Die sieben Worte Jesu am Kreuz/Das sechste Wort Jesu am Kreuz

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Das sechste Wort Jesu am Kreuz.
(25. März 1915.)
Joh. 19, 30. 
Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!


 Wir sind an der Hand der heiligen Worte und geleitet von der Treue der Evangelisten in die Todesstunde unseres Herrn und Heilandes gelangt und erleben wieder sein Sterben. Aber es ist nicht die Trauer, die unser Herz erfüllt, und nicht das Leid, das man um geliebte Menschen trägt, wenn sie von uns scheiden, sondern es ist uns, wie wenn man vom Siege redet, und eine stille, heimliche und heilige Freude geht durch unsere Seele: das Lamm Gottes hat überwunden, die ewige Barmherzigkeit hat ihr Werk getan. Den wir mit unseren heißesten Wünschen begleiteten, den wir auf sein Geheiß mit Gebet und Wachsamkeit ehren wollten und sollten, dem wir unser Herz erschließen, damit es endlich Inhalt bekomme, ehe es auch im Tode bricht, der hat jetzt den Tod – nicht erleiden müssen, sondern erleben dürfen.

 „Es ist vollbracht!“ Nachdem er die letzte Labung von der Welt empfangen hatte, er, der sie jetzt tausendfach labt und erquickt, und nachdem er die nötige Hilfe von der Armut der Erde angenommen, er, der die Armut jetzt tausendfach tröstet und wendet, und nachdem er willentlich und ernstlich und eifervoll in die Schrecken der Gottverlassenheit, in die Verbannung der Gottesferne gegangen war, atmete er tief auf, neigte sein Haupt und| verschied. So ist das sechste Wort des Herrn am Kreuz sehr tief und sehr groß, sehr einfach und herrlich zumal; denn es spricht, daß wir es ganz einfach sagen,  Das sechste Wort am Kreuze spricht von dem großen und göttlichen Werke. Es war ein göttliches Werk, weil es von Gott befohlen war. Gehe hin, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat; sei nie unwirsch, wenn die Not der Welt zu dir kommt, sich auszuweinen und sich auszuklagen, sei nicht stumm, wenn sie mit beredten Worten sich dir schildert, und sei nicht ungehalten, wenn sie deine Zeit anspricht und ausfüllt! Mein Auserwählter, schaue, wenn du durch den verwüsteten Garten deines Vaters gehst, das gebrochene Rohr an, nicht, damit du es gar zerbrichst; schau das geknickte Rohr an, nicht, damit du es ganz austuest, sondern schau es an, wie ein Gärtner mit mildem und lindem Blick hofft, ob er nicht das geknickte Rohr noch einmal aufrichten und anbinden und benetzen könne, damit es grüne, Früchte bringe und bleibe! Mein Auserwählter, wenn du in der Welt der sinkenden Sterne und der erlöschenden Lichter einen Docht noch heimlich glimmen siehst, mit dem Verlangen mehr zu leuchten, in der Begierde, dem Erlöschen zu entgehen, dann lösche ihn nicht aus, sondern fache ihn an! Und dein Geschrei, wie es dort beim Propheten heißt (Jes. 42, 2), soll man nicht hören auf der Straße, wo aber Witwentränen fließen, da kehre ein, und wo Eltern um ihr einziges Kind bangen, da stelle dich zu Gast, und wo die Not die Worte nicht mehr findet, um sich auszuklagen, und der Mangel des Lebens an der Welt verzweifelt und verzagt,| da komme, da lasse deine Stimme hören, die Stimme der Leutseligkeit und der Freundlichkeit!

