Die Redeck

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Autor: Julie Adeline Volckhausen
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Titel: Die Redeck
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 820–822
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Redeck.
Eine Schwarzwaldskizze.


Wir saßen am Frühstückstische in dem großen bäuerlichen Wirthshause ‚Zur Traube‘ zu Waldau bei Freiburg, etwa ein Dutzend Gäste; die riesige Kaffeekanne ging von Hand zu Hand, wie es dort so Brauch war, und die ebenso große Milchkanne folgte hinterher. Den auserlesenen Erzeugnissen des Schwarzwaldes, Butter und Honig, wurde eifrig zugesprochen, und es herrschte jene frische, harmlos heitere Stimmung, in welcher sich – zumal an einem hellen Sommermorgen – Menschen zu befinden pflegen, die auf einige Wochen den Staub des Alltagslebens von sich geschüttelt haben, um in der reinen Bergesluft frei aufzuathmen und neue Lebenskraft zu schöpfen.

Da ging die Thür auf, und herein trat eine silberhaarige Alte, den hohen, cylinderförmigen Strohhut auf dem Kopfe, einen Stock in der Hand. Ihr scharfes Auge streifte grüßend die Gesellschaft, und „Oh! grüß’ Gott, Herr Lehrer!“ rief sie freudig überrascht aus, als einer der Herren aufstand, um sie zu bewillkommnen.

„Das ist die Marei, die Redecker Marei,“ ging es von Mund zu Mund – offenbar eine bekannte und in ihrem Kreise berühmte Persönlichkeit, von der ich aber noch Nichts gehört hatte.

„Sie ist dreiundachtzig Jahre alt,“ hieß es, und ich staunte über die Lebhaftigkeit der Frau, die sich in lauter Scherzreden zu gefallen schien, offenbar stolz war auf die hohe Zahl ihrer Jahre und sich beschwerte, daß kein Freier mehr kommen wolle, obwohl sie nun schon seit Jahren Wittwe sei.

Der Lehrer – um diese Bezeichnung festzuhalten – erkundigte sich, ob sie auch noch die Harfe spiele.

„Nimmer so recht,“ entgegnete Marei, „aber meine Tochter spielt und singt und meine Enkelin auch; im Winter machen wir viel Musik, im Sommer nur so, um’s halt nit zu vergessen.“

„Und Sie selbst spielen gar nicht?“

„Ja freilich! ich spiel’ die ‚Vigelin‘.“

„Werden Sie mir denn Etwas vorspielen, wenn ich einmal hinkomme?“

„Ja, ja, kommen’s nur! Ich spiel’, wenn Sie mir die Vigelin stimmen wollen, und meine Tochter und meine Enkelin werden auch spielen und singen.“

Nach dieser Verabredung setzte Marei sich still an einen entfernten Tisch in dem großen, niedrigen Saale, bestellte ein halbes Liter Weißwein und zog ein Stück trockenen Brodes aus der Tasche. Sie war in der Waldauer Kirche gewesen, und es hieß, sie mache fast täglich diesen Weg, drei Viertelstunden weit über Berg und Thal. Keineswegs aber kehrte sie jedes Mal in der „Traube“ ein; ich sah sie nicht wieder dort, und was sie diesmal hergeführt hatte, war vielleicht nur die Neugier gewesen, ein wenig von der großen Fluth der reisenden Welt zu sehen, die ein kleines Bruchtheil an diesen wirthlichen Strand geworfen.

Hatte sie doch selber einmal mitten in diesem Strome geschwommen. Reisen und Wandern, Singen und Spielen war ihr Handwerk gewesen, und zwar zu einer Zeit, wo das Reisen noch im Stande war, dem Menschen eine Art von Nimbus zu verleihen, besonders einem Schwarzwälder Mädele, das mit fünfzehn Jahren abenteuernd in die Welt zog. Aber nicht sowohl Abenteuerlust, als vielmehr die Noth ist es gewesen, welche das Kind aus der elterlichen Hütte führte. Der Geschwister waren viele; das Häuschen war schuldenbelastet, und nur eine Kuh befand sich im Stalle.

