Die sieben Worte Jesu am Kreuz/Das siebte Wort Jesu am Kreuz

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Das siebte Wort Jesu am Kreuz.
(1. April 1915.)
Luk. 23, 46. 
Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!


Gemeinde Jesu!
 So haben wir wieder die Gnade erleben dürfen, durch sieben Wochen unserem Herrn in seinem Todesleiden anbetend zu folgen und aus seinem Munde die Worte zu vernehmen, die er der Kirche als Vermächtnis und jeder einzelnen Seele in ihr zum Trost und Leben geschenkt hat. Wir haben vernehmen dürfen, wie er für seine Feinde gebetet und den reuigen Schächer in sein Gnadenreich aufgenommen hat. Es ist uns ins Herz gedrungen, wie er über der Sorge um das Heil der Welt und um die Vollendung des väterlichen Willens nicht die Sorge um die Seinen, um die kleinen Anliegen der Maria und des Johannes vergaß. Und wir haben uns in dieser Fürsorge den Trost geholt, daß er auch für die unbedeutendsten und entlegensten Fragen, weil und insoferne sie mit der Ewigkeit zusammenhängen, ein offenes Ohr und ein williges Wort hat. Es ist uns wieder auf die Seele gefallen, was wir ihm verursacht und erweckt haben, als er unter den Qualen des äußeren Durstes und unter dem Schrecken der inneren Verlassenheit litt, nicht mehr ein Mensch, sondern aus der Reihe der Lebendigen ausgetan, verworfen, verbannt, verlassen. Und in dieser Not unserer Sünde, die| ihm das Leiden erregt hat, in dieser Angst, ob er es uns noch vergeben könne, daß wir ihm solches erweckt und verschuldet haben, klang es wie ein Ton siegreicher Überwindung, so rätselhaft und geheimnisvoll uns auch das Wort war: „Es ist vollbracht!“ Je weniger das uns zu Herzen gehen will, desto mehr freuen wir uns, daß es ihm von Herzen kam, und je weniger wir von vollbrachten Dingen sehen, desto mehr trösten wir uns: er hat es vollbracht, er hat sein Werk vollendet.

 Auf diese sechs Worte, in die er sein Leben für uns und in denen er unser Leben wieder in seines geschlossen hat, mit denen er seine Sorge für uns und unsere Untreue gegen ihn umspannte und begriff, folgt majestätisch abschließend und doch so kindlich schlicht, wie wenn ein müdes Kind im Schoße der Mutter ausruhen will, das letzte Wort: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“

 Wir sagen, das ist

 Das ist ein freudiges Wort! Wer schon einen Menschen hat sterben sehen, hat das Weh empfunden, das der Herr dort am Grabe des Lazarus empfand. Wie hilflos ist auf einmal der Mensch geworden! Er streckt seine Hände aus und niemand weicht mehr von ihm. Er öffnet weit seine Augen und niemand fragt mehr nach ihm. Er späht durch den immer weiter sich ausdehnenden, in die Ferne hinausreichenden Raum und niemand antwortet ihm. Der, den er vertreiben will, der kommt immer näher; der, dem er entrinnen möchte, verstellt ihm den Weg; der, an dem er vorbeikommen möchte, tritt ihn hart an. Das ist die Welt des allbezwingenden Todes. Darum liegt| über dem Sterben auch seiner Heiligen etwas so Demütigendes, das man sich, wenn man zum Hochmut neigt oder in Übermut geht, wohl vor Augen halten möge. „Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben“ (Ps. 39, 6).

Menschliches Wesen, was ist’s gewesen?
In einer Stunde geht es zugrunde,
Sobald das Lüftlein des Todes dreinbläst.

 So arm trifft der Tod seine Beute. Er sieht sie noch eine Weile an, fast wie höhnend – nun bist du mein, nun magst du mir nicht mehr entrinnen – dann setzt er dem Sterbenden härter zu, es wird immer einsamer um ihn, die Augen brechen, das Gesicht vergeht, die Ohren wollen nicht mehr hören und die Lippen haben sich längst geschlossen. Das ist der Mensch und das ist das Ergebnis seines Traumes, ein Leben geheißen. Er hat es mit Hoffnungen begonnen, im Sturm der Leidenschaft fortgesetzt, er hat es in die Enttäuschungen einführen müssen und nun er mit der Enttäuschung würde zu Ende kommen, tritt das Sterben näher – es ist vorüber.

