Die geografische Verbreitung einer nordischen Thiermärchenkette in Finnland

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Autor: Kaarle Krohn
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Titel: Die geografische Verbreitung einer nordischen Thiermärchenkette in Finnland
Untertitel: durch eine Karte erläutert
aus: Fennia, 3. Band, Nr. 4
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Suomalaisen Kirjallisuuden-seuran Kirjapainossa
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Erscheinungsort: Helsinki
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Quelle: New York-USA*, Commons
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[1]
Die geografische Verbreitung einer nordischen Thiermärchenkette in Finnland
durch eine Karte erläutert
von
Kaarle Krohn.
(Vorgetragen am 11. Mai 1889).

In einem grossen Werke[1] über die Entstehung[WS 1] der Kalewala-Lieder hat Prof. Julius Krohn, mein verstorbener Vater, diesen Gegenstand mit Anwendung der geografischen Forschungsmethode erläutert. Seine Ergebnisse haben mir Veranlassung gegeben, dieselbe Methode auf das Gebiet der Thiermärchen zu übertragen. Speciell für die finnischen Thiermärchen dürfte sich nämlich diese als erfolgsreich erweisen, da das folkloristische Material[2] unseres Volkes bedeutend umfangreicher ist, als dasjenige jedes anderen Volkes.[3]

Aus diesem Materiale habe ich zunächst eine Thiermärchenkette, welche den Bären (Wolf) und Fuchs behandelt, ein vergleichendes Studium unterworfen,[4] dessen Ergebnisse auch in deutscher [2] Sprache theils schon erschienen[5] sind, theils bald erscheinen werden. Es hat sich herausgestellt, dass die zusammenhängende Märchenkette vor mehr als tausend Jahren in Nordeuropa vorhanden gewesen und nach Finnland von zwei Seiten her eingewandert ist: von Westen aus Skandinavien, von Osten aus Russland. Den beiden Wegen entsprechen nämlich zwei verschiedene Formen, welche durch die mithandelnden Thiere am deutlichsten zu unterscheiden sind: in der skandinavischen Form tritt der ursprüngliche Bär auf, in der russischen ist der Wolf an seine Stelle gelangt. Beide Thiere kommen in den finnischen Märchen vor, sowohl jeder für sich (der Bär im Südwesten und der Wolf im Nordosten des Landes) als beide vermischt auf einem und demselben Mittelgebiete. Demnach lässt sich die Herkunft und die Einwanderung der Märchen geografisch bestimmen und die gegenwärtigen Grenzen der resp. Einflüsse ziemlich genau feststellen.

Um das gegenseitige Verhältniss der west- und osteuropäischen folkloristischen Elemente in Finnland bezüglich genannter Märchenkette festzustellen, will ich erstens den Inhalt der einzelnen Ketterglieder in kurzen Zügen so darlegen, wie ich ihre Urform mit Hülfe der in geografischer Ordnung vergleichenden Methode erkannt zu haben glaube. Dann werde ich in einer Tabelle die Anzahl der Varianten eines jeden Einzelmärchens angeben, welche bei verschiedenen Völkern gefunden und, meines Wissens, vor 1887 veröffentlicht worden sind. Wie in dem Varianten-verzeichniss der oben angeführten finnischen Märchensammlung (Suomalaisia kansansatuja I. Abth. F., S. 344–448), werden die einzelnen Märchen der Kette mit römischen Nummern (VI–X, IV, XXVIII, XIV, XXII) bezeichnet und ebenso sind ihre gegenwärtig (Juni 1889) bekannten Verbreitungsgrenzen an der Karte angegeben. Ferner stelle ich über die Bedeutung der finnischen Varianten in der vergleichenden Märchenforschung einige Thesen auf, welche in den citirten Studien [3] ihre Bestätigung finden. Endlich versuche ich die geographische Forschungsmethode meines Vaters im Allgemeinen darzustellen.


