Die sieben Worte Jesu am Kreuz/Das zweite Wort Jesu am Kreuz

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Das zweite Wort Jesu am Kreuz.
(25. Februar 1915.)
Luk. 23, 43. 
Und Jesus sprach zu dem Übeltäter: Wahrlich, ich
sage dir: heute wirst du mit mir im Paradiese sein.


Gemeinde des Herrn!

 In der letzten Betrachtung haben wir unseren Herrn in der Barmherzigkeit seiner Fürbitte und in der Angst seines Mittleramtes gesehen. Er bittet für alle, die nicht wissen, was sie tun. Denn er will das, was sie tun, durch sein Leiden und Sterben bezahlen. Der Zorn, den sie erregen, fällt auf ihn und die Schuld, die sie verwirken, will er bezahlen, das von Gottes Heiligkeit geforderte Opfer will er leisten. Seht, das ist das Lamm Gottes, von Gott für Gott erwählt, das die Schuld der Welt auf sich nimmt, von uns nimmt und völlig tilgt!

 Heute sehen wir unseren Herrn in der Schwachheit seines Leibes, hören ihm eine Beichte armseliger Art zugesprochen und vernehmen aus seinem Munde Losspruch, Gnadenverheißung und Gnadenwerk.

 Wäre der Herr allein gekreuzigt, einsam sein Kreuz über die Welt ragend erfunden worden, so würde die Einsamkeit und Einzigartigkeit dieses Leidens ihm eine äußere Ehre und ein Ruhm gewesen sein. Man würde auf das einsame Kreuz hindeuten als auf eine ganz einzigartige Todesweise und würde um dieser Einzigartigkeit willen| den Mann, der sie erlitten hat, in seiner Weise hoch ehren und preisen. So aber hat Gott, der Herr, in der Weisheit, die alle irdische Weisheit und alle irdischen Gedanken nicht nur übertrifft, sondern vernachlässigt und vorübergehen heißt, ihn unter den Übeltätern kreuzigen lassen, wie er selbst verheißen hat dort im Garten, als die Jünger ihm die Schwerter entgegenhielten (Luk. 22, 37). „Er ist unter die Übeltäter gerechnet“ – nichts Einzigartiges war an seinem Sterben, sondern mitten unter die Übeltäter, ein Verbrecher wie sie alle, ein Unrecht und Schande verwirkt Habender wie alle andern auch, ist er am Kreuz erhöht. Wenn nur das eingetreten wäre, was der Heiland dort im Garten zu seinen Feinden gesagt hat: „Ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fahen“ (Matth. 26, 55), so wäre die Enttäuschung seiner Feinde zutage gekommen und die Ehre des Herrn groß geworden. Aber er ist mitten unter die Übeltäter gerechnet, daß alle Schmach der Welt auf ihn sich häufte. So erhebt sich das Kreuz des Unschuldigen zwischen den Kreuzen der Schuldbeladenen, so ragt als eine stumme Frage gegen den Gott der Heiligkeit das heilige Kreuz empor, an dem der Sohn Gottes als ein Übeltäter leidet. So tritt aus diesem heiligen Schweigen des Herrn zu Gott empor der Protest all der Heiligkeit gegen die Sündenschuld, aber auch das Bekenntnis der Willigkeit, Gottes Zorn und Strafe zu erleiden. „Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich will dir’s tragen“[WS 1].
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 In dieser Stunde, da der Heiland als ein Übeltäter unter Übeltätern litt, hat am Kreuz eine wundersame Zwiesprache stattgefunden. Der eine der Übeltäter, der unter dem Kreuz Jesu verspotten gelernt hat, will am Kreuz es fortsetzen und spricht: „Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns“ (Luk. 23, 39). Nächtiger Zweifel, der| zum Kreuz empor schwillt, bitterer Hohn, der um das Kreuz giftig sich rankt! „Bist du Christus“, so hallt es durch die Welt der Zweifel, so gellt es durch die Nacht des Spottes; so schallt es aus den Tiefen des Abgrundes hervor, „bist du Christus“, warum hängst du am Kreuz? Das ist das eine, was den Herrn in dieser Stunde trifft: der höhnende Zweifel der Menschheit, der bis auf diesen Tag noch nicht verstummt ist und in jeder Passionszeit neu anhebt. Zwar nicht mit neuen Waffen, aber mit neu gereinigten und mit neu geschmückten Waffen fechten sie die Heiligkeit dessen an, der heute am Kreuze hängt. „Bist du Christus“, so geht es durch die Welt bis auf diesen Tag. Und er schweigt. „Hilf dir“, so ruft der giftige Hohn zum Kreuze hinauf. Warum kannst du nicht Frieden auf Erden stiften? Warum schweigst du? Hilf dir, hilf uns! Und wenn du uns nicht helfen willst, so hilf wenigstens dir, daß deine Ehre nicht gelästert, deine Kirche nicht verstört werde! Bist du denn ein Gast, der nur über Nacht bleibt, oder ein Riese, der nicht helfen kann? Seht, was dieser eine Schächer am Kreuz spricht, ist typisch geworden für all die Leugnungen und für all den Widerspruch gegen das Geheimnis seiner großen Passion. Jesus schweigt, schweigt bis auf den Tag, da er sich zu reden vorgenommen hat, schweigt bis auf die Stunde, da er allen Widerspruch mit seiner königlichen Majestät niederwirft und zu nichte macht. Jesus schweigt, wie es dort im Psalm heißt: „Das tust du und ich schweige; da meinest du, ich werde sein gleich wie du. Aber ich will dich strafen und will dir’s unter Augen stellen“ (Psalm 50, 21).