„Ich will es versuchen – laßt mich ziehen!“ sprach Marei, und „So geh’ in aller Heiligen Namen!“ erwiderte die Mutter – und sie ging.

Eine alte Geige hatte sie vom Vater her; die konnte sie spielen, aber sie lernte zu Anfang noch – ich glaube in Nürnberg – das Harfenspiel, jedoch Alles ohne Noten, wenigstens ohne gedruckte Noten, und dazu singend mit einer Stimme, die prächtig gewesen sein soll, aber ungeschult – wie der Vogel singt.

Zwanzig Jahre ist sie in der Welt umhergezogen, ohne ihre Heimath wieder zu sehen, dann ist sie zurückgekommen mit zwei Pferden und – einem Federhut. Den sahen die Bauern eines Tages in der Kirche, und alle Andacht war hin.

„Das ist die Marei, die Marei aus dem Ringelhäusle,“ ging es flüsternd von Mund zu Mund, und nachher standen die Leute unter dem mächtigen Ahornbaume vor der Kirchenthür und spotteten über den Hut und über die Falbeln an ihrem Kleide. Sie mag wohl ein wenig aufgeputzt gewesen sein, wie eben eine Harfenistin zu sein pflegt, und es mag ihr eine Genugthuung bereitet haben, Denjenigen, die ihr vielleicht nichts Gutes prophezeit hatten, in ihrer Weise zu imponiren.

Als man aber von dem Wagen mit zwei Pferden hörte, da stieg natürlich der Respect, und als Marei von ihrem ersparten Gelde das Haus auf der Redeck kaufte, ihrer Familie sich annahm, sich wieder bäuerlich kleidete und zu wirthschaften anfing, da war sie selbstredend eine respectable Person. Sie hat auch einen Musikanten geheirathet, und hoffentlich haben Thun und Lassen, Wollen und Meinen ebenso gut miteinander gestimmt, wie Harfe und Geige. Die Musik ist Erb- und Familiengut geblieben, und wer weiß, welche ungehobenen Schätze unter dem Schindeldache auf der Redeck zu Grunde gehen und zu Grunde gegangen sind, denn daß allzeit das Genie seinen Weg fände, von dem rauhen Estriche der Hütte zu dem Parquetboden des Palastes, daß unfehlbar das Genie sich Bahn bräche – wer glaubt dieser Redensart?

An einem schönen Nachmittage nun zogen wir hinaus, um die Marei zu besuchen, die ganze Gesellschaft, „je mehr, je besser, behauptete der Lehrer, und er hatte Recht, denn als die Alte uns über die Höhe kommen und den schmalen Pfad einschlagen sah, der auf ihre Hütte zuführte, trat sie uns vor der Hausthür entgegen und lachte und lachte vor lauter Plaisir bei jedem neuen Händedrucke, den sie bewillkommnend austheilte.

Wie wunderbar schön liegt diese Redeck! Der romantische Schwärmer könnte sich keinen schöneren Fleck für seine Hütte aussuchen, als diese Berghalde mit dem Blicke in das „Wilde-Gutachthal hinein und den Tannenwäldern ringsum, und als ich in das niedrige Zimmer mit den vielen kleinen Schiebfenstern trat, die in überraschender Weise mit blühenden Gewächsen verdeckt waren, da drängte sich’s mir auf: hier ist Poesie – ein Eindruck, den selbst die entsetzlichen Bilder, an die man Glas und Rahmen verschwendet hatte, und die belächelnswürdigen Nippesgegenstände nicht zu stören vermochten.

„Sie sind nicht aus der Gegend, vous n’êtes pas d’ici?“ fragte Marei zu mir gewendet.

„Ganz recht,“ erwiderte ich, „aber Deutsche bin ich doch, Norddeutsche – und Sie waren in Frankreich? Sie sprechen französisch?“

„Ja freilich! Ich war vier Jahre in Frankreich, und im Anfange verstand ich kein Wort, aber das hat halt nit lange gedauert,“ und dann erzählte sie Einiges aus ihrer abenteuerlichen Laufbahn, welches der Schwarzwälder Mundart wegen zum Theil schwer verständlich war.