 Ein göttliches Werk – denn es ist von Gott befohlen; ein göttliches Werk – denn es geschieht für Gott, so sagen wir weiter. Was war die große Arbeit des Herrn? – „Alles, was mein ist, das ist dein.“ Was er durch seine Treue erobert, durch seine Güte bezwungen, durch sein Leiden überwältigt, durch sein Sterben erlöst hat, das hat er nicht für sich behalten; er hielt es nicht bei sich wie einen Raub, sondern er gab es zurück: „Alles, was mein ist, das ist dein“. Weil er für Gott arbeitete und sonst für niemand in der Welt, weil er nicht an sich dachte und kein Gefallen an sich hatte und nicht sich in die Wagschale warf und sein Belieben und Befriedung und seine Ehre, sondern weil er des Vaters Ehre suchte, darum ist es ein göttliches Werk. Daß er die Welt, die gottentfremdete, wieder mit Gott verband, daß er die ganze Schöpfungsarbeit Gott des Vaters, die sich von ihm gelöst hatte, um dann in ihrer Freiheit doppelt unglücklich zu sein, wieder erkaufen und erstatten konnte dem, von dem sie ausging und zu dem sie gehört, das war sein Werk und dieses Werk war göttlich. Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er ihm diene, sondern daß er uns diene, indem er uns dem Vater wieder bringt. Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich in ihm selber sonne und an ihm selbst erquicke, sondern daß er abnehme, damit der Vater wachse, daß er zurücktrete, damit der Vater gewinne, daß er nichts sei, damit der Vater alles werden könne.

 Dieses Werk war ein göttliches, so sagen wir weiter, weil es mit göttlichen Mitteln geschah, und es gibt nichts Größeres im Himmel und nichts Heiligeres auf Erden, glaubt es doch, Geliebte, als den hingebenden Gehorsam, durch den es vollbracht wurde und von dem die Epistel des| Palmsonntags anbetend rühmt: „Er war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze.“ Andere haben in Behauptung ihres Willens Großes vollbracht, haben ihre Meinung darangegeben und durchgesetzt, sind ihren Neigungen gefolgt und haben durch Folgerichtigkeit der Beharrung etwas erzielt und Großes erreicht, – aber dieses Etwas ist längst zerstoben und dieses Große erscheint im Lichte der Ewigkeit als sehr klein. Er aber hat mit der unscheinbarsten Gabe zugleich die göttlichste verbunden. Er hat mit der Gabe des Gehorsams gearbeitet und dieser Gehorsam hat ihn auf die Erde geführt. Der Vater hat ihm nichts verborgen, er hat ihm das ganze Leid des Lebens, das auf ihn wartete, geoffenbart. Er hat ihn hineinsehen lassen in die Unklarheit, die um so größer ward, je größer die Klarheit ist, in der er wohnte und jetzt wohnt. Er hat ihn in die Gebundenheit der Menschheit einen Blick tun lassen, die um so unfaßlicher für den Herrn war, als er ganz frei, von keiner Sünde irgendwie gebunden und von keiner Leidenschaft irgendwie gefesselt war. Und dann, da der Vater ihm nichts verschwieg und nichts vorenthielt und verheimlichte, sondern ihm den ganzen Ernst des Lebens kundtat, das anzunehmen er sich bereit erklärte, hat der Sohn, in die Wahl gestellt, ob er bleiben wollte oder gehen sollte, jenes verschmäht und dieses gewählt und „war gehorsam bis zum Tode“. Gehorsam auch dann, wo er meinte, leichter – nicht etwas zu haben, sondern leichter Gottes Willen auszurichten, als der Weg ihm vorgezeichnet war. Wie oft ist an den Herrn Christus die Versuchung herangetreten, daß er sein göttliches Werk schneller, völliger, eiliger, besser ausrichte als auf dem langsamen Wege des Leidens und Verzichtes. Er hat aber diesen Weg nie eingeschlagen, weil ihn der Vater nicht gehen hieß und – „war gehorsam bis zum Tode“.
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|  Und noch einmal schaut der Apostel zurück und wie aus tiefem Sinnen erwachend, fügt er hinzu: „ja zum Tode am Kreuze“. Wenn er nur etwas großartiger, ein wenig majestätischer und glorioser aus dieser Welt geschieden wäre! So aber verrann sein Leben, wie das Blut langsam herabtroff, so löschte sein Leben langsam aus, so gar ruhmlos und ungestalt, so gar unscheinbar und unwert. Aber der Gehorsam fragt nicht nach dem Was und kennt nicht das Wie. Denn er hat sich dem verschworen: „Ja, Vater, ja, von Herzensgrund leg auf, ich will dir’s tragen.“ Der Gehorsam will nicht einen Schritt eilen, wenn er zurückgehalten, und keinen Schritt warten, wenn er zur Eile ermahnt wird. Der Gehorsam hat nicht seinen Willen geopfert, daß er willenlos wäre, sondern er hat seinen Willen drangegeben, daß er willensfrei wäre. Der Gehorsam ist nicht dumpfer, toter Zwang eines Menschen, der seine Selbstentscheidung hingegeben hätte, sondern durch Selbstentscheidung und Eigenwahl hindurchgegangen, leuchtet der Gehorsam in des Vaters Reich, weil er, obwohl er viel anderes wollen konnte, nichts anderes wollen wollte, weil er, obwohl ihm viel andere Wege zu Gebote stünden, nur den einen Weg erwählen wollte, den ihm Gottes Geheiß und des Vaters Wink und Wille vorgezeichnet hat.

