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Die Schweningerkur

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Textdaten
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Autor: Jul. Weiß
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Titel: Die „Schweningerkur“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 330–331
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[330]

Die „Schweningerkur.“

Von Dr. Jul. Weiß.


Was ist die „Schweningerkur“? Danach hat schon mancher und manche nicht bloß aus müßiger Neugier, sondern aus des Leibes eigenem Bedürfnis gefragt. Schweninger selbst hat erst jüngst in einem Aufsatze, der in der „Bibliothek der gesamten medizinischen Wissenschaften“ erschienen ist, eine überraschend drastische Antwort auf diese Frage gegeben. „Eine Merkwürdigkeit unter den Kuren bleibt die sogenannte Schweningerkur. Sie ist in jeder Beziehung ein raffinierter Betrug. Man hat eben hier nur läuten, aber nicht schlagen gehört; die ‚Entdecker‘ dieser ‚Kur‘ haben aus einigen individuell gegebenen Verordnungen gewisse Lehren, Schablonen, Prinzipien erdichtet, diese dann zusammengestellt und dem erzielten Gebräu den Namen der ‚Schweningerkur‘ gegeben. Diese Lehre oder die Identificierung mit der Oertelkur wurde des weiteren sogar in wissenschaftlich medizinischen Werken vorgetragen. Schweninger selbst[1] hat mit dieser ‚Kur‘ nicht das Geringste zu thun. Er ist ein solcher Feind jeder Schablone, daß er während seiner ganzen ärztlichen Thätigkeit niemals, am wenigsten aber seinem vornehmsten Kranken eine sogenannte ‚Kur‘ verordnet hat, über welche die haarsträubendsten Kurfabeln verbreitet worden sind, während darüber thatsächlich keine authentischen Aeußerungen bis jetzt vorliegen ...“

Diese Aeußerungen sind nun jüngst von seiten Schweningers in einer Schrift, betitelt „Die Fettsucht“[2], nachgeholt worden. Alle, die es angeht, dürften die wahrhaft volkstümlich abgefaßte Schrift mit sichtlichem Vergnügen und zum eigenen Nutzen und Frommen lesen.

„Die Behandlung der Fettsüchtigen“ – sagt Schweninger – „ist seit alters auf verschiedenen Wegen versucht und mit verschiedenen Mitteln erreicht worden. Aber alle Behandlungsmethoden, die bis auf den heutigen Tag versucht worden sind, litten und leiden an der Schablone, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit (nicht immer der Autoren, sondern mehr der Nachbeter), an mangelnder Individualisierung und legen nicht genug Wert auf eingehende und nach Zeit, Umständen und Bedürfnissen abwechselnde Verordnungen.“

Riesiges Aufsehen hat es seinerzeit erregt, als der englische Rentier Banting die ihm von seinem Arzte Harvey verordnete ausschließliche Fleischdiät als diejenige Kur empfahl, welche allen Fettsüchtigen sicheren Erfolg gewährleiste. Daß diese Empfehlung nicht für alle Fälle passe, hat der Göttinger Professor Ebstein bewiesen, indem er gerade durch die Gestattung von Fetten und kohlenhydrathaltigen Speisen (Butter, Mehlspeisen, Brot etc.) und durch die Einschränkung der Fleischkost die besten Erfolge erzielte. Jüngst hat endlich Professor Oertel in München darauf hingewiesen, daß die möglichste Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr das Wesen jeder Fettsuchtbehandlung ausmache. Danach wäre im Oertelschen Sinne die berühmte „Semmelkur“ in Lindewiese eine der besten Behandlungsarten der Fettleibigen. Schweninger verurteilt alle diese Verfahren, welche nur einzelnen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Für jede einzelne fettleibige Person müssen unter Berücksichtigung aller auf dem Vorleben, der Untersuchung und Beobachtung gewonnenen Anhalte besondere Verordnungen gegeben und nach der Art der sichtbaren Wirkung später abgeändert werden. „Der Mensch ist zum Teil das Produkt seiner Lebensweise und daher wird die Fettentziehungskur zum Teil in der Bekämpfung althergebrachter, namentlich übler Gewohnheiten ihr Ziel erreichen.“ Schweninger hält es für notwendig, nicht nur Essen und Trinken, sondern auch geistige Thätigkeit, Bewegung, Ruhe, Lagerung, Bekleidung, Wohnung des Fettsüchtigen genau zu überwachen. Der Erfolg der Behandlung muß genau geprüft werden, was insbesondere durch wiederholte Messungen von Brust- und Leibumfang, sowie des Körpergewichtes zu geschehen hat. Schweninger zählt eine Reihe von Vorschriften für Fettleibige auf, wobei er aber ausdrücklich betont, daß dieselben nur unter strengster Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der je nach Bedürfnis notwendigen Abänderungen befolgt werden dürfen.