VI. An einem Wintertage erblickt der Fuchs einen Mann,[6] der eine Ladung Fische fährt. Gleich wirft er sich quer über den Weg und stellt sich todt. Der Mann kommt heran, ist entzückt von dem schönen Fell und hebt den Fuchs hinter auf den Wagen. Selbst sitzt er vorn und fährt weiter, ohne sich umzublicken. Der Fuchs fängt an die Fische, einen nach dem andern, hinter sich auf den Weg zu werfen. Zuletzt springt er selber herunter und liest die Fische auf zu einem Haufen. – Der Mann fährt, ohne etwas zu ahnen, ruhig seines Weges. Zu Hause angekommen prahlt er mit seiner Beute vor seiner Frau, welche bemerkt, dass der Wagen leer ist.

VII. Der Fuchs frisst die Fische, die er gefangen hat. Der Bär[7] kommt und bittet sich einen Theil davon aus. Der Fuchs giebt ihm nichts oder höchstens nur einen Bissen zum Kosten, fordert ihn dagegen auf, sich selbst Fische zu fangen. Auf die Frage des Bären giebt der Fuchs an, er habe in einer kalten Nacht mit seinem Schwanze in der Wuhne geangelt, aus welcher die Hausbewohner ihr Wasser schöpfen. Der Bär macht sich daran, dasselbe Mittel zu versuchen. Der Fuchs räth ihm, seinen Schwanz unbeweglich zu halten, bis die Fische daran festhaften würden, und fängt an durch Beschwörungen die Kälte zu steigern. Wie der Bär merkt dass die Wuhne zufriert, will er seinen Schwanz herausziehen. Der Fuchs ermahnt ihn, noch ein wenig zu warten, damit mehr Fische sich anheften könnten. Als er endlich vermuthet, dass der Schwanz festgefroren ist und der Tag schon anbricht, läuft[8] [4] er in den Hof des Hauses und ruft der Hausfrau, welche in der Stube buttert, zu: „der Bär beschmutzt deinen Brunnen!“ Die Hausfrau lässt ihre Arbeit unvollendet im Stich und eilt mit einer Kübelstange bewaffnet an das Eis, um den Bären zu prügeln. Der Bär in seiner Bedrängniss zieht und zerrt, bis sein Schwanz in Stücke reisst. – Während dessen hat sich der Fuchs durch die offen gelassene Thür in das Haus geschlichen.

VIII. Der Fuchs steckt sogleich seinen Kopf in das Butterfass[9] der Hausfrau. Wie er den Rahm verzehrt, trifft ihn die Hausfrau bei ihrer Rückkehr von der Wuhne. Sie schlägt den mit besudeltem Kopfe Fliehenden mit der Butterwelle auf das Schwanzende, welches seitdem weiss ist. – Als der Fuchs nachher mit dem Bären[10] zusammentrifft und dieser sich über die erlittenen Prügel und besonders über das Abreissen des Schwanzes beklagt, sagt er, dass die Hausfrau ihn noch viel schlechter behandelt habe, so dass das Gehirn ihm aus dem Kopfe rinne.

IX. Der sich zum Gehen unfähig stellende Fuchs bittet den Bären,[11] ihn zu tragen. Auf dem Rücken des Bären fängt er an zu singen: „der Kranke trägt den Gesunden“ oder „der Geschlagene trägt den Ungeschlagenen“. Wie der Bär nach dem Sinne des Gesanges fragt, antwortet er, dass er irre rede, da er so zu Schanden geschlagen worden sei. Als aber der Fuchs den Gesang wiederholt, erräth der Bär den wahren Sachverhalt und wirft erzürnt den Fuchs ab. Der Fuchs flüchtet, der Bär folgt ihm nach.

X.[12] Der verfolgte Fuchs schlüpft in eine Höhlung unter einer Baumwurzel. Der Bär packt mit den Zähnen das eine Hinterbein des Fuchses. Der Fuchs lacht in spöttischem Tone: „beisse, beisse nur in die Baumwurzel!“ Der Bär glaubt sich geirrt zu haben, lässt das Bein [5] los und packt mit den Zähnen die Baumwurzel. Der Fuchs jammert in kläglichem Tone: „beisse mich nicht ins Bein!“ Der Bär hält die Wurzel fest mit den Zähnen, bis er dessen überdrüssig wird, seines Weges zieht und den Fuchs sich selbst überlässt.


