, wie mir der zweite Lieutenant das Glas aus der Hand riß, und stand in der nächsten Minute an meinem Platz auf Deck.“ Rolf atmete ein paarmal tief auf. „Ich brauche Ihnen, Herr Kapitän, keinen Taifun zu beschreiben, ich könnte es auch nicht. Es kam alles so unbegreiflich, so entsetzlich schnell – man verliert den Kopf in solcher Gefahr, kann nicht beobachten. Es geschah, was notwendig war, um dem Unglück zu begegnen, mit wirklich fabelhafter Geschwindigkeit, aber der Taifun war noch geschwinder. Die Wolke kam heran, wuchs, wuchs so grauenhaft schnell, daß plötzlich alles dunkel wurde, und ehe wir noch die Luken geschlossen, alle Rettungsboote bereit gemacht hatten – wir arbeiteten, daß uns der Schweiß vom Gesicht troff – war schon der Taifun heran. Das ist kein Sturm wie ein anderer, der das Schiff nur auf eine Seite legt, dem man beikommen kann! Dieser packt sein Opfer von allen Seiten zugleich, öffnet einen kochenden Strudel gleich einem ungeheuren Trichter und schlingt das Schiff hinunter wie ein Haifisch die Beute. Eine teuflische Wut ist in ihm, ein Brüllen, ein Heulen in den Lüften, ein Toben in den Wassern, daß man taub zu werden meint. Ich erinnere mich, daß ich einmal etwas wie einen Kanonenschuß hörte und wieder einen – aber so weit her, so gedämpft – es konnten Schiffe in Not sein, ich konnte mich aber auch geirrt haben. Auch die ‚Nixe‘ löste einen Schuß. Soviel ich beurteilen kann, thaten alle unsere Leute musterhaft ihre Schuldigkeit. Einmal in all dem Chaos sah ich unsern Kapitän; er stand auf der Kommandobrücke, blaß wie der Tod, aber so ruhig, mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nie vergessen werde. Die eine Hand hatte er auf die Brust gedrückt, als halte er da etwas fest – ich sah ihn ja nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, aber das Bild hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Dann ein fürchterliches Krachen – ich hörte den Ruf: „In die Boote! Die Boote los! Das Schiff ist leck!“ und nun wußte ich, daß wir wahrscheinlich alle umkommen würden, sicher aber der Kapitän selbst, der so unerschütterlich auf seinem Posten stand. Die Leute verloren den Kopf, keiner dachte mehr an den andern, jeder nur an sich selbst. Die Rettungsgürtel anzulegen, dazu war keine Zeit – der stürzende Gischt begrub das Schiff, und die wütende See fegte die Leute, die zu den Rettungsbooten liefen, hinweg gleich loser Spreu. Man hörte sie nicht schreien – was hörte man überhaupt in diesem rasenden Tumult! Zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt, wälzte, stürzte sich alles vorwärts – ich wurde mitgerissen, fiel auf die Knie, lag platt zu Boden, taumelte wieder auf, bekam eine eiserne Stange zu fassen und hielt mich daran mit aller Kraft meiner Hände. Da schlug eine neue Sturzsee herein und riß zwei von den Rettungsbooten herunter, im Nu waren die Trümmer in der Tiefe verschwunden. Die Menschen waren nun wie wahnsinnig. Ich hielt mich mit blutenden Händen am Eisen fest. Wohin? Wohin? In das einzige Rettungsboot dort unten, das hundert und mehr Menschen in sich aufnehmen sollte? Wie ich dazu kam, mich über den Schiffsrand zu werfen und etwas zu packen, was da herabhing, das weiß ich heute nicht mehr. Ein Stück ließ ich mich mechanisch abwärts gleiten, ich wurde hin und her geschleudert, glitt wieder, ließ mich dann herabfallen wie einen Sack – und fand mich im Boot, wo ich mich mit Händen und Füßen an eine Sitzbank anklammerte – erschöpft, halbtot.“

Hier machte Rolf Görnemann eine Pause und rang nach Atem. Die Schilderung hatte ihn aufs neue erregt – sein von der schweren Krankheit geschwächter Körper zitterte, das Gesicht war fahl. Der alte Leupold nickte ernst zu ihm hinüber und klopfte ihn aufmunternd aufs Knie.

„Ja, ja – so ’was will erlebt sein! Na, nur Mut, nur Mut! Haben Sie nicht ’n Glas Wein zur Hand?“

Der junge Mensch nickte und versuchte zu lächeln. Er ging zu einem kleinen Schrank, holte eine Flasche und drei Gläser heraus und goß einen blutrot funkelnden Wein ein. Ilse machte eine ablehnende Bewegung. „Du trinkst!“ befahl Kapitän Leupold kurz, und sie gehorchte zögernd.

„Ein guter Tropfen! Thut wohl! Trinken Sie noch ’n Glas, Kamerad, Sie haben’s nötig! So! Und nun – wenn Sie weiter können –“

„Ich hoffe!“ Rolf trocknete sich die Stirn und schöpfte tief Atem, dann fuhr er fort. „Unmittelbar nach mir sprangen und fielen noch andere ins Boot, es war zuvor schon halb gefüllt gewesen jetzt war es so besetzt, daß es bis zum Rande sank. Der erste Lieutenant war auch dabei, ich glaube nicht, daß er freiwillig ins Boot gesprungen war, sie werden ihn mitgerissen haben, denn er gebärdete sich wie ein Unsinniger, focht mit den Armen und wollte mit Gewalt zurück auf das sinkende Schiff. Dazu schrie er dicht neben mir aus voller Kraft seiner Kehle: „Rettet den Kapitän! Rettet den Kapitän!“ Natürlich dachte niemand daran, ihm den Willen zu thun – wie wär’ es auch möglich gewesen! Und wieder neue Leute vom Schiff ins Boot, sie sprangen uns andern geradeswegs auf die Köpfe, wälzten sich über uns hinweg – abermals eine neue Sturzsee, und alle die zuletzt Gekommenen waren ausgeschwemmt. Dann trieb unser Boot plötzlich weg von dem Schiff, und das war unser Glück, denn die ‚Nixe‘ sank. Ein einziges Mal noch wandte ich den Kopf zurück und sah, wie das Schiff sich mehr und mehr neigte, ein schwerfälliger Koloß, der den Todesstoß erwartete; auch den Kapitän glaubte ich zu erblicken, flüchtig wie im Leuchten eines Blitzes, [306] auf der Kommandobrücke – zwei, drei Männer in seiner Nähe. Und dann fühlte ich unser Boot gleiten – gleiten in eine unermeßliche Tiefe, ein furchtbarer Wasserschwall prallte gegen uns an – ein Wehgeschrei aus hundert Kehlen zugleich, so schrill, so durchdringend, daß es mir heute noch durch Mark und Bein gellt – mein Kopf schlug gegen etwas Hartes – Wasser überall – ein Gefühl des Erstickens und ich verlor die Besinnung. – Das erste, was ich empfand, als ich wieder einigermaßen zum Bewußtsein kam, war ein schneidender Schmerz um die Brust, und nun merkte ich, daß er von einem Strick herkam, mit dem ich um den Oberkörper fest umwickelt war, und daß ein paar Männer mich hoben und stützten. Um uns brandete und brauste es immer noch, das Boot flog wie ein Ball hin und her. Ich war so kraftlos wie ein Kind, eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen mich selbst und gegen mein Dasein erfüllte mich. Ich hatte wohl einen Augenblick die Empfindung: Du bist vielleicht von den Hunderten auf der ‚Nixe‘ der einzige, der mit dem Leben davongekommen ist, aber es ließ mich ganz kalt, mich, der immer so gern gelebt hatte! Was mit mir wurde, wer sich um mich bemühte und mit welchem Erfolg – es berührte mich nicht. Die Männer in meiner Nähe hoben mich auf und hißten mich empor, so gut es gehen wollte. Natürlich ging es schlecht, da ich wie ohne Glieder war und gar nicht mithelfen konnte. Aber ich wurde doch an Bord eines Schiffes gezogen und sank dort hilflos zusammen, ein Wrack von einem Menschen. Ein Dutzend fremder Gesichter neigte sich teilnehmend über mich, Cognacflaschen erschienen von allen Seiten – ich schluckte mühsam und fühlte mich besser. Als ich wieder ganz zu mir selber kam, merkte ich, daß der Orkan etwas nachgelassen hatte. Mühsam richtete ich mich auf und spähte und spähte. Kein Schiff zu sehen, so weit das Auge reichte – die ‚Nixe‘ war untergegangen mit allen, allen, die darauf gewesen waren – außer mir, dem Einzigen!“

Rolf Görnemann seufzte tief auf – er war mit seiner Erzählung am Ende. Der alte Leupold preßte ihm stumm die Hand, daß sie schmerzte; Ilse sagte kein Wort. Der Kapitän machte dem jungen Menschen ein Zeichen, er möge dies ihrem Schmerz zugute halten, es ihr nicht übelnehmen. Langsam, wie ein gebrochener Mann, erhob er sich von seinem Sitz. „Komm, mein Mädel! Sag’ dem jungen Herrn Deinen Dank – er verdient’s!“

„O, Herr Kapitän ich bitte Sie! Gnädiges Fräulein – ich –“

Ilse aber hob gehorsam die Hand, reichte sie Rolf Görnemann und sagte mechanisch: „Ich danke Ihnen!“

Dem jungen Menschen stiegen die Thränen in die Augen, als er die schmale Hand küßte; stumm geleitete er seine Gäste bis zur Thür. Was hätte er ihnen zum Trost sagen können? – –

Oheim und Nichte traten den Rückweg in ihren Gasthof an.




17.

„Jan Grenboom, Du gehst gleich zu meinem Schwager, dem Herrn Baron von Doßberg – Du weißt doch, wo er wohnt?“

„Hm!“

„Und sagst ihm mit ’nem schönen Gruß von mir – aber gut aufpassen, verstanden?“

„Hm!“

„Du sagst ihm also, ich wär’ mit seinem Mädel, der Ilse, glücklich wieder aus G. zurück – das heißt, heil und gesund, glücklich nicht! Denn die verdammte Zeitung hat die Wahrheit gesagt, die ‚Nixe‘ ist hin mitsamt ihrem Kapitän – na, da kann sich ja mein Herr Schwager selbst ’n Vers drauf machen! Und nun wär’ sein Mädel ’n bißchen kapntt – und schlafen hätt’ sie so gut wie gar nicht können, und weil sie den Herrn Papa doch bloß immer aufheitern und ihm Komödie vorspielen muß – nein, halt’ ’mal, das sag’ lieber nicht! Bloß, sie hielt’ es einfach jetzt nicht aus, sich da zu ihm hinzusetzen und ihm in aller Vergnüglichkeit um den Bart zu gehen; deshalb behalt’ ich sie hier bei mir bis zum Abend und schick’ sie oder bring’ sie ihm selbst ins Haus. Und er soll sich’s nicht beikommen lassen, sie irgend ’was zu fragen. Da ist nichts zu fragen – Schiff und Kapitän sind verloren, Punktum! Sie kann nichts reden, sie soll in Ruh’ gelassen werden, drum bleibt sie den Tag über bei mir. Alles verstanden?“

„Ob!“

„Alles gehörig an den Mann bringen?“

„Ob!“

„Na, dann troll’ Dich und halt’ das Maul und sag’, was Du zu sagen hast! Die Dido läßt Du zu Hause – Du kannst doch nicht wie ’n Eulenspiegel durch die Gassen laufen! Komm her, Frauenzimmer!“

Das Aeffchen that einen behenden Satz von Jan Grenbooms Arm zu Kapitän Leupolds Schulter; eifrig griff sein Händchen in eine von seines Herrn Rocktaschen und brachte ein paar Nüsse zum Vorschein, die es hurtig aufknackte.

„Wart’, Du unverschämte Kreatur! Wer heißt Dich ohne Erlaubnis Nüsse holen? An die Kette mit Dir!“ In der Nähe von Catos Bauer, in dem dieser gerade die waghalsigsten Turnübungen ansteckte, wurde Dido an die Kette gelegt, eine Prozedur, die der Papagei mit einem schmetternden Hohngelächter begleitete.

Der alte Leupold trat zu Ilse ins „Achterdeck“. Das junge Mädchen saß da, ein Schmuckkästchen von edelster maurischer Arbeit und eine feine venetianische Goldkette im Schoß, die sie scheinbar mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Es waren Geschenke ihres Onkels, Reiseerinnerungen, die er eben seiner Nichte verehrt hatte, und das war viel von ihm, der auf diese Dinge jederzeit so großen Wert gelegt und bisher noch kein einziges Stück von seinen ausländischen Einkäufen weggegeben hatte. Ilse sah aus, als Leupold hereinkam und sich neben sie setzte.

„Möchtest gewiß wissen, wie ich alter Weiberfeind. ’mal dazu gekommen bin, mir allerlei Frauenzimmertand in fremden Ländern auf den Hals zu laden, was?“

Ilse merkte die gnte Absicht, sie zu zerstreuen, und nickte mit einem schwachen Lächeln.

„Ja, damals, als ich das Zeug kaufte, war ich noch kein alter Weiberfeind, sondern ein junger Weiberfreund! Sonderbar, das jetzt von mir zu denken, hm?“

„Eigentlich nicht, Onkel! Du kannst doch nicht immer so gewesen sein, wie Du jetzt bist.“

„Nein, natürlich nicht! Lang’ her freilich, daß ich auf Schmuckkram für Weiber Jagd machte! Hing mit der zusammen!“ Er deutete rückwärts mit dem Daumen nach der „büßenden Magdalena“. „Hast Du Dir nie – aber aufrichtig sein, Prinzeß Ilse! – den Kopf drüber zerbrochen, wer sie“ – wieder die Bewegung mit dem Daumen – „gewesen ist?“

„O ja. Onkel, das hab’ ich gethan.“

„Na, versteht sich! Alle Frauenzimmer sind neugierig wie die Nachtigallen! Dann hast Du wohl auch die Geschichte nicht geglaubt, die ich allen Leuten auf die Nase band, daß mir das Bild in Florenz gefiel und ich mir’s deswegen hab’ kopieren lassen?“