 Aber am Kreuz hängt der, der dem Tode die Macht genommen hat, an den er sich nimmer wagen kann, weil er nicht sterben muß, sondern sterben will. Es liegt auf diesen letzten Minuten unseres Heilandes der vorahnende und vorscheinende Glanz des triumphierenden Siegers. Und das erste Wort, das dem sterbenden Herrn, nachdem er die Schrecken der Gottverlassenheit und die Gewißheit des endlichen Sieges erfahren hat, das letzte Wort, das dem sterbenden Herrn über die Lippen kommt, ist: „Vater!“

 Das ist ein gar freudiges Wort. Aufatmend eilt der Sohn, nachdem er sich müde gegangen und viel gearbeitet| und das Schwerste gelitten, nachdem er auch die Wirklichkeit der Gottesferne durchmessen und erfahren hat, in die aufgetanen Arme dessen, der in der gottverlassenen Stunde mehr noch litt als der geliebte Sohn. „Vater!“ – es ist, als ob der Herr in das eine Wort alles das einstweilen legen wollte, was er dem Vater sagen, erzählen und berichten will, wenn er heimgekehrt sein wird. Es ist das Aufjauchzen der gebenedeiten Seele unseres Herrn: nun ist alles gut, nun ist dem Tode seine Macht entzogen und der Hölle ihr Recht genommen und der Himmel ist aufgetan und das Antlitz des Vaters ist entwölkt und die Sünde hat ihre scheidende Gewalt verloren und der Tod hat seine trennende Macht eingebüßt und die Hölle kann nicht mehr den nehmen, der sich unter Jesu Kreuz flüchtet.
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 „Vater!“ – ein freudiges Wort, so freudenreich jetzt, so schwer es war, als er die Heimat verließ. Als er auf die Erde kam, da hat er auch mit einem langen, schweren Blick Abschied von Gottes Herrlichkeit und des Vaters Nähe genommen, da ist sein Weg gar bedächtig erdenwärts, talwärts, todesentlang, höllenwärts gegangen. Da hat er Schritt für Schritt geseufzt: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten“ (Jes. 43, 24). Da sehen wir den Spuren nach, die er in diese Erde eingegraben hat, langsam, spürsam, ernsthaft – jeder Schritt Leiden und alles Leiden immer wieder neu sich steigernd und neu sich erhebend. Jetzt ist das alles vorüber. Jetzt sieht der Sohn auf den hinterlegten Weg zurück. Es war ein heißer Streit und ein harter Gang und er hat Tränen und blutigen Schweiß auf diesem kurzen Lebensweg vergossen: „Ich suchte Hilfe bei den Menschen und fand keine“ (Sir. 51, 10). Jünger verlassen ihn, Apostel verleugnen ihn, Zeugen vergessen ihn. „Ich war allein in meinem Elende.“ Nun aber ist| alles vorüber, nicht wie ein banger Traum, den geträumt zu haben man sich fürchtet, sondern wie ein harter, steiler Aufstieg, den hinterlegt zu haben der Wandersmann sich freut.
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 „Vater!“ Daß er das wieder sagen kann, was er durch Stunden nicht mehr hat sagen dürfen, die sich ihm darum zu Ewigkeiten der Gottesferne und Trostlosigkeit hindehnten, daß er das wieder sagen kann, was ihm die Sünde verwehrt und die Hölle genommen und auch meine Sünde ihm entzogen hat, das einzige verläßliche, tröstliche und trauliche Wort – das ist seine Freude, das ist sein Sieg. Es ist – wenn ein armer Mensch sich hineinwagen darf in dieses Geheimnis – als ob sein Mund jetzt noch nicht die Worte alle fände, mit denen er, was er erlitten und erfahren, was er hingegeben und was er gewonnen hat, sagen wollte. Er kann nur seine Freude über des Todes Sieg und die Entmächtigung der Hölle in das eine Wort hineinlegen, hineinjauchzen: „Vater!“ Und wenn auch die ganze Welt ihm jetzt entsinkt und wenn seine letzte Stunde auch jetzt herannaht, wenn auch das Kreuz so hart ihn beugt, das liegt alles hinter ihm, weil er wieder sagen kann, wonach seine Seele verlangt: „Vater!“ Ein freudiges Wort! Das ist gewiß wahr, daß dieses Wort, je mehr er es sich zu Herzen und ins Gewissen nimmt, ihn desto mehr über alles hinüberhebt, was noch seiner wartet. Noch ist das Grab, noch ist die Stunde der Trennung vorhanden, noch muß er erfahren, was es heißt: Leib und Seele scheiden sich. Aber in dieser Stunde weiß er’s: Mag Leib und Seele sich scheiden, wenn nur nicht Gott von ihnen weicht. Mag Leib und Seele einander den Abschied geben, wenn nur der Vater den Leib des Todes und die leidende und scheidende| Seele zu seiner Treue sich befohlen sein läßt: „Vater, in deine Hände!“.