IV.[13] Der Fuchs sucht Umgang mit dem Bären, da er weiss, dass dieser einen Bienenkorb besitzt. Dreimal entfernt er sich aus dem Gesichtskreis des Bären, angeblich um zu einer Geburt zu eilen, zu welcher er als Namengeber eingeladen sei, in Wirklichkeit aber um aus dem Bienenkorbe Honig zu naschen. Jedesmal kehrt er zu den Bären zurück und nennt diesem auf seine Frage den Namen, welchen er dem Kinde gegeben habe, wobei er mit verstecktem Wortspiele das Ziel, das erste, zweite und dritte Drittel, andeutet, bis zu welchen er jedesmal bei der Plünderung des Bienenkorbes gelangt ist. Wie der Bär bemerkt, dass der Bienenkorb leer ist, bezichtigt er den Fuchs, daran schuld zu sein. Diesem ist es nun ein Leichtes einzuwenden, dass er sich die ganze Zeit entweder vor den Augen des Bären oder mit dessen Wissen anderswo befunden habe, und so die Beschuldigung auf den Bären selbst zurückfallen zu lassen. Da aber der Bär den Worten des Fuchses nicht recht Glauben schenken will, so schlägt der Fuchs vor, dass sich beide im Sonnenschein schlafen legen sollten, um zu sehen, wer von ihnen den Honig herausschwitzen würde. Der Bär schläft sofort ein und schläft so fest, dass der sich wach haltende Fuchs, als er den Honig aus seinem Leibe fliessen fühlt, ihm das Hinterteil damit beschmieren kann, ohne dass er erwacht. Endlich weckt der Fuchs den Bären, der jetzt den Honig gegessen zu haben glaubt, obwohl er sich dessen nicht erinnern kann.

XXVIII.[14] Der Fuchs geht zur Bärenhöhle in der Abwesenheit des Bären und der Bärin und fragt die jungen Bären, ob ihre Mutter zu Hause wäre. Auf die Frage, was er denn von ihr wolle, sagt er, er [6] wolle sie begatten. Als die Bärin bei ihrer Heimkehr durch die Jungen von der Drohung des Fuchses hört, legt sie sich in den Hinterhalt, aus dem sie bei dem Nahen des Fuchses hervorbricht. Der Fuchs entschlüpft auf der Flucht zwischen zwei Bäumen hindurch, in deren Geäst die nacheilende Bärin stecken bleibt. Wie der Fuchs dies bemerkt, kehrt er um und schändet sie. – –

XIV. Der Bär[15] sucht nach dem Tode seines Weibchens jemand, der seine verwaisten Jungen in den Schlaf singen könnte. Den ihm begegnenden und sich anbietenden Hasen weist er ab, nach dem er seine Stimme geprüft hat, den Fuchs nimmt er an und führt ihn zu sich. Als der Bär fortgeht, um Nahrung zu suchen, frisst der Fuchs eines von den Jungen. Bei der Rückkehr des Bären, lässt er diesen nicht hinein, indem er ihm sagt, dass die Jungen schliefen, und ihn auffordert, noch mehr Nahrung zu holen. Während der Bär noch zweimal in den Wald geht und wieder zurückkommt, frisst der Fuchs das zweite und dritte Junge. Wie der Bär zum dritten Male heimkehrt, tritt der Fuchs selbst aus der Höhle heraus, ehe der Bär hineingekommen ist, und flieht, indem er den Sachverhalt mit höhnenden Worten erklärt.


XXII a.[16] Der Mann pflügt mit einem Paar Ochsen am Rande des Waldes. Erzürnt über ihre Faulheit verwünscht er sie: „der Bär möge euch fressen!“ Das hört der Bär im Walde. Er kommt um die Ochsen zu fordern. In seiner Noth bittet der Mann, seine Arbeit mit ihnen beendigen zu dürfen, und erhält die Erlaubniss dazu. Ohne das der Bär es bemerkt, schleicht sich der Fuchs zu dem verzweifelten Manne und verspricht ihm aus der Noth zu helfen, sogar den Bären in seine Hände zu liefern, fordert aber ein Paar Gänse als Belohnung. Nachdem er dies Versprechen erhalten und den Mann aufs Genaueste unterrichtet [7] hat, entfernt er sich. Bald fängt er an im Walde das Geschrei oder Pfeiffen beim Aufhetzen der Hunde nachzuahmen. Der erschrockene Bär fragt den Mann: „was ist das für ein Lärm?“ Der Mann antwortet: „die Jäger des Königs jagen nach Bären“. Der Bär bittet den Mann, ihn nicht zu verrathen. Der Fuchs ruft aus dem Walde dem Manne zu: „was liegt da schwarzes an deiner Seite“. Der Mann sagt auf Befehl des Bären: „ein Baumstumpf“. Der Fuchs befiehlt ihn denselben erst auf das Fuhrwerk zu legen, dann fest zu binden, die Äste ab zu hauen und die Axt in den Baumstumpf hinein zu schlagen. Der Bär befielt dem Manne sich so zu stellen, als ob er das alles thäte. Der Mann hebt ihn auf sein Fuhrwerk, bindet wirklich fest, haut die Füsse ab und spaltet ihm mit der Axt den Kopf, so dass der Bär stirbt.