Die Hauptgeschichte war, wie sie einmal bestohlen worden sei, wie man aber den eigentlichen Schatz, einen Beutel mit sechshundert Gulden, nicht gefunden, weil er tief unten in einer Kiste gelegen habe, unter Lumpen versteckt. Gulden seien es aber nicht gewesen, denn die habe man in Frankreich nicht, sondern lauter Sous und Franken. „Gott sei Dank! man hatte es nicht gefunden – O, Dieu merci! on n’avait pas trouvé,“ fügte sie hinzu. Es machte ihr offenbar Vergnügen, die wenigen französischen Brocken anzubringen, die ihr noch zu Gebote standen.

Nach einer Weile wurden Harfe und Geige geholt und gestimmt. Tochter und Enkelinnen kamen herbei, Alle barfüßig, und barfüßige Buben lugten um die Ecke. Das Auditorium saß auf der Bank, welche in den Schwarzwälder Stuben rings um die Wand geht, und in einem Winkel des Zimmers gruppirte sich das Orchester.

Die Alte trug heute – im Zimmer – einen gewöhnlichen runden Strohhut, unter dem zwei dünne, ach, so dünne, weiße Zöpfchen den Nacken herabhingen, eine Schürze, deren oberer

[821] Theil aus lauter verschiedenen Flicken bestand, überhaupt ärmliche Schwarzwaldtracht, aber doch, wie sie so da saß mit geneigtem Kopfe und gesenktem Blicke, mit völlig verändertem Gesichtsausdrucke, die Geige im Arme, sie anscheinend noch mit voller Sicherheit handhabend, da imponirte mir dieses Weib, welches sich sowohl in seiner Kunst, wie in seinem Humor einen Schimmer von Jugendlichkeit bewahrt hat, um den die Frauen der civilisirten Welt sie von Herzen beneiden dürfen.

Spiel und Gesang von „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“ kritisiren zu wollen, kann mir nicht einfallen. Wir nahmen dankend, was uns geboten wurde, und auch ein in die Hand gedrücktes Geldstück ward nicht zurückgewiesen, denn trotz des Grundbesitzes und trotz der drei Kühe und zwei Geisen im Stalle lebte die Familie offenbar nicht von ihrer Rente, sondern von ihrer Hände Arbeit, und die ist nicht leicht im Schwarzwalde.

Wir gingen und stellten in Aussicht, wiederzukommen, um das „Häusle“ zu zeichnen, was leider durch eintretendes Regenwetter verhindert wurde. Der Alten schien unser Versprechen sehr zur Befriedigung zu gereichen, obgleich sie sehr gut wissen konnte, daß Ruhm und Ruf der Redeck nicht gerade an ihre Person geknüpft sind.

Im Juli 1870 nämlich war im Schwarzwald ein großes Fest beabsichtigt. In der „Traube“ zu Waldau, als dem der Redeck zunächst gelegenen Orte, waren die umfassendsten Vorbereitungen getroffen worden, denn man erwartete Zuzüge von Menschen aus dem ganzen Schwarzwald, soweit die Uhrenindustrie reicht. Und alle diese Wallfahrten, Ovationen jeder Art, galten der Redeck; für all die Tausende war die Redeck das Ziel, und wenn die Hütte sie auch nicht hätte aufnehmen können, so beabsichtigten die Pilger doch mit ihrem Kommen einen Act der Pietät zu erfüllen und gleichsam der Stätte zu huldigen, wo vor just zweihundert Jahren Lorenz Kreuz, der Mann gelebt und gestrebt, der die erste Schwarzwälder Uhr gemacht und damit den Gebirgsbewohnern eine Bahn der Industrie eröffnet hat, von der das bescheidene Genie auf der Redeck, welches die Mußestunden langer Winterabende ausfüllen wollte, sich sicher Nichts hat träumen lassen.

Ja, im Jahre 1870 sollte das Fest begangen werden – da kam der große Krieg, und aus der Gedächtnißfeier wurde nichts; die streitbare Mannschaft hatte anderen Fahnen zu folgen als bekränzten Festesfahnen. Und wenn wieder ein Säculum verstrichen ist, wird dann die dankbare Nachwelt die Schuld an ihren Wohlthäter, den armen Häusler auf der Redeck, abtragen?