 Zu dem schweigsamen Herrn tritt nun, und das sei uns ein Vorbild und ein rechter Passionsgedanke, ein armseliges Schuldbekenntnis und ein armseliges Huldigungsbekenntnis.

|  Ein armseliges Schuldbekenntnis: „Und wir zwar sind billig darin, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind“ (Luk. 23, 41). Man kann diese Sündenerkenntnis nicht tief nennen, die den Grad der Strafe mit dem Grad der Verschuldung in Einklang bringt. Das ist die Durchschnittsbeichte der meisten Menschen: das habe ich getan und dafür muß ich dieses leiden. Ich habe meine Eltern nicht geehrt, das suchen meine Kinder an mir heim. Ich habe das Weib meiner Jugend nicht gebührlich geachtet und nun will sie in meinen älteren Jahren mich nicht mehr tragen. Ich bin nicht treu gewesen in der Verwaltung des Erdengutes und nun muß ich Mangel leiden; für das Vergeudete kommt nun die Entbehrung und für die Verschwendung setzt nun die Not mir zu. Ich habe die Ehre meines Bruders nicht genugsam gewahrt, darum wird jetzt meine Ehre zerbröckelt. Ich habe neidische, eifersüchtige, bittere und hämische Gedanken gehegt, darum wird mir jetzt mein Leben verleidet, durch Kritik verbittert und meine Lebenskraft durch allerlei neidische Gedanken meiner Nachbarn gseschmälert. Es ist dies eine dürftige Beichte und doch, wohl dem Menschen, der diese wenigstens hat, der sagen kann: „Soll’s ja so sein, daß Straf’ und Pein auf Sünden folgen müssen.“[WS 2] Es ist doch wenigstens ein innerer Zusammenhang da, wenn auch die Gedanken etwas mechanisch verbunden sind. Freilich, evangelische Buße spricht noch anders. Die spricht: Wir haben viel weniger erlitten, als wir verdient haben, er hat uns mit Menschenruten gezüchtigt und hat immer siebenzigmal siebenmal vergeben und hat nicht gehandelt nach unseren Sünden.
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 Ein armseliges Schuldbekenntnis! – und doch in den Ohren des Herrn, der in diesen Leidensstunden kein einziges Trosteswort hört, den der Spott umtönt, den die Kritik| umrauscht, in den Ohren des Hochgelobten ist es wie ein Vorton der Heimat und wie ein Gruß aus ewiger Gottesnähe: Hier beichtet einer, wo alle mich verwerfen. Meine Jünger haben mich verlassen, verleugnet, verraten. Mit denen ich das Brot brach, von denen werde ich verstoßen. Denen ich ins Herz sah, von denen werde ich verkannt. Um deren Liebe ich warb, die betrügen mich um ihre Gegenliebe. Aber hier erhebt sich unter all dem Eis und der Erstarrung eine Frühlingsblüte, unter all der bitteren Enttäuschung, die das Kreuz des Herrn umgibt, – „ich dachte, ich arbeitete vergeblich und brächte meine Kraft umsonst und unnütz zu“ (Jes. 49, 4) – grünt langsam ein Kräutlein Selbsterkenntnis, suchende, um Worte verlegene, stammelnde Beichte: „Wir sind billig darin.“