ХХII b. Der Mann geht nach Hause angeblich um das versprochene Gänsepaar dem Fuchse zu holen. Vom Hause bringt er mit sich einen zugeschnürten Sack. Als der Sack geöffnet wird, springt aus demselben ein Paar Hunde auf den Fuchs los. Dieser flieht in seine Höhle. Die Hunde bleiben ausserhalb stehen.

XXII c. Glücklich in der Höhle angekommen befrägt der Fuchs seine Glieder, wie sie ihm bei der Flucht geholfen haben. Die Nase behauptet gerochen zu haben, die Augen auf den geradesten Weg geguckt zu haben, die Ohren auf den Athem der verfolgenden Hunde gehorcht zu haben, die Füsse nach allen Kräften gelaufen zu sein. Der Schwanz dagegen prahlt, er habe sich überall verwickelt um die Flucht zu erschweren. In seinem Zorne streckt der Fuchs seinen Schwanz aus der Höhle den Hunden zu. Am Schwanze aber ziehen die Hunde den Fuchs aus seiner Höhle ganz heraus und zerreissen ihn.


[8/9]
Verzeichniss vor Ende 1887 gedruckter Varianten der nordischen Thiermärchenkette.[17]
Bei: VI VII VIII IX X IV XXVIII XIV XXII a XXII b XXII c Summa.
Finnen 062 098 33 34 37 10 08 07 51 20 02 362
Lappen 004 005 02 01 12
Esten 001 001 01 01 01 02 7
Mordwinen 001 1
Ungarn 001 001 01 01 4
Türken in Asien 01 1
Schweden in Finnland und Estland 003 004 02 04 03 04 01 01 04 02 28 48
Schweden in Schweden 006 006 01 01 02 01 03 20
Norwegen 001 001 01 03 02 01 01 02 12
Dänen 001 001 04 6
Deutsche 007 015 04 05 01 07 01 06 02 48
Isländer 01 1
Engländer 01 1
Kelten in Schottland 002 001 02 5
Franzosen 003 009 03 09 03 27
Portugiesen 01 1
Spanier 01 01 01 3
Italiener 002 002 04 02 10
Litthauer 02 03 03 8
Grossrussen 006 008 03 04 07 01 03 03 06 05 46 75
Weissrussen 001 001 01 01 01 01 6
Kleinrussen 005 005 02 02 02 02 02 03 23
Westslaven 003 004 03 05 01 02 01 19
Südslaven 002 003 03 05 02 01 01 01 02 20
Griechen 001 01 02 02 01 01 03 11
Inder 02 01 3
Armenier 01 1
Osseten 001 001 2
Nordkaukasier 01 1
Syrer 01 1
Araber 001 001 2
Libyer 02 2
Hottentotten 001 01 2
Afrikanische Neger 001 002 01 4
Amerikanische Neger 001 001 01 02 5
Kaffern 01 1
Indianer in Süd-Amerika 01 1
Hinterinder 001 1
Summa 117 171 54 67 58 62 13 12 72 62 20 708

[10] In dieser echt volksthümlichen und ursprünglich nordischen Thiermärchenkette zeichnen sich die finnischen Varianten besonders aus.

1) Nur bei den Finnen haben sich die gesammten elf zu dieser Kette gehörenden Einzelmärchen erhalten (s. oben das Verzeichniss).

2) Aus dem Munde des finnischen Volkes sind ebenso viel Varianten aufgezeichnet worden, wie bei allen übrigen Völkern zusammen (s. oben das Verzeichniss).