 So freudig und so getrost, so stark und so gewiß kann der Herr Jesus jetzt sprechen. Das sind ja die Hände, die ihn von Anbeginn geleitet und gesegnet haben, die sich ihm aufgelegt haben von uran, in die er seine Hand hat legen dürfen, die Hand des Gehorsams: „Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich will dir’s tragen“ – die Hände der gebenden und spendenden Gnade: Aus deiner Fülle will ich Gnade um Gnade nehmen, aus meiner Fülle sollen sie Gnade um Gnade empfangen. Das sind ja die treuen Hände, die den Sohn geleitet haben all Zeit und Stunde. „In deine Hände!“ – nicht in die starren und starken Hände eines dumpfen und stumpfen Geschickes, nicht in die unfaßbaren, so abwehrenden und abweisenden Hände, die bloß geschäftig sind zu nehmen, aber nicht bereit zu geben, die nur das Leben fördern, um es zu zerpflücken, sondern „in deine Hände“, in die Hände, die mütterlich besorgt das Leben umschirmen, die väterlich stark das Leben bewahren, bewähren, fortführen und zum Siege gelangen lassen.

 „Vater, in deine Hände!“ Sind das nicht die Hände, die ihn geschlagen haben? Ja! Aber im Schlage hat es der Sohn empfunden: durch meines Vaters Hände geht unablässig wie ein Strom vom Herzen die suchende, die verheißende, die vergeltende Treue. Es sind nicht todesstarre Hände, die das Leben vernichten, nicht lebensferne Hände, die jeden Lebenswunsch, wie der Frost den jungen, frühlingsfrohen Keim, ersticken, sondern deine Hände, aus denen wir alle Gnade um Gnade nehmen. „In deine Hände!“.

 Dieses so dankbare und so getroste, dieses so gewaltige Wort des Herrn wollen wir, wenn es mit uns zum Scheiden geht, recht ins Herz fassen. „In deine Hände“ – meine| umtriebene, herumschweifende und irrende Seele, die da angeklopft hat, wo man ihr freundlich geantwortet hat, und hat sie betrogen und enttäuscht, und die da nicht angeklopft hat, wo man sie recht beraten hätte, meine umtriebene Seele, die durch alle Zeiten hindurchspäht und durch alle Werte hindurchsucht und durch alle Fragen hindurch sich quält und in letzten Nöten einsam sich ängstet!

 „In deine Hände“ – es ist, als ob nun alle Lebensrätsel gelöst wären, nein, es ist nicht nur, als ob – sie sind gelöst. Alle Lebensrätsel, wie sie von der Hand der ewigen Weisheit geschürzt sind, werden auch von der Hand der ewigen Liebe gelöst. Und alle Lebensfragen, wie sie von der geheimnisvoll suchenden und ordnenden Gotteshand aufgeweckt und aufgezeigt werden, werden von der segnenden und sorgenden und vollendenden Gotteshand in Frieden gelöst.

 „In deine Hände“. Es ist ein so schmiegsames, so trostvolles, so gewaltiges Wort, klein zugleich und doch alle Größe in sich schließend, schüchtern zumal und allmächtig herausfordernd, suchend, tastend und doch im Besitz frohlockend, fragend und forschend und doch in der Gewißheit so groß.