Schwerlich; nicht weil es noch gar lang ist bis dahin, sondern aus andern Gründen.

Heute ist der Schwarzwälder reich, und das verdankt er in diesem Districte nicht seinen dürftigen Feldern, auch nicht den fetten Weiden, seinen stattlichen Heerden oder seinem prächtigen Tannenwald, sondern jenem Zweige der Industrie, der eine Specialität des Schwarzwaldes geworden ist und dessen Ruf in alle Welttheile getragen hat.

Aeltere Leute werden sich aus ihrer Kindheit jener hausirenden Gebirgsbewohner erinnern, die auf ihrem Rücken, an hohen Gestellen befestigt, die bekannten Schwarzwälder Uhren feilboten. Heute sieht man sie kaum noch in nächster Nähe des Schwarzwaldes, wahrscheinlich weil bei unseren regulirten Post- und Eisenbahnverbindungen das Hausiren ein zu kostspieliges Geschäft wäre. So aber sind die Schwarzwälder nicht nur durch Deutschland, sondern durch die ganze civilisirte Welt gezogen; so sind sie hausiren gegangen in England, Holland, Frankreich, Rußland, Spanien und Amerika; heute noch besteht die lebhafteste Verbindung mit jenen Ländern, und so sind sie reich geworden.

Zehn Jahre, zwanzig Jahre – jenachdem – blieben sie aus, dann kehrten sie heim, kauften sich an und wurden wieder – Schwarzwälder in Tracht und Sitten, gerade wie die Redecker Marei, nur daß der Uhrenhandel ungleich einträglicher gewesen sein muß als Spielen und Singen, denn der Grundbesitz zählt nach Hunderten von badischen Morgen und ruht in festen Händen. Kaum ein Acker ist käuflich, und die Besitzer werden nach Hunderttausenden taxirt. –

Die meiste und lebhafteste Verbindung in geschäftlicher Hinsicht hat alle Zeit bestanden und besteht noch heute mit England. Daß das Englische demnach eine im Schwarzwalde sehr gebräuchliche Sprache ist, kann kaum überraschen, und Bauer und Bäuerin trinken – in diesem obern Theile des Schwarzwaldes allabendlich ihren Thee, ein aus England mitgebrachter und liebgewordener Brauch.

Einmal erschien eine englische Familie in der „Traube“. Unser Wirth, der zwar auch seiner Zeit in England gewesen war, mochte sich doch nicht mehr so recht bequem in der Sprache bewegen; es wurde also eiligst der Sohn, der mit den Knechten beim Heuen beschäftigt war, herbeigerufen, und Engel (Engelbert) warf die Arbeitsjacke ab und zog die Staatskleider an, um den Gästen die Honneurs zu machen, wie es sich gehört.

Charakteristisch für die Verhältnisse ist ferner Folgendes: Es war da ein hübsches Mädchen im Hause, mit buntem Mieder und weißen Hemdärmeln, „’s Kätterle“, wie alle Welt sie nannte, und die alle Welt gern hatte. Früh und spät war sie bei der Hand und allezeit fröhlich und guter Dinge, zu jeder Arbeit bereit und behende.

„Die solltest Du Dir angeln und als Dienstmädchen mitnehmen,“ sprach ein Herr zu seiner Gemahlin, „ein solches findest Du in der Stadt gar nicht.“

„Das glaube ich,“ lautete die Antwort, „aber ich kann kein Mädchen gebrauchen, das reicher ist als ich; ’s Kätterle ist die Erbin von wenigstens hunderttausend Gulden, und ’s Kätterle wird sich bedanken.“

So war es. Ihr Vater war ebenfalls ein „Engländer“, und ’s Kätterle, das als Magd in der „Traube“, freilich bei des Vaters Bruder diente, war halt eine große Erbin. –