Alles, was den Kreislauf des Blutes hemmt, verlangsamt und damit zu Stockungen führt, muß aus der Kleidung des Patienten entfernt werden. Zu den einengenden und einschnürenden Kleidungsstücken sind vor allem zu rechnen: das unheilvolle Mieder, die um das Bein gelegten Strumpfbänder, enge Kragen oder Aermel, stramm angeschnallte Hosen oder Säbelgürtel, Bauchriemen, enggebundene Röcke etc. Den Damen wäre zu empfehlen, selbst die Fischbeine und Stahlstangen aus den Taillen zu entfernen. Wie genau Schweninger jede Einzelheit in der Lebensweise der Kranken zu erwägen weiß, zeigt das Verbot des Ringetragens. Man sehe nur die Finger an, an denen fortdauernd enganliegende Ringe getragen werden! Da findet man unmittelbar dem Ring entlang einen Wulst von abgelagertem Fett, das eben als Folge von verlangsamtem Blutumlauf durch den Druck des Ringes entstanden ist.

Allgemeine kalte Abreibungen oder Bäder widerrät Schweninger den Fettleibigen dringend, da sie bei der vorhandenen Schwäche ihres Herzens und Gefäßsystems geradezu gefährlich sind, dagegen empfiehlt er häufige Waschungen einzelner Körperstellen mit heißem sowohl als mit kaltem Wasser. Dem Laien könnte dies als ein Widerspruch erscheinen; in Wahrheit aber wird sowohl durch örtliche kalte Abwaschungen als durch örtliche heiße Bäder ein und dasselbe erstrebt und erreicht: Anregung des Stoffwechsels, bessere Blutverteilung, Steigerung des Verbrennungsprozesses im Körper und folglich Verbrauch des überflüssigen Fettes.

Einen Gegensatz zwischen Kälte und Wärme giebt es in der Heilkunst ebensowenig wie in der Physik; beide bedeuten nur Gradunterschiede, und in der Praxis soll nicht die Hauptfrage sein, ob Kälte oder Wärme, sondern: wann, wo, wieviel, wie lange, wie oft, in welcher Zusammenstellung und Abwechslung. So empfiehlt Schweninger seinen Patienten einerseits, täglich abwechselnd Brust und Bauch, oder beide Arme oder beide Beine mit kaltem Wasser abzureiben, anderseits beide Hände und Arme bis über die Ellbogen in möglichst heißes Wasser zu stecken. Das Abreiben und Abwaschen soll der Leidende selbst besorgen, nicht etwa, wie das so üblich, durch einen Badediener vornehmen lassen, denn er bedarf der Muskelthätigkeit. Desgleichen rät Schweninger, daß der Kranke sich selbst massiere. Der „geprüfte“ Masseur ist unnötig, meist wird einzig und allein der Patient selbst genügen, der – wie Schweninger treffend sagt – „seine Hände stets bei sich trägt und jeden passenden Augenblick benutzen kann, um einen Bruchteil seines Auftrages auszuführen, den der Arzt ihm zuvor in allen seinen Einzelheiten vorgemacht hat.“ Es ist dabei auch die seelische Anregung nicht zu unterschätzen, die darin liegt, daß der Kranke selber durch eigene Thätigkeit zu seiner Gesundung beizutragen lernt. Bei der Massage, dem üblichen Streichen, Drücken, Kneten, Hacken, Zwacken und Kneifen, soll ganz besonders der Bauch berücksichtigt werden, nicht nur, weil er in den meisten Fällen der Hauptsitz der Fettablagerung ist, sondern weil gleichzeitig hierdurch auf die bei Fettleibigen meist träge Darmthätigkeit eine Anregung ausgeübt wird.