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 Und neben dieser Beichte und ihrer armseligen Beschuldigung eine unscheinbare Huldigungsbezeugung: „Dieser hat nichts Ungeschicktes getan“ (Luk. 23, 41). Wie gering ist diese Erkenntnis Jesu! Ist das alles, was die Welt von ihm sagen kann? Von dem, der umher gegangen ist und hat gelehrt und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwältigt waren, der da gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten, der sein Leben zur Erlösung für viele gab und nicht gekommen ist, daß er ihm dienen lasse, sondern daß er diene, von dem wird das geringe Lob ausgesagt: „Er hat nichts Ungeschicktes getan.“ In dieser Abendstunde, da für den Herrn die Sonne der Gottesnähe zum Scheiden ging, in dieser Stunde war auch die arme Huldigung ihm wie ein wundersamer Gottesgruß, wie ein Balsam in seine heiligen Wunden und wie ein Friedenswunsch in sein bitteres Leid. Also ein Mensch, der mir seine Schuld bekannt, ist auch willig und bereit, mir ein Zeugnis zu geben von meiner Reinheit, ein Mensch – in demselben Atem, in dem er| sich als fehlsam mir gesteht, gesteht er mich als einen Fehllosen! Seht, wenn in dem einen Schächer sich die zweifelnde Kritik darstellt, soll in dem anderen Schächer die Wunderbarkeit der Überwundenheit von Jesu Person sich darstellen.

 Es ist nicht an dem, als ob man aus seinen Worten ein Bekenntnis zusammenfügen könnte, als ob müßige Theologen zusammendichten und zusammensinnen könnten, was sich über Jesus vielleicht aussagen ließe in engster Fügung von alttestamentlicher Andeutung und neutestamentlichem Vielleicht, sondern am Kreuz erstehen die Bekenntnisse, schüchtern, in Umrissen, unklar, bis sie immer deutlicher werden: Rabbi, du bist wahrlich Gottes Sohn! Man fängt mit dem schüchternen, fragenden Bekenntnis an: „Der hat nichts Ungeschicktes getan“, bis sein heiliges Bild immer lichter, sein unschuldiges, allem Vorwurf spottendes Wesen immer herrlicher hervortritt. Die bekennende Kirche wächst an dem, den sie bekennt, und die glaubende Gemeinde sucht die Worte für das, was sie bekennt, bis endlich das Bekenntnis nicht einer suchenden Theologie, sondern einer gnadensuchenden, armen Seele dahin ausmündet: Mein Herr und mein Gott! Laßt euch das recht zum Trost sagen. Bekennt nie mehr von Jesu, als ihr wirklich vertreten könnt, aber bekennt das mit allem Ernst, dann wächst es über euch hinaus, bis schließlich die Worte immer mächtiger werden! Glaubt es, ihr bekommt nicht Ruhe, bis ihr endlich sagen könnt: Mein Herr und mein Gott!