 „In deine Hände“. Es ist nicht, daß der Herr Christus, nachdem er so getrost gesprochen hat und so freudig, des Dankes vergäße, sondern indem er sagt: „in deine Hände“, hat er den höchsten Dank ausgebracht. Das ist die Hand, die ihn schlug, weil sie ihn liebte, die ihm nahm, weil sie ihm alles gönnte, die ihn klein machte, weil sie ihn bereichern wollte, die ihn verwarf, um ihn zu suchen. Das sind die Hände, die ihm meine und deine Schande aufgelegt haben, ob er gleich zagte und zögerte, die ihm auf seinem heiligen Wege den| Harm für deine und meine Sünde aufbürdeten, Welträtsel und Weltfragen, Geheimnis des Todes und Tiefen der Hölle, immer mehr Lasten, bis er, der Sohn, – nicht unter der Last zusammenbrach, sondern unter der Last gestärkt und gewachsen rufen konnte: „Es ist vollbracht!“

 Das sind die Hände, welche eine suchende Menschenseele mit ihrem Erzhirten in der Nacht des Verrates, in der Stunde des Todes verbanden. Das sind die Hände, welche eine auf die Ewigkeit angelegte Innerlichkeit mit dem für die Zeitlichkeit sich opfernden Arzt und Heiland verbinden. „In deine Hände“ – die den Arzt sandten und mit dem Arzt die Arznei. „In deine Hände“ – die alles Elend sammeln, um dem großen, seligen Arzt alles Elend zu erwecken. „In deine Hände“, das ist ein freudiges, ein dankbares Wort.

 „Vater, in deine Hände!“. Seht, Geliebte, nichts mehr von Todesgrauen, sondern aufjauchzende Freiheit, nichts mehr von Gottverlassenheit, sondern vor seinen heiligen Augen steht die Gewißheit: „Wer will mich scheiden von der Liebe meines Vaters?“ (Röm. 8, 35.) Das ist der Dank dessen, durch den der Sieg gewonnen war, und der Dank dessen, für den der Sieg gewonnen ward, und der schüchterne Dank dessen, zu dessen Gunsten der Sieg gewonnen ist. Das ist des Vaters Dank für des Sohnes Treue und des Sohnes Lobpreis für des Vaters Wahrhaftigkeit und meiner Seele einsamer Dank dafür, daß Gott und sein heiliger Sohn sich um sie mühten.

 „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ – es ist ein freundliches, ein dankbares und endlich ein trostreiches Wort.

 Zuerst das, was den Herrn zu einem Christ und Heiland gemacht. „Meinen Geist!“ So ist ja der Geist des| Herrn über ihm, der ihn gesalbt hat, daß er den Gefangenen eine Erlösung, den Gebundenen eine Freiheit, den Müden die Erquickung und den Heimatlosen die Heimat predige und brächte. Das ist ja das eigentliche Geheimnis zwischen Vater und Sohn, daß aus dem herrschenden Geist des Sohnes der leidende, aus dem regierenden der dienende, aus dem besitzenden der verzichtende und aus dem aller Seligkeit mächtigen der um seine eigene Seligkeit ringende Geist wurde.

 „Meinen Geist“. Welche Geschichte hat dieser heilige Jesusgeist hinter sich! Er hat gelernt, da er litt, er hat gelitten um der Sünde willen, er hat gelernt von Sündern. Menschen haben ihren Heiland belehrt und Sünder haben den Heiligen ans Leben gewöhnt. „Er hat an dem, das er litt, Gehorsam gelernt“ (Ebr. 5, 8). Es war ein kindlicher Geist, der zum Mannesgeist heranreifen mußte. Es war ein fragender, forschender, lernender, suchender Geist, der zum Besitz von Gottes Treue herangezogen wurde. Es ist mit einem Wort: der verlernende, um zu lernen und der lernende, um zu verlernen.

 „In deine Hände befehle ich meinen Geist“ – alles, was mich innerlich bewegt, alles, was mich äußerlich verarmt, alles, was mich innerlich erfreut, alles, was mich äußerlich schmerzt und traurig macht, alles, was mich reif macht für die Heimkehr, alles, was mich fremd macht für die Erde, alles, was mich froh in Hoffnung macht und stark in der Geduld, und alles das, womit ich dich, den heiligen Vater, womit ich Welt und Heimat, Fremde und Himmel, Sünde und Friede, Not und Todesüberwindung umfasse, alles befehle ich in deine Hände. Ein sehr starkes und ein sehr hoffnungsreiches Wort!

 In deine Hände befehle ich, spricht der Herr, alles, was ich denke. Und was ist das Großes! Die ganze| unübersehbare Summe von Gottesgedanken, deren Mittelpunkt und Ziel auch deine und meine Seele ist, die ganze Summe suchender, sehnender, ausschauender Gottesgedanken befiehlt der Herr am Kreuz in des Vaters Hände.