3) Die Finnen haben ihre Thiermärchen sowohl von skandinavischer als von russischer Seite erhalten, gewöhnlich besitzen sie von einem und dem selben Märchenstoffe sowohl die westeuropäische als die osteuropäische Form (s. unten die Karte).

4) Auf dem gemeinsamen Gebiete dieser zwei Formen gibt es noch eine dritte, speciell finnische, Form, welche aus der Verschmelzung der beiden erstgenannten entstanden[WS 2] und mit eigenen Schöpfungen des Volkes ausgebildet ist (s. unten die Karte, wo die Verbreitung des skandinavischen Bären und des russischen Wolfes in VII, VIII, IX und die Verbreitung der nach schwedischer Art gerufenen Hausfrau nebst des echtfinnischen Ortsnamens Ilmola in VII–VIII und der nach grossrussischer Art unberufenen Bedrängerinnen in VII angezeigt ist).

5) Finnland ist kein Durchgangsort für die Märchen gewesen; es kann nämlich eine bestimmte Grenze zwischen der westeuropäischen und osteuropäischen Form hier gezogen werden (s. unten die Karte, besonders XIV).

6)[WS 3] In den westfinnischen und südfinnischen Varianten werden die Märchenzüge meistens in ihrer ursprünglichsten Form gefunden, es werden sogar solche Züge angetroffen, welche nirgends in der übrigen Welt sich im Volksmunde erhalten haben (in XXII a hat sich die Verwünschung der Ochsen ausserhalb Finnlands nur in den mittelalterlichen Fabeln der Disciplina clericalis und des Roman de Renart erhalten).

7) In den ostfinnischen und nordfinnischen Varianten sind dieselben Märchenzüge kraft der eigenen schöpferischen Thätigkeit des Volkes mehr als irgendwo ausgebildet worden.

[11] 8) Nur bei den Finnen haben sich die fünf erstangeführten Einzelmärchen (VI–X) sämmtlich in ihrer ursprünglichen ununterbrochenen Ordnung erhalten.

9) An die ursprüngliche den Europäern im Westen und Osten gemeinsame Märchenkette haben die Finnen noch andere Einzelmärchen angeknüpft: sowohl solche, die in Skandinavien, als solche, die in Russland mit ihr verbunden worden, ja sogar solche, die in keinem von den beiden Ländern an sie angehängt gewesen sind. In dieser Verkettung bekundet sich das Streben nach epischer Einheit, welches ein Grundzug der finnischen Volkslieder ist (Kalewala).

10) Dieselbe epische Richtung zeigen die aus Heiligennamen entnommenen Personennamen des Fuchses (Mikko = Michael) und Hasen (Jussi = Johannes), welche schon in Skandinavien gebräuchlich gewesen sind, sowie der echt finnische Ortsname Ilmola (= die Luft als Wohnort gedacht). Endlich ist die den Finnen eigenthümliche Versifizierung der prosaischen Märchensprache, besonders[WS 4] in den Repliken, bemerkenswerth.


Diese Thesen über die Bedeutung der finnischen Varianten sind in den oben angeführten Arbeiten näher begründet. Aber nicht nur das finnische Material, auch die finnische Forschungsmethode ist vielleicht der Beachtung werth.

Es ist allen bekannt, dass die Gebrüder Grimm die Märchen als den letzten Bodensatz alter Mythen betrachten, dass Th. Benfey sie aus litterarischen Quellen herleitet, dass A. Lang in ihnen Überreste uralter Vorstellungen und Gebräuche sucht. Warum aber nicht dem Märchen das Recht zugestehen, ein selbständiges Material für die Wissenschaft zu bilden? Es sind ja doch die mythologischen Einschiebsel ganz zufällige Accidentien des Märchens und tragen einen ausschliesslich nationalen Karakter. Andererseits besteht das gemeinsame, internationale des Märchens nicht nur in einer allgemeinen Grundidée, sondern in der Schürzung und Auflösung der Handlung, in dem ganzen Thema. Es kann eine internationale Wissenschaft der Märchen nur dann entstehen, wenn das Grundthema [12] von allem überflüssigen Beiwerke losgeschält ist. Da aber die Handlung eines Märchens, wie wir sie vorfinden, oft eine sehr komplicierte ist, so muss sie erst in einfache, aus nur einer Schürzung und einer Auflösung bestehende Handlungen, in einzelne Abentheuer zertheilt werden. Jedes Abentheuer wird dann für sich untersucht.