„Nein!“

„Ist auch kein wahres Wort dran. Von Anfang bis zu End’ gelogen! So eine wie die da hat’s nämlich gegeben – ganz genau so eine! Wo ich sie gefunden hab’? Zu Aberdeen in Schottland ist’s gewesen. Wir hatten Unglück gehabt auf dem ‚Albatros‘, so hieß damals mein Schiff, und ’n gutes Schiff war’s und ’n williges Schiff, haben viel zusammen durchgemacht, der ‚Albatros‘ und ich! Also nun kaputt, und mit Müh’ und Not in den Hafen geschleppt und in die Docks gebracht zum Ausbessern. Na, das dauerte lange, und unterdessen konnt’ ich sehen, wie ich mir die Zeit vertrieb. Und ich hab’ sie mir vertrieben, wunderschön sogar, die Tage und Wochen flogen. Auf der Straße, wo ich herumlungerte, bekam ich sie zu sehen – und gleich wie ’n Verrückter, weg in derselben Minute – Blitz und Schlag! Also ihr nachgestiegen und gesehen, wo sie wohnte, ausgekundschaftet, wie sie hieß, ob sie noch zu haben war – na, und was ich sonst noch brauchte. Am andern Tag ihre Bekanntschaft gemacht – ja, so ’n Teufelskerl war ich damals – griff mir schlankweg das schönste Mädel aus ganz Aberdeen und dachte: das gehört sich nicht anders, und das allerschönste ist für mich gerade gut genug. Das Wunderliche dabei war, daß ich ihr gut genug war. Keine acht Tage, da waren wir verlobt und ich rein wie besessen, wie toll – überhaupt keinen andern Gedanken als sie, und bei jeder Erinnerung an Trennung schwach wie ’ne geknickte Lilie! Fort mußt’ ich aber schließlich doch, in ’nem halben Jahr indessen, da sollt’ ich wiederkommen und sie gleich mitnehmen nach Siam, so war’s verabredet worden, und sie freute sich mächtig auf die Seereise und auf Siam und auf mich – ja, auch auf mich, sagte sie. Ich also unterwegs für sie eingekauft, was meine Augen sahen – sie war arm, aber ich saß schon ganz hübsch in der Wolle, und konnte ich’s besser anlegen als so? Allerhand Krimskrams handelte ich ein, [307] auch das Zeug, das Du da jetzt auf dem Schoß hältst, und die Kajüten in meinem alten ‚Albatros‘ ließ ich fein machen mit Teppichen und Bilderu und Vorhängen wie für ’ne Prinzessin. Und dazwischen schrieb ich Briefe auf Briefe und seufzte und bangte mich wie ’n Schmachtlappen. Ich sag’ Dir aber auch: ’s war der Mühe wert! Meine Augen haben manches Schöne gesehen und sehen es auch heute noch“ – Kapitän Leupold neigte seinen kurzen derben Nacken ein wenig gegen seine Nichte, um anzudeuten, das solle ein Kompliment für sie sein – „aber gegen jene aus Aberdeen kommt sobald nichts auf. Wenn die ihre rote Mähne schüttelte und die Augen so spielen ließ – hei, wie konnten die Mannsleute da des Teufels sein! Und als dann alles in Bereitschaft war, Schmucksachen und Kajüte und schöne Kleider, da fuhr ich hin, nach Aberdeen, sie zu holen, mitzunehmeu .... wer aber nicht in Bereitschaft war, das war sie. Einfach auf und davon mit ’nem flotten Spanier, der noch mehr Geld gehabt und ihr am Ende noch besser gefallen hatte als der simple Schiffskapitän. Mich hatten die Leute schon manchmal gewarnt und zumeist der Julius Kamphausen, der Vater Albrechts. Der hatte immer gesagt: trau’ nicht! Wie mir zu Mut gewesen ist, das kann ich nicht beschreiben und will es auch nicht. Nur gut, daß mir keiner sagen konnte, wohin sie sich eigentlich gewendet hatte, und daß sie auch weiter verschollen blieb. Ich war ’ne Zeit lang in solcher Berserkerwut, ich hätt’ sie totgeschlagen, wenn ich sie gefunden hätt’! Aber sie war längst fort, und die Welt ist groß. Also setzte ich mich denn allein in meine Prachtkajüte und fuhr nach Siam und spiegelte mich in all den Herrlichkeiten, die ich ihr zulieb in meiner Verrücktheit aufgespeichert hatte. Eine reizende Hochzeitsreise war’s und prachtvolle Flitterwoche hab’ ich gehabt. Sonst war ich kein schlimmer Kapitän, und meine Mannschaft hat mit mir zufrieden sein können – aber die damals mit mir auf dem ‚Albatros‘ uach Siam gefahren sind, die haben des Glaubens sein müssen, sie hätten den leibhaftigen Teufel an Bord statt ’nes gewöhnlichen Kapitäns. Ich wollte mit Gewalt aus meiner Haut ’raus, na, und das gab ’nen bösen Tanz ab. So nach und nach, da wurd’ ich mit mir fertig, aber mit den Weibern auch; ich hab’ ’nen Strich gezogen, ’nen harten Strich, da darf mir kein Frauenzimmer ’rüber. Den Artikel ‚Herz‘, den hab’ ich abgeschafft, für den hatt’ ich keine Verwendung mehr. Wie ich dann nach ’n paar Jahren ’mal nach Florenz gekommen bin und mir zu meinem Zeitvertreib auch im Palazzo Pitti die Bilder besehen hab’ – ich seh’ gern gute Malereien an – da mußt’ ich beinah’ laut auflachen, als ich die „büßende Magdalena“ da hängen sah! Die? Das ist ja Deine schöne schottische Freundin, wie sie leibt und lebt! Solch ’ne weiße Haut hat die auch gehabt und solch rotes Haär in wilden Locken – und auch ebenso schöne sündige Augen, die ganz so, ganz so durch helle Thränen zu mir aufsahen, als sie von mir Abschied nahm .... bloß daß sie sich kurze Zeit darauf ganz munter und, versteht sich, ohne Thränen in der Welt umsahen, ob nicht einer käme, der diesen Augen am Ende noch besser gefiele als der verliebte Seemann. Die dort in Florenz, die hat ein Mann gemalt, der schon ein paar Jahrhunderte tot ist – meine Schottin kann ihm also nicht Modell gesessen haben. Aber weil ich gern ’ne Erinnerung haben wollte an die größte Verrücktheit meines Lebens und auch ’ne Warnung, obgleich ich mich für ganz geheilt hielt, so ließ ich mir das Ding kopieren, und ’n schönes Stück Geld hat’s mich gekostet. Gut ist’s aber geraten, so gut, wie ’ne Kopie werden kann. Da hängt sie nun und büßt und weint auf ihre Art, und ich seh’ sie nie an, ohne daß mir allerlei Gedanken kommen. Das eine aber sag’ ich Dir, Prinzeß Ilse: kein Mensch auf der Welt kennt diese Geschichte außer Dir, und sagst Du irgend einem ein Sterbenswort davon, dann sind wir geschiedene Leute! So schlecht aber denk’ ich nicht von Dir – wenn einem Frauenzimmer auf Erden, dann trau’ ich Dir. Und weil Dir das Meer den Liebsten genommen hat, darum hab’ ich Dir dies Kapitel von der ‚büßenden Magdalena‘ erzählt .... Glaub’ mir, der ist noch übler dran als Du, dem das Leben das Liebste raubt! Das Meer – dabei ist Gottes That, und Gott kann geben und nehmen, aber des Menschen eigene Treulosigkeit und Schlechtigkeit, die macht uns das Herz im Leibe tot, und um solch ’n Menschenherz ist’s doch manchmal schade, ja, manchmal schade!“

Ilse sagte kein Wort zu Leupolds Erzählung, aber sie hatte zugehört, die Genugthuung wurde ihm – ihre Augen bewiesen es. Er nahm ihre Rechte und klopfte ’mit seiner Hand darauf, sehr sanft und zart, wie er meinte. Aber Erich Leupold hatte es verlernt, Liebkosungen auszuteilen, es war gar zu lange her, daß er sich darin geübt hatte. Eine feine Mädchenhand, die verstand er nicht mehr zu behandeln, wohl aber eine wunde Mädchenseele – Ilse fühlte, wie ihr die Nähe dieses seltsamen alten „Weiberfeindes“ merkwürdig gut that. Der Alte wäre sehr erstaunt gewesen, wenn er dies gewußt hätte, er, der mit dem Artikel „Herz“ schon so lange, lange Jahre gänzlich aufgeräumt zu haben glaubte.

„Mädel,“ fragte er endlich in die lange Stille herein, „hast Du Dir in der Nacht, wo Du gar nicht geschlafen hast in Deinem Unverstand, irgend ’was über Deine Zukunft zurechtgelegt? Ich mein’ bloß ... so wie ich Dich kenn’ – immer neben dem Herrn Papa dasitzen –“

„Nein, nein, Onkel Erich!“ Zum erstenmal blickte und sprach Ilse ein wenig lebhafter. „Das möchte ich nicht, das halt’ ich nicht aus! Etwas zu thun muß sich für mich finden, muß, sag’ ich Dir, wenn ich nicht kläglich an mir selbst zu Grunde gehen soll;, irgend eine Aufgabe muß da sein, an die ich meine ganze Kraft setzen kann –“

Leupold nickte befriedigt. „Recht so! Na, da hab’ ich mich ’mal nicht in ’nem Menschen getäuscht, abgleich der Mensch ’n Frauenzimmer ist. Natürlich, ’ne Aufgabe! Aber welche?“

„Ich kann mich von Papa nicht trennen, Onkel!“

„Das ist unmöglich! Er, der ohnehin kaum halb mehr lebt, und ich fort von ihm .... nein, niemals!“

„Hm! Aber wenn nun - sieh ’mal, ich mein’ ja bloß so – aber wenn nun, der Mensch soll lieber gleich an alles denken – na, wen bringt uns der alte verrückte Tapir, der Jan Grenboom, denn da zum Haus geschleppt?“

„Ich kann jetzt niemand sehen, Onkel!“

„Versteht sich! Was solltest Du jetzt mit Menschen? Aber das Nilpferd muß seinen letzten Rest von Verstand eingebüßt haben, weiß, wie hier die Sachen stehen, und bringt ’nen Fremden .... nein, ’s ist doch kein Fremder! Uberwind’ Dich ’mal, Prinzeß, sieh zum Fenster hinaus! Ist das nicht Euer Doktor Morschewsky?“

„Um Gotteswillen, es wird doch nichts mit Papa“ – das junge Mädchen war aufgesprungen und an die Thür geeilt. Ehe sie diese erreicht hatte, öffnete Jan Grenboom sie schon von außen und schob mit ein paar völlig unverständlichen Knurrlauten, die vielleicht eine Ankündigung, vielleicht eine Entschuldigung bedeuten sollten, seinen Begleiter über die Schwelle.

Doktor Morschewsky war ein feiner ältlicher Herr, noch sehr hübsch und beträchtlich eitel, was ihn aber nicht hinderte, zugleich ein vortrefflicher Arzt zu sein, der ein bewundernswert sicheres Auge, eine feste und doch leichte Hand besaß und somit das Zutrauen seiner zahlreichen Kranken vollauf rechtfertigte. Mit den Doßbergs war er seit langen Jahren in Verbindung und hatte sich dort im Hause allgemach die Stellung und Rechte eines Freundes erworben.

Mit einem freien und leichten Anstand, der den vornehmen schlanken Mann gut kleidete, verneigte er sich vor Ilse und dann vor Kapitän Leupold. „Verzeihen Sie gütigst mein Eindringen, Herr Kapitän. Ich weiß, Sie sind kein Freund von unerwarteten und ungebetenen BesUcheN: Schieben Sie den meinigen auf die Dringlichkeit der Sache, die den Anlaß zu meinem Erscheinen giebt!“

Der Kapitän nahm die dargereichte frauenhaft zarte Männerhand und drückte sie mit seiner braunen „Tatze“ kräftig, dann rückte er dem Gast einen Stuhl zurecht.

„Setzen Sie sich hin, Doktor, und reden Sie!“

Der Arzt nahm zunächst Ilses Hand und küßte sie. „Ich war bei Ihrem Vater, liebe Isolde, als der Bote des Herrn Kapitäns kam. Ich weiß nicht, was Ihnen geschehen ist, Ihr Vater hat es mir nicht gesagt. Wird das, was ich Ihnen jetzt mitzuteilen für meine Pflicht halte, als Arzt wie als Freund, einen neuen Kummer, eine neue Sorge hinzufügen .... dann, bitte, vergeben Sie mir! Wir Menschen können nur nach unserem besten Ermessen handeln, unser Wissen ist Stückwerk, und einer höhern Macht bleibt es vorbehalten, was wir in unserer Kurzsichtigkeit schauen, zu durchkreuzen oder zum glücklichen Ende zu führen.“

Kapitän Leupold ließ ein ungeduldiges Räuspern hören. Was sollten all’ die schönen Redensarten?

„Ich komme zur Sache!“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 19, S. 318–322

[318] Doktor Morschewsky warf auf den alten Kapitän einen Seitenblick, als wollte er ihm seine Ungeduld verweisen, und fuhr dann fort: „Ich habe schon lange mit Ihnen sprechen wollen, liebe Isolde, es trieb mich, Ihnen meinen Rat, meine unmaßgebliche Meinung zu übermitteln.“

„Ja, und was meinen Sie denn nun eigentlich?“ warf Leupold dazwischen.

„Ich meine als Arzt wie als alter Freund des Herrn Barons, daß dessen Leben gefährdet ist, wenn er noch länger in einer Lage bleibt, die für eine Natur, einen Charakter wie den seinigen geradezu Gift ist: fern von der Heimat, ohne Thätigkeit, seinen quälenden Grübeleien überlassen, die Seele krank von einem Heimweh, das schon Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“

„Aber Doktor, Doktor, das scheint mir denn doch bedeutend übertrieben!“

„Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“ wiederholte der Arzt unbeirrt. „Ich habe in meiner eigenen Praxis Belege dafür gehabt. Die Sache mit dem gebrochenen Herzen ist nicht immer eine sentimentale Redensart – ich sage Ihnen, es giebt Leute, die an gebrochenem Herzen sterben, und es giebt auch Leute, die an Heimweh zu Grunde gehen, zuerst langsam, langsam ... dann mit einem Mal ist’s zu Ende, und der Arzt, um dem Ding einen Namen zu geben, setzt sich hin und schreibt irgend etwas Lateinisches in den Totenschein. Ich habe nun, wie gesagt, schon lange mit Fräulein Isolde reden wollen – allein natürlich! Aber ich habe sie immer nur mit ihrem Vater zusammen gesehen. Eine gute Tochter sind Sie, mein teures Kind, eine sehr gute Tochter! Nun, da habe ich denn auf meine eigene Verantwortung einen Schritt gethan – schrecken Sie nicht so zusammen, liebste Isolde, Ihr Vater weiß noch nichts davon, und es steht bei Ihnen, bei Ihnen ganz allein, ob Sie den Plan gutheißen und ihm mitteilen wollen oder nicht. Ich weiß, wie der Baron an der ‚Perle‘ hängt, ich sehe es, er kann ohne die ‚Perle‘ nicht leben. So müssen wir also versuchen, sie ihm wieder zu verschaffen, er muß wieder in seiner alten Heimat leben dürfen.“

Ilse lehnte sich in den Sessel zurück; ihre Augen waren unnatürlich groß, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.

„Ich habe mich rechts und links bei meinen zahlreichen Kranken nach dem jetzigen Besitzer der ‚Perle‘, diesem Herrn von Montrose, erkundigt,“ fuhr der Arzt fort. „Er soll nicht leicht zugänglich sein. Alle aber kamen doch darin überein, er sei ein Ehrenmann im vollen Sinne des Wortes. Ich hörte, er sei auch mit Doßberg als Administrator gut zurechtgekommen, das Verhältnis sei das beste gewesen, während der Nachfolger des Barons sich nicht behaupten könne. Da habe ich mir denn erlaubt, eigenmächtig in die Verhältnisse einzugreifen, liebste Isolde: ich habe an Herrn von Montrose geschrieben und ihn gebeteu, Ihren Vater wieder nach ‚Perle‘ zurückzunehmen. Hier ist die Antwort auf meinen Brief – sie traf während Ihrer Abwesenheit bei mir ein.“

Doktor Morschewsky griff in seine Brusttasche und reichte Ilse einen Brief, dessen Umschlag das Wappen der Montroses, die weiße Rose im roten Felde, trug. Ilse zuckte zurück, als habe sie glühendes Eisen berührt. Kapitän Leupold nahm dem Arzt den Brief aus der Hand und hielt ihn ihr geöffnet hin, damit sie mit ihm zugleich hineinsehen konnte. Es war ein kurzgefaßtes Schreiben in einer festen charaktervollen Handschrift:

 „Hochgeehrter Herr Doktor!
Indem ich Ihnen für Ihr Schreiben und das mir bewiesene Vertrauen verbindlichst danke, teile ich Ihnen mit, daß es mir jederzeit eine Ehre und eine Freude sein wird, Baron Doßberg bei mir wieder aufzunehmen, daß ich aber ihm selbst sowie seinem Fräulein Tochter die Entscheidung in dieser Angelegenheit anheimstellen muß, da es mir leider verwehrt ist, irgend welchen weiteren Schritt zu thun. Sowie Baron Doßberg sich bereit erklärt, nach ‚Perle‘ zurückzukehren, trete ich am andern Tage meine schon seit längerer Zeit geplante Reise ins Ausland an. – Wollen Sie die Güte haben, dem Baron sowie Baroneß Ilse diesen meinen Entschluß zu übermitteln?