In der Gewerbehalle zu Furtwangen (zwei Stunden von Triberg) wird noch jene Uhr aufbewahrt, welche Lorenz Kreuz von der Redeck, und zwar nur mit Hülfe eines Messers, ganz aus Holz gemacht hat und welche die Anfänge einer Industrie repräsentirt, die im Laufe der Jahre die Bewohner des Schwarzwaldes auf die schon früher erwähnte Höhe des Wohlstandes gehoben hat. Sie hat die typisch gewordene Form der Schwarzwälder Uhren, ungefähr so wie heute noch, ein Zifferblatt mit nur einem Zeiger, dem Stundenzeiger, und im Innern drei hölzerne Räder, während eine regelrechte Schwarzwälder Uhr von heut zu Tage deren neun hat. Statt des Pendels hat jene ehrwürdige Uhr eine Balancirstange, aber ein Wecker fehlt nicht. Die zweitälteste Uhr in der Sammlung zu Furtwangen hat zwei Zifferblätter mit je einem Zeiger, der obere zeigt die Stunden, der untere die Minuten an, und dann erst folgt eine Uhr, welche jene uns so naiv erscheinende Idee aufgiebt und einen Doppelzeiger hat, wie heute alle unsere Uhren. Erst 1740 wurde die erste Pendeluhr gemacht.

In historischer, oder sagen wir richtiger in chronologischer Reihenfolge sind die Producte der sich mächtig entwickelnden Uhrenindustrie geordnet und schließen mit einem großen Chronometer, der ein volles Jahr geht, ohne inzwischen aufgezogen werden zu müssen. „Ja, er ist noch sieben Stunden über dreihundertfünfundsechszig Tage gegangen,“ versicherte der Aufwärter, „und in all der Zeit, in dem ganzen Jahre, hat er bei genauester Beobachtung nicht um ganz eine Minute differirt.“ Letzteres ist das Bewunderungswürdigste und scheint unbedingt der Höhenpunkt zu sein, der auf diesem Gebiete zu erreichen ist.

Zu einem gewissen Abschluß ist ohnedies die Schwarzwälder Uhrmacherkunst gelangt: sie ist in die Hände von Fabrikanten übergegangen. In Neustadt, einem gar reizend gelegenen Städtchen, zwei Stunden von Waldau und eine Stunde vom Titisee entfernt, ist ein großes Etablissement, welches den Fremden jederzeit und bereitwilligst gezeigt wird; dort sind dreihundertfünfzig Arbeiter beschäftigt, darunter fünfzig weibliche, welch letztere meistentheils das Poliren besorgen.

In großen Sälen, deren drei Seiten nur aus Fenstern bestehen, sitzen an diesen entlang die Arbeiter vor dem ringsum laufenden Tische. Die mit Wasserkraft arbeitende Maschine hebt immerfort die kolossale Säge mit fast zollgroßen Zähnen auf und nieder, um die Bretter zu schneiden, welche zu Uhrkasten verwandt werden, und zugleich bewegt sie die feine, scharfe, nur einen Strohhalm breite Laubsäge, so daß der Arbeiter nicht diese um die Zeichnung zu führen hat, sondern, ähnlich wie die Näherin an einer Nähmaschine, den Stoff – hier ein Brettchen mit Zeichnung, das zum Rahmen der Uhr geschnitten [822] werden soll – nur in geschickter Weise der Säge hinzuhalten hat. Dort dreht sich das feilende Rad; auf dem Tische vor dem Arbeiter liegt ein Haufen metallener Rädchen; er hat ein jedes derselben der für ihn arbeitenden Maschine so nahe zu bringen, daß sie die Zähne hineinschneidet, denen von einer andern Feile dann der feinste Schliff gegeben wird. Hier werden nur Ringe ausgeschnitten, dort nur Zeiger, hier Stifte, dort Pendel. Selbst das Blankputzen, die reibende Kraft dabei, übernimmt die Maschine.

Treten wir sonst in eine Uhrmacherwerkstätte, so ist das ein überaus stiller und friedlicher Winkel, und das etwaige leise Geräusch der feinen Arbeit wird bei Weitem übertönt durch das gleichförmige Ticken, durch die Pendelschwingungen der fertigen Uhren, welche an der Wand zu hängen pflegen. Hier aber, in den Fabrikräumen, könnte eine Domglocke dicht an unserem Ohre läuten, man würde nichts davon hören – solch ein unbeschreiblich toller Höllenlärm ist namentlich in einem dieser Räume, und will man einen Arbeiter oder den begleitenden Herrn nach etwas fragen, so muß man ihm in’s Ohr schreien. Mit Schwatzen wird hier sicher keine Zeit versäumt. So sind also die Arbeitern zum Fleiße gezwungen, und wie immer ein Rädchen von links nach rechts gelegt wird, so ist auch immer eine weitere Uhr gemacht, denn da jede Uhr doch nur einmal just dieses Rades bedarf, so gehört und entsteht auch zu diesem Rade jedesmal alles dazu Gehörende, eine complete Uhr. Wie viele das alltäglich sein mögen, wie viele im Jahre – ich weiß es nicht; jedenfalls aber ist die Zahl noch in steigendem Fortschritt begriffen.