Um die ursprüngliche Form eines einfachen Abentheuers herauszufinden, müssen erst alle vorhandenen Varianten d. h. alle die Abentheuer, welche dieselbe Schürzung der Handlung mit derselben Auflösung darstellen, zusammengebracht werden. Solche Abentheuer, in welchen nur die Schürzung oder nur die Auflösung dieselbe ist, können ganz zufällig ähnlich gerathen sein, durch die Gleichartigkeit des menschlichen Denkens. Zweimaliger Zufall ist aber in der enormen Welt der Idéen kaum zu denken.

Benfeys Missgriff ist gewesen, dass er dass Hauptgewicht auf die älteren literarischen Redaktionen eines Märchens gelegt und den neueren aus dem Volksmunde geflossenen Erzählungen blos einen secundären Werth beigelegt hat. Es ist doch beweisbar, dass die in unserem Jahrhundert mit wissenschaftlicher Genauigkeit aus dem treuen, überaus konservativem Gedächtniss des Volkes aufgezeichneten Varianten oft viel ursprünglichere Formen aufzeigen als die ältesten, rein schönliterarischen Verarbeitungen desselben Märchens. (Im Norden Europas z. B. haben sich die einzelnen Abentheur der obenangeführten volksthümlichen Thiermärchenkette ihrer Form nach ursprünglicher erhalten, wie die entsprechenden Fabeln in Ysengrimus oder Roman de Renard). Bei einer vergleichenden Märchenforschung müssen also alle sowohl literarischen als besonders volksthümlichen Varianten zu Rathe gezogen werden.

Doch können die Varianten nicht in jeder beliebigen Ordnung mit einander verglichen werden. Zwei von einander durch Zeit oder Entfernung getrennte Varianten sind gewöhnlich zu verschieden um ohne vermittelnde Formen den Gang der Entwickelung zu zeigen. Sie müssen geographisch[WS 5] geordnet werden, soweit die älteren literarischen Quellen hinreichen auch historisch. Denn es hat sich gezeigt, dass die gemeinsame Abstammung der Völker sehr wenig, die geographische Nähe und der gegenseitige Verkehr, ungeachtet der grössten sprachlichen Verschiedenheiten, desto mehr auf die Ähnlichkeit [13] der Märchen Einfluss hat. Die Märchen hängen eben nicht mit der Sprache, sondern mit der Kultur zusammen. Um die in geographischer Ordnung vergleichende Wissenschaft auf ganz sichere Füsse zu stellen, müssten eigentlich aus jedem Lande, jeder Landschaft, ja fast jedem Kirchspiele Varianten vorhanden sein. (In den alten epischen Liedern der Finnen hat sogar jedes Dörfchen ihre besondere Singarten ganz wie Dialektverschiedenheiten in der Sprache). – Sollten die Richtung und die Wege der Verbreitung auch nur in einem Lande genau festgestellt sein (wie z. B. in Finnland), so könnten schon einige sichere Schlüsse auf die Verbreitung der Märchen in den übrigen Ländern gezogen werden.

Da die Urform eines einzelnen Abentheuers sich gewöhnlich nirgends ganz rein erhalten hat, so ist eine weitere Auflösung desselben nothwendig. Die Handlung muss in seine Hauptelemente: Personen, Objekte, Mittel, Thätigkeiten etc. zergliedert werden und jedem Gliede muss durch die ganze Reihe der Varianten in geographischer Ordnung gefolgt werden, um die ursprüngliche Form herauszufinden. Dabei ist nicht nur die Stimmehrheit der Varianten, welche oft betrügt, zu beachten, sondern auch die Wege der Verbreitung und schliesslich das Natürliche in Betracht zu nehmen.

Nur durch die Fixierung der ursprünglichen Form in jedem einzelnen Elemente der Handlung, ist die Urform eines Abentheuers zu finden. Und nur wenn diese gefunden ist, kann man Schlüsse auf den Ursprungsort, die Nationalität, die Entstehungszeit[WS 6], die ursprüngliche Verbindung mit anderen Abentheuern, die ihr zu Grunde liegende allgemeine Idée ziehen.