 Alles Denken, das den Herrn Jesus erfüllt und erfaßt, gravitiert auf zwei Pole: zu dem Vater, an den er denkt, und zu uns, für die er sorgt. In deine Hände befehle ich meine Gedankenwelt, jeden einzelnen Menschen, der mir Sorge gemacht, jeden einzelnen Lebensweg, der mir Mühe erweckt hat. In deine Hände befehle ich alles, was meinen Geist bewegt: alle die Tausende von Seelen, die meiner Sorge anvertraut sind, alle die vielen Lebensformen, die sich anders geartet haben, als du es wolltest und ich es dachte, all die Lebensbilder, die du mit der ewigen Liebe gezeichnet und ich mit der suchenden Treue wieder erkennen wollte, und die sich selbst verzeichnet und verzerrt haben.

 Alles, was meinen Geist beschäftigt, was mein Denken erfüllt, das befehle ich in deine Hände, damit kein Gedanke abirre. Wenn der eine Gedanke deine Seele wäre und er würde von Gott abgeirrt sein, von Christus vergessen in seiner Todesstunde, wo bliebe dann deine Seele? Wenn nur ein einziger Gedanke, ein einziger, kurzer, eiliger, schnell abschweifender Gedanke, der deine oder meine Seele wäre, an Gott vorübergegangen wäre, dann wäre deine oder meine Seele für immer vergessen und für immer verloren. Meine Gedankenwelt im großen und ganzen und jeden Gedanken im kleinen und all die Sorgen und Sünden, die mich bewegen, die seien dir alle anvertraut. Denn ich habe sie für dich getragen und diese Sorgen habe ich dir zu Ehren überwunden und diese Seelen dir heimbringen wollen. In deine Hände befehle ich meine Gedankenwelt.

|  In deine Hände befehle ich auch meine Worte, alle die Worte, die der Heiland auf Erden geredet, mit denen er die Müden zur rechten Zeit getröstet, durch die er die Heimatfernen an die Heimat erinnert, aus denen er manch arme Seele reichlich erquickt hat; alle die Worte befiehlt er, damit sie nicht auf der Erde verloren wären, dem Vater. Denn so viel suchende Jesusworte in einer einzigen Predigt, so viel werbende Jesusmahnung in einem einzigen Liede, solche Menge seelsorgerlicher Rede in einem einzigen Gebete gehen an uns vorüber – wir haben sie kaum mit den Ohren, geschweige mit der Seele aufgenommen, kaum mit den Worten, geschweige mit dem Sinn erfaßt – sollten sie vergessen in Meerestiefen ruhen oder im Sande spurlos verlaufen? All meine suchenden, werbenden, wagenden, ladenden Worte befehle ich in deine Hände, die ganze Seelsorge meines Lebens.

 Das ist ein großer Trost für den Herrn und eine große Sorge fürs uns. Für ihn ist’s ein großer Trost, daß seine werbenden Worte nicht leer zurückkommen. Für uns aber ist’s eine Sorge, weil die Worte die nicht erreichten, für die sie zunächst bestimmt sind, und andere erreichen, an die sie zunächst nicht gerichtet waren; für uns ist’s die Sorge, nicht daß die Worte leer zurückkommen, sondern daß sie bei uns keine Stätte mehr haben. In deine Hände befehle ich all meine Worte. Laß sie nicht vergeblich sein, sondern laß sie ausrichten, wozu ich sie gesprochen habe, laß sie vollbringen, wozu du sie mir schenktest.

 Welch ein großes, seliges Werk, daß alles, was dem Geiste des Herrn Großes je und dann erwuchs, all die Reden, die seinem heiligen und mit Gott einigem Geiste entstammten, nicht einfach in den Sand geschrieben sind, nicht von Jahrhunderten vergessen werden, sondern daß sie| in die allergewissenhaftesten und treuesten Hände gelegt sind. Sie werden nie vergeblich sein. Alles, was aus meinem Munde geht, wenn es auch nicht zu der Seele zurückkehrt, für die ich es zunächst sprach, es soll doch ausrichten, was mir gefällt, und soll tun, wozu ich es sende.

 Vater, in deine Hände befehle ich meine Worte. Es ist, als ob in dieser Abschiedsstunde alle Gebete des Herrn, auch die wir nie gehört oder erfahren haben, weil die Jünger, so oft sie dieselben uns geben wollten, erschraken über die Größe der Gedanken, alle die Reden, die kein menschlicher Griffel aufzeichnete, da sie sich selbst für zu gering und unrein dazu hielten, alle Gebete, die kein Menschenherz erlauschte, weil es zu unrein und dumpf war, all das, was der Herr auf Erden gedacht, gesonnen und geredet, das Unscheinbarste, für das jedes Menschenwort hinreicht, und das über Menschenvernunft Gehende, für das noch kein Wort geprägt ist, all das befiehlt er in seiner Abschiedsstunde dem Vater.