 Mit bestem Dank Ihr sehr ergebener

 Montrose.“

Ilses Augen irrten über die Zeilen hin, sie fing mechanisch immer von neuem zu lesen an. Der alte Leupold atmete kurz und gepreßt, ihm war außerordentlich unbehaglich bei der ganzen Sache. Wenn doch nur um Gotteswillen die Prinzeß Ilse keinen dummen Streich begehen möchte! Sie sah so merkwürdig verzweifelt aus, und aus Verzweiflung hat schon so manche ihr Schicksal besiegelt und dann lebenslang daran zu tragen gehabt.

„Doktor, Sie sind also davon durchdrungen, daß das da“ – Kapitän Leupold schlug nachdrücklich mit der flachen Hand auf den Brief – „meinem Schwager Doßberg das Leben wiedergiebt?“

Der Arzt hob die Schultern. „Ich sagte es ja: wir Menschen sind alle dem Irrtum unterworfen; aber soweit ich den vorliegenden Fall übersehen kann, ist Baron Doßberg auf dem besten Wege, am Heimweh zu Grunde zu gehen, und ich halte seine schleunige Rückkehr nach ‚Perle‘ für das einzige Mittel, dem vorzubeugen.“

Ilse stand von ihrem Sitz auf, sie wollte sprechen. Dem alten Leupold schnürte sich bei ihrem Anblick angstvoll das Herz zusammen. „Du sagst nichts!“ rief er gebieterisch und drückte sie in ihren Sessel zurück. „Du darfst nicht, ich erlaub’ es Dir nicht! Du sagst kein einziges Wort!“

Sie sagte auch kein Wort. Lautlos sank sie neben dem Sessel zu Boden.




18.

Soeben war der Berliner Zug in St. eingetroffen, zwölf Uhr fünf Minuten mittags. Ein zweiter Zug, der schon auf dem Nebengeleise bereit stand, sollte binnen kurzem in entgegengesetzter Richtung abgehen. Diejenigen aus dem Berliner Zug, die nicht in fliegender Eile ans Büffett stürmten, standen einen Augenblick still oder wandten im Weiterschreiten den Kopf zurück, um lächelnd eine Gruppe von Offizieren zu betrachten, die auf dem Bahnsteig [319] standen, offenbar zur Reise gerüstet und in der heitersten Stimmung. Die Burschen mit den Handkoffern und Mänteln standen ein wenig beiseite. Ein dienstfertiger Kellner trug ein Brett mit kleinen gefüllten Cognacgläsern heran, den „Steigbügeltrunk“, der mit fabelhafter Geschwindigkeit erledigt wurde.

„Mock, verschlucken Sie sich nicht, Sie sind schon rot genug!“ –„Möchte wissen, wen das was angeht, mein Gesicht!“ – „Na, na!“ – „Seheu Sie, Zeno, das hat er jetzt übelgenommen! Fängt gut an!“ – „Noch schöner! Wer heut’ ’was übelnimmt, der –“

„Einsteigen, meine Herren! Es läutet ab!“

Unter gewaltigem Lärm wurde ein Coupé in Beschlag genommen.

„Bis wie weit, meine Herren?“ fragte der Schaffner.

„Keine Idee, wie das Nest von Station heißt! Wer hat denn eigentlich die Fahrkarten genommen?“

„Zeno natürlich, wer sonst!“ – „Zeno, wie heißt doch gleich das Ding, wohin wir fahren, drei Stationen vor ‚Perle‘?“ – „Altwerder! Zwei, vier, sechs Fahrkarten! Hier, Sie Biedermann!“

Der Zug setzte sich in Bewegung. Der kleine Zeno saß da, weit vornübergebeugt, den Säbel zwischen die Knie geklemmt, die Cigarette im Munde, heftig dampfend. Sein mageres brünettes Gesicht sah beinahe finster aus, seine um die Knie verschränkten Hände trieben ein unruhiges Spiel.

„Nun seht den Kleinen an!“ – „Reden Sie auch ’n Ton, Zeno?“ – „Wo fehlt’s denn?“ – „Sitzt da wie ’ne männliche Kassandra!“ – „Er macht sich Sorgen ums ausgelegte Geld!“

Zeno zuckte bloß die Achseln. Oesterlitz, der sich im Lauf der Zeit mit ihm befreundet hatte und neben ihm saß, neigte sich zu ihm herab und sagte leise: „Was ist denn los?“

„Ach, nichts!“ brummte der Gefragte zurück. „Kann bloß nicht in einem fort so mithalten und Blech reden. So kindisch zu sein, alle zusammen!“

„Na, lassen Sie! Fahren ja doch zur Hochzeit!“

„Ist’s eben! Hochzeit! Als ob das so eine wär’, wie sie alle Tage sind! Ich – wenn man so weiß, wie alles gekommen ist ...“

„Sie hat’s eben ihrem Alten zulieb gethan, natürlich! Ob das aber wirklich wahr ist, daß sie sich Montrose selbst angetragen hat – ich war ja nicht hier, weiß nichts Näheres.“

„Angetragen – das ist ein bißchen viel gesagt. Denn als sie mit ihrem Vater so Knall und Fall von ‚Perle‘ wegging und hierher nach St. zog, da hatte Montrose schon ’mal um sie geworben. Aber sie – damals nahm sie ihn noch nicht; schließlich konnte sie auch nicht wissen, daß dem alten Doßberg die Trennung von ‚Perle‘ gleich ans Leben gehen würde.“

„Hören Sie ’mal, Zeno, glauben Sie denn das in allem Ernst?“

„Ja, das thu’ ich! Ich hab’ denselben Arzt wie die Doßbergs, seit Jahren schon, Morschewsky, respektabler Mensch, der sagt’s, und der spaßt mit solchen Geschichten nicht. Und da hat denn die schöne Ilse –“

„Keine Geheimnisse hier!“ rief ein Kamerad die beiden Freunde zur Ordnung.

„Wenn ich Geheimnisse haben will, dann hab’ ich sie!“ gab Zeno mit einem scharfen Blick zurück.

„Na na! Nur nicht ungemütlich!“ rief der dicke Mock dazwischen. „Laßt doch die zwei zusammen tuscheln, wenn’s ihnen Spaß macht! Wollen uns unterdessen schon die Zeit vertreiben. Hat keiner von den Kameraden zufällig ’n paar Würfelchen bei sich? Hier meine Reisetasche dient als Tisch.“

Widerspruch und Gelächter wurde laut, die beiden in ihrer Ecke konnten ihr Gespräch unbehelligt fortsetzen.

„Also die schöne Ilse?“ fragte Oesterlitz.

„Ja, sie hat mit Montrose eine lange Unterredung gehabt, des Vaters wegen. Was sich die beiden dabei gesagt haben, weiß natürlich keiner, obgleich ich was drum gegeben hätte, dabei zu sein. Das Ende vom Lied war die Verlobung, die wie ’ne Bombe in die ganze Stadt fiel. besonders ins Regiment.“

„Was wohl Georges Montrose für Augen dazu gemacht hat?“

„Hat niemand gesehen! Er war ja verreist – Sie wissen, er wollte dieser unangenehmen Geschichte mit der kleinen ungarischen Sängerin aus dem Weg gehen. Hatte es stark getrieben in dem letzten halben Jahr. War wie verrückt in die schöne Ilse verliebt. Na, sie hat ihn kaum angesehen und der eigene Alte kam ihm ins Gehege. Da ist er denn fuchsteufelswild geworden, und die kleine Ungarin hat helfen müssen – trösten!“

„Ja, erlauben Sie: mit Spielhölle und allem, das ist denn doch ein etwas ausgiebiger Trost!“

„Gewiß! Das fand der Kommandeur auch und hat Montrose zu seinem Urlaub noch eine Ermahnung mit in Kauf gegeben, die nicht von gestern gewesen sein wird. Sie kennen ja den Oherst! Der fackelt nicht lange, da heißt es einfach: ‚Kommen mir noch einmal solche Geschichten zu Ohren, mein Lieber, dann dankt mein Regiment für die Ehre und Sie können sich ’mal die überseeischen Gegenden besehen, wenn Sie wollen.‘ Das hat der Alte gesagt, darauf können Sie sich verlassen! Und zu dem allen spielt das Schicksal dem Montrose jetzt noch den Geniestreich und giebt ihm die schöne Ilse Doßberg zur Stiefmutter!“

„Meinen Sie, daß er bei der Hochzeit anwesend sein wird?“

„Muß, ob er will oder nicht! Clémence ebenso, die sich gleich nach ihres Vaters Verlobung darauf besann, daß Paris doch eigentlich eine reizende Stadt sei, und Knall und Fall dorthin abreiste. Aber der alte Montrose hat seine Sprößlinge fest am Zügel, denn er hat das Geld, sie brauchen es – alao hat er sie buchstäblich in der Tasche. Sie kommen, kommen beide zur Hochzeit, ich weiß es bestimmt. Glauben Sie denn, das Regiment wäre mit sechs Einladungen zu diesem Fest bedacht worden, wenn unser lieber Georges nicht dabei wäre?“

„Ja, natürlich, ist schon richtig! Aber wird der ’ne Wut haben!“

„Und ob! Zumal .... man munkelt da dies und jenes: daß Montrose ein Testament gemacht, seine Kinder mit Geld abgefunden und, falls Erben aus dieser seiner zweiten Ehe hervorgehen, ihnen die ‚Perle‘ verschrieben haben soll. Wenn das den jungen Montroses zu Ohren kommt – ich steh’ für nichts!“

„Sie machen sich nichts aus dem Kameraden Montrose, Zeno?“

„Nein, thu’ ich nicht! Sehen Sie, Oesterlitz, flottes Wesen und Schneid’, so ’was lass’ ich allemal gelten, und wenn einer damit ein bißchen über die Schnur haut, da drückt man schon ein Auge zu. Aber der Georges Montrose – so ein reiner Genußmensch und weiter gar nichts, und dann diese Leidenschaft für den Mammon ... setzt Ehre und Selbstachtung und alles aufs Spiel, bloß ums Geld – pfui Teufel!“

„Na, recht haben Sie schon! Was ist übrigens aus dem schönen Botho geworden, seit er sich nach M. versetzen ließ? Hat er ’mal an irgend einen hier geschrieben?“

„Wird sich hüten! Was soll er schreiben? Daß er dort fortfährt, Schulden zu machen, ebenso wie hier? Oder daß er sich um eine reiche getaufte Jüdin bewirbt, wie mir der schwarze Hasko neulich aus M. berichtete?“

„Hören Sie, Zeno, noch eins! Hat man denn in St. viel von dem sonderbaren Brautpaar, ich meine Montrose und die schöne Isolde, gesehen? Ich bin eben erst aus dem Urlaub zurück ...“

„Sehr wenig hat man von ihnen gesehen. Der alte Doßberg siedelte sofort nach der Verlobung nach ‚Perle‘ über, nahm seine früheren Pflichten wieder auf und soll von morgens bis abends fieberhaft thätig sein. Die schöne Ilse zog zu dem verrückten Kerl, dem alten Leupold, in seine Kajütenwohnung, und dort hat sie ihr Bräutigam – kurios, sich den alten Montrose als Bräutigam vorzustellen – des öfteren aufgesucht, aber beobachtet hat sie dabei keiner. Sehen Sie ’mal, ich glaube, der Mock hat zwölf Augen geworfen!“

Mock sorgte selbst dafür, daß dies Ereignis bekannt wurde; er vollführte einen gewaltigen Lärm und säckelte seelenvergnügt seinen Gewinn ein.

Rasselnd, keuchend sauste der Zug in die goldene Herbstlandschaft hinein. Ein prangender Oktobertag war’s, der in den Sommer zurücktäuschte.

Zwei Equipagen und ein Wagen für die Gepäckstücke erwarteten die Offiziere in Altwerder – von dort hatte man noch eine knappe Stunde bis „Perle“ zu fahren. Die Herren standen mit Kennermiene bei den Pferdeu und waren alsbald mit den Kutschern im sachgemäßen Gespräch. Montroses Marstall fing an, berühmt zu werden, er konnte sich mit Ehren sehen lassen. Zeno that wenig mit, er hatte die edlen Pferde mit raschem Blick gemustert – nun mahnte er zur Abfahrt; um drei Uhr sollte die Trauung stattfinden, und man hatte sich noch umzukleiden. – –

In der Wolframskapelle läuteten die Glocken; sie hatten manchem Doßberg den ersten Willkommgruß, den Segenswunsch für den Ehebund, den letzten Abschied aus Welt und Leben verkündet. Ihre ehernen Stimmen schwebten feierlich durch die klare Luft, und langsam wand sich der Zug, der die Wagen verlassen [320] hatte, den Hügel hinan, auf dem die alte Kapelle stand. Es war kein großer Zug – eine stille kleine Hochzeit sollte es sein, hatte die Braut gewünscht, die noch um ihre Mutter trauerte, und man hatte das erklärlich gefunden. Niemand von den Gästen hatte sie bisher zu sehen bekommen; sie war unmittelbar aus ihrem Ankleidezimmer durch eine Seitenpforte in den harrenden Wagen gestiegen – jetzt kam sie am Arm ihres Gatten heran.

Diejenigen, die sich die schöne Ilse von Doßberg als Opferlamm vorgestellt hatten, und das war weitaus die Mehrzahl der Hochzeitsgesellschaft, fanden sich schwer enttäuscht. Nichts von einer sanft ergebenen Duldermiene, nichts von einem entsagenden tragischen Blick! Es war ein neuer Ausdruck in dies reizende Gesicht gekommen, der es eigenartig verwandelte, ein Zug von Schwärmerei um Augen und Lippen. In den warmen dunkeln Augen lag ein feuchter verklärter Glanz, der liebliche Mund zeigte ein gerührtes Lächeln. So trat die schöne Gestalt in den weißen langschleppenden Brokatgewändern, den Myrtenkranz mit dem duftigen Schleier über dem Goldhaar, in den dämmerigen kühlen Raum der Wolframskapelle.