 Seht, nun spricht der Herr, der gehorsame Knecht, auf der Höhe des Opferlebens angelangt, auf dem Gipfel des neutestamentlichen Morija angekommen, mit dem königlich frohen, mit dem göttlich großen Worte: „Es ist vollbracht!“ Kein Weg, den er hat gehen müssen, den er vermieden hätte! Keine Weise, die er hat haben sollen, die er nicht hätte haben wollen! Kein einziger Zug in seinem Leben, der nur zu einem einzigen Male ihn von seinem Vater entfernt hätte! Das ist das göttlich große Werk. –

|  Und zum weiteren sagen wir: es ist ein schweres Werk. Schwer ist das Werk, wenn man auf die Hindernisse sieht, wenn man auf den Kampf gegen diese hinblickt und auf den Erfolg des Kampfes.

 Schwer ist das Werk, wenn man auf die Hindernisse sieht. Wie viele Hemmungen traten ihm entgegen! Da war es der von außen herandringende Zweifel, der ihm durch alle Jahre nachging: bist du Gottes Sohn? Der du im Besitz der Allmacht hungerst wie ein Ohnmächtiger, der du im Reich der Finsternis verschmachtest wie ein Mensch, der in der Wüste geboren ist, der du auf eine hoffnungslose, unaussichtliche und ertraglose Arbeit hinaussiehst wie ein armer Schiffer im einsamen Nachen über das unermeßliche und unübersehbare Meer schaut: bist du Gottes Sohn? Der du so arm warst, daß du nicht wußtest, wo du dein Haupt hinlegen sollst, und in der Stille den eilenden Vogel beneidet hast und das Tier des Waldes, das seinen Schlupfwinkel kennt, der du zwölf Jünger, von denen einer dich verriet, der andere dich verleugnete, erwähltest und als Ergebnis einer heißen Wegfahrt die Armut des Mißerfolges geerntet hast: bist du Gottes Sohn? Der du in die Welt hineinriefest und niemand antwortete dir, der du zum Himmel hinaufsprachst und keine Stimme tat dir Bescheid, der du an Menschenherzen klopftest und sie blieben verschlossen, der du Gottes Herz suchtest und es war dir abgewandt: bist du Gottes Sohn? Das war die Hemmung, die ihm entgegentrat, furchtbar, weil sie mit dem Schein der Wahrheit sich schmückte, verhängnisvoll, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmte!