Die Herausfindung der ursprünglichen Form des Märchens ist aber nicht das interessanteste, was die geographisch vergleichende Märchenkunde leisten kann. Noch wichtiger ist vielleicht die Erforschung der Veränderungen welche die Urform auf ihren Wanderungen erlitten hat. Es ist bekannt, wie alle sprachlichen Veränderungen auf ausnahmslosen lautphysiologischen Sprachgesetzen beruhen oder durch Analogie erklärt werden müssen. Ebenso sind alle Veränderungen in dem bunten Gewebe der Märchen nach bestimmten Gesetzen des Gedankens und der Phantasie entstanden. Von diesen nicht zahlreichen Gesetzen mögen genannt werden: das Vergessen [14] eines Umstandes, die Acklimatisierung eines fremden und die Modernisirung eines veralteten Gegenstandes, die Verallgemeinerung einer speciellen und Spezialisirung einer allgemeinen Bezeichnung, die Umstellung der Begebenheiten, die Verwechselung von Personalien oder Thätigkeiten, die Vervielfältigung, besonders mit den Zahlen 3, 5, 7, der Polyzoismus, wo viele Thiere anstatt eines vorkommen, der Anthropomorphismus der Thiere und ihr Gegentheil der Zoomorphismus der Menschen, der Egomorphismus, wo der Erzähler selbst als Hauptheld auftritt u. s. w. Dazu kommt noch die Lust ein Abentheur mit eingeschobenen Episoden auszuschmücken, mit einer Einleitung besser zu begründen, mit einem Schlussrefrain hübsch zu beendigen, überhaupt nach allen Richtungen hin den Faden der Erzählung fortzuspinnen. Diese Lust der Fortsetzung ist es, welche mehrere Abentheuer zu einem Ganzen verbindet. Denn die beschränkte Phantasie des Volkes heutzutage schafft wenig neues, fast alle Zusätze entnimmt sie aus dem schon vorhandenen Materiale, entweder ein Bruchstück eines Abentheuers oder das ganze Abentheuer mit einem Anderen oder dessen Bruchstücke verbindend. Diese Verbindung kann natürlich nicht ohne Einfluss auf die verbundenen Glieder sein, welche meistens sehr verändert werden müssen; um in einander zu passen. Ein sehr grosser Theil der Veränderungen and Verdrehungen eines Abentheuers ist also dem Einflusse eines anderen damit verbundenen Abentheuers zuzurechnen. Diese Art der Veränderung entspricht in der Sprache den Lautveränderungen, welche die nachbarlichen Laute verursachen. Endlich sind noch die Veränderungen durch Analogie zu nennen, den sprachlichen Veränderungen ex analogia ganz entsprechend, in dem ein Abentheuer sich nach einer anderen Gruppe von Abentheuern richtet (so haben sich z. B. die Märchen vom Bären und Fuchs nach dem antiken Fabeln von Wolf und Fuchs gerichtet, indem der Wolf an die Stelle des Bären getreten ist).

Ebenso so gross wie für die Völkerpsychologie, wenn nicht noch grösser, ist die Bedeutung der Märchenkunde für die Kulturgeschichte. Indem sie uns die Wege zeigt, auf welchen die Märchen von einem Volke zu dem anderen mündlich, nicht mir durch die Literatur, gelangt sind, erhalten wir sichere Beweise der Kultureinflüsse des einen Volkes auf das andere. Denn wie gesagt, die Volksmärchen sind nicht mit der Sprache, sondern mit der Kultur gewandert. Andererseits sind ebenso wenig, wie unsere Kultur ausschliesslich einer Nation und einer Rasse zu verdanken ist, die Volksmärchen aus der genialen Thätigkeit eines einzigen Volkes entstanden. Sie sind vielmehr das durch vereinte Arbeit erworbene gemeinsame Eigenthum der ganzen mehr oder weniger civilisierten Welt und somit ein Gegenstand der internationalen Wissenschaft.


[Karte]
Karte über die Verbreitung
einer nordischen Thiermärchenkette in Finnland.
 KROHN. FENNIA III, N;o 4.