 Und nun frage ich dich, sollte er, wo er all seine Gedanken und all seine Worte dem Vater befiehlt, damit, wenn er jetzt eine kleine Weile ins Schweigen hinabstieg, nichts vor ihm verschwiegen sei, sollte er nicht auch all seine Werke, die von der Welt her sind, dem Vater befehlen, wenn er ihm seinen Geist vertraut? Alles, was seinen heiligen Geist beschäftigt, meiner Seelen Angst und Not und Frieden, meines Hauses Licht und Trost und Segen, meiner Kirche Angst und Not und Sünde, der ganzen Menschheit bitteres Leid und selige Hoffnung, alles das, was sein Wort erreicht und errungen, gewollt und gewirkt, beabsichtigt und wirklich vollbracht hat, sein ganzes Werk befiehlt er jetzt in die Hände des Vaters.

 Das ist doch ein großes, trostreiches und seliges Bewußtsein, daß, wenn ich einsam gehe, mir selbst zur Last und| von anderen vergessen, einer mich seinem Vater aufs Gewissen gelegt, einer mich dem ewigen Gott, der alles weiß, zum rechten Ernst und großer Treue befohlen hat. Meine Wege werden, je höher die Jahre steigen, desto verwirrter, rätselvoller, die Sünde macht ihren Widerspruch gegen den Glauben, der Glaube wagt die Gegenvorstellung gegen die Sünde, die Sünde spricht mich an als Wahrheit und der Glaube wagt sich nimmer heran als Wirklichkeit, die Sünde geht über die Welt und die Erfahrung zwingt unter die Welt. So wird der Mensch immer ärmer und einsamer. Es wird in uns alles starrer, weniger lebensvoll, es gewinnt alles mehr formelhaften Ausdruck. Aus den größten Tatsachen werden Begriffe, aus der hohen Liebesgnade werden Worte, aus der wundersamsten Liebestat am Kreuz wird, wenn es hoch kommt und gut geht, eine flüchtige Erregung, werden etliche Tränen, die so bald trocknen, so bald sie im Auge schimmern.

 Und nun bittet der Herr: in deine Hände befehle ich mein Werk, alles, was ich gearbeitet habe, jede umworbene, gewonnene, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit meinem heiligen Blut errettete Seele. In deine Hände befehle ich den Irrweg, ob er nicht doch noch zum Ziel führt, den Umweg, ob er nicht doch noch zur Heimat gelangt, und die einsamen Wege, ob sie nicht doch noch zu Lob und Preis ausmünden. Was meinen Geist unablässig und unaufhörlich beschäftigt, befehle ich in deine Hände.

 Gemeinde Jesu! Was ist das für ein niederdrückender Gedanke, daß sich der Herr viel tausendmal mehr mit mir beschäftigt, als ich mich mit ihm befasse! Was für ein tiefbeschämendes Wissen ist das, daß er, dem ich Arbeit gemacht habe mit meinen Sünden und Mühe mit meiner Missetat, so oft und so viel und so ohnmächtig an mich| denkt, weil ich vollmächtig bin, ihn zu verleugnen, ihn zu verlassen, ihn zu verlieren!

 Vater, was mein Denken beschäftigt, was meine Worte gewirkt und was mein Werk gewollt hat, befehle ich in deine Hände!