 Und zum Zweifel trat der Mißglaube. Wenn du es nun nicht bist? Der Herr hat den Mißglauben auch durchlitten, wenn er ihm gleich in seinem heiligen Leben keinen| Raum gestattete, – durchlitten hat er ihn. Wenn nun alles vergeblich wäre, wie er dort alttestamentlich klagt: „Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und brächte meine Kraft umsonst und unnütz zu“, bis ihm endlich die Erkenntnis aufdämmert: „wiewohl meine Sache des Herrn und mein Amt meines Gottes ist.“ (Jes. 49, 4.) Seht, diese Angst hat der Heiland zu durchkämpfen gehabt. Um ihn brandete das Meer der Sünde, unter ihm leuchtete der Abgrund der Gottesferne und über ihm war der Himmel ehern und verschlossen. Ist das Erfolg?
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 Und was rede ich von Zweifel und Mißglaube, die an ihn sich heranmachten, war es nicht die Gewalt der Sünde, die ihm sein heiliges Leben erschwerte? Ich rede töricht: die Sünde als geschlossene Größe, als eine auf einen Punkt sich einigende Macht hätte er als ein Sieger bestehen können und als ritterlicher Kämpfer zu überwinden vermocht. So aber war es nicht der Sünde Heftigkeit und nicht der Sünde Einigkeit – ihn bedrängte die Erfahrung: „O du ungläubige und verkehrte Art, wielange soll ich bei euch sein und euch dulden“ (Luk. 9, 41), und dieser Jammer: er arbeitet und der Erfolg weicht, er sucht und niemand läßt sich finden, er muß die Sünde immer wieder von neuem erfahren und erfassen, er muß, wenn er meint, mit einer Sünde geendigt zu haben, sie aus dem Menschenherzen getilgt zu haben, immer wieder sie von neuem aufwachsen sehen. Wo ist ein Gärtner, dem nicht der Mut entsinkt, wenn er jeden Morgen das Unkraut geil und üppig auf seinen Feldern sieht, und die edle Saat verkümmert und verdirbt. So hat der Herr mit der Sünde zunächst nicht als der großen, die Welt beherrschenden und die Welt ausmachenden Größe kämpfen müssen, sondern mit den einzelnen Temperaments-, Charakter- und Neigungssünden, mit den Sünden, die der Herr den Seelen| entlarvt und die er sie erkennen läßt, mit der ganzen Unseligkeit, der Folge unserer Untreue an ihm, mit dem Vorsatz, dem die Wirkung abgeht, mit all den Launen und Leidenschaften, mit all den Verirrungen und Verzerrungen des Guten. Und während wir die Sünde nur als Erscheinung würdigen, hat er in die tiefsten Wurzeln, in die geheimsten Gehäuse der Sünde hineinschauen müssen und ihre letzte Folge mußte er überschauen. Das war wohl ein schweres Werk, wenn wir auf die Hemmungen sehen.

 Schwer war es auch, wenn wir in den Kampf hineinblicken. Mit welchen Waffen hat er die Sünde einmal hervorgeholt, dann erkannt, dann bekämpft, dann überwunden? Ach, er hat ja nur eine Waffe, die Waffe, die jetzt soviel verlästert und so wenig geachtet ist, die Waffe des göttlichen Wortes. So ist er wie David weiland, der mit etlichen Kieseln dem Riesen nachstellte, mit den ärmlichsten Waffen, mit den geringsten Mitteln, dem schlichten Gottesworte, mit der ganz unscheinbaren Rüstung einer in Gott geheiligten Persönlichkeit gegen die Sünde zu Felde gezogen. Ja, wenn ihm die Legionen Engel zur Seite gestanden hätten, die mit ihrer Klarheit die Sünde entmächtigt und mit ihrer Majestät die Sünder niedergelegt hätten, wenn ihm in spürbarer und sichtbarer Weise der Vater allezeit den Sieg über die Unwahrheit, über die Lüge, Verstellung, Heuchelei, den Tod und des Todes Schrecken gegönnt hätte, wäre sein „Es ist vollbracht!“ nur der Ruhm des Gelingens, aber nicht das Bekenntnis der schweren Arbeit. Aber er hat sich ja durchkämpfen müssen, nur auf die Schärfe des heiligen Schwertes vertrauend. Es ist in seiner Hand nie stumpf, nie in seiner heiligen Rechten ungut geworden. Und so hat er alles durchlitten und durchrungen.

|  Und der Erfolg? Wie schwer war das Werk, nicht bloß besehen nach dem Kampf und seinen Mitteln darin, sondern auch nach seinem Erfolg! Ärmer ist, solange die Weltgeschichte besteht, ärmer ist keiner aus dem Kämpfe geschieden als er. Wenn es nicht der Heilige wäre, so würden wir uns über die Vermessenheit des Wortes erzürnen und würden dem Evangelisten noch in der Ewigkeit vorwerfen: warum hast du gerade dieses Wort, das am allerwenigsten zu Jesu Werk und Jesu Erfolg sich eignet, gewählt? – Vollbracht! – Was ist denn vollbracht? Wenn jetzt, während draußen der Krieg seine furchtbaren Furchen durchs Land zieht, der große Ackersmann mit blutgetränkten Schritten umherwandert im Lande, das Vergnügen wieder hochgepriesen und der Luxus wieder gefeiert und die Zucht- und Sittenlosigkeit wieder gepflegt wird, das ist der Erfolg davon, daß Gott der Herr furchtbare Schickungen sendet, und im Ganzen bleibt es bei uns wie zuvor. Es wird nach dem Tode des Heilandes genau so viel gelästert wie vor seinem Ende und die Gemeinheit hat ebensoviele Hörige und Sklaven wie vor dem Karfreitag und die Sünde gegen das 6. Gebot feiert lächelnd und in schamloser Freude ihre Feste und Feiern, als ob nie Karfreitag über die Welt hinweggegangen wäre. Ja, was ist denn vollbracht? – Und die wenigen, die noch auf Jesu Tod sich einigen, die sich vielleicht die Hände reichen und gleich dem alten Chr. Gregor sprechen:

Die wir uns allhier beisammen finden,
Schlagen unsere Hände ein,
Uns auf deine Marter zu verbinden,
Dir auf ewig treu zu sein –

die wenigen lassen sich doch auch nicht in ihrem Behagen stören. Wer wird denn so bange sein? Warum so ängstlich? Ist’s nicht der Herr, der Hilfe verheißt? Warum| wollen wir uns in unserer guten Laune stören lassen? Die wenigen, die wirklich noch Jesu Kreuz anbetend umfassen, wie kläglich sind auch sie! Am Karfreitag abend kann es einen Familienstreit geben über irgendeine Erbärmlichkeit, über die Höllengeister sich nicht zanken; am Nachtmahlstag kann es Verstimmungen geben wegen eines unterlassenen Grußes oder wegen eines nicht vergönnten Vortrittes und ähnlicher Nichtigkeiten!

 Was ist der Erfolg, ich frage noch einmal? Daß etliche religiöse Redensarten mehr auf der Welt sind und daß etliche beim Namen Jesu Christi mechanisch das Haupt neigen und daß etliche eine wohlfeile Träne im Auge haben, wenn sie sich lange genug an der Passion Jesu Christi gesättigt haben? Nein, da ist ein schweres Werk vollbracht, wenn man auf das sieht, was der Herr hat erreichen wollen und was er erreicht hat. Daß er am Kreuzesstamm das Glaubensbanner entfaltet und über eine Welt, die im Finstern lag und litt, das königliche Wort gesprochen hat: „Ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen“ (Joh. 12, 32), daß der Menschenkenner ohne gleichen, der Seelsorger ohne Maßen, der wohl wußte, was im Menschen ist, den Mut hatte, zu sprechen: „Es ist vollbracht!“, dafür sei dir tausendmal Dank, du treuer Jesus; denn du warst nie ferner dem Ziele, als in der Stunde, da du sprachst: „Es ist vollbracht!“ Du hast nie weniger erreicht, als in der Stunde, von der dein heiliger Evangelist schamerfüllt schreibt: „Da verließen ihn alle Jünger und flohen“ (Matth. 26, 56). Das war vollbracht, daß zwölf Jünger ihren Heiland verließen! Seht, Geliebte, ein schweres Werk!

 Und nun, als ein Diener des Gebenedeiten, sage ich – ein seliges Werk! Das Wort – das sei das Letzte, weil es das Größte ist – das Wort: „Es ist vollbracht!“ redet| von einem seligen Werke. Mein Glaube, spricht der Herr, der erwürget ward und ist wieder lebendig geworden und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit, mein Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. In der Stunde, da er spricht: „Es ist vollbracht!“ geht es mir – es wird euch ebenso sein wie mir – immer durch die Seele wie eine große begnadete und gesegnete Stille. Es ist zunächst die innere Befriedigung, daß der Held seinen Weg vollendet, daß der Meister in seiner Weise das Werk ausgeführt und daß er den Mut gewonnen hat, zu sagen: Ich habe das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, daß ich es tun soll. So sehr sich unsere Sünde noch dagegen stemmt, weil eben der Augenschein ganz gegen die Vollendung spricht, so sehr wir wünschen, daß, wenn es bei uns zum Scheiden geht, wir mehr fertig gebracht haben möchten als unser Herr und Heiland, so ist es doch wie eine große Freude: Wenn du meinst, du habest dein Werk vollendet, Gott segne dich! Glück zu! Ich sehe es nicht so an. Ich sehe dein Werk unvollendeter als je und deine Arbeit, als wäre sie nie geschehen. Und ich sehe nur Abfall und Weggang und sehe nur, wie in neuer Folge der alte Widerspruch gegen dich sich erhebt. Aber dir gönne ich diese heilige Illusion. Es ist ja keine Illusion, es ist die Gewißheit des siegreichen Jesusglaubens. Dir gönne ich’s, daß du sagen kannst: „Es ist vollbracht!“ Immer, wenn es Karfreitag wird, so um den Abend, da ist es, als ob durch unsere Seele eine große Erleichterung zöge: „So ruhest du, o meine Ruh, in deiner Grabeshöhle.“
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 „Es ist vollbracht!“ Seht, das ist ein seliges Wort und redet von einem seligen Werk. Wie einst der Vater alle Dinge angesehen hatte und sprach, sie seien sehr gut, so hat der Sohn, der neue Schöpfer, der ein Neues| ins Leben treten hieß, der die ganze Welt verneut hat, sagen dürfen: Es ist vollendet, es ist sehr gut!