Die Töne der kleinen alten Orgel verhallten in langsamem Ausklingen. Das Sonnengold, das durch die bunten Malereien der Fenster hereinsah, verzitterte in mattroten und violetten Lichtern auf dem teppichbelegten Fußboden. Steife vergoldete Engel mit langen Flügeln sahen wie verwundert von der Höhe der Decke auf die beiden herab, die jetzt an den Stufen des Altars nebeneinander standen. Dem grauhaarigen Geistlichen bebte die Stimme, als er den Eingangsgruß sprach. Er kannte Ilse von Doßberg seit ihrer frühesten Jugend, er hatte ihr den ersten Unterricht erteilt, hatte sie eingesegnet und ihr Geschick mit herzlicher Teilnahme verfolgt. In banger Frage streifte sein Blick die Braut und dann Herrn von Montrose. Er konnte gegen den Bräutigam nichts sagen, es gab im Gegenteil recht viel, was für ihn sprach. Alle Verbesserungen, die der arme Baron Doßberg geplant und aus Mangel an Mitteln hatte fallen lassen müssen, hatte der neue Besitzer der „Perle“ ins Leben gerufen. Das alte Schulhaus war umgebaut, eine Darlehenskasse errichtet worden, die Schulkinder hatten einen schönen Spielplatz, sowie eine hübsche Bibliothek bekommen, demnächst sollte ein Krankenhaus in Angriff genommen werden – ohne allen Zweifel ein wohlwollender, ein gütiger Herr, mit offener Hand und hellem Verstand ... aber doch, aber doch! Die junge schöne Ilse – konnte sie denn zu ihm stimmen? Das fragte sich innerlich auch, ebenso wie der alte Pfarrer, der Landrat Melchior, der unausgesetzt seine Blicke zwischen dem Paar hin und her gehen ließ und, ohne sich dessen bewußt zu sein, einmal ums andere den Kopf schüttelte bei dem Gedanken, was das wohl für eine Ehe abgeben werde .... und der alte Leupold fragte sich’s zu allermeist. Seine hellen Augen verschwanden fast unter den breiten gesträubten Brauen, die Stirn lag in grimmigen Falten, und grimmig war dem Kapitän zu Sinn, als er auf seinen Schwager Doßberg blickte und dann auf das Paar, wie wenn er sagen wollte: „Da sieh, was Du angerichtet hast! Dein Werk ist diese Ehe, Du bist schuld daran!“

Schuldbewußt sah er drein, der arme Baron! Schneeweiß geworden, das Haupt tief gebeugt, als wollte er nichts sehen und hören von allem, was um ihn vorging, mit seiner nervösen zitternden Hand unaufhörlich den Hut glättend, den er in der Linken hielt .... man erkannte ihn kaum wieder.

Bleich bis in die Lippen, den Kopf im Nacken, ein mühsam erzwungenes Lächeln um den Mund, stand Clémence von Montrose in starrem raschelnden Damast neben Mock. Dem gutherzigen und leichtlebigen Offizier war gar nicht wohl an der Seite dieser Dame, er musterte sie immer von neuem, halb besorgt, halb mißbilligend, und äußerte später gegen Zeno, ihm sei ganz bange gewesen in der Kirche: diese Clémence habe ausgesehen, als sei sie randvoll mit Wut geladen, und das kleinste Fünkchen könnte eine bedenkliche Explosion herbeiführen. Und, guter Gott, wie sah der Kamerad Montrose aus! Er mußte seinen langen Urlaub benutzt haben, um verteufelt rasch zu genießen; jedenfalls gewährte er den Anblick eines Menschen, der mit voller Rücksichtslosigkeit auf sich eingestürmt hat und mit seiner Gesundheit nahezu fertig ist. Sein Gesicht, das nie besonders wohlwollend im Ausdruck gewesen war, trug einen so ausgesprochen hämischen Zug und in seinen Augen lag so viel kalte Bosheit, daß Oesterlitz den kleinen Zeno heimlich am Arm faßte und ihm zuraunte: „Wissen Sie, der Montrose sieht heillos ungemütlich aus! Schlecht mit ihm Kirschen essen! Ich mein’, der macht’s nicht mehr lange!“ Zeno nickte, sagte aber kein Wort; ihm war elegisch zu Mut, sehr elegisch. Der kleine braune Lieutenant, der so rasch mit der Zunge war, besaß bedeutend mehr Gemüt, als er zu zeigen für gut fand. Für Ilse von Doßberg hatte er immer eine Art platonischer Schwärmerei empfunden; es war ihm nie beigekommen, um das schöne Mädchen zu werben, er hatte ihr nicht einmal den Hof gemacht, aber er konnte sich nicht helfen, sie stimmte ihn allemal poetisch, und wenn er sich in den verschwiegenen Tiefen seines Busens ein Ideal bewahrt hatte, so trug es ohne Zweifel Ilses Züge. Und nun sah er sie hier am Altar stehen, an eines alten Mannes Seite, als Stiefmutter dieser beiden unliebenswürdigen Montroses, ein Opfer ihrer Kindesliebe! Es war schön. es war edel von ihr, das stand ja fest, aber dem kleinen Zeno schnitt es tief ins Herz.

Der alte Pfarrer sprach einfach und herzlich. Von der Heimat redete er, die jeder suchen und finden müsse, von der droben, dann von der anderen hienieden auf Erden, welch köstliches Ding es für so ein armes Menschenkind sei, sich sagen zu können: hier bist Du daheim! Und er legte es der jungen Braut ans Herz, es mit Dankbarkeit zu empfinden, daß der Gatte ihr und den Ihrigen die alte Heimat wiedergegeben, und flehte, es möchte allen zum Segen gereichen. Und zuletzt strömte des alten Mannes Herz über in Liebe zu der, die er als schönes glückliches Kind gekannt, und er sagte ihrem Gatten, heute habe er einen Schatz gehoben, edler und reicher als alle Güter dieser Welt: ein reines Frauenherz; er möge diese Gabe hoch halten vor allen andern und seinem jungen Weibe die schönste und sicherste Heimat gewähren, die es je finden könne: die Heimat an seinem Herzen! Dann kam die Trauung, die Stimme der alten Orgel ertönte von neuem, feierlich und ernst, und die Feier war vorüber.

Als die neue Frau von Montrose zu ihrem Vater herantrat, da zitterte der arme Baron von Kopf bis zu Fuß. Aber Ilse legte ihre weichen Arme um seinen gebeugten Nacken und küßte ihn und sah ihm lächelnd in die Augen, und es war kein müdes hoffnungsarmes Lächeln, es lag etwas Stolzes, Freudiges darin. Sie hatte dem alten Mann das Leben, die Heimat erhalten, sie fühlte sich beseelt von dem besten redlichsten Willen, glücklich zu machen .... mußte sie dann nicht auch glücklich sein? - - -

Ein luxuriöses Mahl im Bankettsaal des Schlosses, Trinksprüche in Prosa und Versen .... dann, während die Hochzeitsgesellschaft noch beisammen blieb, ein hastiger Aufbruch des neuen Ehepaares. Sie wollten sofort ihre geplante Reise nach dem Süden antreten, die sie monatelang der alten Heimat fernhalten sollte.

Liebreizend, ein wenig blaß und befangen, erschien die junge Frau in ihren dunkeln Reisekleidern. Armin, der schlank und hoch aufgeschossene junge Mensch in der flotten Marineuniform, hatte dem Sekt tüchtig zugesprochen und nahm nun einen so feurigen Abschied von Ilse, daß er sie gar nicht wieder aus den Armen lassen wollte; seine ganze begeisterte Liebe für die Schwester kam zum Durchbruch. Die Offiziere küßten nacheinander Ilses Hand, Zeno mit sehr ernstem Gesicht. Georges von Montrose streifte kaum mit dem Rand der Lippen die dargereichte Rechte seiner neuen Stiefmutter. Sie sah ihn wie bittend, wie überredend aus ihren schönen Augen an – ein schneidendes Lächeln ging über seine Züge, seine flackernden Augen irrten unruhig über die anmutige Gestalt, dann trat er zurück, und Clémence berührte mit eisig kalten Lippen für eine Sekunde Ilses goldenes Stirnhaar. Der neue Gatte stand mit wachsamem Blick daneben, jetzt reichte er Ilse den Arm, um sie die Freitreppe hinunterzuführen – noch ein letztes Lebewohl für den Vater, und der Wagen entführte die Neuvermählten.




19.

„Nein, nein, Mama. Du kannst mir’s glauben, eben hab’ ich’s im Fremdenbuch gefunden. Chevalier E. de Montrose nebst Gemahlin von Rom.“

Die alte Dame im braunen Seidenkleid hob Augen und Hände gen Himmel. „Aber das ist ja ein Skandal, das ist – ich finde einfach den Ausdruck nicht, um zu sagen, was das ist! Für mich ist es geradezu widerwärtig, das zu sehen – auch ist es eine Blamage für mich, denn hab’ ich nicht gestern abend zu diesem süßen Geschöpf gesagt: ‚Gnädiges Fräulein, Ihr Herr Papa erwartet Sie draußen‘!“

[321] „Und sie, Mama, was hat sie gesagt?“

„Sie neigte den Kopf gegen mich, mit einer Anmut, wie Du sie leider nie besessen hast, Kamilla, und sagte: ‚Besten Dank, Frau Direktor!‘ Sie also wußte, wer ich war, und ich nannte ihren Mann ihren Herrn Vater – es ist ja, um in die Erde zu versinken! Wie soll ich ihr denn an der Tafel unter die Augen treten?“

„Ach Gott, Mama, glaub’ mir, das ist ihr sicher schon sehr oft begegnet – an solche Irrtümer wird sie gewöhnt sein!“

„Meinst Du, Kamilla? Es wäre mir ein Trost. Aber Du sagst so etwas nur hin, damit ich mich beruhige. Mein Trost ist nur, daß sie mir verzeihen wird. Mit solchem Gesicht muß sich ein edles Herz verbinden – diese Züge können nicht lügen! Aber diesen alten Herrn zu heiraten!“

„Findest Du nicht, Mama, daß der alte Herr recht klug und vornehm aussieht? Er scheint auch seine Frau über alles zu lieben.“

„Nun, das fehlte noch, daß er sie nicht liebte! Wenn sie das ungeheuere Opfer gebracht hat, ihn zu nehmen ...“

„Dort kommen sie, Mama!“

„Wo denn, wo? Meine Lorgnette, Kamilla – ich möchte nur wissen, wo sie immer ist, wenn man sie braucht – nie ist sie da! Endlich! Sie machen Halt auf der Terrasse, er schiebt ihr den Schaukelstuhl hin, nimmt ihr den Sonnenschirm und den Hut ab – gut, daß man sie von hier aus so bequem beobachten kann! Nun sieh’ das Haar, sieh’ dieses Kleid aus weißem Wollstoff mit diesen himmlischen Spitzen! Wie schick, wie schick! Ich könnte Dir das auch kaufen, Kamilla, aber ob es Dir gut stehen würde?“

„Nein, Mama, ich glaube es nicht!“

„Du glaubst es nicht? Nun, ehrlich gesagt, ich auch nicht. Sieh’, wie er sich über sie beugt, der alte Herr! Kann er ihr die Hand geküßt haben, was meinst Du?“

„Warum sollte er nicht?“

„Da er ihr Mann ist, willst Du sagen! Leider, leider! Ich empfinde diese Thatsache wie eine Beleidigung!“

Dies Gespräch fand statt im Hotel d’Italie zu Mentone. Frau Bankdirektor Lössen aus Stettin war mit ihrer Tochter Kamilla, die ein wenig schwach auf der Brust war und den Winter in Capri zugebracht hatte, vor zwei Tagen nach Mentone gekommen, um hier noch eine Woche zu verweilen. Die etwas oberflächlich gebildete und ungemein sensationslüsterne Dame hatte sofort bei ihrer Ankunft ein Paar bemerkt, das ihr wert schien, Gegenstand unausgesetzter und eingehender Beobachtung zu werden – einen älteren vornehmen Herrn und ein reizendes goldblondes Mädchen, natürlich seine Tochter! Und nun sollte es seine Frau sein! War es zu denken?

Kamilla, ein schmächtiges blasses Mädchen mit einem angenehmen Gesicht, mußte ins Haus hinein, den Krimstecher zu holen. Die Lorgnette trug nicht weit genug, durch den Krimstecher aber sah man alles ganz genau. Frau Direktor Lössen stellte mit dem neuen Glase zunächst fest, daß der „alte Herr“, wie sie ihn beharrlich nannte, seinen niedrigen Sessel nahe neben den Schaukelstuhl schob, einen verschlossenen Brief aus der Tasche zog und hastig erbrach – er mußte ihm wohl unterwegs eingehändigt worden sein. Er legte seinen Arm um die Stuhllehne der jungen Frau und ließ sie mit hineinsehen. Sie lasen nicht lange, es mußte ein kurzes Schreibeu sein – sie sprach eifrig in ihn hinein, er wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, schließlich neigte er sich über ihre Hand und küßte sie, als sei er mit ihrem Vorschlag einverstanden.

Leider konnte Frau Lössen nicht lesen, was in dem Brief stand, so ausgezeichnet auch der Krimstecher war. Es war ein Schreiben vom alten Leupold, das die beiden auf der Terrasse lasen. „Liebe Prinzeß Ilse!“ schrieb er, „ich habe Dir zu melden, daß Dein Herr Stiefsohn, Georges von Montrose, gestern einen bösen Blutsturz gehabt hat. Morschewsky giebt keinen Heller mehr für sein Leben. Wer lebt wie’n Verrückter, kann sich nicht wundern, wenn er den Blutsturz kriegt. Dies braucht Dein Mann nicht zu lesen – das heißt, ich überlass’ es Deinem Gutdünken. Was meinst Du, wenn Du nach Hause kämest? Hätte Dir allerlei zu melden, was brieflich nicht gut angeht – das ‚Achterdeck‘ ist ein geeigneterer Platz dafür. Hast Dich ja lang’ genug in der Welt herumgetrieben, ist schon Anfang März! Bäume und Büsche bei uns kahl wie Besen, aber die Luft warm, verspricht ein gutes Frühjahr. Der Alte ist gesund, wirtschaftet wie’n Berserker auf ‚Perle‘ herum. Ob Dein sogenannter Herr Sohn sich freuen wird, Dich und seinen Vater zu sehen, lass’ ich dahingestellt – aber ich denk’ mir so, Du wirst’s für’n Stück Pflicht halten, zu kommen. Grüß’ Deinen Mann! Auf Wiedersehen! Dein alter Erich Leupold.“

„Und Du willst wirklich heute noch ...“

„Heut’ mit dem Nachtzug, ja! Vielleicht finden wir ihn noch lebend; am liebsten reiste ich in dieser Stunde!“

„Rege Dich nicht auf, Liebling, ich bitte Dich!“

„Wie sollte ich nicht! Ich hätte kein Herz, wenn ich es nicht thäte. Ein Sterbender! Onkel Leupold übertreibt nicht, und Morschewsky ebensowenig, ich weiß das. Sieh nicht so gelassen aus, Eugen, um Gotteswillen! Kann es wirklich einen Vater geben, dem es gleichgültig ist, wenn man ihm meldet, daß sein Kind stirbt?“

Montrose that einen tiefen Atemzug. „Du weißt nicht, was alles geschehen mußte, bis es soweit kam, wie es gekommen ist. Ich habe meinen Sohn geliebt, ich schwöre es Dir, aber er hat sich mir mit Absicht entfremdet, und dann ist er Wege gegangen, Wege, die – – genug! Ich habe mir das Wort gegeben, Dir das nicht zu sagen, und ich werde es halten.“

„Aber Du wirst ihm verzeihen, was er an Dir und sich selbst gesündigt hat, nicht wahr, Eugen, das wirst Du?“

„Wenn Georges meine Verzeihung verlangt, soll er sie haben – aber ich fürchte, er wird nicht daran denken.“

Die junge Frau seufzte beklommen.