Wenn Schweninger aber im allgemeinen Muskelthätigkeit und Bewegung anempfiehlt, so warnt er doch anderseits vor Ueberanstrengung. Es herrscht beim Publikum der Glaube, als könne der Fettleibige sich durch viel Bewegung des übermäßigen Fettes entledigen, und so wird auch dicken Menschen geraten, große Fußwanderungen zu unternehmen, alle Berge zu besteigen, den ganzen Tag zu rudern oder Schlittschuh zu laufen u. a. dgl. Anstrengungen auf sich zu nehmen. Leider kommt nur zu oft der Mißerfolg, wenn nichts Schlimmeres als Folge dieses thörichten Handelns sich einstellt. „Ueberanstrengung“ – sagt Schweninger – „heißt Stockung, Lähmung, mäßige Bewegung bedeutet Anregung, Belebung.“ Besondere Beachtung verdient, was Schweninger über die „Lagerung“ sagt. Er nennt das Sitzen eigentlich keine richtige Ruhe nach dem Gehen, da die Beine herunterhängen; einige Minuten in wagerechter Lage verbracht, gewähren nach einem Gange größere Erholung als ein längeres Sitzen, auch die Bauchlage bezeichnet Schweniuger als zuträglich, „sie müßte eigentlich unsere übliche Lage sein und ist uns vielleicht nur infolge der Kultur und Civilisation abhanden gekommen.“

Der wichtigste Teil der Schweningerschen Schrift betrifft die Ernährungsfrage. Ueber die Theoretiker auf dem Gebiete der Ernährungslehre urteilt Schweninger ziemlich scharf. Ihr Hauptfehler besteht nach ihm darin, daß man vergessen hat, der Mensch lebe nicht von dem, was er ißt und trinkt, sondern von dem, was und wie er verdaut und ausnutzt. Bei der Wahl der zu erlaubenden [331] Speisen und Getränke legt Schweninger zunächst Wert darauf, den Wünschen des Patienten soviel als möglich Rechnung zu tragen, trotzdem es oft notwendig ist, mit tief eingewurzelten Gewohnheiten zu brechen. Die Hauptnahrung der Fettleibigen soll bestehen aus Fleisch (jede Sorte, auch fettes Fleisch, kalt oder warm), aus Fischen, Austern, Kaviar, Krebsen, Hummern, Eiern, Käse. Als Nebennahrung dürfen Brot, Obst, Kompott, Spinat, Spargel, Kohlarten, Sauerkraut, Gurken, grüner Salat genossen werden.

Als Getränk wird Wasser und Weißwein nebst Sodawasser und Sauerbrunnen anzuraten sein. Selbstverständlich kann man unbemittelten Leuten nicht Austern, Kaviar und Hummern zu essen empfehlen; ihnen dienen als Ersatz Häringe und geräucherte Flundern, oder statt des feinen Kompotts gedünstete Pflaumen, lauter Sachen, die mit den bescheidensten Mitteln zu bestreiten sind. Als verboten sind dagegen zu betrachten: Suppen, Kartoffeln, Rüben, Maccaroni, Reis, Mehlspeisen, Butter und Fette (soweit sie nicht zur Zubereitung der Fleischgerichte und der Gemüse gehören). Von den Getränken sind streng verboten Bier, Rotwein, Milch, Kaffee, Thee, Chokolade, Kakao und Schnäpse. Da Schweninger hiermit alle die Getränke verbietet, die sonst zum ersten Frühstück genommen zu werden pflegen, so fühlt er sich bewogen, die naheliegende Frage zu beantworten „Was soll denn der Fettsüchtige zum Frühstück genießen?“ Dabei wird dann die englische Sitte befürwortet, frühmorgens eine ordentliche Mahlzeit aus etwas Fleisch, Fisch, Ei, Käse zu nehmen.

Das, was Schweninger die „Hauptnahrung“ nennt – es sind dies, wie aus dem Vorangehenden zu ersehen, die Eiweißstoffe – soll vier Fünftel der Gesamtnahrung betragen, während ein Fünftel auf die als „Nebennahrung“ bezeichneten Speisen, vorzüglich die Kohlenhydrate, zu entfallen hat.