 Nachdem der Übeltäter seine armselige Huldigung ausgesprochen hat, fügt er der beichtenden, bekennenden als bittende hinzu: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Was sollen wir in diesem Gebet| zuerst rühmen? Er bittet nicht: Nimm mich herab vom Kreuz! Er will es gerne mit ihm leiden. Er sagt nicht: Mache meiner Qual ein Ende! All die nächstliegende Not hat er vergessen. „Gedenke an mich!“ Wo du meiner gedenken wirst und wann und wie, das sei dir anheimgegeben, – nur gedenke an mich! Welch geringes Gebet, und schließt doch eine Welt ein; denn es schließt mein Elend mit seiner Erbarmung, meine Ferne mit seiner Heimatskraft und mein verfehltes Leben mit seiner erstattenden Gnade zusammen. „Gedenke an mich!“ Wenn der Herr Christus sterbend an eine Seele denkt, wie wohl ist ihr geraten, die den Mut hat, in die weltüberwindenden Gedanken des Königs sich selbst hineinzuwagen, hineinzubeten!

 Welch ein Mut des armen Beters am Kreuz! Hier steht einer, dem die Welt der Sünde zuströmt, dem die Menge der Schuld zuwächst, der nun ganze Weltgeschichten und Höllentiefen in dieser Stunde durchmißt und erwägt – und ich mute ihm zu, daß er an mich denkt. Seht in der großen Demut des armen Beters den Heldenmut des wagenden Jüngers. Er wächst unter seinem Bekenntnis. Wir hätten vielleicht gesagt: denke an meine Freunde, denke an meine Kinder, erinnere dich derer, die mir wohlgetan haben, mir bleibt nur der Tod, – und hätten mit solcher Verzagtheit uns geschadet, jenen nicht geholfen und Jesum nicht geehrt. Aber dieser arme Schächer weiß, wenn Jesus einer Seele gedenkt, so gedenkt er auch ihrer Umgebung und wenn er einer verschuldeten Seele sich annimmt, wenn er meine enteilende Zeit in sein ewiges Erbarmen einbezieht, so wird er die, welche mit mir die Zeit durchmessen, welche unter mir in der Zeit litten, unter denen ich während der Zeit litt, nicht vergessen, noch verlassen.

|  „Gedenke an mich!“ O Schächerbeichte, Schächerhuldigung und Schächergebet! Welch himmelstürmende große Liebe in eurer Armut und Einfalt, welch Jesu erlebende Gewalten sind in euch verborgen! „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Wenn Königskronen statt der Dornenkronen, die dich jetzt verunstalten, dich zieren, wenn der Purpur des Sieges dich bedeckt, wenn statt des Spottes dich die Huldigung umtönt, wenn statt des vergänglichen Hosianna das Halleluja der heiligen Cherubim dich umbraust, dann denke auch in den fernsten Winkel in deinem Reich und an die entlegenste Seele in deinem großen Gebiete, dann denke an den, der nicht wagt, daß er die Augen auftue! Wenn die Mächtigen dich umgeben, die du überwandest, und die großen Geister dich bekennen, die du gewannst, und die Gewaltigen vor dir in den Staub sinken, die du übermochtest, dann gedenke auch des Armen, der draußen an den Türen der Königsburg einsam wartet! „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ –
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 Einer der Großen in der Welt (Kopernikus, † 1534) hat auf sein Grabmal dort im fernen Osten unseres deutschen Vaterlandes das Wort setzen lassen: „Nicht die Gnade, die Paulus empfangen, begehr’ ich, noch die Huld, mit der du dem Petrus verziehen; die nur, die du dem Schächer gewährt hast, die nur erfleh’ ich.“[WS 3] Und wir, Geliebte, wollen auch keine andre. Wir begehren nicht, in seinen Palästen zu wohnen, da ein Tag in seinen Vorhöfen besser ist als sonst tausend. Wir verlangen nicht als leuchtende Sterne vor ihm zu gelten, da schon die kleinsten Lichtstrahlen von ihm unser Herz in die tiefsten Tiefen erquicken, aber das erbitten wir: Denke an mich, wenn du wieder kommst, laß mir zu deiner Rechten ein Räumlein, gönne mir, zu deiner Seite zu stehen! Aus| der Unvollkommenheit unserer Beichte, aus der Dürftigkeit unserer Jesusanschauung bitten wir: Gedenke an mich! Soweit und soviel du Wichtigeres hast als mich, so viel größere Gedanken dich umgeben, vergiß es nicht: ich bin ja auch ein Gedanke deines Vaters. Vergiß es nicht! Gedenke an den, den dein Vater dachte, denke an mich und schäme dich nicht meiner, ob ich mich gleich deiner so oft geschämt und geweigert habe!