„Liebling, ist es denn möglich, daß Du, gerade Du mich für gefühllos hältst?“

Sie sah rasch zu ihm auf. „Nein, Eugen! Das wäre eine schreiende Ungerechtigkeit von mir – Ungerechtigkeit und Undankbarkeit. Aber ich fürchte – soll ich sagen, was ich fürchte?“

„Alles sollst Du mir sagen!“

„Also, ich fürchte, daß Du auf der ganzen großen weiten Welt niemand weiter lieb hast als mich!“

„Ganz recht! Niemand weiter als Dich!“

„Ist das gut, Eugen, ist das richtig?“

„Gut! Richtig! Kind, was ist in eines Menschen Gefühl gut oder richtig? Wer will seinem eigenen Herzen etwas verbieten? Wer hat Macht darüber? Soll ich mich und Dich belügen und Dir Gefühle heucheln, die ich nicht empfinde?“

„Und Du thust doch so unendlich viel Gutes!“

„So viel ich kann, gewiß! Ich habe Mitleid mit den Menschen, ich helfe ihnen nach besten Kräften –“

„Aber Du liebst niemand!“

„Dich!“ Er neigte sich über sie und sah sie unverwandt an mit seinen rätselhaften Augen. Die junge Frau errötete unter diesem Blick wie so oft, wenn ihr Gatte sie anschaute. Nun war sie monatelang schon sein, und er gab sich ihr mit der ganzen Inbrunst eines Mannes, der sein höchstes Ziel erreicht, der sein Ein und Alles in dem geliebten Wesen gefunden hat. Nichts, was er nicht mit ihr teilte, ihr zugänglich zu machen suchte! Und wie zart faßte er sein Kleinod an! Wie mühte er sich, nicht mit unvorsichtiger Hand den Schmetterlingsstaub von dieser Seele zu streifen, nicht mit all den Erfahrungen seines langen Lebens, die sein Herz kalt und bitter gemacht hatten, dies junge Wesen zu betrüben!

War Ilse glücklich dabei? Und hatte sie Albrecht Kamphausen vergessen? Das eine nicht und das andere nicht. Sie mühte sich, glücklich zu sein, mühte sich tapfer und redlich. Es kam kein Tag, da sie nicht die besten Vorsätze faßte, und sie führte sie auch aus. Sie war ihrem Gatten so dankbar, sie achtete, bewunderte ihn – aber das seltsame Gefühl inneren Fremdseins, das sie als seine Braut schon durchschauert hatte, dies Gefühl, von dem sie bestimmt gehofft hatte, es werde sich wandeln, sobald sie erst sein Weib sei .... es wollte nicht weichen. Sie konnte mit ihm nicht von Albrecht Kamphausen, von der kurzen glückseligen Zeit ihres Liebestraumes sprechen, so oft sie es auch versuchte. Er wußte, daß Albrecht tot war, sie hatte es ihm selbst gesagt, damals, in jener merkwürdigen Unterredung, als sie ihn bat, ihren Vater wieder nach „Perle“ zu nehmen. Diese Unterredung hatte damit geendet, daß sie Montroses Braut wurde, und seitdem war Albrechts Name zwischen ihnen nicht mehr genannt worden. Aber sie sah Albrecht, sah ihn hundertmal des Nachts in ihren Träumen und tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie wenigstens unbeschränkten Kultus mit seinem Andenken treiben dürfe – mit dem Andenken eines Toten! Sie hatte es ihrem Gatten ja offen gestanden daß sie ihn nicht lieben könne, wie sie Albrecht Kamphazsen geliebt. Er hatte [322] es damit aufnehmen wollen, hatte gehofft, eine Liebe wie die seinige werde es lernen, alles zu überwinden. Aber er hatte nicht die stille gewaltige Macht bedacht, die ein Toter besitzt, eine Macht, die stärker ist als die jedes Lebenden.

Als jetzt Montrose das eine Wort „Dich!“ aussprach und seiner jungen Gemahlin dazu in die Augen sah, mit seinem tiefen zwingenden Blick, da errötete das liebliche Gesicht wie schuldbewußt – sie gedachte ihrer Träume, in denen Albrecht Kamphausen und nicht ihr Gemahl herrschte.

Ein neckisches Lüftchen weich und kosend, kam gezogen und hob die goldflimmernden Löckchen um Stirn und Nacken der jungen Frau. Drüben lag das Meer, es dehnte sich ruhevoll, in so tiefer satter Bläue, wie die Ostsee, an der Ilse heimisch war, sie niemals gezeigt, aber das war doch die heimische See gewesen, und hier, so schön und berückend es war, blieb doch immer die Fremde! Obgleich die Veranlassung so traurig war, die sie heimrief – Ilse wollte fast dankbar dafür sein. Ihr Gatte hatte beabsichtigt, mit ihr langsam die Riviera entlang zu reisen und dann in bequemen Etappen nordmärts zu fahren – nun sollte sie heute abend schon der Schnellzug nach der Heimat führen! Ilses Herzschlag ging rascher bei diesem Gedanken; sie sehnte sich nach dem Vater, nach dem alten wunderlichen Onkel Erich und seinen „Kajüten“, in denen sie jedes Stück an ihr kurzes Glück erinnerte, sehnte sich auch nach der „Perle“, die ihr teuer geworden war wie ein lebendes Wesen. Hatte sie doch um der „Perle“ willen das schwerste Opfer ihres Lebens gebracht, und wir liebeu immer, wenn auch oft mit bitteren Schmerzen, was unserem Herz ein Opfer gekostet.

Durch die Gebüsche und Bäume leuchtete es hell; dort zog sich eine Promenade hin, die um diese Stunde – es war vier Uhr nachmittags – sehr belebt war. Zuweilen klang das Stimmengewirr, dazwischen ein Ausruf oder ein helles Kinderlachen zu den beiden herauf, die jetzt stumm, jedes in seine eigenen Gedanken vertieft, nebeneinander auf der Terrasse saßen.

Plötzlich scholl von der Straße her ein Hundebellen, in tiefen und dröhnenden Brustlauten. Das Tier war nicht zu sehen, die Bäume und Büsche entzogen es dem Blick, aber es war offenbar ganz in der Nähe der Terrasse. Herr von Montrose sah erstaunt auf, als Ilse eine rasche Bewegung machte. Alles Blut schien ihr zum Herzen geströmt zu sein, ihr Gesicht war weiß geworden wie ihr Kleid. Ihr Gatte betrachtete sie voll Besorgnis, und sein Erstaunen wuchs, als sie sich weit im Schaukelstuhl vorneigte, dessen Lehnen mit beiden Händen umklammerte, wie um sich daran festzuhalten, und mit lauter Stimme: „Korsar! Korsar!“ rief. Da kam es in mächtigem Satz über die Brüstung, welche die Anlagen und die Terrasse von der Promenade trennte – ein riesiger schwarzweißer Leonberger mit langem Behang und buschigem Schweif. Hinter ihm her ertönte Kindergeschrei – hatte er in seinem ungestümen Lauf ein Kind umgerissen? Vormärts schoß er in langen Sprüngen, ein paar junge Gebüsche knickend, und nun die Stufen, die zu der Terrasse emporführten in wildem Anlauf nehmend, warf er sich in wuchtigem Anprall gegen Ilse.

Wie sich dann der Leonberger ihr zu Füßen schmiegte und leise winselnde Laute ausstieß, die beinahe menschlich klangen, wie sie sich zu ihm niederbeugte und mit ihrer zitternden Rechten den klugen Kopf des schönen Tieres streichelte, da war sie so fassungslos, daß sie auf Montroses wiederholte besorgte und dringende Fragen immer und immer nur die eine Autmort fand: „Korsar! Korsar!“ Und der Hund gebärdete sich wie sinnlos vor Freude – jetzt platt am Boden liegend, wie um seine demütige Untermerfung zu zeigen, nun wieder emporspringend, mit lautem Gebell die junge Frau umkreisend, und nun plötzlich aufhorchend, fest auf den Füßen stehend, den Kopf seitmärts gewendet, unruhig den Schweif bewegend, als wollte er sagen: „Hast Du denn nicht gehört?“ Ja, sie hatte gehört – eine laute gebietende Männerstimme, die aus ziemlicher Nähe wiederholt rief: „Korsar! Hierher, Korsar! Zu mir!“

Aher Korsar gehorchte nicht. Zweimal gab er Antwort mit seinem dröhnenden tiefen Bellen, zum Zeichen, wo er zu finden sei, im übrigen blieb er, wo er war. Jetzt bog ein hochgewachsener Mann in dunkler Kleidung um eine Gruppe von Pinien und näherte sich langsam der Terrasse. Ilse stand plötzlich auf, wie von unsichtbaren Händen in die Höhe gezogen, und ging dem Näherkommenden ein paar Schritte entgegen. Er kam unbefangen auf sie zu, den Hut in der Hand, bereit, die fremde Dame für Korsars ungehöriges Betragen um Verzeihung zu bitten – als er die Gestalt im meißen Kleide und das Gesicht näher ins Auge faßte, blieb er wie in den Erdboden gewurzelt stehen.

Auch Montrose war aufgestanden, mit einem jäh erwachten Schreck starrte er dem Fremden ins Gesicht. Es waren edelgeschnittene Züge, aber auffallend bleich. Die Augen lagen tief und hohl, die Wangen waren eingefallen, um den Mund zogen sich schmerzlich bittere Falten; die Haltung der hochgewachsenen Gestalt hatte etwas Müdes, Kraftloses. Korsar wandte den klugen Kopf von einem zum andern, ging dann die drei Stufen der Terrasse herab und rieb sich gegen seines Herrn Knie, als wollte er vermitteln.

Sein Herr ermannte sich endlich und sprach. Es kostete ihn eine gewaltsame Anstrengung, und die Stimme hatte keinen Klang, aber er sprach. „Verzeihen Sie, bitte, verzeihen Sie mir! Ich konnte nicht ahnen, wen ich hier finden würde – ich wollte Ihnen nie wieder begegnen, da ich wußte, wußte –“ Er brach ab, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Atem fing an, hörbar zu gehen.

„Albrecht!“ sagte Ilse ganz leise, wie aus einem Traum heraus. Er schien das nicht zu hören oder nicht hören zu wollen; er sah immer nur Herrn von Montrose an. „Ich – ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig,“ wandte er sich an diesen. „Wollen Sie sie anhören oder soll ich gehen und Ihnen später schreiben?“

Montrose suchte nach einer Antmort. Endlich wandte er sich zu Ilse. „Dies ist Kapitän Kamphausen?“ fragte er, Ilse nickte stumm. „Und willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Sie sah mit einem wirren Blick um sich, als wähnte sie, zu träumen. Konnte denn, konnte dies Wirklichkeit sein? Aber sie fühlte ja Korsars weiche heiße Zunge an ihrer Hand, und dort stand Albrecht – Albrecht, den sie so inbrünstig geliebt und betrauert ....

Voller Angst hob sie ihre Hände empor und drückte sie gegen die Schläfen. Wild wirbelten ihr die Gedanken durcheinander, – wunderbare Rettungen Schiffbrüchiger, von denen sie gehört und gelesen, fuhren ihr durch den Sinn. Also zu denen gehörte Albrechts Schicksal nun auch! Und nun war alles, alles zu spät, alles vorbei! Sie mar eines andern Gattin, es gab keine Hilfe für sie und Albrecht Kamphausen!

Montrose umfaßte sie und geleitete sie zu ihrem Schaukelstuhl zurück, ganz mechanisch setzte sie sich nieder. Dann fragte ihr Gatte sie von neuem: „Willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Ihr klang das letzte Wort wie Hohn. Sie und entscheiden! Sie hatte ja schon entschieden, hatte selbst mit fester Hand die Würfel ihres Lebens geworfen; was war jetzt noch zu thun? Aber sie hatte die Frage verstanden und mußte sie beantworten, sie nickte also und suchte in Albrechts Auge zu lesen, aber er schaute beharrlich von ihr fort. Montrose schob ihm einen Stuhl hin und er ließ sich darauf nieder wie ein völlig erschöpfter Mann. Korsar hatte noch eine Weile fragend zu Ilse aufgesehen, jetzt aber streckte er sich zu seines Herrn Füßen und ließ den Kopf hängen, als verdiente er Schelte, als wüßte er, was er angestiftet.

Eine bange Pause. Zuletzt fing Kamphausen an, zu sprechen. Sein umdüsterter Blick hatte lange auf Montrose gehaftet, als wollte er sich dessen Bild einprägen für alle Zeiten, jetzt sah er von ihm fort und zum Meer hinüber, wie wenn er dem seine Erlebnisse berichten müßte. Seine Stimme hatte gegen früher einen ganz veränderten Klang, es lag etwas Eintöniges, absichtlich Kaltes und Nüchternes darin, er sprach so, als ob er die Geschichte eines fremden Mannes nacherzählte.

„Ich kann mich kurz fassen, es ist nicht viel zu sagen. Ich muß nur von neuem betonen, daß es keinen Augenblick in meiner Absicht lag, hier wie ein Romanheld, wie ein Gespenst aus dem Grabe aufzutauchen. Ich habe jede Begegnung vermeiden wollen. Ich hörte, Sie seien in Rom, und dorthin habe ich geschrieben, um Ihnen zu sagen, daß ich lebe, daß ich absichtlich nie Ihren Weg kreuzen würde, daß aber der Zufall Ihnen Kenntnis von meinem Dasein geben könnte und daß ich dem zuvorzukommen wünschte. Das steht in meinem Brief an Sie, es sind nur wenige Zeilen – man wird sie ohne Zweifel Ihnen aus Rom nachsenden.“

Albrecht hatte während des letzten Satzes vom Meer weggeblickt und Montrose angesehen, zum Zeichen, daß er jenen kurzen Brief an ihn gerichtet. Montrose verneigte sich und Kamphausen wandte seine Augen wieder der See zu. „Was mit mir geschehen ist, nach dem Schiffbruch, davon kann ich selbst kein Wort sagen, ich muß es andern nacherzählen, jenen, die mich fanden und aufnahmen.“

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 20, S. 334–339

[334] Kamphausen begann zu erzählen. „Ein portugiesischer Schoner nahm mich auf. Der junge Görnemann, den ein spanisches Schiff rettete, hat die Nachricht von meinem Tode verbreitet – er konnte nichts anderes annehmen, als daß ich verloren war. Er ist ja Augenzeuge davon gewesen, wie die ‚Nixe‘ in die Tiefe gerissen wurde und ich mit ihr. Und niemand aus dem Schoner hat wissen können, wer ich war, die Uniform hatte ich im letzten Augenblick vor der Katastrophe abgeworfen. Die portugiesischen Seeleute haben einen Körper in den Wellen treiben sehen, den ein Hund vorn an der Brust gepackt hielt und mit aller Anstrengung seiner Kräfte vor dem Untersinken bewahrte – das waren Korsar und ich!“

Der Leonberger hob aufmerksam den Kopf, als er seinen Namen hörte.

„Ja, ja, Du hast’s gethan, es ist von Dir die Rede!“ Ein schwaches Lächeln, bei dem die Augen ebenso müde und schwermütig blickten wie zuvor, spielte um Kamphausens Lippen. „Sie haben mich vom Rettungsboot aus mit Schiffshaken herangezogen, mich hielten sie für tot, aber der schöne tapfere Hund dauerte sie, den wollten sie retten. Er hat mich nicht losgelassen, in die Reste von Kleidungsstücken, die ich noch an mir hatte, hatte er sich festgebissen – sie haben ihn mit mir zugleich an Bord heben müssen. Ich weiß nichts von allem, was mit mir geschah, nichts. Ein hitziges Fieber ergriff mich, und zwar so schwer, daß der Schiffsarzt meinen Fall hoffnungslos nannte. Trotzdem brachten sie mich noch nach Lissabon und dort in ein Lazarett .... es hatten sich schwere innere Verletzungen herausgestellt, die der Schiffsarzt entweder nicht erkannt oder zu oberflächlich behandelt hatte. Im Lazarett operierten und kurierten sie an mir herum .... endlich blieb meine starke Natur Siegerin. Dabei aber erkannte ich niemand, niemand wußte, wer ich war. Nach langer langer Zeit kam ich dann zu Bewußtsein, erführ, wo ich war, und konnte sagen, wer ich sei. Es war unbedingte Ruhe für mich notwendig und mein Geist noch unsäglich schwach; ich schlief tagelang vor Mattigkeit, und war ich wach, dann konnte ich nicht denken, mir nichts zusammenreimen. Endlich war ich so weit, um an meinen Freund Leupold schreiben zu können, wenige Zeilen nur, die mich namenlos angriffen und aufregten. Aber heimlich hatte der Arzt gleichfalls geschrieben und gebeten, mir jede aufregende Mitteilung zu verschweigen, das Fieber sei mit unendlicher Mühe gebändigt und jede neue Erregung könne die bedenklichsten Folgen haben. So sagte mir die Nachricht, als sie endlich kam, nichts von dem, was für mich die Hauptsache war. Und da packte mich die Unruhe so gewaltig –“

Kamphausen hielt inne, offenbar in der Furcht, zuviel zu sagen. Niemand unterbrach die bange Stille, die nun eintrat, man vernahm nur das Summen und Schnurren und den Kinderjubel von der Promenade her.