Die äussersten Fundorte an der östlichen Grenze des westeuropäischen (speciell skandinavischen) Einflusses sind bezeichnet mit:


Die äussersten Fundorte an der westlichen Grenze des osteuropäischen (speciell russischen) Einflusses sind bezeichnet mit:


Alle finnischen bis Juni 1889 aufgezeichneten Varianten der Märchen sind hier berücksichtigt worden.

Die römischen Nummern sind die der Variantengruppen in der im Texte citirten finnischen Thiermärchensammlung: Suomalaisia Kansansatuja. I. Eläin-satuja. Helsingissä, 1886.


  1. J. Krohn, Suomalaisen kirjallisuuden historia, I. Kalevala. Helsingissä 1883–1885; 616 S. 8:o. – Wird bald schwedisch und deutsch erscheinen.
  2. K. Krohn, Suomalaisia kansansatuja, I. Eläinsatuja. (Suomal. Kirjall. Seuran Toimituksia, 67 Osa). Helsingissä 1886.
  3. Dasselbe gilt den gesammten folkloristischen Besitz der Finnischen Literaturgesellschaft, welcher über 40,000 Sprichwörter, über 20,000 Lieder, ung. 20,000 abergläubische Gebräuche, über 13,000 Märchen und über 10,000 Räthsel, im Ganzen also über 100,000 Nummern beträgt.
  4. K. Krohn, Tutkimuksia suomalaisten kansansatujen alalta, I. Vihko 1 ja 2. (Suomi III, 1 ja 2). Helsingissä 1887–1889.
  5. K. Krohn, Bär (Wolf) und Fuchs, eine nordische Tiermärchenkette. Vergleichende Studie. Aus dem finnischen übersetzt von Oscar Hackman. (Suomal.-ugril. Seuran aikakauskirja. Journal de la Soc. Finnoougrienne VI). Helsingfors, 1889.
  6. In den ostfinnischen Varianten zeigt sich der russische Einfluss darin, dass der Mann oft ein Russe genannt wird (s. Karte, VI).
  7. In westfinnischen Varianten kommt der ursprüngliche, auch in Skandinavien erhaltene, Bär vor, in ostfinnischen dagegen, wie immer in den russischen Varianten, der Wolf (s. Karte, VII, VIII, IX).
  8. So nach den schwedischen in den westfinnischen Varianten, in welchen das Haus den mythischen Namen Ilmola erhalten hat (s. Karte VII–VIII); in den ostfinnischen, wie in den grossrussischen, Varianten kommen Weiber unberufen früh am Morgen zum Wasser (s. Karte, VII).
  9. So in der skandinavisch-westfinnischen Form, welche sich über ganz Finnland verbreitet hat (s. Karte, VII–VIII); der Teig in den russischen Varianten hat sich nur bei den Finnen in Südostingermannland und bei den Nordtschuden erhalten.
  10. Wie Seite 3 Anmerk. 2.
  11. Wie Seite 3 Anmerk. 2.
  12. Kommt bei den Russen nicht vor, ist also nur aus Skandinavien nach Finnland gewandert (s. Karte, X), obgleich der Bär im Gebiete des russischen Einflusses gewöhnlich zum Wolfe verwandelt ist.
  13. Ist nur von skandinavischer Seite nach Finnland gekommen und von allen Einzelmärchen dieser Kette am wenigsten verbreitet (s. Karte, IV).
  14. Nur russische Varianten, in welchen der Fuchs zum Hasen und der Bär zum Fuchse verwandelt sind, sind bei den Finnen gefunden worden (s. Karte XXVIII).
  15. So in den schwedisch-westfinnischen Varianten; in den grossrussisch-ostfinnischen sucht der Mann ein Klageweib für seine verstorbene Frau (s. Karte, XIV).
  16. In den schwedisch-westfinnischen Varianten ist XXII c verschwunden, in den grossrussisch-ostfinnischen ist nicht nur dieses erhalten, sondern vor XXII a noch eine Episode vom gemeinsamen Ackerbau eingeschoben worden.
  17. Ungeachtet der grössten Sorgfalt beim Aufsuchen können natürlich immer einige Varianten, obgleich schon gedruckt, unbeachtet geblieben sein.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Enstehung
  2. Vorlage: enstanden
  3. Vorlage: 5)
  4. Vorlage: beson-
  5. Vorlage: geographish
  6. Vorlage: Enstehungszeit