Das Eigentümliche der Schweningerschen Diätvorschriften besteht aber darin, daß er die großen Mahlzeiten vollständig verbietet und statt dessen kleine und häufige Speiserationen empfiehlt. Er verwahrt sich dagegen, daß man seine Art der Fettsuchtbehandlung als Suppen-, beziehungsweise Wasserentziehungskur beschreibt und sie als Plagiat der Oertelschen Kur verschreit, während er in der That seine Patienten ganz nach Bedürfnis trinken läßt und ihnen nur empfiehlt, das Essen vom Trinken zu trennen. Erst eine Stunde nach dem Essen sollen sie in kleinen Mengen trinken, und zwar nur solche Flüssigkeiten, wie sie oben genannt wurden.

Die täglich notwendige Darmentleerung wäre vor allem durch gewisse Nahrungsmittel, die in dieser Hinsicht befördernd wirken, zu versuchen. Man gebe dem Patienten Obst, Fruchtsäfte, Honig, saure Milch etc., und zwar allein für sich, nicht zu den Mahlzeiten. Nur wenn dies nichts hilft, soll der Arzt mit stärkeren Mitteln eingreifen. Schweninger ist auch der Meinung, daß die Behandlung der Fettsucht in Kurorten keineswegs notwendig sei; nicht wohin man geht, sondern was und wie man es thut, ist das allein Maßgebende. Schweninger tröstet die Unbemittelten, indem er sagt: „Gesund kann ein jeder werden überall.“ Keineswegs darf es aber einem Kranken einfallen, sich selbst heilen zu wollen durch Befolgung dieser oder jener Vorschrift. Da die Beurteilung des Einzelfalles der wichtigste Grundsatz der Fettsuchtbehandlung ist, so muß natürlich jemand da sein, der diese Beurteilung vornimmt – der Arzt. Dieser hat aber auch genau zu prüfen, welche Fortschritte die Behandlung macht, er muß mit Nachdruck nicht nur den Kranken selbst, sondern auch seinen „guten Freunden und Bekannten“ entgegentreten. Diese letzteren sind es gar oft, die das Vertrauen zum Arzt erschüttern, namentlich wenn während der Fettentziehungskur das Schwinden des überschüssigen Fettes sich im Gesichte geltend macht und dieses einen oft „leidenden“ Ausdruck annimmt; da kommen dann diese „guten Freunde“ und begrüßen den Patienten mit den Worten „Wie elend sehen Sie aus!“ „Nehmen Sie sich in acht vor solchen Kuren!“ Hier muß der Arzt oft seinen ganzen Einfluß aufbieten, um alle Zweifel zu beseitigen, den schwankenden Mut wieder zu heben. Ist nach einer gewissen Zeit die Entfettung durchgeführt, dann darf der Uebergang zur gewöhnlichen Lebensweise kein schroffer sein, sondern muß ganz allmählich bewerkstelligt werden. Gewisse Erleichterungen werden gestattet, bald dieses, bald jenes Speiseverbot wird aufgehoben – es kann aber auch vorkommen, daß, wenn sich wieder eine Zunahme der Fettbildung zeigt, die ganze Strenge der früheren Lebensweise wiederhergestellt wird.

So genau und bestimmt nun auch die einzelnen Vorschriften lauten, so sehr betont der Verfasser in seiner Schrift, daß es eben nur Vorschriften in gewissen Richtungen sind, welche keineswegs für den Einzelfall die Zahl der Möglichkeiten und Nützlichkeiten erschöpfen. Diese Vorschriften als „Schweningerkur“ zu bezeichnen, darf nur der Kürze des Ausdruckes halber geschehen. Eine „Kur“, die in gewisser schablonenmäßiger Weise vom Arzte angeordnet und vom Patienten besorgt werden kann, ist nicht vorhanden – in diesem Sinne giebt es keine „Schweningerkur“.




  1. Schweninger schreibt von sich in der dritten Person.
  2. Sammlung medizinischer Abhandlungen. Wien, Max Merlin. 1894.