„Man sah nun wohl ein, daß dieser Zustand gleichfalls nicht das Richtige für mich war,“ fuhr der Kapitän fort, „man gestattete daher, daß ich noch einmal schrieb. Jetzt endlich erhielt ich Aufklärung – es war inzwischen Winter geworden.“

Ein neues Stocken, eine neue Pause, länger als zuvor. Was war jetzt eigentlich noch zu sagen? Kamphausen hätte noch hinzufügen können, daß des alten Leupold Brief, der die Nachricht von Ilses Heirat enthielt, seinen Zustand bedeutend verschlimmerte und den schon Genesenden wiederum an den Rand des Grabes brachte. Selbstverständlich verschwieg er das. Was sollen sie damit? dachte er bitter. Kann mein jammervolles Los ihnen irgendwie wichtig sein?

„Da ich immer noch zu schwach war, um allein reisen zu können, so blieb ich einstweilen in Lissabon, bis ich stark genug war, die Fahrt nach Kairo anzutreten, mein Arzt hielt einen längeren Aufenthalt daselbst für unumgänglich notwendig, da meine Lungen seit der langen Krankheit nicht mehr die stärksten waren. Ich ging also nach Agypten, von dort hierher – bis es in Deutschland Sommer wird, soll ich mich an der Riviera aufhalten. Ich hoffe dann auf eine Stelle an der Kaiserlichen Marineakademie in Kiel, denn ich fürchte doch, ich werde nicht mehr imstande sein, ein Schiff zu führen. Das sind meine Schicksale gewesen. Ich habe mehr von mir und meinen Erlebnissen sprechen müssen, als ich dachte und wollte – verzeihen Sie mir! Die Hauptsache bleibt: ich wollte Ihnen beweisen, daß ich ahnungslos hierhergekommen bin; ich glaubte Sie in Rom und habe es absichtlich vermieden, diese Stadt auf meiner Reise zu berühren, weil ich fürchtete, der Zufall könnte ein Wiedersehen herbeiführen.“

Er sagte das alles zu Montrose gewandt. Immer noch keinen Blick, kein Wort für Ilse! Dann erhob er sich rasch. „Ich darf die Gewißheit mit mir nehmen, daß ich nicht mißverstanden worden bin?“ fragte er leise.

„Wie wäre das möglich, Herr Kapitän! Ist es nicht selbstverständlich, daß Sie dies peinliche Zusammentreffen aus allen Kräften zu vermeiden bemüht waren? Wir würden uns Ihre Verzeihung erbitten, wenn wir uns nicht sagen müßten ....“

„Kein Wort weiter, Herr von Montrose! Wir haben uns Gottes Willen zu unterwerfen.“ Kamphausens Haltung war stolz, als er dies sagte, und seine Stimme klang fest. Er war eine schlichte Natur, alles Theatralische war ihm verhaßt – er wollte keinen pathetischen Abschied nehmen. „Ich wünsche Ihnen beiden eine glückliche Heimreise und eine segensreiche Zukunft!“

Montrose hielt ihm die Hand hin, mit einem bittenden Blick auf Ilse – hatte er denn gar kein Mitleid mit ihr? Es zuckte in Albrechts Mienen, aber er überwand sich. Er legte seine Hand in Montroses dargereichte Rechte und berührte Ilses Finger für einen flüchtigen Augenblick. Dann lüftete er noch einmal den Hut und ging die Stufen hinunter, ohne sich umzusehen. Aber am Fuß der Terrasse mußte er stehen bleiben, denn er wurde gewahr, daß ihm Korsar nicht folgte. Mit seinem leisen bittenden Winseln schmiegte sich das Tier an Ilse und sah mit seinem klugen Blick zu ihr empor. Doch die junge Frau drängte mit beiden Händen Korsars Kopf zurück und sah von ihm fort in die Luft – sie konnte diesen treuen bittenden Blick nicht ertragen.

Ein kurzer Pfiff Kamphausens und der Hund schlich zögernd seinem Herrn nach. Noch einmal kam er zurück, bellte laut auf und sprang stürmisch an Ilse in die Höhe, da erscholl ein herrisches: „Korsar! Zu mir!“ und jetzt gehorchte das Tier. Es warf den Kopf zurück und stieß einen langen Klagelaut aus, aber es folgte seinem Herrn, während Montrose sich besorgt über Ilse beugte und ihre kalten zitternden Hände in die seinen nahm.




20.

Eine freundliche Frühjahrssonne lugte goldäugig durch Kapitän Leupolds blanke kleine Fensterscheiben. Es hatte sich im Innern des seltsamen kleinen Häuschens nichts geändert, trotzdem mehr als vier [335] Jahre nach den zuletzt erzählten Ereignissen hingegangen waren. Die „Kajüten“ waren alle in musterhafter Ordnung, die überseeischen Seltenheiten hingen und standen an den Wänden umher. Hinten im Gärtchen, das Jan Grenboom sorgsam bestellt hatte, blühten Aurikeln und Maiglöckchen auf. Ein süßer frühlingstrunkener Hauch lag in der Luft.

Im „Achterdeck“ leuchtete die „büßende Magdalena“ verführerischer denn je; Sonnenstrahlen lagen auf ihrem rotgoldenen Haar, auf ihrer weißen Brust. Auf dem Fensterbrett hockte Dido mit mürrischer Miene und ballte eine kleine Faust, sowie jemand von der Straße ins Zimmer sah. Sie wurde alt und war meistens schlechter Laune – „wenn Frauenzimmer alt werden,“ philosophierte Kapitän Leupold zuweilen bei Didos Anblick, „dann taugen sie erst recht nichts!“ Heute besaß aber der Kapitän keine Lust, zu philosophieren. Nicht weniger schlecht gelaunt als Dido, saß er im „Achterdeck“ und warf, sowie Jan Grenboom sich blicken ließ, diesen zur Thür hinaus, bei ihm allemal ein Zeichen innerer Aufregung. Endlich gegen Mittag läutete es Sturm aus dem „Achterdeck“. Jan, der in der Küche Weinflaschen spülte, nahm sich kaum Zeit, die nassen Hände abzutrocknen, und humpelte hastig nach hinten.

„Wo steckst Du denn, alter Pottfisch? Dauert ja ’ne Ewigkeit, bis Du zu erscheinen geruhst!“

Der „Pottfisch“ blieb auf diese ungerechte Anklage die Antwort schuldig.

„Na, also! Die Uhr ist gleich elf – gegen halb Zwölf kann er da sein! Frühstück auftragen!“

„Frühstück?“

„Ja, Frühstück, Frühstück! Sind wir etwa plötzlich taub geworden? Den Xeres holst Du aus’m Keller, den alten Spanier, links hinten, Du weißt’s ja, und servierst auf dem chinesischen Porzellan – gegen halb Zwölf kann er da sein.“

„Wer?“

„Der Kaiser von China! Verstanden? Wird die alte Teerjacke noch neugierig! Wer! ’s ist doch zum .... Der Albrecht Kamphausen – damit der Herr Premierminister es wissen! Ja, nun kann er grinsen von einem Ohr bis zum andern!“

Jan grinste in der That.

„Und noch eins! Wenn er Dich etwa draußen zuerst abfängt und Dich fragt, wie es mir jetzt geht, dann kannst Du sagen: besser, ’n gut’ Teil besser, aber ’s wär ’ne Zeit lang miserabel gewesen mit mir. Ich hab’ ihm nämlich geschrieben, ich sei krank.“

„Krank?“

„Ja! Krank, du verrücktes altes Echo!“ brüllte der Kapitän mit Donnerstimme. „Dazu hab’ ich meine Gründe gehabt! Zum Vergnügen hab’ ich ihm das nicht geschrieben – ich hab’ ihn hierher haben wollen, und anders wär’ er mir nicht gekommen! Wenn ich lüg’, dann weiß ich wenigstens, wofür! Verstanden? Und nun fort und ’was Anständiges angezogen! Siehst ja aus wie’n altes Waschweib!“

Jan Grenboom besah seine nasse Schürze und nickte. Ja, das sah er ein, wenn Kapitän Kamphausen kam, dann mußte alles „vom besten Ende“ sein, das Essen, das Trinken und auch der Anzug. Aber daß sein „Alter“ so log! Und wozu log er? Davon hatte Jan Grenboom keine blasse Ahnung.

„Fix, fix! Wird’s bald? Steht da und glotzt mich an! Soll ich Dir vielleicht Beine machen? Hab’ selbst alle Hände voll zu thun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht!“ Damit fing Leupold an, im Zimmer herumzuwirtschaften, als wollte er das Unterste zu oberst kehren. Jan sah ihm eine Weile in phlegmatischem Erstaunen zu und trollte dann mit einem dumpfen Gebrumm von dannen.

„So!“ sagte Erich Leupold, als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte. „Den wären wir glücklich los! Neugierig ist der Kerl wie ’ne Nachtigall und geschwatzt hat er heut’ wie ’ne Elster. Wenn der wüßte! Na, das fehlte bloß noch, wo ich selber so ’ne Hundeangst hab’, daß die ganze Geschichte fehl geht!“ Er holte eine feine türkische Decke aus einer altdeutschen Truhe und legte sie über den Tisch. „So, das sieht hübsch aus! Und dies Bild muß hierher, das andere daneben – recht augenfällig, damit er’s ja nicht übersehen kann. Was er dazu sagen wird? Und ob er überhaupt was sagt?“ Er setzte zwei große Photographien in metallenen Stehrahmen auf den Tisch. Die eine zeigte einen bildhübschen jungen Marineoffizier, die andere eine schöne Frau in Trauerkleidung, ein lachendes Kind auf den Knien haltend. Der Kapitän nickte diesem letzteren Bilde ermutigend zu. „Ein heilloses Wagestück ist’s, kann so ausfallen, daß ich an der Hälfte genug krieg’ – kann aber auch zwei Menschen glücklich machen. Und darum lohnt’s doch! Sie hat ihn ja immer liebgehabt und nie ’ne Stunde vergessen, so brav sie auch gegen ihren Mann war. Denn der Albrecht, das war doch der Rechte und der Einzige für sie – das hat sie mir ja selbst zugegeben, zugeben müssen, ob sie wollte oder nicht, wie ich sie gefragt hab’. Und immer rosenrot übers ganze Gesicht, sobald ich seinen Namen nenne! Sie nimmt ihn, nimmt ihn wahr und wahrhaftig – bloß, er muß sie haben wollen, um sie werben! Sie kann doch nicht kommen und sich ihm, paff, mit Kind und Kegel an den Hals werfen, er muß doch anfangen! So gehört sich’s! Er muß anfangen!“

Der Kapitän ging zu einem japanischen Schränkchen und nahm feine bunte Weingläser heraus. Dann schritt er, die Hände in den Hosentaschen, um den Tisch herum und blieb von neuem vor dem Bilde der jungen Frau stehen. „Mancher Mann sagt ja“, nahm er seinen unterbrochenen Monolog wieder auf, „er will keine Witwe. Aber wenn’s nur die richtige Liebe ist .... ob Witwe oder nicht .... dann ist alles ein Teufel!“

Jan Grenboom erschien mit dem Frühstück. Leupold goß zwei Weingläser voll und stieß mit Jan Grenboom an. „Trink’, alte Wasserratte! Auf glückliches Gelingen meines Planes – austrinken!“ Der alte Matrose besorgte das gewissenhaft und leckte sich beifällig die Lippen.

„Läutet’s da nicht? Auf Deinen Posten Jan, und Du sagst, was ich Dir eingebläut hab’! Ich muß doch meine Rolle als ’n Halbkranker spielen! Den Lehnsessel her und die indische Decke! Weg mit Euch, Dido und Cato – will das infame Geziefer wohl gleich gehorchen! Ich bin so aufgeregt, daß mir lauter schwarze Kugeln vor den Augen tanzen. So! Nun laß’ ihn in drei Teufelsnamen kommen!“

Draußen hörte man Albrecht Kamphausens wohlklingende Stimme. „Guten Tag, Jan! Wie steht’s mit dem Kapitän? Ist der Arzt bei ihm? Es ist doch nicht schlimmer geworden?“

Jan brummte etwas von „miserabel“ vor sich hin, seiner Anweisung getreu, und der alte Leupold zog drinnen im Zimmer die Decke fester um sich und murmelte ingrimmig: „Niederträchtige Komödie!“

„Aber ich darf ihn doch sehen? Ich darf doch zu ihm? Ist er ganz allein?“

Jan mußte wohl genickt haben, denn gleich darauf pochte es an die Thür. Der Kapitän räusperte sich; das „Herein!“ wollte ihm beinahe in der Kehle stecken bleiben. Im nächsten Augenblick trat Albrecht Kamphausen ein. Er sah nicht mehr so krank und angegriffen aus wie vor vier Jahren. Sein kraftvoller Körper hatte den Stoß, der manchen andern zu Boden gestreckt hätte, mannhaft ausgehalteu, und wenn er eine kleine Schwäche in den Lungen zurückbehalten hatte, so sah man ihm davon nichts an. Er war jetzt wieder der schöne stattliche Mann, der vor Jahren Ilse von Doßbergs Herz im Sturm erobert hatte – nur ein wenig ernst und streng sah er aus.

Mit drei Schritten war er neben seinem alten Freund, beugte sich zu ihm herab und nahm seine Rechte liebevoll in beide Hände. „Was machst Du mir denn für Streiche, Kapitän? Ich hab’ keinen kleinen Schreck bekommen, als ich Deinen Brief las. Krank zu werden! Was fehlt Dir denn? Dein altes Leiden?“

Dem alten Leupold war wirklich miserabel zu Mut unter dem forschenden Blick dieser treuen blauen Augen. Er verstand es erbärmlich schlecht, zu lügen, und hatte sich in der Theorie die ganze Sache sehr viel leichter gedacht. In der Praxis fand er sie fast unmöglich, er war drauf und dran, aufzuspringen, Kamphausen zu umarmen und auszurufen: „Junge, ich hab’ Dir Wind vorgemacht, ich bin ebenso gesund wie Du, ’s ist alles gelogen!“ Zum Glück besann er sich, daß das seinen schönen Plan rettungslos verderben hieße, und so entschloß er sich mit einem schweren Seufzer, dem Verhängnis seinen Lauf zu lassen.

„Ach, Kapitän, mach’ nicht soviel Wesens davon!“ sagte er mit schwacher Stimme – seine Aufregung brachte das ganz natürlich zuwege – „was wird’s denn groß sein? So allerlei – dies und das –“

„Aber Du siehst wirklich angegriffen und verändert aus!“

„Thu’ ich das?“ fragte der alte Leupold schuldbewußt.