 Und auf diese Beichte, das sei das Letzte, folgt die gnadenreiche, selige Lossprechung, das Gnadenwerk des barmherzigen Herrn: „Wahrlich, ich sage dir.“ Zwar die Arme kann er nicht segnend erheben, die haben sie mit Nägeln durchgraben, und er kann auch nicht zu dem armen, beichtenden Beter sich wenden, sie haben ihn ja ans Kreuz geheftet, aber sein Wort, vor dessen Klang die Stürme schweigen, vor dessen Größe alle Angst zergeht, trifft ihm, das Wort, mit dem der Herr sich selbst verpfändet, seine Ehre uns als Bürgschaft gibt, indem er bei sich selbst schwört: „Wahrlich! sage ich dir.“ Dem armen Bekenntnis eine gewaltige Antwort, der suchenden Beichte der Bescheid des Besitzers, der tastenden Frage die Antwort der ewigen Gewißheit, vor der die Zweifel zerlohen, wie Nebel zergeht! „Wahrlich, ich sage dir“, so spricht der, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, der in den suchenden Gedanken der armen Seelen wohnt, der sie von dem Tod zu erretten gekommen ist. „Wahrlich, sage ich dir“, – und indem er so spricht, vergehen die Sünden, als wären sie nie gewesen, und die Missetaten treten ins Dunkel der Vergessenheit zurück, als wären sie nie geschehen, und ein sündenbedecktes Leben, auf dessen einer Seite die Schuld und auf dessen anderer Seite die Unterlassung steht, wird von der Gnadensonne durchleuchtet.

|  In der Stunde, da dein Leben sich von der Betätigung scheidet, da alles weicht und schweigt, da kein Vorsatz mehr zur Besserung gefaßt werden kann, keine Gelegenheit mehr zur Besserung gegeben ist, in der Stunde spricht der gnädige und barmherzige Herr: „Wahrlich, heute!“ Und nun zieht er den Vorhang, der Zeit und Ewigkeit scheidet, weg und vor dem wachsenden Auge eines Menschen, der eben noch Rückschau gehalten hat auf ein verfehltes Leben, hebt sich die Unermeßlichkeit der Gnade: Ich, ich tilge deine Sünden wie einen Nebel. „Wahrlich, heute!“ In dieser Stunde blaut nun der Himmel mit allen Verheißungen der Treue, wölbt sich die größte Gottesgnade in ihrer Erfüllung über dem armen, verfehlten Leben und wenn das Gestern so trübe hinabstieg und so trostlos endete, so flammt nun das Heute auf: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte.“[WS 4] „Wahrlich, heute!“

 Und weiter fährt der Herr: „Mit mir.“ Er schließt sich jetzt, der Verklärte mit dem Unfertigen, der Vollendete mit dem Unheiligen, der Meister mit dem armseligen Stückwerk, der Herr alles Schönen mit dem entstellten Menschenleben zusammen. Mit dem Herrn geht der ärmste Knecht, mit dem Erhöhten geht die einsame Seele, mit dem Triumphator geht eine geringe Beute. Und indem er sie dem Vater an der Hand vorführt, wächst diese arme Gabe über sich hinaus. „Wahrlich, heute!“ – „Mit mir“: immer enger, immer innerlicher schließt sich der Abstand zwischen Heiligkeit und Sünde, zwischen der Höhe einsamer Herrlichkeit und der Tiefe verlorener und verdammter Menschlichkeit zusammen. Immer näher tritt Gott und die Seele, sie hätten einander sonst in Ewigkeit umsonst gesucht. Es ist nicht wahr, daß Gott die Seele ohne Jesum findet.