 Und nun, ihr Bürger von Jerusalem, – ich frage euch – seid Zeugen zu mir und meinem Weinberg, was ich ihm getan habe! Ich habe Mauern um ihn gezogen und habe Türme in ihm gebaut und habe eine Kelter in ihm gegraben und habe Reben in ihn gesenkt, edle Reben. Ihr Bürger seines Reiches, ihr getauften Leute: Was hat er unterlassen zu euerem Trost und Freude? Ihr könnt nicht anders antworten, als es der Apostel tat: „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde“ (1. Joh. 1, 7).

 So ist es doch ein selig Wort und redet von einem seligen Werk; denn die ihn anschauen und anlaufen, deren Angesicht wird nicht zuschanden. Und ein ruheloser Geist, der so wenig erleuchtet wurde, als ob er in ewiges Dunkel, in die Tiefen hinabgestiegen sei, in die wir kaum uns wagen, schreibt, nachdem er die Welt durchwandert und die Weltgedanken durchmessen und die Weltfragen alle durchprüft hat: „Er ist unser Friede!“ (Eph. 2, 14). Das ist doch ein seliges Werk! Und wenn nur ein einziger Mensch auf der ganzen weiten Welt aus tiefstem Herzensgrund sagen kann: Er hat mein Leben vom Verderben erlöst und ist mir mein Friede geworden, ich war verirrt und lief verblendet, ich suchte dich und fand dich nicht – wenn nur ein einziger Mensch das sagen könnte, dann wäre ein Werk und eine Menschenseele zur Seligkeit vollbracht. Ja, Geliebte, das wollen wir alle lernen, daß wir uns in dieses selige Werk hineinflüchten – selig, weil es nicht bloß die Heimat uns erschließt, sondern weil es die Heimat jedem gibt, der nach ihr verlangt. Das wollen wir uns sagen bis in die letzte Stunde: Das Blut Jesu, des Sohnes Gottes, das da ohne allen Wandel, ohne allen| Makel vergossen ward, das macht uns rein von Gedankensünden und Wortfehlern und Werkschäden. Er ist es, der es vollbracht hat, und wenn nun das Leben mit seinen Widersprüchen, mit seinem Aufstehen und Niedersinken, mit seinen tausend Gelübden, denen keine einzige Tat antwortet, mühsam, betrüblich, beschwerlich sich ausgekeucht, ausgeseufzt hat, – er gönne es uns, daß wir dann sagen, willenlos und doch voll Gewißheit, indem wir ihm unsere Hände unterbreiten: Du hast es doch und trotz allem vollbracht!

 Die selige Tat, in der der Glaube seinen Ursprung und die Hoffnung ihr Recht gefunden und bewahrt hat, ist die Tat der ewigen Liebe. Als unser Herr starb, sah die Erde so wüst und nächtig, so frühlingsfern und so in Winterharm her. Aber in diese winterkalte und todesstarre Erde war das Weizenkorn eingesenkt, damit es sterbe und auferstehe. Jesus, der Anfang einer neuen Menschheit! Und wenn es auch keine reichen Garben und keine wogenden Felder und keine herrliche Ernte sein sollte, es wird doch eine Ernte werden, in der beide sich freuen, Säemann und Schnitter.

 Gott helfe uns, daß uns, so oft wir dieses Wort betrachten, das göttlich große, das schwere und selige Werk der Erlösung vor Augen trete und wir aus tiefster Seele ihm danken können dafür, daß er uns erlöset und, wenn es mögnicht hat verzweifeln wollen. Der da sprach: Es ist vollbracht! hat ja auch an mich gedacht!

Amen.


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