„Ja, gewiß, und sprichst auch anders als sonst!“

„Wahrhaftig? Ja, siehst Du, Kapitän, ’s ist mir auch in [336] diesem Augenblick hundsmiserabel. Na, setz’ Dich und gieß’ für Dich und mich ’n Glas Xeres ein. Edler Tropfen, kann ich dir sagen!“

„Du darfst also Wein trinken?“

„Und ob! Ohne Wein kein Leben für mich!“

„Was sagt denn Morschewsky? Wie berurteilt er Deinen Zustand?“

„Ach – na, was soll der sagen? Was heißt Zustand beurteilen! ’s ist ja nichts!“

„Unsinn! Du mußt Dich pflegen und schonen, Kapitän, Du darfst bei Deiner Krankheit –“

„So hör’ doch endlich ’mal mit meiner Krankheit auf!“

„Aber deshalb bin ich doch hergekommen!“

„Bloß deshalb? Sonst gar kein Verlangen, mich zu sehen nach so langer Zeit? Hm!“

„Das schon, Kapitän, aber Du weißt, vielmehr, Du wirst Dir’s denken können, daß ich ohne zwingende Veranlassung nicht hierhergekommen wäre.“

„Sehr schön von Dir, doch zu kommen. Nimm’s nur nicht übel, daß ich jetzt nicht gleich sterbe – man kann das wirklich nicht so genau berechnen!“

Albrecht lächelte. „Nein, ich nehm’ es nicht übel. Es ist mir so doch am Ende lieber!“

„Mein Testament ist beim Gericht hinterlegt – alles bis aufs Tüpfelchen geordnet. Nun setz’ Dich endlich her und red’ von Dir!“

„Du darfst Dich also unterhalten?“

„Ja, zum Teufel! Darf, darf! Hat sich ’was! Also red’ von Dir!“

„Da ist nicht viel zu sagen. Es geht mir gut.“

„Hm! Das hör’ ich gern! Ganz gut?“

„Dienstlich, gewiß! Ich gebe Unterricht – Du weißt ja – an der Marineakademie in Kiel. Zu Anfang wollte es mit dem Stubensitzen und Stundengeben nicht so recht vom Fleck, mir fehlte das Meer, das Kommando, kurz, der ganze Seekapitän. Aber als ich meine Vernunft zu Hilfe nahm und mir sagte: das muß sein, da wurde es denn auch, und ich kann nicht anders sagen: jetzt macht mir’s Freude, und ich hab’ auch Erfolg, bin kein schlechter Lehrer. Die jungen Leute hängen an mir, und ich nehme viel Anteil an ihnen. Und doch – ein Heimweh nach der See und nach den Schiffsplanken unter meinen Füßen, das wird mir, fürcht’ ich, bleiben bis an mein Lebensende.“

„Glaub’ ich Dir, Kapitän! Was meint denn der Arzt? Will er Dich nicht wieder aktiv werden lassen?“

„Nein! Ich hab’ zur Sicherheit mehrere gefragt in Kiel, in Hamburg, tüchtige bedeutende Männer, Spezialisten ... sie kamen alle darin überein: mit dem Kapitänsein ist’s zu Ende, die Lungen sind nicht mehr taktfest – aber was red’ ich Dir denn das alles vor, Kapitän? Ich hab’ Dir ja immer ausführlich von allem geschrieben zum Lohn für Deine berühmten Episteln im Telegrammstil!“

„Was? Telegrammstil? Warum?“

„Kann man Deine Briefe anders bezeichnen? ‚Bin gesund‘ oder ‚bin krank – das und das ist passiert!‘ Punktum. Aus ist’s!“

„Ja, was wolltest Du denn sonst noch von mir wissen, Kapitän?“

Albrecht strich langsam seinen braunen Schnurrbart. „Nun doch so allerlei! Wenn man auch für seine eigene Person an – an manche Menschen keinerlei Ansprüche mehr erhebt und darauf verzichtet hat, in irgendwelche Beziehungen zu ihnen zu treten – wissen möchte man am Ende doch, wie sie leben, wie es ihnen geht, und so wär’ es denn von Dir – ah!“ Er hatte während des Sprechens eine rasche Bewegung gemacht und sah nun erst die beiden großen Photographien.

Kapitän Leupold, der mit innerer Spannung auf diesen Augenblick gelauert hatte, mühte sich, ganz unbefangen auszusehen. „Ach so, die Bilder! Ja, die hab’ ich immer da stehen.“

Kamphausen nahm eine der Photographien in die Hand und betrachtete sie schweigend. Seine starken Brauen waren zusammengezogen, um den Mund bildete sich ein finsterer Zug. „Das ist sie!“ sagte er endlich und setzte das Bild vorsichtig wieder hin.

„Die Prinzeß Ilse, ja!“ entgegnete Leupold gleichmütig. „Und das ist ihr Junge, der Erbe von ‚Perle‘.“

„Ein schönes Kind.“

„Ach was, immer sagen sie alle: schön! Na ja, ’s ist wahr, er gleicht seiner Mutter aufs Haar, ’s ist förmlich zum Lachen, und von den Montroses hat er nichts abgekriegt. Aber die Hauptsache bleibt doch: gesund ist die Krabbe und klng ist sie! Sieh’ Dir auch ’mal den Bengel, den Armin an! Hübsch breit ausgelegt und gut im Stand, was? Und ’n tüchtiger Offizier zur See, alles, was wahr ist!“

Kamphausen nickte zerstreut. Es kam eine Stockung in daa Gespräch.

„Wolltest Du nicht vor ’ner Weile ’was zu mir sagen, Kapitän, als von meinen kurzen Briefen die Rede war? Du fingst ’nen Satz an –“

„Ganz recht!“ Es schien Albrecht lieb zu sein, daß der alte Leupold darauf zurückkam. „Ich wollte Dir sagen, daß Du mir wohl etwas weniger sparsame Mitteilungen hättest liefern können in Bezug auf – auf sie!“ Er sah nach dem Bilde hin.

„Ja, mein Sohn, wie sollt’ ich das wohl, nachdem sie“ – der alte Leupold sah ebenfalls nach dem Bilde – „nachdem sie mir gesagt, Du hättest sie damals in Mentone wie ’ne Verbrecherin behandelt.“

„Das hat sie gesagt? Wörtlich?“

„Na, ob nun wörtlich oder nicht – ’was Aehnliches war’s, was sie sagte! Sie hat dazumal steif und fest geglaubt, Du wärest tot – und ich, nimm mir’s nicht übel, hab’ das ebenfalls geglaubt. Und so hielt sie sich für verpflichtet, dem Alten, mit dem es ganz nach Matthäi am letzten aussah, das Leben zu retten, und da nahm sie diesen Montrose. Was sie das gekostet hat, sieh ’mal, das weiß ich und ich hab’ Dir’s damals auch, so gut ich konnte, geschrieben. Du aber gehst hin und behandelst das arme Ding in Mentone so! Und da sollt’ ich die Courage haben, Dir allerlei Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen?“

Kamphausen blickte finster zu Boden und atmete schwer. „Ich konnte es nicht aushalten, sie an eines andern Mannes Seite zu sehen!“ sagte er in gepreßtem Ton.

„Das nehm’ ich Dir nicht übel; ’n vergnüglicher Anblick kann das nicht für Dich sein. Aber nun denk’ Dir ’mal aus: wie wird ihr zu Mute gewesen sein? Und was hat sie wohl empfunden, als Du da mit einem Mal auftauchtest?“

„Hat sie es Dir gesagt?“

„Die? Mir? Wird sich hüten! Die hat den Leupoldschen Charakter: tragen, was nicht mehr zu ändern ist, ohne lange Redereien und ohne Geschrei und Geheul! Das hat sie von mir, ganz offenbar, nicht van ihren Herren Eltern. Aber ich kenn’ sie – ich hab’ lesen können in dem Gesicht, also, ich weiß, was ich weiß.“

„Als Du mich vor ein paar Jahren in Kiel besuchtest, Kapitän, da hast Du ihren Namen kein einziges Mal genannt.“

„Wie soll ich das wohl, wenn Du damit nicht den Anfang machst! Damals lebte ja auch Montrose noch, war eben der Stammhalter und Erbe der ‚Perle‘ geboren, alles eitel Glück und Seligkeit – so von außen mein’ ich, so obenhin! Und da sollt’ ich kommen und Dir solche Sachen erzählen, Dir, der ’n Gesicht hatte wie ’ne Wetterwolke, wenn ich bloß ’mal gelegentlich den Namen Doßberg aussprach?“

Kamphausen blieb die Antwort auf diese Frage schuldig. Es entstand ein neues Schweigen, nur Cato, der auf seiner Stange hockte, sprach tiefsinnig in sich hinein: „Verrückte Welt! Verrückte Welt!“

„Jetzt aber,“ fing Albrecht zuletzt von neuem an „jetzt, Kapitän, könntest Du mir wohl einiges Nähere mitteilen – das heißt, nein, Du hast schon so viel und so lebhaft gesprochen, ich habe Deine Krankheit ganz vergessen, es könnte Dir schaden. Soll ich am Ende jetzt gehen und lieber gegen Abend wiederkommen?“

„Na, das fehlte noch! Ums Himmelswillen, Mensch, bleib’ sitzen und red’ keinen Unsinn!“ Leupold packte seinen Gast beim Aermel, um ihn nötigenfalls mit Gewalt festzuhalten. „Ist ja alles dummes Zeug – das heißt, ich mein’, man muß nichts übertreiben. Bin ja keine Prinzessin, aus Mondschein und Lilienduft gewoben, sondern ’ne wetterfeste alte Teerjacke. Die hält schon ’was aus! Das Reden thut mir gut. Ich – ich hab’ heut’ ’nen günstigen Tag. Also – was soll ich Dir erzählen?“

„Alles, was seither geschehen ist. Zunächst – wie war eigentlich die Ehe? Es war doch ein ungleiches Paar! Hieltest Du die beiden für glücklich?“

Leupold zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Glücklich – glücklich, lieber Kerl, das ist so ’n eigener Begriff, davon hat, möcht’ ich sagen, jeder seine besondere Auffassung. Was für den einen ’n wahrer Segen ist, wird für den andern zum Fluch. Er war glücklich, soweit ich das Verhälnis durchschauen konnte. [338] Er hatte entschieden vorher schon einmal um Ilse geworben – sie hat mir kein Sterbenswort davon gesagt, aber diese plötzliche Uebersiedelung von ihr und dem Alten hierher, während sie doch wußte, der Alte könne eigentlich ohne seine ‚Perle‘ nicht leben – na, es war nicht schwer, sich ’nen Vers drauf zu machen. Damals natürlich lauerte sie noch auf Dich, und wenn der Selbstherrscher aller Reußen dazumal um sie gefreit hätt’, er würd’ sich ’nen Korb geholt haben. Als aber dann die Nachricht vom Untergang der ‚Nixe‘ kam und der gottverdammte Schlingel, der Rolf Görnemann, uns beiden Deinen Tod sozusagen verbriefte und versiegelte und nun noch Morschewsky mit seiner Weisheit dazukam und dem Alten Leib und Leben absprach, wenn er nicht schleunigst nach ‚Perle‘ zurückkäme – ja, da war kein Halten mehr. Eigentlich weißt Du das aber schon alles, denn das hab’ ich Dir damals geschrieben, als Du Dich schriftlich bei mir gemeldet und Dich zu den Lebenden bekannt hattest.“

Albrecht nickte.

„Trink’ ’nen Schluck Xeres drauf und gieb mir auch ’nen Tropfen – so! Du bist immer noch kein richtiger Weintrinker, wirst auch jetzt schwerlich mehr einer werden. Also ja, sie nahm ihn, und das kann ich Dir sagen, wenn etwas im Leben rührend anzusehen war, dann war es das Glück dieses Mannes. Er ging umher wie verklärt, gab, gab mit vollen Händen, war freundlich geworden, gesprächig, liebenswürdig – der Mann war wie ausgetauscht! Ilse durfte gar nichts dazu thun, weder streicheln, noch schmeicheln – das that sie auch nie – sie brauchte bloß dazusein, dann war ihm schon alles gut und schön.“

„Und sie? Glaubst Du, daß sie glücklich gewesen ist?“ „Ich glaube, sie hat sich zu Zeiten eingebildet, es zu sein. In so ’ner großen Gefühlsaufwallung hatte sie ihn genommen, und Gefühlsaufwallungen hat sie noch manchmal gehabt, und da hat sie sich dann vorgeredet, glücklich zu sein. Wenn sie von all der Liebe und Anbetung ihres Mannes nicht wäre gerührt worden, hätt’ sie auch kein Herz im Leibe gehabt. Und als nun der ‚Kronprinz‘ erschien, da sah ja die Sache vollends wie eitel Glück aus. Und doch, Kapitän, hab’ ich gemerkt, daß sie nicht im innersten Herzen glücklich war. Sie war immer gut und rücksichtsvoll gegen ihn, o ja, daran hat’s nie gefehlt, aber konnte sie, mit ihren einundzwanzig Jahren, ’nen Sechziger lieben? Ich hab’s gesehen, wenn sie ihn begrüßte, auch dann gesehen, wenn sie sich beide ganz allein miteinander glaubten – ihren Papa hätt’ sie nicht kindlicher begrüßen können als diesen ihren Ehemann!“

Kamphausen sagte kein Wort. Er saß tief in Gedanken da; der alte Kapitän sah ihn von der Seite an und nippte von seinem Xeres.

„Die Tochter ist verheiratet, nicht wahr?“ fragte Albrecht endlich zerstreut.