Ein eigentlich geschickter Arbeiter ist bei diesem fabrikmäßigen Betriebe der Uhrmacherei nur dazu nöthig, um all die Einzelheiten zu einem Ganzen zu fügen; nur er muß das Getriebe der Räder, den Zweck der Schrauben und Federn und ihre Dienstleistungen kennen, während das bei den übrigen Handlangern durchaus nicht erforderlich sein kann. In dem Raume, wo Jener arbeitet, ist es auch still; da ist kein Tosen und Heulen und Brausen, und still arbeitet neben ihm auch der Schnitzer, welcher an den Reliefarbeiten bosselt und je nach der Feinheit seiner Arbeit sich zum Künstler erheben kann. Doch werden die Schnitzarbeiten meist in den Privatwohnungen verfertigt, denn sie bedürfen nicht jener Gemeinsamkeit, welche eine einzige gewaltige, bewegende Kraft sich dienstbar gemacht hat. Uebrigens ist die Schnitzerei keine Specialität des Schwarzwaldes, und die schönsten Uhrgehäuse werden aus der Schweiz bezogen. Alles aber, was zu einer regelrechten Schwarzwälder Uhr gehört, wird innerhalb des Etablissements gemacht, Alles, bis auf die Seele des Ganzen: die Uhrfeder. Die liefert Frankreich. Und ich glaube, auch Emailzifferblätter werden von auswärts bezogen, während die auf Holz gemalten der gangbarsten Sorten selbstverständlich in Neustadt gemacht werden.

Eigentliche Uhrmacher, was man früher so darunter verstand, giebt es in jenem Orte kaum noch. Der Handwerker kann nicht gegen die Concurrenz der Maschinen aufkommen; er hat sich auf Reparaturen, auf den Uhrenhandel zu beschränken; er wäre heute auch gar nicht mehr im Stande, dem Bedarfe zu entsprechen, der in demselben Maße gestiegen ist, wie die Production, obwohl man dennoch sich verwundert fragt: wo bleiben nur alle diese Uhren? da es zur Zeit doch nirgends Brauch ist wie im Schwarzwalde, daß man zwei oder drei Uhren in eine Stube hängt. Der billige Preis muß die Sache erklären.

„Schwarzwälder Uhr“ wird unbedingt immer die Bezeichnung für ein gewisses Genre von Uhren bleiben, wahrscheinlich werden sie vorzugsweise auch ferner daselbst gemacht werden, aber die Kunst, die in der einsamen Hütte des Häuslers erstand, die ist im Schwarzwalde untergegangen; das mächtig umrollende Rad der Industrie hat sie einfach bei Seite geschoben, und wenn die stille, sinnige Arbeit des Mechanikers oder des Holzschneiders in abgelegenen Gebirgsthälern fast einem nothwendig sich ergebenden Naturproducte gleich kommt, so hat er mit dem gigantischen Räderwerke der Maschinen von Haus aus nichts gemein. Ein fremdes Cyclopenvolk ist in die arkadische Heimath eingedrungen.

Und wenn man dem Lorenz Kreuz auf der Redeck auch kein Denkmal setzt, und wenn man nach Ablauf von drei Jahrhunderten auch nicht mehr daran denken sollte, dorthin zu wallfahrten, weil es keine Uhrmacher mehr giebt, so werden die Namen des Berges und des Erfinders doch unzertrennlich bleiben, und wessen Name besteht, so lange die Berge bestehen, der dürfte stolz sein auf seinen Antheil an Unsterblichkeit.

A. Volckhausen.