|  „Heute!“ „Mit mir.“ Während dort im alten Testament den Feind des David die furchtbaren Worte treffen: „Morgen wirst du und deine Söhne mit mir sein“ (1. Sam. 28, 19), wie dort die Zerrgestalt des alten Propheten aus dem Dunkel der Unterwelt hervortritt und dieser Spuk zu Saul spricht: „Wahrlich, morgen wirst du mit mir sein“ – Schrecken der Hölle, Blendwerk des Feindes, unlösliche Hoffnungslosigkeit! – spricht jetzt der Erbarmer: „Heute wirst du mit mir sein.“

 Und das letzte, das allerletzte: „im Paradiese sein“ – in dem Paradiese, da keine Dornen und Disteln mehr stehen, denn die Dornen hat er sich ums Haupt gewunden und die Disteln haben ihn am Kreuz verwundet; in dem Paradiese, da man nicht mehr nach Menschen suchen wird, wie dort Gott nach Adam suchte, weil der Mensch nicht mehr vor Gottes Flammenauge sich verbergen muß, sondern wo Gott und die Menschheit eins geworden sind, weil die Schuld gezahlt und der Zorn gebüßt ist; in dem Paradiese, in dem die Blätter vom Baum des Lebens genossen werden dürfen und der Baum der Erkenntnis nicht mehr umhegt ist.

 „Mit mir im Paradiese!“ Frage nicht, meine Seele, wo liegt dieses Paradies, sondern sage dir zum Trost: wo du mit Jesus bist, da bist du daheim. Frage auch nicht, wie ist das Paradies, sondern sage dir in schweren Stunden: so wie mein Herr leutselig und freundlich ist, so ist das Paradies. Frage auch nicht, wann werde ich dahin kommen, sondern laß an dem Heute dir genügen. Wenn sie dir die Augen zudrücken und sagen: es ist vorüber, wird er dir das Paradies aufschließen und sagen: Du bist daheim.

 Geliebte Christen, so habt ihr Mahnung und Handreichung zur Schächerbeichte, Schächerhuldigung und Schächerbitte| und sollt des gewiß sein und ja nicht daran zweifeln, solche Bitten seien dem Herrn Christus angenehm und erhöret. Denn das ist der große Artikel der Reformation: Allein aus Gnaden. „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“ (Jes. 43, 25). Das ist die trostreiche, nie genug zu preisende Lehre unserer Kirche: Allein aus Gnade, allein durch Christum, allein durch Kreuz und ewiges Versühnen. Mein Glaube ist schlecht, meine Erkenntnis gering, aber deine Gnade und das Verdienst Jesu Christi will auch den Geringen nicht beschämen, und wo eine Seele einsam zu dir fleht, sie erhören.

 Laß auch uns, o Herr Christe, weil du in deiner Sterbestunde aus dem Munde eines verlorenen Sünders Freude und Wonne gehört hast, laß uns alle in unserer Scheidestunde Freude und Wonne hören, daß die Gebeine fröhlich werden, weil Leib und Seele im Paradiese weilen dürfen.

Amen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Beginn der Strophe 3 aus Paul Gerhardts Lied „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83).
  2. Beginn der Strophe 4 aus Martin Rutilius’ Lied „Ach Gott und Herr“ (EKG 168; EG 233 [dort fehlt diese Strophe]).
  3. Vgl. die Abbildung auf Commons.
  4. Vgl. Strophe 1 des gleichnamigen Liedes von Christian Knorr (EG 450).
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