„Jawohl, an so ’nen holländischen Mynheer – der wird recht seine Freude an ihr haben! Sie hat ihn in Paris aufgegabelt und bald nach ihres Vaters Hochzeit feierte sie ihre eigene. Man hört selten von ihr, schadet auch nichts – meine Liebe war sie nie. Nach ihres Vaters Tode hat sie ihr Erbteil ausbezahlt bekommen – ’n hübscher Posten war’s – und damit Holla! Ihr lieber Bruder hat eine Unmasse Schulden hinterlassen und liegt im Park zu ‚Perle‘ in dem pompösen neuerbauten Mausoleum der Montrose begraben.“

„Und der kleine Knabe entwickelt sich gut?“

„Bis jetzt brillant, der Wahrheit die Ehre! Die Ilse, seitdem sie Witwe geworden ist, zieht ihm die Zügel straffer. Ich hab’s ihr gesagt, und sie hat’s eingesehen: aus ’nem verzogenen Bengel wird nichts Rechtes. Jetzt gehorcht er auf den Wink. Nur der alte Doßberg verwöhnt ihn hier und da – der ist bis über die Ohren verliebt in den Enkel. Uebrigens die ‚Perle‘ bewirtschaftet er für ihn – alle Achtung! Jetzt ist’s wieder ein Gut ersten Ranges. Der Alte hat aber nicht eher Ruhe gegeben, als bis der Junge von unserem Landesherrn die Erlaubnis bekommen hat, dermaleinst sich von Montrose-Doßberg zu nennen und seinem eigenen Familienwappen das der Doßbergs hinzuzufügen.“

„Und wie war es mit – mit Montroses plötzlichem Tode? Du schriebst mir darüber nur in Deiner bekannten Kürze, und in der hiesigen Zeitung, die ich mir in Kiel halte, war der Unfall auch nur mit wenigen Worten erwähnt: ‚mit dem Pferde gestürzt‘, aber keine weiteren Einzelheiten.“

„Das hat die Ilse so gewollt, ihr widerstrebte es, die Sache in die Oeffentlichkeit gezerrt zu wissen. Ich war damals gerade in ‚Perle‘ draußen und hab’ die ganze Unglücksgeschichte mit erlebt.“

„Willst Du sie mir mitteilen? Das heißt – sollte es Dich nicht zu sehr angreifen?“

„Schon wieder mit Deinem ewigen Angreifen! Nein, zum Donnerwetter! Also: Montrose wär ’n verwegener Reiter. Ich versteh’ mich nicht auf Pferde, aber ’n hübscher Anblick war’s, wenn er auf seinem ‚Mazeppa‘ ankam. Ilse saß ja früher auch gut zu Pferde, aber seit der Kleine da war, wurde sie immer so in Anspruch genommen von der Krabbe, daß ihr zum Reiten wenig Zeit blieb. Einmal beklagte sie sich darüber mir gegenüber: sie würde so gern mit ihrem Mann ausreiten, denn dann sei er nicht so waghalsig, dann nehme er Rücksicht auf sie – aber ohne sie mache er die tollsten Geschichten, und sie könne ihn nie fortreiten sehen, ohne Angst um ihn zu haben. ‚Na,‘ sagt’ ich darauf, ‚den ‚Mazeppa‘ hat doch Dein Mann schon jahrelang, die zwei müssen sich doch aneinander gewöhnt haben!‘ Sie meinte aber, ‚Mazeppa‘ sei ’ne unberechenbare Bestie und überaus scheu und empfindlich, das kleinste Geräusch oder ein unerwarteter Anblick rege ihn so auf, daß man ihn kaum ’ne Sekunde außer acht lassen könne. Ich mach’ noch meine Witze darüber, daß heutzutag’ alles nervös sein müsse, die Frauen, die Männer, die Kinder, nun auch die Pferde. Vielleicht zwei, drei Wochen drauf bin ich wieder in ‚Perle‘ – es werden bald zwei Jahre – war ’n milder schöner Juniabend, der Kronprinz war ’n bißchen unruhig von wegen der Zähne, Ilse hatte die Nacht mit ihm herumgetanzt und sah ’n wenig blaß aus. Montrose natürlich that gleich, als wär’ sie totkrank, sah ihr in einemfort ins Gesicht, faßte ihre Hand, ob sie nicht Fieber hätte, kurz, war schrecklich ängstlich, und sie lachte ihn aus. Schließlich, da er sich den Tag über nicht von Frau und Kind weggerührt hatte und der Abend so schön war, beschließt er, nach Gnadenstein zu reiten, um da ’was zu bereden und es dauert nicht lange, so wird ‚Mazeppa‘ vorgeführt. Die Ilse geht noch mit dem Jungen auf dem Arm die Freitreppe hinunter und giebt dem Pferd Zucker, und ich hör’, wie sie so im Scherz sagt: ‚Mazeppa, bring’ Deinen Herrn wieder gut nach Haus, hörst Du?‘ Und Fink, der alte Kammerdiener, macht noch die Bemerkung, der gnädige Herr sei so lange nicht mehr geritten, ‚Mazeppa‘ hab’ immerzu gestanden, der Herr möge nur gut zusehen. Darauf bittet Ilse ihren Mann, heut’ lieber nicht zu reiten, einer von den Leuten könne ja dem Pferd Bewegung machen. Aber Montrose lacht dazu, küßt sie und den Jungen und sitzt auf. Und dann reitet er ab, in so ’nem hübschen schlanken Trab, daß ich bei mir noch denk’: da hat’s gute Wege – das Pferd ist ja folgsam wie ’n Lamm! Wir sitzen nun noch auf der Terrasse und schwatzen dies und das – der Hans Günther macht Gehversuche und läßt sich ganz brav dabei an, dann kommt der Sandmann, und Ilse zieht mit dem Balg ab. Es dauert lange, bis sie wiederkommt, das Kind ist wieder sehr unruhig geworden, hat nicht einschlafen wollen, endlich hat sie’s denn eingesungen. Als sie sich wieder zu mir setzt und nach der Uhr sieht, erschrickt sie – es ist schon sehr spät, ihr Mann müßt’ längst von Gnadenstein zurück sein. Ich tröst’ sie natürlich und sag’ ihr, er kann noch ’nen andern Ritt gemacht, kann jemand getroffen haben, der ihn aufgehalten hat, aber sie will nichts davon glauben. Inzwischen kommt Doßberg in seinem Einspänner nach Haus, dem erzäblt sie’s auch und fragt, ob er ihren Mann unterwegs nicht getroffen habe. Nein, der Alte hat ihn nicht getroffen. Mit Müh’ und Not kriegen wir sie so weit, daß sie sich mit uns zu Tisch setzt, uber sie rührt das Essen kaum an, und Doßberg, der das sieht, schickt ’nen reitenden Boten nach Gnadenstein, rein aus Vorsicht und bloß, um sie zu beruhigen. Die Ilse muß nun wieder ins Kinderzimmer, denn die Wärterin kommt ganz ängstlich und meldet, der Kleine sei wieder wach und schreie, was er könne – dem armen Kerl machen die Zähne zu schaffen. ‚Gottlob,‘ sagen Doßberg und ich, ‚daß sie noch um ’was anderes zu sorgen hat.‘ Nach ’ner guten Weile kommt der Gnadensteiner Bote zurück: der gnädige Herr sei gar nicht dort gewesen. Na, nun war aber wirklich guter Rat teuer – wo konnt’ er geblieben sein, wo sollte man ihn suchen? Denn daß man ihn suchen mußte, das leuchtete uns jetzt nur zu sehr ein. Ilse hat das Pferdegetrappel gehört und kommt gelaufen, man hört durch die offenen Thüren das Kind schreien – da müssen wir ihr’s denn sagen, was bleibt [339] übrig? So gut es geht in der Aufregung, machen wir uns ’nen Plan zurecht – der eine fährt hier, der andere fährt da, und Leute mit Laternen sollen mit, noch ist’s ein wenig hell, vielleicht halb zehn Uhr, aber lange dauert das nicht mehr. Und wie wir da noch so zusammenstehen und alles bereden, kommt wieder Hufschlag, und wir fahren alle freudig in die Höhe: das muß er sein! Aber ’s sind zwei Pferde, die da kommen, auf dem einen sitzt der alte Hinz, ganz krumm und klein, mit so ’nem richtigen Unglücksgesicht, und das andere Pferd hat er mit ’nem Strick festgebunden – die Zügel schleifen zerrissen nebenher, und die Bestie, der ‚Mazeppa‘, schnauft und zittert und bockt und ist mit Schaum bespritzt von oben bis unten. Und wo ist der Reiter?“

Kapitän Leupold nahm einen neuen Schluck Xeres. Albrecht legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. „Sprich nicht weiter, Kapitän, es regt Dich auf! Ich hätte Dich nicht bitten sollen!“

„Na, jetzt ist nicht mehr viel zu sagen, jetzt laß Du mich nur zu End’ erzählen. Bei der Gnadensteiner Brücke hat der alte Hinz das Unglücksvieh eingefangen, Müh’ genug hat’s ihm gemacht, und ich wundere mich heut’ noch, daß er es fertig gebracht hat. Später haben wir’s dann gehört: es sind ’n paar Zigeuner des Wegs gekommen, um da in der Nähe zu rasten, die haben zwei Bären bei sich gehabt und Pauken und Schellen und solch verrücktes Zeug, und wie mein ‚Mazeppa‘ den Spektakel hört und sieht die zwei Bären da – heidi – setzt er wie rasend übers Brückengeländer, der Reiter kopfüber, und das Vieh quer über Feld und dann waldeinwärts und in ’nem weiten Bogen zurück nach dem Unglücksschauplatz, von wo das Zigeunerpack inzwischen verschwunden ist, und da hat der alte Hinz den ‚Mazeppa‘ gegriffen und hat seinen Herrn unten an der Brücke gefunden, schon ganz kalt und steif. Schädelbruch – er muß auf der Stelle tot gewesen sein. Und nun stell’ Dir vor, Kapitän, wir alle um den Unglücksmenschen, den Hinz, herum – Ilse, Doßberg, ich, Fink, die Weibsleute – unsere bleichen entsetzten Gesichter, Totenstille, die zuerst immer auf so ’nen Bericht folgt, und bloß das klägliche Weinen und Schreien des Kindes, das grad’ so klingt, als wüßt’ es das Geschehene und klagte um seinen Vater!“ Der alte Kapitän seufzte tief auf.

„Sie war sehr unglücklich?“ fragte Kamphausen mit gedämpfter Stimme.

„Sehr! Arme Kreatur, wie sollt’ sie nicht? Solch’ ein jäher Tod, und dazu der Junge sterbenskrank, Tag und Nacht in Krämpfen – böse Zeit! Na, sie hat’s überwunden, aber ist’s nicht ein Jammer, daß so ein Geschöpf wie Prinzeß Ilse, von der Natur wie extra zum Glück und zur Liebe geschaffen – daß die bis jetzt von Glück und Liebe so gut wie nichts zu sehen bekommen hat?“

„Sie hat ihr Kind.“

„Ach, geh’ mir mit dem Kind! Sie liebt es gewiß und pflegt es und giebt sich Mühe mit der Erziehung, und das – wie soll ich sagen – das mütterliche Element in ihr, das kommt zu Wort, das findet sein Recht. ’s ist aber noch ’was anderes in ihr, ’n weiches, zärtliches, leidenschaftliches Frauenherz, und das liegt brach, und um das ist’s ein Jammer, und wenn Du mich immer und immer nicht verstehen willst, dann thut’s mir leid um Dich und um sie – und um mich auch!“

Albrechts gebräuntes Gesicht war erblaßt, er konnte nicht mehr ruhig neben dem Tisch sitzen bleiben. „Du – Du meinst, Kapitän?“ stieß er hervor.

„Ja, ich meine!“

„Du irrst Dich, mußt Dich irren! Das ist unmöglich!“

„So? Muß mich irren? Unmöglich? Ja, wenn ich mich vielleicht in Dir geirrt haben sollte – “

„In mir? Warum in mir?“

„Daß Du sie vielleicht nicht mehr liebst, nicht mehr willst –“

„Ich, Kapitän? Treibst Du Deinen Spott mit mir? Kennst Du mich wirklich nicht besser? Du weißt es, weißt recht gut, daß Ilse von Doßberg die einzige Liebe meines ganzen Lebens ist.“

„Auch als Ilse von Montrose?“

„Auch als die! Aber nein, Kapitän“ – Kamphausen stieß seinen Stuhl zurück und fing an, mit starken ungleichen Schritten, im „Achterdeck“ auf und abzugehen – „spiel’ mir nicht den Versucher! Deine Vorliebe für mich läßt Dich hier nicht klar sehen, Du bist parteiisch, nicht unbefangen genug. Ich hab’ in meiner Einsamkeit, als der erste Trotz und Zorn, daß sie einem andern gehören konnte, in mir niedergezwungen war, mich auf mich selbst besonnen, mein Herz war noch mein Herz, gehörte mir noch, gehörte ihr – aber sie! Sie durfte an mich nicht mehr denken, bei ihr war’s eine Sünde, und, so wie ich sie kenne, hat sie die bekämpft bis aufs äußerste. Und dann ist so viel über sie gekommen – wär’s ein Wunder, wenn die erste Liebe in ihr gestorben wäre?“

„Nicht gestorben, Albrecht, nur niedergehalten, unterdrückt!“

„Wie willst Du das wissen? Sie kann es Dir nie gesagt haben –“

„Gesagt, nein! Aber ich weiß es bestimmt.“

Albrecht blieb wie angewurzelt vor dem Alten stehen. Ein plötzlicher Argwohn war in ihm erwacht. „Du hast mich deshalb herkommen lassen, Kapitän? Um mir das zu sagen? Deine ganze Krankheit ist nichts weiter als ein Vorwand?“

Der alte Leupold sah in die blitzenden blauen Augen empor, die in seiner Seele zu lesen schienen, und dann mit einem hilflosen Seitenblick nach der Stehuhr auf dem Kamin. Herrgott, welch ungemütliche Lage! Er hatte sich doch das alles so wunderschön ausgedacht und zurechtgelegt! Um diese Zeit hätte sie längst hier sein müssen, es war schon eine halbe Stunde über die festgesetzte Frist. Daß Weiber doch niemals pünktlich sein können! Warum mußte er, Erich Leupold, sich auch in anderer Leute Liebesgeschichten mischen! Das kam davon!

„Du sollst mir antworten, Kapitän!“ Kamphausens Stimme klang beinahe drohend.

Ein leichtes Rascheln an der Thür des Nebenzimmers, ein helles Kinderstimmchen – endlich!

„Ich hab’s nicht nötig, Dir zu antworten,“ sagte der alte Leupold barsch und trotzig. „Hol’ Du Dir die Antwort wo anders!“

Damit warf er die Decke ab, schob den Lehnsessel beiseite und ging als ein gesunder Mann, den Kopf steif im Nacken, zur Thür hinaus, die in den Garten führte. Draußen blieb er stehen und lauschte. Zunächst hörte er nichts, dann einen schwachen Schreckenslaut von Ilses Lippen. Leupold biß die Zähne zusammen – aus seiner Seele rang sich etwas empor wie ein trotziges Gebet: „Nun hilf, Herr und Gott! Für mich selbst will ich nichts, bitt’ ich nichts. Aber die beiden laß glücklich werden, die beiden! Es ist das einzige, was ich zu bitten hab’!“

Jetzt hörte er Ilse reden, erst stockend, dann schneller und schneller. Es widerstand ihm, den Lauscher zu spielen, er schüttelte unwillig den Kopf und trat von der Thür zurück, die er nur angelehnt hatte. Da, ein paar helle Kinderlaute, eine kleine Faust, welche die Thür halb zurückschob. „Onkel Kapitän! Onkel Kapi – tän! Wo bist Du?“

„Ilse, hast Du mich noch lieb?“ Es war Albrechts Stimme, die das drinnen fragte, laut und stürmisch. Der alte Leupold mußte die Frage hören, ob er wollte oder nicht.

Es kam keine Antwort, es blieb alles still. War das ein schlechtes Zeichen – oder? Der Kapitän stellte sich vor ein Blumenbeet, steckte die Hände in die Taschen und that ungeheuer gleichgültig. Das Herz hämmerte ihm aber bis in den Hals herauf.

„Mama, Mama!“ ertönte wieder das Kinderstimmchen, diesmal von drinnen, denn der Kleine war vorhin auf halbem Wege wieder umgekehrt. „Mama, hab’ doch Hans Günther auch so lieb!“

Das klang ermutigend! Der alte Leupold ermannte sich, ging zur Thür, öffnete sie noch ein wenig und sah Albrecht Kamphausen im „Achterdeck“ stehen, sein schönes goldenes Glück im Arm, selig darauf niederschauend, blind und taub für die ganze übrige Welt ...

Und das Kind gaukelt in seinem weißen Kleidchen wie ein großer Schmetterling dem Eintretenden entgegen und sieht mit erstaunten Augen auf die beiden und ruft: „Onkel Kapitän! Sieh doch, sieh!“

„Ja, mein Kind, ich sehe!“ entgegnet der Alte trocken.

Da beugt Ilse sich herab, hebt den Kleinen auf ihren Arm und fragt: „Wirst Du ihn liebhaben, Albrecht?“

Er kann nicht antworten er weiß, daß ihm die Stimme nicht gehorchen wird; stürmisch reißt er das kleine Geschöpf an sich und bedeckt sein Gesichtchen mit Küssen. Der alte Leupold weiß nicht, wie ihm geschieht. Er fühlt sich von Ilses Armen umschlungen, er fühlt ihre glücklichen Thränen auf seinem Gesicht, hört, wie sie versucht, ihm zu danken.

„Kind, Mädel – wofür denn?“ Er bringt es stammelnd heraus. „Ich hab’ ja nur dazu helfen wollen, daß der Albrecht Kamphausen auch seine ‚Perle‘ bekommt!“