 Und nun ist das große Werk getan. Was Ewigkeiten hofften und nicht glauben konnten, was Engel ahnten und nicht fassen durften, was Menschen bis auf diesen Tag unter heißen Tränen ersahen und erflehen und können es doch nicht glauben, das ist in dieser Stunde geschehen. Es ist erfüllt, es vollbracht! Nachdem er in sechs lockenden, werbenden, ladenden Stunden und Worten sich um unsere Seele mühte und um unser Leben sich gesorgt hat, soll sein letztes Wort ihn ganz dem Vater befehlen. Es ist, als ob das, was sich zwischen ihn und den Vater gestellt hat, ausgetan und zurückgetreten wäre, als ob die ganze Welt seinen heiligen Blicken entsänke und nur er und der Vater, in der heiligen Freundschaft des Geistes verbunden und übrig wären. Es ist, als ob die ganze Welt in der Glorie der Verklärung und in der Herrlichkeit der Vollendung dastünde, wenn der Sohn heimkehrt und spricht: „Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast“ (Luk. 14, 22). Und der Vater, tief aufatmend an der Freude des Wiedersehens und im Stolz über den Sieg, spricht zu ihm: Kehre ein zu deines Vaters Freuden! – Höher geht unsere Gedankenwelt nicht – und wenn sie über diese Höhe steigen wollte, würde sie nicht glauben, sondern träumen. Aber aus tiefstem Herzensgrund, so sehr nur ein Mensch danken kann und so innig eine Seele danken darf, preisen wir ihn für die Siebenzahl seiner Worte am Kreuze.

 In alle Schalheit unserer Rede, in alle Leere und Sünde unserer Gedanken, in die Unnütze unserer Arbeit| haben diese sieben Worte einen wundersamen Frieden und ein sieghaftes Glück hineingebracht. Und wenn nur in einer einzigen Seele der Wunsch erwacht wäre: Ach, daß ich von den sieben Worten behütet und begleitet mein letztes Stündlein durchleben möchte! – so hätte diese heilige Siebenzahl wieder ein Großes erreicht und ein reiches Werk getan.
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 Gemeinde des Herrn! Wie so oft, so frage ich jetzt wieder am Ausgang dieser Predigten, was hat, um Jesu Kreuzesbild und Jesu Kreuzesworte zu überliefern, die Kunst getan und was hat die Wahrheit gegönnt? Wo hat menschliche Erfindung hier gearbeitet und wo hat der Gedanke Gottes, der über alles Menschliche hinausragt, hier gelitten? Wir, die wir unter dem Schutz und Schatten der sieben Worte so oft haben ausruhen dürfen und wie Feierabendgeläute diese sieben Worte in die Unrast unserer Zeit hinausläuten hören, wir wissen es und der Geist gibt uns dafür Zeugnis: Das ist nicht Kunst der Erfindung, die da Größeres gibt, als sie hat, sondern das ist die Armut der bewahrenden Treue heiliger Gottesmänner, denen die Worte gebrechen, um den Reichtum recht auszusprechen, deren Scheunen zu klein, um den Ernteertrag einzuheimsen und deren Gedanken zu schwach sind, um das Unausdenkliche nachzudenken. Um so tiefer und inniger wollen wir in dieser stillen Woche, da es wieder durch die Kirche geht: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, es sei stille vor ihm alle Welt“ (Hab. 2, 20), das Geheimnis des Kreuzes in unsere Seele hereinnehmen und unter diesem Geheimnis alle Zweifel und Sorgen, alle Fragen und Irrungen und Meinungen begraben. Denn es ist ja doch nichts, was die Seele so unmittelbar tröstet als das Wort: „Für dich und deine Sünde in den Tod gegeben.“ Daß er an mich dachte, ehe ich von ihm wußte, daß er an| mich denkt, obwohl ich nichts mehr von ihm wissen will, daß er zu mir sich neigt, bis ich wieder etwas von ihm weiß, das bleibt das Geheimnis der Sünde und das Geheimnis der übermächtigen Gnade. Gott sei Dank, der in die Passion unseres Lebens, in seine ungelösten Fragen, in seine selbstgebauten Rätsel das große, selige Geheimnis des Kreuzes Jesu Christi eingegründet hat. Denkt euch, es wären diese sieben Worte aus eurem Leben durch einen Machtspruch der Wahrheit ausgetan; stellt euch nur eine Minute vor, es würde jetzt glaublich mit Manneseid und Mannesehre versichert, daß 1900 Jahre lang die Kirche dem Betruge zum Opfer gefallen sei, und dann fragt euch, ob ihr noch draußen gehen könnt, ob nicht die Erde zu eueren Füßen und der Himmel zu eueren Häupten schwanken müßte! So aber bezeugt es euch ein Diener Christi, ein Mann, der sein Bestes unter dem Kreuz erfahren und sein Schlechtestes unter dem Kreuz gelassen hat, er bezeugt es euch mit der Ehre eines Dieners Jesu Christi und im Vollbesitz einer durch viel Irrungen hindurchgegangenen Erfahrung: „Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1. Joh. 5, 20). Wohl dem, der ihm trauet!
Amen.


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